Mittwoch, 28. Mai 2025

The Handmaid’s Tale – eine visionäre Serie geht zu Ende!

Man konnte „The Handmaid’s Tale“ aus verschiedenen Gründen sehen. Die Serie als politischen Kommentar zu dechiffrieren war einfach – die Begründung ist simpel: in Trumps MAGA-Kabinett sind Politiker unterwegs, die sich offen zum reaktionären Post-Liberalismus bekennen oder religiösen Bewegungen angehören, deren Programm sich verdächtig nah an der Agenda des fiktiven Gottesstaates Gilead orientiert. Aber auch ohne Politanalysen funktionierte die dystopische Erzählung. Die Spannungspower war hervorragend. Man litt mit der Hauptfigur. Elisabeth Moss werden die Zuschauer so schnell nicht vergessen.

Die brillante Schauspielerin spielte als June Osborne acht Jahre lang ihre Figur mit einem breiten Spektrum mimischer Ausdrucksformen: als Dienstmagd und Gebärmaschine musste sie die Unterdrückung durch Männer in einer ultra-brutalen Theokratie ertragen. Verzweiflung und Angst verwandelten sich bei June in harte Entschlossenheit und am Ende in eine archaische Mischung aus Hass, Rache und dem Wunsch nach Gewalt und Vergeltung. Eine brillante darstellerische Metamorphose. Dank ihr gewann Moss als „Beste Darstellerin“ bei den Emmy Awards und den Golden Globes. Aber es gab auch andere Gründe, die die Serie zu einem Unikat machten.

Die Serie spaltet – und das ist keine Überraschung

Zum einen war es die literarische Vorlage. Margaret Atwoods 1985 erschienener Roman „Der Report der Magd“ gehört zu den großen dystopischen Romanen der jüngeren Literaturgeschichte. 1990 hatte sich bereits Volker Schlöndorff an einer Verfilmung versucht, der Film wurde aber bei den Berliner Filmfestspielen ausgebuht. Selbst Schlöndorff distanzierte sich von seinem Film: er wollte nur Geld verdienen, sagte der Regisseur.

Hellmuth Karasek gehörte zu den wenigen Kritikern, die damals erkannten, was Schlöndorffs Film mitteilte. So richtet Die Geschichte der Dienerin ihren „Blick nur scheinbar in eine weite Zukunft. Wer sehen will, wird es nicht schwer haben, einen Blick auf heute herrschende Verhältnisse zu riskieren. Gute S.-F.-Filme sagen ja nur, dass es noch schlimmer kommen kann.“ Das war visionär. Weil Karasek im Vorgriff beschrieb, was 27 Jahre später den Kern der Serie ausmachen sollte.

Die Adaption von Margaret Atwoods Roman The Handmaid’s Tale (1985, dts. Der Report der Magd) durch den Showrunner Bruce Miller stattete den mittlerweile fast vergessenen Begriff Quality TV mit neuer Relevanz aus. Die Serie wurde anfangs als Science-Fiction bezeichnet. Tatsächlich war und ist sie politisch prophetisch, obwohl einige Kritiker davon überzeugt waren, dass sich so eine Geschichte niemals in der USA ereignen würde.
Ausgerechnet dem kleinen Video-on-Demand-Anbieter HULU gelang 2017 mit einer zehnteiligen Serienadaption der große Wurf, zu einer Zeit, als MeToo noch ein unbekannter Begriff war. Wie alle Dystopien richtete „The Handmaid’s Tale“ seinen Blick ebenfalls nach vorne. Aber die Serie reflektierte halt auch, was in der Gegenwart bedrohlich am Horizont auftauchte: nämlich ein extrem anti-demokratischer konservativer Roll-back, der totalitäre Züge annehmen wird. Das stimmte nicht nur 1990, sondern auch 2017 und erst recht 2025. Und angesichts der aktuellen Entwicklung in den USA erwies sich Karaseks Kommentar in doppelter Hinsicht als prophetisch.

