Samstag, 17. September 2022

The Handmaid‘s Tale – Staffel 4 - der Alptraum geht weiter

Nach zwei Jahren Pause ging es im April 2021 mit der 4. Staffel von Bruce Millers Serie bei Hulu weiter. In Deutschland hatte Magenta erneut die Rechte erworben und es dauerte über ein Jahr, bis die Serie beim Anbieter der eigenen Wahl zu sehen war. Man muss die neue Diversität der Streaminganbieter akzeptieren, mögen muss man sie nicht.
Unverständlich war und bleibt, dass die Serie von MGM, der Produktionsgesellschaft, nur auf DVD zu kaufen war und ist. Eine im Zeitalter von UHD und 4K abstrus anmutende Entscheidung. Trotz dieser Restriktionen hat sich das Warten gelohnt, denn „The Handmaid‘s Tale“ hat nur wenig von seiner Erzählkraft eingebüßt. Allerdings kommt alles anders, als man denkt. Das aber mit Wucht.

“Die Rache ist mein, sprach der Herr.“

Das steht in 5. Mose 32:35, und das billigt ausdrücklich den Opfern von Gewalt keine Vergeltung zu. Rache ist ein Privileg Gottes und Strafe ist in zivilisierten Gesellschaften ein Teil des Gewaltmonopols des Staates. Das eine ist alttestamentarische Ethik, das andere Politik. Denkt man an die Missbrauchsopfer der katholischen Kirche oder an vergewaltigte Frauen, ist es allerdings schwer, archaische Gelüste zu unterdrücken.
Kein Wunder. 2019 legte der Kriminologe Christian Pfeifer das Ergebnis einer Untersuchung vor, die Daten aus den Jahren 2014 bis 2016 analysierte. "Von Hundert Frauen, die vergewaltigt werden, erlebt nur etwa eine einzige eine Verurteilung," fasste Christian Pfeifer seine Auswertung zusammen. Das liegt auch daran, dass 85% der Frauen keine Anzeige erstatten und von den tatsächlich angeklagten Tätern nur die Hälfte verurteilt wurde.
Am Ende der 4. Staffel ist nun Schluss mit der mit der Hilflosigkeit der Opfer – die Schurken werden bestraft. 
„Aber es wird nicht reichen“, kündigt der opportunistische Commander Joseph Lawrence messerscharf an, als er June noch einmal auf neutralem Boden begegnet. Es ist jener Commander, der einst Creator von Gilead war und genau weiß, dass es dabei nicht um Religion ging, sondern um Macht: „Alles andere ist Vorwand.“ Das hindert Lawrence nicht daran, sich in der Religionsdiktatur unentbehrlich zu machen, um den Verdacht der Kollaboration mit den Unterdrückten zu zerstreuen.

Zur Erinnerung: 2017 gelang dem Streamingportal Hulu mit der Verfilmung von Margaret Atwoods Roman The Handmaid’s Tale (1985, dts. Der Report der Magd) der große Wurf. Atwoods Geschichte gehört zu den großen dystopischen Romanen der jüngeren Literaturgeschichte und Showrunner Bruce Miller übertraf mit „The Handmaid’s Tale“ alle Erwartungen. Acht Emmys und zwei Golden Globes gewannen Hulu und Showrunner Bruce Miller mit der Geschichte über die faschistische Diktatur Gilead, die in den USA die Macht übernahm, als immer weniger Frauen gebärfähig wurden. Schwule, Lesben und katholische Priester werden gehenkt und öffentlich zur Schau gestellt. Frauen werden gewaltsam zu „Mägden“ gemacht und von den Männern der Gilead-Elite vergewaltigt und geschwängert. Vorzugsweise Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen, Ärztinnen, Lehrerinnen. Andere werden „Magdas“ und arbeiten im Haushalt, während die „Jezebels“ die Männer der Oberschicht als Huren vom schweren Tagesgeschäft ablenken.
Das war schwer zu ertragen, aber Millers Serie traf mitten in den Bauch. Erst recht, weil in den USA evangelikale Gruppen unterwegs sind, die sich programmatisch nicht allzu weit von Gileads Philosophie entfernen. Dass „The Handmaid’s Tale“ Science-Fiction sei, wie ein Kritiker keineswegs abwertend meinte, stimmt leider nicht.

