Mittwoch, 10. November 2010

Harry Brown


GB 2009, Originaltitel: Harry Brown Regie: Daniel Barber Drehbuch: Gary Young Darsteller: Michael Caine, Emily Mortimer, David Bradley, Charlie Creed-Miles, Ben Drew, Liz Daniels.
 

Vigilanten-Movies leben davon, dass die Bösewichter und Übertäter auf fast transzendentale Weise zur Verkörperung des Bösen schlechthin werden. Daniel Barber lässt in seinem ersten Spielfilm in dieser Hinsicht nichts anbrennen. Diesmal sind es britische Jugendgangs, die satanisch unter einer wehrlosen Bevölkerung wüten.
Gleich am Anfang wird in typischer Handy-Wackel-Ästhetik die brutale Initiation eines Jugendlichen vorgeführt, die in der Just-for-Fun-Ermordung einer jungen Mutter gipfelt. Auch sonst lässt sich Barber nicht lumpen, wenn er zeigt, was in der Londoner Plattenbausiedlung Heygate Estate tagtäglich abgeht: Drogen- und Waffenhandel, Schlägereien und brutale Gewaltexzesse, zügelloser Sex und die völlige Abwesenheit moralischer und sozialer Essentials. Wer oder was für den extremen Grad an Verkommenheit verantwortlich ist, wird nicht thematisiert: wie in John Carpenters Assault on Precinct 13 ist das Übel einfach da und ständig gegenwärtig.
Dass ausgerechnet in diesem Vorhof der Hölle der Royal-Marines-Veteran Harry Brown (Michael Caine) seinen Lebensabend verbringen muss, wirkt zwar nicht gerade sehr glaubwürdig, aber egal: der wegen eines Lungenemphysems eigentlich zu wackelige Nord Irland-Veteran muss ran, um dem Bösen die Stirn zu bieten.
 

Kampf gegen das absolut Böse
Heygate Estate liegt im Londoner Vorort Walworth, der auf einen gewissen Ruf in Hinblick auf kriminelle Traditionen besitzt: die wuchtige und trostlose Betonklotz-Architektur ist schon lange eine beliebtes Ziel bei Filmteams. Immer wenn es darum, die finsteren Bedingungen der britischen Unterschicht, der Transferempfänger, der Dealer und Junkies auf einen vertrauten ästhetischen Look herunterzubrechen, finden die Dreharbeiten in Heygate Estate statt. Und wenn es dort nicht klappt, geht man woanders hin und nennt den Schauplatz anschließend Heygate Estate.
Brown, dessen Frau im Krankenhaus im Koma liegt, verbringt seine freie Zeit in einem Pub, wo er mit seinem Freund Leonard Schach spielt. Als seine Frau stirbt und wenig später seiner Freund von einer Gang brutal ermordet wird, wird der Veteran auf dem nächtlichen Heimweg überfallen. Brown tötet den Angreifer mit dessen eigenem Messer und stellt dabei verblüfft fest, dass sein Nahkampf-Drill offenbar immer noch sitzt. Diese Erfahrung ist ein Wendepunkt: Brown will sich bewaffnen und muss dazu in die Tiefen der Unterwelt hinabsteigen.


Daniel Barber nimmt sich Zeit, um seine Hauptfigur aufzubauen: er zeigt sorgfältig das triste Milieu, die ständig in der Luft liegende Gewalt, die Harry und seinen Freund deprimieren, aber er zeigt auch die Zerbrechlichkeit und zunehmende Vereinsamung seines Helden. Den menschlichen Trash, den die Jugendbanden repräsentieren, baut er gleichzeitig in ruppigen Szenen zur Verkörperung des absolut Bösen auf: Noel, der Gangleader, darf nach einer Verhaftung die verhörenden Polizeibeamten aufs Übelste beschimpfen und bedrohen, ohne dass die Folgen hat. Die Polizei, so Barber, kann nur noch ohnmächtig Phrasen dreschen, hat aber längst die Kontrolle verloren und beschränkt sich darauf, die Leichen einzusammeln und zu katalogisieren. Nur die junge DI Alice Frampton (Emily Mortimer) will sich ernsthaft auf Ermittlungen einlassen, wird aber eher von Ihren Vorgesetzten behindert als unterstützt. Und als Harry zu seinem Ein-Mann-Rachefeldzug aufbricht, ahnt die als Erste die Zusammenhänge.
 