So schrieb Jan Freitag vor Jahren auf „nd-aktuell“: „Wer heute auf Hulu oder Magenta die vierte Staffel sieht, wird demnach das Gefühl nicht los, »The Handmaid’s Tale« sei gar keine Dystopie, sondern Realität.“ Und angesichts der Verwerfungen nach der ersten Amtszeit Donald Trumps protestierte Moss 2021 zusammen mit anderen Stars der Serie für Frauenrechte. Über die Serie schrieb Planned Parenthood, eine Frauengesundheitsorganisation: „Dies ist kein Buch. Dies ist keine TV-Serie. Dies ist Amerika. Dies ist unsere Realität.“

Wer allerdings glaubte, dass nun rund um den Globus eine moralische Katharsis einsetzen würde, war naiv. Auch in Deutschland blieb sie aus. „The Handmaid’s Tale“ wurde von religiösen, konservativen, rechtsnationalen und misogynen Männern regelrecht gehasst. Selbst im Meinungsforum der unverdächtigen Wochenzeitschrift „ZEIT-ONLINE“ bezeichneten Leser im Jahr 2019 die Serie als „Angriff auf das Christentum“, das Recht auf Abtreibung als „frauenverachtend“, die Serie als „Gewaltporno“ und verächtlich als „Adaption eines liberalen Wunschdenkens.“ Und natürlich war die Serie auf ekelige Weise „woke“. „The Handmaid’s Tale“ erreichte – und das ist eigentlich keine Überraschung – wohl nur die, die die Serie nicht mehr brauchen, um sich politisch zu verorten.
Problematisch war auch die mediale Ignoranz. Der Rolling Stone erwähnt „The Handmaid’s Tale“ in seinen Top 100 der besten Serien mit keiner Silbe, ebenso wenig die IMDB in ihren Top 250. Moviepilot schweigt in den Top 50 ebenfalls. Wenigstens TVSpielfilm führt „The Handmaid’s Tale“ unter ferner liefen. In der WELT landete die Serie immerhin auf Platz 38. Da einige dieser Listen User-basiert waren, bleibt nur noch ein Hilferuf: „Enterprise", wir haben ein Problem!“

Nun zur Rezension der letzten Staffel! Sie besteht aus zwei Teilen: aus der Besprechung der 6. und letzten Staffel. Für alle Quereinsteiger gibt es zudem im nächsten Beitrag eine Zusammenfassung der ersten fünf Staffeln. In welcher Reihenfolge man dies lesen möchte, bleibt dem Leser überlassen.

„Gott ist nur ein Vorwand für Männer, zwei Dinge zu gebrauchen: Schwänze und Kanonen.“

Die 6. und letzte Staffel einer der wichtigsten Serien der letzten Dekaden ließ erneut zwei Jahre auf sich warten. Die Frage, wie man die epochale Serie nach so langer Pause zu einem angemessenen Ende führen kann, lässt sich auf den ersten Blick einfach beantworten. June will ihre Tochter Hannah aus den Fängen der autoritären Theokratie retten, die in Gilead herrscht. Und sie will das System der brutalen Unterdrückung zerstören. Tatsächlich ist es komplizierter.

Den Zug von Toronto nach Vancouver hatte June Osborne (Elisabeth Moss) am Ende der 5. Staffel im letzten Moment erreicht. Sie sieht noch, wie ihr Mann Luke (O.T. Fagbenle) von den Häschern der kanadischen Polizei festgenommen wurde. Es kommt noch schlimmer: June muss feststellen, dass sie sich im gleichen Zug befindet wie Serena Joy Waterford (Yvonne Strahovski), ihre verhasste Gegenspielerin.