Hauptdarstellerin Elisabeth Moss („Mad Men“, „Top of the Lake“), ein bekennendes Mitglied von Scientology, wurde durch die Serie zur Ikone der feministischen Bewegung. Zumindest vorübergehend, bis sich Moss einen Shitstorm einhandelte, als sie die Story eine „menschliche Geschichte“ nannte. Und nicht eine „feministische.“ Fünf Jahre später ist es mit dem Gender Mainstreaming und der Cancel Culture nicht besser geworden und Moss hatte Recht: „The Handmaid’s Tale“ ist eine menschliche Geschichte. Denn auch Männer werden Opfer des Systems.

In der 4. Staffel von Bruce Millers „The Handmaid’s Tale” gelingt June Osborne (Elisabeth Moss) die Flucht nach Kanada. Endlich, möchte man sagen. Aber so einfach ist es nicht. Die Kanadier machen Junes Peinigern, den von den Behörden inhaftierten Commander Fred Waterford (Joseph Fiennes) und seiner Frau Serena Joy (Yvonne Strahovski), den Prozess. Junes Aussage vor dem Gericht gleicht einem flammenden Schwert und wer es noch nicht wusste, weiß nun, dass Gilead ein faschistisch-religiöser Staat ist. Dies hält die Behörden aber nicht davon ab, einem Deal mit Waterford zuzustimmen: der ehemalige Commander gibt Insiderwissen preis und soll dafür zusammen mit seiner Frau straffrei ausgehen. June wirft danach die letzten Hemmungen über Bord und die 4. Staffel endet nach einem etwas unglaubwürdigen und konstruiert wirkenden Turn-Around mit einem Blutbad. Aber keine Angst: „The Handmaid‘s Tale” war schon zuvor ein Horrorfilm.

Die Bewältigung des Traumas

Showrunner Bruce Miller hatte June am Ende der 3. Staffel mit einer schweren Schussverletzung zurückgelassen, nachdem sie die Entführung und Überführung von 86 Kindern nach Kanada organisiert hatte. Zu Beginn der 4. Staffel wird sie von den anderen entflohenen Mägden gerettet und aufgepeppelt. Zuflucht haben sie auf der Farm eines Commanders gefunden, dessen minderjährige Frau Ester Keyes (Stark: Makenna Grace) ihren Zwangsgatten langsam vergiftet und sich selbst auf die Seite der Untergrundorganisation Mayday geschlagen hat. Als die Notgemeinschaft einen Vergewaltiger in die Hände bekommt, wird dieser von Ester exekutiert und an die Schweine verfüttert. Und am Ende der Episode 1 „Pigs“ singt Aretha Franklin „You make me feel like an natural woman.“ Man ahnt: es wird nicht besser.

Leider fällt June den Häschern Gileads erneut in die Hände. Ausgerechnet Junes Liebhaber Nick Blaine (Max Minghella) führt die Nacht- und Nebel-Aktion durch. Da die Mägde an einen sicheren Ort weitergezogen sind, wird June von der Schergen Gileads brutal gefoltert, um das neue Safe House zu verraten. „Segne uns, o Herr, für diesen heiligen Dienst, den wir in deinem Namen verrichten“ salbadert der Folterknecht, bevor er mit dem Waterboarding beginnt. Doch erst, als man June ihre Tochter Hannah mit der Drohung präsentiert, auch diese zu foltern, bricht June zusammen und verrät die Mägde.

Die erste Staffelhälfte ist also eine Geschichte der Traumatisierung. Sie gelingt nicht wegen der sadistischen Wendungen des Plots, die einige Kritiker abgeschreckt haben, sondern weil die alle überragende Elisabeth Moss eine Glanzleistung hinlegt. Und die ist reif für einen erneuten Golden Globe. Moss drückt mimisch aus, was Worte nicht beschreiben können: Verzweiflung, Apathie, Schuld, Desorientierung, dann Wut und Hass, zum Ende hin meistens begleitet von einem dämonischen Grinsen.

