Mittwoch, 30. Dezember 2009

Best of 2009


Wie in jedem Jahr ist die Rangliste der besten Filme neben ihrer wichtigsten Aufgabe, nämlich zu informieren, zusätzlich auch ein Grab, in dem zahlreiche Filme versenkt wurden. Entweder, weil sie nicht von mindestens drei Mitgliedern gesehen wurden (erst dann gibt’s eine Note) oder ganz einfach, weil sie mit schlechten Noten abgeschossen worden sind. Die besten Filmleichen stelle ich am Ende vor.
Während im Vorjahr mit „No Country for Old Men“ eine Mischung aus Blockbuster und Kultfilm den Wettbewerb gewann, sehen wir in diesem Jahr einen Film auf Platz 1, dem das erste Attribut abhanden fehlt: “The Fall” von Tarsem Singh floppte in den Kinos, gewann aber bei uns überlegen, was durchaus ein kalkulierter Zufall war, denn der opulente Bilderreigen wurde als vorletzter Film des Jahres auf Bluray präsentiert. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Singhs Film auf DVD nicht diesen überwältigenden Eindruck hinterlassen hätte. So viel zur Technik der Post-Kino-Auswertung, die den Mythos von der der Unvergleichlichkeit der Leinwand zunehmend in Frage stellt.
Platz 2 belegt ein Film, der sowohl in stilistischer als auch künstlerischer Hinsicht diese Auszeichnung verdient: „Waltz with Bashir“ zeigt, dass ein Animationsfilm durch innovative Technik überraschen kann, letztlich aber das Sujet und die Ehrlichkeit und die moralische Kraft des Filmemachers darüber entscheiden, ob der Stil wichtiger ist als der Inhalt.
Platz 3 ging an den sehr umstrittenen Film „Der Vorleser“, der zu den wenigen Filmen gehört, die im „Filmclub“ nicht besprochen wurden. Es ist keineswegs so, dass ich mich gescheut habe, den Film zu rezensieren, aber die filmhistorischen Dimensionen hätten gewaltige Arbeit nach sich gezogen. Für mich blieb bis zuletzt eine der wichtigsten Fragen, warum der deutsche Film seit 1945 kaum relevante Beiträge zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust vorgelegt hat. Recherchiert man tiefer, so findet man heraus, dass das deutsche Kino sehr wohl an der Bewältigung des Dritten Reiches in der Nachkriegsgesellschaft interessiert war, dass es aber häufig ausländische Produzenten und Regisseure waren, die den Finger auf die eigentlichen Wunden legten. Das hätte man für eine Kritik sorgfältig aufarbeiten müssen.
Hinzu kam als weitere Schreibblockade der Umstand, dass man sich in diesem Fall auch der literarischen Vorlage stellen muss. Und die konnte ich Ende des Jahres lesen, während gleichzeitig der Film mit größerer Distanz immer weniger Nachhall in mir fand. Während ich ihn zunächst heftig gegen die wütende Kritik einiger Historiker und Kritiker verteidigte, wurde mir spätestens nach der Lektüre von Schlinks Buch klar, dass der Film auch als Adaption nicht gelungen war und Buch und Film mit dem ziemlich atypischen Kernplot einer Nazi-Analphabetin vom Thema eher ablenkten. Heute halte ich weder das Buch noch den Film für gelungen, ohne dass sich der Daumen völlig senkt. Bestenfalls kann man Buch und Film anrechnen, dass er deutlich macht, wie absurd es ist, sich als Unschuldiger oder gar als Opfer damit auseinanderzusetzen, wie die Täter wirklichen ticken. Letzteres dürfte aber nicht den Intentionen von Schlink und Daldry entsprechen. Die eigentliche Frage bleibt, inwieweit die sozio-kulturelle Konditionierung zum ‚autoritären Charakter’ die moralische Willensfreiheit im Sinne Kants aufhebt. „Der Vorleser“ kann diese Frage nicht beantworten. Das Drama ist zu intim.