„Schwänze und Kanonen“: diese Hasstirade bekommt June vor den Kopf geknallt, als eine Gruppe wütender Frauen die landesweit bekannte Frau des toten Kommandanten Fred Waterford lynchen will. Freundinnen sind June und Serena nicht geworden, aber June sieht in der Erzfeindin die Mutter eines Kindes, der sie bei der Geburt geholfen hat. Sie rettet Serena, indem sie Mutter und Kind rüde aus dem fahrenden Zug wirft. Serena Joy scheint empathischer geworden zu sein, wird aber recht schnell die Gelegenheit wahrnehmen, in dem misogynen Religionsstaat eine Führungsrolle zu übernehmen. Als Frau! Als Rivalin von Männern, die ihr einen Finger abhackten, weil sie öffentlich über Frauenrechte diskutieren wollte! Kann das gutgehen?

Visionen eines neuen Gileads und ein furioses Frauentrio

Showrunner Bruce Miller hatte drei Staffeln lang die Barbarei eines faschistisch-religiösen Gottesstaat bis an die Grenze des Erträglichen geschildert. Da Millionen von Frauen nicht mehr schwanger werden konnten, unterjochte das neue Regime die gebärfähigen Frauen, teilte sie den Haushalten der neuen Herrscherelite zu, um von den Hausherren geschwängert zu werden. Alle anderen Frauen dienten im Haushalt. Professorinnen, Ärztinnen und überhaupt Frauen mit akademischer Bildung landeten in geheimen Bordells.
Die rituelle Vergewaltigung von gebärfähigen „Handmaids“ (Dienerinnen), das Foltern und Steinigen von ungehorsamen Mägden, das öffentliche Ertränken von Regimegegnern und die Hinrichtung von Schwulen und Lesben zeigte den Terror Gileads mit realistischer Grausamkeit.

In Staffel 4 kam der Bruch, der Hauptort der Handlung verlagerte sich, was ein kluger Schachzug war. Es gelang June mit ihrer Tochter Nicole nach Kanada zu fliehen, wo sie wieder mit ihrem Mann Luke zusammenleben konnte. Eine Frau, die sich mittlerweile in ein Rachemonster verwandelt hatte und am Ende der vierten Staffel ihren Vergewaltiger Fred Waterford zusammen mit anderen ehemaligen „Mägden“ brutal und voller Genugtuung umbringt.

Die Serie griff danach Themen auf, die uns nur zu gut bekannt sind. Dystopische Science-Fiction war allerdings die fiktive Rolle Kanadas. Das lange menschenfreundliche Land verwandelte sich in der Serie unter dem Flüchtlingsdruck der aus den USA und aus Gilead fliehenden Menschen in einen nationalistischen Staat, der Flüchtlinge wie den letzten Dreck behandelte. Auch in dem Wissen, dass Gilead militärisch überlegen ist. Ein Bleiben kam für die Flüchtlinge nicht in Frage.

Allerdings zeichnete sich nicht nur in der letzten Staffel ab, dass Showrunner Bruce Miller das politische Pulver der Serie verschossen hatte. Der Terror Gileads war auserzählt. Alles, was gesagt werden musste, war gesagt worden. Es lag also nahe, dass die Serie in der letzten Staffel die Geschichte von zwei Frauen erzählen würde, die sich bis zum bitteren Ende bekämpfen. Oder sich dann doch versöhnen? Es kam anders. Tatsächlich verwandelte sich „The Handmaid’s Tale“ in einen Actionthriller. Im Mittelpunkt stand der Rachefeldzug der Handmaid‘s, die zusammen mit der Widerstandsorganisation Mayday die Ermordung der männlichen Führungselite in Gilead planen.

Eine genretypische Rachegeschichte? Ja, aber eine, die subtil und ausgesprochen spannend erzählt wird. So stellte sich heraus, dass das ein Schwarz-Weiß-Schema die Geschichte von June und Serena den Zuschauer in eine Falle tappen lässt. Stattdessen bürstete Miller einige Figuren so sehr gegen den Strich, dass sich überraschende Plot-Points beinahe überschlugen.
June hatte bereits eine Verwandlung erfahren. Sie ist immer noch eine Mutter, die ihre verschleppte Tochter Hannah retten will. Aber sie muss mit der Liebe zu zwei Männern klarkommen und ist mittlerweile so gewaltaffin und rachesüchtig geworden, dass sie das Töten ihrer Feinde nicht lange erwarten kann. Bruce Miller lässt sie immer wieder und leider zu oft wie eine Irre in die Kamera blicken, bis sich das Stilmittel abgenutzt hat.

