Am Ende sind die jungen Soldaten der schwedischen UNO-Schutztruppe UNPROFOR fix und fertig. Ohne militärische Erfahrung sind sie 1993 in Kroatien und damit mitten in den brutalen Jugoslawienkriegen gelandet. Sie müssen hilflos zuschauen, wie die Zivilbevölkerung massakriert wird. Eingreifen dürfen sie nicht, werden aber selbst attackiert und verlieren dabei einige ihrer Kameraden.
Die ARTE-Serie „Ein halbes Jahr wie ein ganze Leben“ versucht erst gar nicht, die historischen Zusammenhänge des brutalsten und kompliziertesten Kriegs seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu erklären. In sechs Episoden erzählt Regisseur Ahmed Abdullahi vielmehr mit engem Fokus die Geschichte von vier schwedischen Soldaten einer UN-Schutztruppe. Sie verstehen nicht, was sie erleben. Und sie verstehen nicht, dass sie nichts tun können.
Willkommen im Schlachthaus
Als der jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito 1980 starb, ahnten nur wenige, dass zehn Jahre später der Kommunismus am Ende sein würde. Serbien, Slowenien, Kroatien, Bosnien, Montenegro und der Kosovo – die von Tito autoritär kontrollierten Regionen wollten Anfang der 1990er-Jahre überwiegend die Unabhängigkeit. Das alte System zerbrach, ultra-nationalistische Politiker wie Slobodan Milošević, der Präsident der Bundesrepublik Serbien, lösten die Jugoslawienkriege aus, die über 200.000 Menschen das Leben kostete. Über 2 Millionen Menschen mussten fliehen und ihre Heimat verlassen.
Der Versuch, Jugoslawien als Ganzes zu erhalten, scheiterte. Die Serben träumten von einem nationalistischen Großserbien. Die Kroaten, die im WK II an der Seite der deutschen Nazis kämpften, massakrierten die muslimische Bevölkerung. Die bosnischen Muslime rächten sich dafür blutig. Und fast alle Parteien träumten davon, mit „ethnischen Säuberungen“ den Abschaum zu beseitigen. 1995 ermordeten die Serben in einem für die Nachkriegszeit beispiellosen Akt der Grausamkeit in Srebrenica 8000 männliche muslimische Männer. Die niederländischen UN-Schutztruppen schauten zu und tranken mit den serbischen Soldaten einen Schnaps.
Die von von ARTE France produzierte Miniserie „Ein halbes Jahr wie ein ganzes Leben“ (Originaltitel: „A Life’s Worth“) beginnt 1993. Die vier jungen Soldaten Strand (Edvín Ryding), Forss (Maxwell Cunningham), Babic (Toni Pronce) und Kilpinen (Erik Enge) verunglücken während einer nächtlichen Mission mit ihrem gepanzerten Fahrzeug. Kilpinen, der schwer traumatisiert ist und sich regelmäßig Morphium spritzt, verliert die Kontrolle über das Fahrzeug und landet im Graben. Wenig später werden die vier schwedischen Soldaten von serbischen Tschetniks gekidnappt.
Ein langer Flashback zeigt, was die Vier zuvor erlebten. Die von Oberst Andreasson (Johan Rheborg mit sehr starker Performance) befehligte UN-Schutztruppe hat den Auftrag, in der Region um Tuzla eine von Milizen gesperrte Straße zu öffnen, um die abgeschnittene Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen. Andreasson macht den Neuankömmlingen klar, dass der Schutz der Zivilbevölkerung bedeutet, dass man auf militärische Mittel verzichten muss. „Als UN-Soldaten haben wir keine Feinde. Egal ob Serben, Kroaten oder Muslime: Sie alle sind nur Parteien, sonst nichts.“
Man kann nur die Leichen zählen
Was dies in der Praxis bedeutet, erfahren die Soldaten, als sie von kroatischen Milizen aufgehalten und gedemütigt werden. Für die brutale Miliz sind sie nur „Schlümpfe“. Sie müssen umdrehen und zum „Camp Valhalla“ zurückkehren.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit macht sich breit, erst recht, nachdem die muslimische Bevölkerung des Dorfes Stupni Do von Soldaten des „Kroatischen Verteidigungsrats“ HVO massakriert wird und wenige Tage später eine muslimische Brigade eine ethnische „Säuberung“ an den Kroaten vornimmt. Das Massaker von Stupni Do, ein Dorf in der Gemeinde Vareš in Zentralbosnien und Herzegowina, hat es tatsächlich gegeben. Die UN-Einheit kann am nächsten Tag nur die Leichen zählen.