Denn es kommt noch schlimmer. June und die anderen Mägde werden nicht umgebracht, sondern sollen in eine Magdalena-Kolonie gebracht werde, ein Arbeitslager, das als „Zuchtfarm“ fungiert. Erneut gelingt den Mägden die Flucht, aber zwei junge Frauen werden auf der Flucht erschossen, die anderen geraten beim Versuch ein Bahngleis zu überqueren, unter einen Zug. Nur June und die labile Janine (Madeline Brewer) überleben die dritte Episode „The Crossing“. Aber June verliert in Chicago auch noch Janine aus den Augen, als die Truppen Gileads eine temporäre Waffenruhe dazu nutzen, um die in der Stadt operierenden Widerstandsgruppen zu bombardieren. Als sie geschunden durch die Stadt taumelt, steht June plötzlich ihrer Freundin Moira (Samira Wiley) gegenüber, die für eine NGO arbeitet. Die Freiheit ist nahe. Glaubt man jedenfalls.

Keine Heilung! Rache!

Die Anwesenheit der Hauptdarstellerin in Gilead war dramaturgisch der erzählerische Motor, der die Geschichte drei Staffeln lang antrieb. Gelegenheiten zu entkommen, gab es. Aber es war schwer, sich vorzustellen, wie man die Geschichte weitererzählen kann, sollte June die Flucht gelingen. Was könnte sie schon im freien Kanada bewirken?
Desfred aka June und Gilead schienen untrennbar zu sein. Der narrative Trick war, dass June verzweifelt nach ihrer Tochter Hannah suchen muss und ohne sie nicht fliehen will. Nun also doch die Flucht. Showrunner Bruce Miller löst das Problem mit einer cleveren Handlungsvolte, nämlich der Verhaftung der Waterfords in Staffel 3. So bekommt June die Abrechnung mit ihren Peinigern auch nach ihrer Flucht nach Kanada auf dem silbernen Tablett serviert.

Das verhindert nicht immer einen Leerlauf beim Storytelling. So tragen die Episoden 4-6 nur bedingt zur Handlung bei, bis in Ep 7 das Wort „Home“ zu einem trügerischen Episodentitel wird, der nicht hält, was er verspricht. Im letzten Drittel läuft „The Handmaid‘s Tale” auch wegen der unter die Haut gehenden Zerrüttung ihre Hauptfigur dann wieder zu alter Form auf und liefert ein grandioses Psychodrama ab.
Denn June ist mehrfach gescheitert. Sie musste Hannah nicht nur zurücklassen, sondern erlebte in der Gefangenhaft, dass ihre Tochter sie nicht mehr erkennt. Sie liebt das
Auge Nick, lebt aber mit ihrem Mann Luke (O.T. Fagbenle) und ihre kleine Tochter wieder zusammen. Luke verzweifelt zunehmend an seiner völlig traumatisierten Frau.
Das alles ist psychologisch brillant erzählt, aber wenn June aus Verzweiflung ihren Mann vergewaltigt (!), dürften auch einige Zuschauer an dieser Figur verzweifeln. 
Aber besser kann man nicht erzählen, was passiert, wenn ein Missbrauchsopfer sich selbst nur noch als fragmentiert erleben kann. Geduld, Verständnis und empathisches Handeln misslingen daher beinahe zwangsläufig, wenn die Täter noch unterwegs sind. Doch wie kann die Traumabewältigung gelingen?

Dies zeigt – und es ist tatsächlich der Höhepunkt der vierten Staffel – die achte Episode „Testemony“, bei der Elisabeth Moss wie auch in den Episoden 3 und 9 selbst Regie führte. June trifft sich in einer therapeutischen Selbstgruppe mit Moira, Rita (Amand Brugel) und Emily (Alexis Bledel). Emily, der ehemaligen Biologie-Professorin, wurde in Gilead zur Strafe die Klitoris entfernt, nachdem ihre sexuelle Beziehung mit einer „Martha“ entdeckt wurde. Ihre Partnerin wurde gehenkt, Emily kam mit dem Leben davon, konnte heimlich den Untergrund unterstützen und schließlich fliehen. Nun bemüht sich sie sich mit den anderen Frauen um eine intrinsische Bewältigung des Erlebten – bis June die Gruppe aufmischt. Sie will keine Wutbewältigung, sie will Wut!