Serena konnte man in den ersten Staffeln auf die Rolle als eiskaltes Aas festlegen. Aber auch hier kam es zu einer überraschenden Metamorphose. Die Vision eines religiösen Staates, in dem Menschen wieder in gleichberechtigter Freiheit leben und glauben können, blieb ein Teil von Serenas Spiritualität. Als Buchautorin hatte sie zum Zusammenbruch der USA beigetragen. Nach der Revolution war sie in einem Regime, das Frauen den Mund zutackert, damit sie nicht reden können, per se verdächtig. Eine Chance bietet sich ihr, als der mittlerweile zum High Commander beförderte Joseph Lawrence (Bradley Whitford) eine neue Stadt baut. „New Bethlehem“ soll nicht nur geflüchtete Frauen aufnehmen, sondern auch als liberales Aushängeschild des Gottesstaates dienen. Und Serena Joy soll die Botschafterin dieser Vision werden.

Ergänzt wird das Frauenduo durch „Tante“ Lydia (erneut exzellent gespielt von Ann Dowd), deren Gewissenskampf sie zunehmend zerreißt. Als die Frauen eines Jezebel-Bordells exekutiert werden, erkennt sie, dass sie ein Werkzeug des Terrors war. Nur noch einmal wird sie versuchen, dem System zu dienen, aber dann lässt sie „ihre Mädchen“ ziehen, die danach mit Messern bewaffnet über zwei Dutzend Kommandanten ermorden. In der vorletzten Episode „Hinrichtung“ werden Tante Lydia sowie June und ihre Attentäterinnen dafür unter dem Galgen stehen.

Bei diesen drei Frauen kann man, egal ob man sie mag oder nicht, durchaus von Selbstermächtigung reden. Sie hatten eine Vision, sie kämpften dafür und sind sich näher, als sie zugeben möchten. Serena wird sich wie „Tante“ Lydia am Ende auf die Seite der Widerstandskämpferinnen schlagen. Dieses Psychodrama machte aus den Bösen plötzlich Gute, zumindest aus einigen, und aus der Hauptfigur eine zerrissene Heldin, deren Identität langsam zerbröselte. Die Frage war nur: Wer wird das überleben?

Mit den Männern wird diskret abgerechnet

Einige der Männer sicherlich nicht. Die Frage ist nur, wer den wütenden Handmaid’s zum Opfer fällt? Ist es Nick Blaine (Max Minghella), der in Episode 6 „Surprise“ den Widerstand verrät? Wird Joseph Lawrence (Bradley Whitford), der die Liquidation seiner „Kollegen“ durch Mayday aktiv unterstützt, überleben? Was wird aus Commander Wharton (Josh Charles), der Serena heiratet, privat sehr kultiviert und empathisch ist, dann aber seiner Frau in der Hochzeitsnacht eine Handmaid vorstellt und später eine öffentliche Massenhinrichtung organisiert, bei der alle Handmaid’s am Strang enden sollen?

Es gibt genug Serien, die nur zu Beginn ihr Potential entfalten, am Ende ihre Originalität einbüßen, auch weil die Erwartungen der Zuschauer befriedigt werden müssen. Das spürt man, wenn die Figuren immer greller überzeichnet werden, die Schurken noch grausamer und die Rache daher noch genüsslicher zu konsumieren ist. Oder die Macher lassen sich ein Ende einfallen, das sich bewusst gegen die Zuschauer richtet, nur um zu zeigen, wie cool und innovativ sie sind. „Game of Thrones“ lässt grüßen. Als die Handmaid’s mit ihrer tödlichen Abrechnung begannen, wurden Gewaltexzesse den Zuschauern jedoch nicht gezeigt. Zu sehen sind nur zwei kurzen Szenen (u.a. bringt June Commander Bell um, der Janine als Sexsklavin in sein Haus geholt hat), wie die Handmaid‘s nach Whartons und Serenas Hochzeit die mit Drogen betäubten Kommandanten im Schlaf zu töten. Eine Katharsis durch Gewalt wurde den Zuschauern nicht geboten. Eine interessante Entscheidung, die andere Showrunner vermutlich nicht getroffen hätten.