Die Serie basiert auf einem Roman „Liv värt, Ett“ von Magnus Ernström, der als UN-Soldat die Ereignisse selbst erlebt hat. Das hört sich nach Military Action an, ist es nicht, denn Regisseur Ahmed Abdullahi erspart dem Zuschauer eine realistische Darstellung der Gräuel. Stattdessen zeigt er, was das Erlebte mit den schwedischen Newbies anstellt. Und deren Darsteller spielen ihre Rolle überragend, besonders Maxwell Cunningham als Diplomaten-Anwärter.
Babic, dessen serbische Familie aus der Region stammt, ist ziemlich abgebrüht und suggeriert bei dem Versuch, muslimische Geiseln aus einer von der HVO kontrollierten Schule zu befreien, dass die UN-Schutztruppe mit militärischer Härte mehr erreicht hätten.
Forss ist zu sensibel, um das Gesehene zu verarbeiten. Er ist der Sohn des Verteidigungsministers (Johannes Bah Kuhnke) und will die Kriegserfahrungen nutzen, um sich für den diplomatischen Dienst zu qualifizieren. Forss wird dank seines Vaters protegiert, versagt aber zunächst als Gruppenführer. Am Ende wird er sich von seinem Vater lösen und verweigert die Rückkehr nach Schweden. Er bleibt bei seinen Kameraden.
Strand ist zunächst abweisend und gibt sich cool, verliebt sich aber in Alma (Teodora Dragicevic), die Tochter des muslimischen Chefs der Camp-Küche. Strand erfährt dadurch, dass die Menschen ständig unter dem Druck stehen, den nächsten Tag nicht überleben zu können.
Kilpinen dagegen zerbricht. Er hat Zugang zum Medikamentenschrank des Lagers und erträgt das Grauen nur durch Morphium. In der ersten Episode hilft er dem jungen Muslim Eldin (Lazar Dragojevic) dabei, ein Asthma-Spray für seine Tochter Lana (Eva Porobić) zu organisieren. Am Ende wird Kilpinen entlassen, rettet aber kurz vor dem Rückflug nach Schweden die kleine Lana, die ihr verzweifelter Vater inzwischen für tot hält.
Andere exemplarische Einzelgeschichten werden am Rande skizziert, zeigen aber den täglichen Terror des Ungewissheit: Die Zivilbevölkerung weiß nie, welche Miliz am nächsten Tag die Dörfer „säubern“ und „nebenbei“ auch sexuelle Gewalt ausüben wird.
Gewaltlos wird die Ermordung Unschuldiger nicht zu verhindern sein
Erzähltechnisch ist „Ein halbes Jahr wie ein ganzes Leben“ mit seiner Zurückhaltung bei der Darstellung von Gewalt“ konsequent. Ahmed Abdullahis Fokussierung auf die Erfahrungen einzelner Soldaten kennt man aus vielen Kriegsfilmen. Diese verharren aber in der ethischen Einsicht, dass Krieg generell grausam ist.
Das Problem: Gewaltlos wird die Ermordung unschuldiger Menschen selten zu verhindern sein. Und so überrascht es nicht, dass Jahre nach dem Ende der Jugoslawienkriege der Einsatz der UN-Schutztruppen als gescheitert betrachtet wurde. Vor diesem Hintergrund hätte es der Serie gutgetan, wenn man im Abspann historische Fakten erwähnt hätte. Etwa, dass kurz nach den in der Serie geschilderten Massakern die NATO militärisch in das Kriegsgeschehen eingriff. Eine Reaktion, die umstritten war und auch in Deutschland kontrovers diskutiert wurde.