Dann taucht Irene, eine nach Kanada geflüchtete „Tante“ in der Gruppe auf. Sie will sich bei Emily dafür entschuldigen, dass sie es war, die Emily an den Geheimdienst Gileads verriet. June attackiert die Frau und es gelingt ihr, die Gruppe in eine andere Richtung zu lenken. Keine Vergebung! Irene begeht einige Tage später Selbstmord und Emily gesteht kalt, aber nun angstfrei und selbstbewusst, dass sie froh ist, dass Irene nun endlich tot sei. Der Weg der Rache ist damit geebnet. Junes Traumabewältigung ist abgeschlossen – sie ist gierig nach Rache und ist lustvoll bereit zu töten. Und sie hat Mitstreiterinnen gefunden.

Ist Elisabeth Moss nun zum Charles Bronson der Frauenbewegung geworden? Und ist „The Handmaid‘s Tale“ ein vulgäres Plädoyer für Selbstjustiz und Racheobsessionen geworden? Oder muss man sich von der versimplizierenden Vorstellung trennen, dass die Handlungen fiktiver Figuren das Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden der Erzähler widerspiegeln? Aber sollte Letzteres der Fall sein, haben dann die Macher von „The Handmaid‘s Tale“ nicht eine Verantwortung zu übernehmen, wenn sie die Zuschauer auf diesen abschüssigen Weg führen?
Klar ist nur eins: am Ende der 4. Staffel werden aus Opfern ziemlich barbarische Täter, die auf alttestamentarische Weise die traumatischen Erfahrungen verarbeiten und sich dabei auch noch gut fühlen. Auch weil das Land, in das sie geflüchtet sind, beim opportunen Umgang mit den eigentlichen Tätern eine moralische Ambiguität zeigt, die zweifelhaft ist, auch wenn sie politische Vorteile bringt. Für June sind Wut und Hass der einzige Ausweg aus einer Trauma- und Schulderfahrung, auch weil dadurch die disparaten Teile einer zersplitterten Persönlichkeit zusammengefügt werden. Was sie wirklich dadurch gewonnen hat, ist aber noch nicht erzählt worden. Und das sollte vorerst genügen. „The Handmaid‘s Tale“ hat seine Zuschauer also in einen moralischen Notstand geführt. Mit Blick auf die Spannungsdramaturgie ist der Furor der Hauptfigur allerdings ein Volltreffer, denn keiner weiß, was er noch zu erwarten hat.

Unterm Strich ist Bruce Millers 4. Staffel eine äußerst differenzierte Erzählung, die bis in die Nebenhandlungen auch den Figuren aus der zweiten Reihe sehr viel Raum gibt. Und dabei für Überraschungen sorgt. So gelingt es Janine, die nach dem Bombenhagel in Chicago von den „Augen“ wieder nach Gilead zurückgebracht wird, mit überraschendem Geschick „Tante“ Lydia (Ann Dowd) zu manipulieren. Die brutale Aufseherin über die Mägde erhält plötzlich menschliche Züge. 
Das clevere Netz ähnlich überraschender Episoden zeigt, welche Diversität die Serie auch abseits der Haupthandlung zu bieten hat.
Dass die eine oder andere Wendung konstruiert und damit wenig folgerichtig wirkt, darf aber nicht verschwiegen werden. Dies deutet diskret an, dass das Potential der Geschichte sich langsam erschöpft. Mit hoher Wahrscheinlicht wird in der 5. Staffel (die aktuell bereits läuft) die Schurkenrolle mit der narzisstischen und hochintelligenten Serena Joy besetzt werden. Aber es fällt schwer, sich vorzustellen, dass dies die Geschichte tragen kann. Tatsächlich ist aber eine sechste und letzte Staffel geplant. Und um den Stoff richtig abzumelken, soll mit „The Testaments“ ein Spin-Off gedreht werden. Aber ganz ehrlich: mit dem Ende der 4. Staffel war eigentlich alles erzählt.

 
Note: BigDoc = 1,5

Die Rezension der 5. Staffel gibt es hier.


The Handmaid’s Tale - Season 4 – Hulu, MGM 2017 -2022 – Showrunner: Bruce Miller – 10 Episoden – Regie: Richard Shephard, Colin Watkinson, Elisabeth Moss, Christina Choe, Liz Garbus – D.: Elisabeth Moss, Madeline Brewer, Max Minghella, Bradley Whitford, Josephn Fiennes, Yvonne Stahovski, Ann Dowd, O.T. Fagbenle, Alexis Bledel, Sam Jaeger, Makenna Grace u.a.