Auch bei der öffentlichen Massenhinrichtung der Handmaid’s durchkreuzte Bruce Miller Rachegelüste. Nur eine kurze, ziemlich konventionelle Schießerei war zu sehen. Der Höhepunkt der vorletzten Episode „Execution“ konzentrierte sich vielmehr auf die Charakterentwicklung. Der Ausgang der Szene war eine Last-Minute-Rescue-Aktion, in der zum Glück wichtige Figuren nicht effektheischend umgebracht wurden.
Dass die Bevölkerung zunächst nur widerwillig zuschaut – geschenkt. Dass aber der schlecht bewaffnete Widerstand sich erst in letzter Sekunde (Warum so spät? June hängt bereits baumelnd am Strick!) gegen eine schwer bewaffnete Einheit der „Augen“ durchsetzt, war dann doch ziemlich konventionelles Storytelling. Dass die Massenexekution natürlich mit der Rettung der zum Tode verurteilten June und ihrer Handmaid’s endet, war trotzdem zu erwarten. Und das „Tante“ Lydia natürlich nicht gehenkt wird, war auch klar. Ein Prequel/Sequel auf der Grundlage von Margaret Atwoods 2019 erschienenen Fortsetzungsroman „The Testaments“ (dts. Die Zeuginnen) wird von Bruce Miller geplant – und dort ist die zum Publikumsliebling (!) mutierte Ann Dowd als „Tante“ Lydia die Hauptfigur.

Prägungen wird man nicht los, Traumata erst recht nicht.

Die eigentliche Nagelprobe folgte daher in der letzten Episode „Der Report der Magd“. Die Ereignisse nach der Revolte in Boston werden nur im Off zusammengefasst: die Stadt ist gefallen, die amerikanischen Truppen beginnen damit, jeden Bundesstaat der untergegangenen USA zurückzuerobern. „Scheißlob dem Herrn“, kommentiert June dies sarkastisch.
Ob dieser Kollaps jedoch folgerichtig ist, darf man bezweifeln. „Gilead versuchte zu kämpfen, aber sie hatten keine Anführer“, erklärt June den Zusammenbruch des Terrorstaates, der zuvor als militärisch überlegen bezeichnet wurde, aber offenbar keine Berufsarmee zustande gebracht hatte.

Stattdessen ging um Charakterentwicklung, und das war auch konsequent. Miller musste zeigen, was aus den wichtigen Figuren wird. Dies führte zu melodramatischen Momenten, allerdings auch zu schwer interpretierbaren Rätseln. So treffen sich June und Serena, bevor die Ex-Kommandantenfrau in einem UN-Flüchtlingslager verschwindet. Serena gratuliert June zum Sieg über Gilead, June bedankt sich „von Herzen“ für Serenas Verrat an den Kommandanten. Genießt Serena ihre entscheidende Rolle als einen verflossenen Moment der Macht?

„Now I am become Death, the Destroyer of Worlds“, erklärt sie June lächelnd. “Nun werde ich zum Tod, dem Zerstörer von Welten“, das kann man als arrogante Interpretation der eigenen Bedeutung interpretieren. Tatsächlich ist es eine Aussage von Robert Oppenheimer, der sich 1945 nach dem Einsatz von zwei Atombomben in Japan nicht dem Schuldgefühl eines Weltenzerstörers entziehen konnte. Oppenheimer, der sich dem Hinduismus zu gewandt hatte, zitierte damit allerdings eine Textpassage aus dem Bhagavad Gita, einem spirituellen hinduistischen Gedicht, das möglicherweise in 5. Jh. v. Chr. entstand. Dort erklärt Krishna, eine Inkarnation des göttlichen Vishnu, dem Sohn eines Fürsten, Arjuna, dass er in den Krieg ziehen müsse, um seine Pflicht zu tun.