Die Frage nach Alternativen wird in der ARTE-Serie immerhin gestellt. Als die jungen Soldaten vor einem Massengrab stehen, sagt einer der Soldaten: „Oberst, das ist Wahnsinn!“ Andreasson antwortet: „Ich werde dir sagen, was Wahnsinn ist. Das alles hier hätte verhindert werden können.“ Leider bleibt unklar, was tatsächlich gemeint wird.
Und so ist längst nicht alles gelungen in der ambitionierten Serie. Ersparen konnte man sich, dass Oberst Andreasson nicht nur aus politischen Gründen abgesägt wird. Er ist das Opfer einer Intrige seines Stellvertreters. Und seine Zurückhaltung bei der Befreiung von Forss verzeiht ihm der schwedische Verteidigungsminister nicht. Johannes Bah Kuhnke spielt diesen Politiker allerdings als bigotte Person, und das hart am Rande eines Klischees.
Auch das tragische Ende der Liebesgeschichte zwischen Strand und Alma war nach all dem Grauen überflüssig. Ganz einfach, weil man es nicht anders erwartet hat – und das ist beim Storytelling meistens ein Griff ins Klo.
Ohne historische Kenntnisse versteht man nur Bahnhof
Überhaupt schrammt die Serie an einem überzeugenden Ende knapp vorbei. Ahmed Abdullahi hatte offenbar das Bedürfnis, nach all den Schrecken einen Hoffnungsschimmer aufglimmen zu lassen. Forss und Kilpinen, die zunächst zur Verliererseite gehörten, zeigen nun als Rulebreaker viel Mut und Anstand. Dies ist moralisch o.K., wirkt aber etwas konstruiert.
Dass die Serie nicht uneingeschränkt empfohlen werden kann, liegt aber nicht an der insgesamt überzeugenden Dramaturgie, den gut entwickelten Figuren oder der Storyline. Kritisch ist anzumerken, dass viele Zuschauer ohne historische Vorkenntnisse 30 Jahre nach dem Ende der Jugoslawienkriege die Handlung nur begrenzt verstehen werden. In einem Forum schrieb jemand, dass die schwedischen Soldaten „militärisch unbeholfen“ dargestellt wurden. „Hatte die Produktion keine militärischen Berater?“ Doch, hatte sie. Und genau deshalb agierten die Soldaten so und nicht anders.
Derartige Missverständnisse kann man der Serie nicht anlasten. Aber ARTE hätte richtig gehandelt, wenn man parallel die sechsteilige preisgekrönte BBC-Doku „Bruderkrieg – Der Kampf um Tito’s Erbe“ von Norma Percy ins Programm aufgenommen hätte. Auch weil die ultra-nationalistischen Kräfte den Balkan garantiert nicht über Nacht verlassen haben. Sie sind noch da.
Noten: BigDoc = 2
Quellen
- „Bruderkrieg – Der Kampf um Tito’s Erbe“ (BBC, ORF 1995-96):
- Eintrag bei Wikipedia:
- Landeszentrale für Politisch Bildung Baden-Württemberg: Kriege auf dem Balkan in den 1990er Jahren
„Ein halbes Jahr wie ein ganzes Leben“ (Originaltitel: „A Life’s Worth“) – ARTE 2025 – Sechs Episoden – nach dem Roman „Liv värt, Ett“ von Magnus Ernström - Regie: Ahmed Abdullahi - Drehbuch: Mona Masri, Oliver Dixon – D.: Edvín Ryding, Maxwell Cunningham, Toni Pronce, Erik Enge, Johan Rheborg, Lazar Dragojevic, Johannes Bah Kuhnke, Teodora Dragicevic u.a.