Gute Darsteller, stilsicher, aber konventioneller Racheplot
„Harry Brown“ funktioniert also durchaus im Rahmen der Vigilanten-Movies à la „Death Wish“ und „Death Sentence“ (James Wan, 2007), die in mittlerweile völlig vorhersehbarer Weise die Selbstjustiz als letztes Residuum bürgerlicher Notwehr zelebrieren, ohne dabei die inneren Gesetze des Genres in ihren psychologischen und gesellschaftlichen Dimensionen zu erfassen. Eastwoods „Gran Torino“ und selbst der nicht gerne gelittene „The brave One“ (Die Fremde in dir, Neil Jordan, 2007) wirken im Vergleich dazu wie sorgfältig austarierte Sozialdramen.
Barber, der keineswegs einen schlechten Film gemacht hat, setzt dagegen auf biblischen Zorn und massive Vergeltung. Brown, der von Michael Caine mit souveräner Kraft gespielt wird, findet zunehmend eine tiefe Befriedigung bei dem, was er tut. Sein genau geplanter Amoklauf beginnt mit der Ermordung zweier jugendlicher Waffenhändler, die sich während des Verkaufsgesprächs genüsslich ihre letzte Vergewaltigung als Video anschauen, während das Opfer im Drogenrausch auf dem Sofa vor sich hin röchelt. Klar, dieser Abschaum muss weg und Harry erledigt den Job mit der spürbaren Zufriedenheit eines Profis, der einem der beiden nach einem letalen Bauchschuss in aller Ruhe erklärt, welche Fehler er zuvor begangen hat.
Auch danach ist Harry nur noch schwer zu bremsen: er foltert und liquidiert Gangmitglieder, bis ihm kurz vor dem brutalen Show-down ein wenig die Puste ausgeht. Draußen auf den nächtlichen Straßen tobt bereits der Bürgerkrieg zwischen dem bewaffneten Mob und der als auffallend hilflos dargestellten Polizei-Streitkräfte – eine durchaus sehr demagogische Szene, die in ihrer Instrumentalisierung des Plots nur eine von vielen versteckten Suggestionen und Legitimierungsversuchen Barbers ist.
Später, als die Bösewichter tot im Dreck liegen, rühmt sich die örtliche Polizei ob ihrer gewieften Polizeimethoden und leugnet alle Verdachtsmomente über Selbstjustiz in Heygate Estate. Am Ende geht Harry wieder durch sein Viertel. Der Zuschauer weiß nun, wie man dem Bösen beikommt.
 

„Harry Brown“ ist zweifellos sehr stilsicher inszeniert. Barber gelingt es, mit zunehmender Präzision, die zunächst noch recht unverfänglichen Außenansichten systematisch zu dekonstruieren: je tiefer Harry herabsteigt, desto mehr verwandeln sich die Architektur, die Straßen und Häuser in Innenansichten der Fäulnis. Hier spiegelt sich das Innere im Äußeren und umgekehrt. Auch die darstellerischen Leistungen sind bis in die Nebenrollen über jeden Verdacht erhaben, Caine zeigt alle Facetten und Finessen und gibt seine Figur nicht als omnipotenten Racheengel, sondern als verletzlichen alten Mann, der lediglich das tut, was er kann und was er gelernt hat: Menschen töten.
Letztlich funktioniert auch "Harry Brown" nach einem soliden und äußerst wirkungsvollen Schema: er zeigt uns animalische Bestien, die mit allen Mitteln beiseite geschafft werden müssen. Und er deutet an, dass die Zivilgesellschaft, ähnlich wie in "The brave One", Selbstjustiz tolerieren muss. In seiner brutalen Durchdeklinierung dieses Sujets liefert Barber jedoch keinen Beitrag ab, der etwas Neues zu sagen hat.
Noten: Mr. Mendez = 4, Klawer = 4, BigDoc = 3