Das Töten im Krieg ist - allegorisch betrachtet - ein Kampf gegen das Böse, aber in letzter Instanz kein Teil des Wirklichen. Dahinter verbirgt sich die hinduistische Überzeugung, dass unsere Realität zum Nichtwirklichen gehört und nur das Göttliche, das reine Bewusstsein, wirklich ist. Und jene, die das Richtige selbstlos erkennen, tun Gottes Werk.
Oppenheimer scheint allerdings nicht davon überzeugt gewesen zu sein, dass das Leiden der Menschen nach dem Abwurf der Atombomben etwas Irreales gewesen ist. Allerdings wird sein Ausspruch oft aus dem Kontext gerissen. Tatsächlich sagte der Physiker: „Wenn das Licht von tausend Sonnen am Himmel durchbrechen würde, dann wäre es das Gleiche wie der Glanz des Herrlichen und ich bin der Tod geworden, der Zerschmetterer der Welten.“ Offenbar wurde Oppenheimer nicht nur von Verzweiflung, sondern auch von Größenwahn heimgesucht.

Serena scheint davon überzeugt zu sein, dass sie Gottes Werk getan hat, als sie Mayday dabei half, die Kommandanten zu töten. Wir erinnern uns: June fragte bereits Wharton lapidar, woher der eigentlich wisse, was Gott will. Und Serena? Die bleibt bis zum Schluss eine ambivalente Frau, die zwar die Seiten gewechselt hatte, aber ihre religiösen Überzeugungen prägen weiterhin ihr Handeln. Aber warum hat Bruce Miller das Ganze so aufwändig verrätselt?
Ganz einfach: June wird ihre brutale Verwandlung in eine Handmaid nicht loswerden. Sie ist innerlich so zerrissen wie Oppenheimer, während Serena ihren ideologischen Turn-around locker wegsteckt. Das ist die Quintessenz der letzten Folge.

Die kontemplative Erfahrung eines Traumas

Zuvor erinnert sich June  in Flashbacks an den toten Nick und die Intimität, die sie erfahren hat, nicht an dessen Verrat. In einem Gespräch wird sie dagegen erklären, dass Nick an den Folgen „seines unehrenwerten Lebens“ gestorben sei. Sie erinnert sich an einen Rummelplatz, den sie mit Hannah besuchte und dass Hannah plötzlich verschwunden war. „Mommies always come back“, besänftigt June ihre Tochter. Und June träumt von einem Boston, wie es hätte sein können, wenn Gilead nie existiert hätte. In ihrem Tagtraum sieht sie Moira, Janine und Emily, ihre Freundinnen. Man singt in einer Karaoke-Bar, ist ausgelassen und frei. Aber dies ist nicht geschehen, Gilead ist stattdessen geschehen.

Aber nicht alles ist verloren. Janine wird an einem verabredeten Treffpunkt von den „Wächtern“ Gileads auf die Straße geworfen. Sie erhält ihre Tochter Charlotte zurück, ein Arrangement, dass „Tante“ Lydia durchsetzen konnte. Lydia ist trotz ihrer geplanten Hinrichtung in Gilead offenbar nicht unter die Räder geraten. „Gelobt sei die Frau, die sich nicht mit dem Bösen gemein macht“, sagt June zu der schweigenden Lydia.

Bruce Miller beschrieb in einem Interview mit Entertainment Junes Träume, Visionen und Erinnerungen als „kontemplative Erfahrung eines Traumas.“ Denn June trifft in Boston unerwartet Dr. Emily Malek (Alexis Bredel verließ die Serie nach Staffel 4), jene lesbische Wissenschaftlerin, die in Gilead eine Affäre mit einer „Martha“ (Dienstmädchen) hatte und zur Strafe genital beschnitten wurde, während ihre Geliebte mit einem Kran gehenkt wurde. Emily erzählt June, dass sie im Haus eines verständnisvollen Kommandanten überlebt habe, in Bridgeport, einem Zentrum des Widerstands.
„Ich werde meine Definition von Unmöglichkeit neu definieren müssen“, ermuntert Emily ihre alte Freundin während eines Spaziergangs. An einer Mauer, an der die beiden Frauen vorbeigehen, hängen einige „Wächter“. Vertraute Bilder, aber June und Emily scheinen sie nicht wahrzunehmen.
„Look at us. It’s so fucking impossible for us to be alive and together”, sagt Emily. Aber June spürt, dass es für sie keine Rückkehr in eine friedliche Zukunft geben wird. Alles, was übriggeblieben ist, sind Erinnerungen, deren Verdrängung und deren Umdeutungen, Junes Rastlosigkeit und ihr Aktionismus.

Als Holly Maddox (Cherry Jones), Junes Mutter, aus Alaska nach Boston zurückkehrt, erfährt sie entsetzt, dass June ihre jüngere Tochter erneut zurücklassen will, um ihre ältere zu retten und um Gilead völlig zu zerstören: „June, du musst ein Buch schreiben!“ Die hat jedoch andere Pläne: „Ich glaube, dass ich mein Bestes tun muss, damit kein anderes kleines Mädchen in Gilead Angst zu haben braucht.“

Das und auch die Rettung Hannahs sind aber nur der Vorwand dafür, ihren Hyperaktionismus fortzusetzen. Tatsächlich scheint June mental am Ende zu sein. Ein Leben ohne Kampf ist undenkbar.
Dies zeigt auch die letzte Szene. June sucht das halb zerstörte Haus der Waterfords auf, den Ort ihrer Qualen. Sie hat ein Aufnahmegerät dabei und beginnt ihren Report in ihrem alten Zimmer: „Ein Stuhl. Ein Tisch. Eine Lampe. Ein Fenster mit weißen Vorhängen und das Glas ist bruchsicher. Aber sie haben keine Angst davor, dass wir weglaufen. Eine Dienstmagd würde nicht weit kommen. Es sind die anderen Fluchtwege, die wir in uns selbst öffnen können, soweit ein scharfer Gegenstand zur Hand ist. Oder ein verdrehtes Laken und ein Kronleuchter. Ich versuche nicht an diese Fluchtwege zu denken. Das ist schwerer als an Zeremonie-Tagen, aber Nachdenken kann deine Chancen gefährden.
(Pause)
Mein Name ist Desfred!“

Das sagte June aka Desfred wortwörtlich auch in der ersten Episode der 1. Staffel. Der ‚Fluchtweg‘ als Euphemismus für einen ‚Suizid‘ erinnert an T.W. Adornos „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Dies schrieb der Philosoph in seinen Minima Moralia. Aber Adorno erkannte in seiner Negativen Dialektik auch die Konsequenzen: „„Wahrscheinlich wäre für jeden Bürger der falschen Welt eine richtige unerträglich, er wäre zu beschädigt für sie.“
June wird die Magd tief in ihr nicht so einfach los. Sie erinnert damit an die traumatisierten Veteranen des Vietnam- und des Irak-Kriegs, die für ein Homecoming zu beschädigt waren. June wird also weiterkämpfen und verschwindet aus der Geschichte wie Hans Castorp in Thomas Manns „Zauberberg“. Manns Hauptfigur verliert sich auf den Schlachtfeldern des 1. Weltkriegs. Ein Überleben ist unwahrscheinlich.

Life Imitating Art

Filmästhetisch zog Bruce Miller in der letzten Staffel erneut alle Register, um den Zuschauern emotional auf den Rachefeldzug zu fokussieren, aber auch darauf, was emotional mit einem geschieht, wenn man gewonnen hat, aber nicht loslassen kann. Die Kameraarbeit war ausgezeichnet, die Settings ebenfalls.
Zudem konnten alle Staffeln mit einer kreativen musikalischen Illustrierung punkten. Adam Taylors Score bot düster-depressive Klänge, die situationsgerecht die Szenen untermalten. Konterkariert wurde dies durch einen Soundtrack, der einige Szenen zwar auch düster, aber meistens ironisch kommentierte. Manchmal auch verstörend und zynisch. „The National Antham“ von der Gruppe „Radiohead“ ist musikalisch nur schwer zu verdauen. Und „All I Have To Do Is Dream” von den Everly Brothers ist im Kontext mit der Ermordung von Fred Waterford ein gutes Beispiel dafür, dass Miller und sein Team nicht selten Sarkasmus als Stilmittel einsetzten.
Einen Volltreffer für die Fans landete Miller in der vorletzten Episode. Die Fans und auch Elisabeth Moss waren hellauf begeistert, als die durch Boston marschierende Armee der Handmaid’s von Taylor Swifts Song „Look What You Made Me Do“ begleitet wurde (Episode 9 „Exekution“). Taylor Swifts Song aus dem Jahr 2017 ist eine Neuaufnahme, ursprünglich erschienen auf dem Album "Reputation". Das war Promotion für die Sängerin und sorgte weltweit in den Social Media für mehr Aufmerksamkeit als die Handlung. Damit hatte sich Miller einen Bonus für das Finale erarbeitet.

Die letzte Episode „The Handmaid’s Tale“ (Der Report der Magd) erhielt den Titel der Serie und überzeugte mit dichten, atmosphärischen Bildern. Dass der Soundtrack in der der letzten Episode „Der Report der Magd“ enttäuschte, lag daran, dass das subtil erzählte Charakterdrama mit einem melodramatischen Sound unterfüttert wurde, der die enorme Emotionalität des Serienfinales offenbar steigern wollte, aber zu einem Oversizing führte, einer Überdimensionierung, die schlichtweg zu dick auftrug. Angemessen wäre ein minimalistischer Sound gewesen.

Auch wenn die dystopische Wucht der ersten Staffeln am Ende etwas abnahm, hat die Serie trotz des einen oder anderen nicht sonderlich überraschenden Plot Twists immer wieder neue Themen und Ideen in die Handlung integriert. Dass die Serie bei der Figurenentwicklung exzellent war, weil sie unvorhersehbare und ambivalente Wendungen bot, war qualitativ beurteilt Serienkunst vom Feinsten. Halt Quality TV. Damit hat sich „The Handmaid’s Tale“ einen Platz unter den besten Serien aller Zeiten verdient.

Eine dystopische Serie war „The Handmaid’s Tale“ am Ende längst nicht mehr, denn die veränderten Machtverhältnisse in den USA, die sich auch explizit gegen Frauen wenden, zeigen, dass die Realität die Fiktion überholen kann. Trotzdem: ahnen konnte man dies schon, wenn man auf die unter der Oberfläche glimmenden religiös-autoritären Bewegungen geachtet hatte, die nun abrupt aus dem Boden schießen und eine autoritäre New World Order zur Realität machen wollen. Ich habe dies in meiner Rezension der ersten Staffel beschrieben.

Life Imitating Art: Auch „House of Cards“ konnte man als realitätsfernen Politthriller konsumieren – so lange, bis sich die politische Realität als noch korrupter und machtgeiler erwies als die Fiktion. Niemand soll sagen, dass man das nicht wissen konnte. Die Folgen werden wie immer übel ausfallen. Denn wie in Gilead lassen sich reaktionäre Machthaber nicht mehr abwählen. Sie sind gekommen, um zu bleiben.

Note (für Staffel 6): 1,5

Im nächsten Beitrag gibt es einen Episode Guide für Einsteiger.

Alle Rezensionen:


The Handmaid’s Tale - Season 6, 10 Episoden – Network: Hulu – Showrunner: Bruce Miller - Regie: Elisabeth Moss (4x) u.a. – D.: Elisabeth Moss, Madeline Brewer, Max Minghella, Bradley Whitford, Yvonne Strahovski, Ann Dowd, O.T. Fagbenle, Samira Wiley, Alexis Bledel, Sam Jaeger u.a.