Auf Platz 4-5 landeten zwei Filme, die unterschiedliche Resonanz erzeugten: während „The Wrestler“ durchgehend für gute Noten sorgte, konnte „Das weiße Band“ nur durch zwei Einsen für die Charts ‚gerettet’ werden. Hanekes Film, der einige Wochen später bei der Vergabe der Europäischen Filmpreises alle Hauptkategorien gewann, löste dafür im Gegensatz zum Comeback von Mickey Rourke innerhalb des Clubs heftige Diskussionen aus, was für mich per se schon der Nachweis außergewöhnlicher Qualität ist.
Kaum anders ging es auf den Plätzen 6-8 zu, auf denen zwei ‚Historienfilme’ einliefen: keineswegs mit Mantel und Degen, aber mit dem rhetorischen Florett wurde die bürgerliche Tristesse in „Zeiten des Aufruhrs“ bekämpft. Am Ende vergeblich. Bereits 2006 war Clint Eastwood mit zwei Filmen in den Top Twenty, nun schaffte er es erneut mit dem Thriller „The Changeling“ und „Gran Torino“ (13-14.). „The Changeling“ führte nicht nur einen authetischen Fall mit brillant fotografierten Bildern vor, sondern schilderte auch bohrend die barbarischen Zustände in der US-Psychiatrie Anfang der vergangenen Jahrhunderts. Interessanter Beitrag des Film-Machos zur Gender-Problematik.
Ebenfalls auf Platz 6-8 landeten die „Watchmen“ von Zack Snyder, der mit „300“ einen unreflektierten und peinlichen Film abgeliefert hatte, aber mit der mittlerweile kultigen Comic-Verfilmung einen epochalen Film abgeliefert hatte, der die Superhelden-Mythen völlig entzauberte und zudem einen tollen neo-noir-Look ablieferte, der wesentlich glaubwürdiger erscheint als der in „Sin City“. Auch hier schieden sich die Geister im Club, aber insgesamt kann man als Fan des Films mit den Noten durchaus zufrieden sein.
Auf 9-10 landete mit „Der Junge im gestreiften Pyjama“ ein weiterer Holocaust-Film; auch dieser Film ist eine ausländische Produktion und auch hier gab es hierzulande streckenweise boshafte und infame Kritiker-Attacken. Merke: Die deutschen Kritiker sind bei dem Thema in einer Art permanenter Schockstarre, finden aber trotzdem immer schnell heraus, wie man’s nicht macht. Marks Hermanns Film teilte sich den Platz mit „Chiko“, der angesichts der hingebungsvollen Begeisterung im Club vielleicht zu wenig Punkte gemacht hat.
Soweit die Top Ten. Auf den Plätzen 11-20 gab’s den einen oder anderen Außenseiter, aber insgesamt mussten die Filme heuer einen weitaus besseren Notenschnitt als 2008 erzielen, um in die Top Twenty zu gelangen.

In der Kategorie „Close but no cigar“ fuhren die Clubmitglieder mit der Note 3 einen der spektakulärsten Film vor die Wand, die das Filmjahr 2008 zu bieten hatte: Quentin Tarantinos „Inglorious Basterds“ zerriss das Tuch zwischen den feindlichen Lagern auf dramatische Weise. In gewisser Weise erinnerte mich dies an das aufsehenerregende Scheitern von „There will be blood“ im Vorjahr. Ich hoffe, dass die dafür verantwortlichen Juroren in einigen Jahren kräftig Asche auf ihr Haupt streuen.
In der Kategorie „Außenseiter“ wurden die Filme leider nur von zwei Mitgliedern gesehen. Schade, die andere Hälfte konnte Filme wie „Wall-E“, „Frost/Nixon“, „Australia“, „District 9“ und „The International“ nicht würdigen. Vielleicht haben diese Filme als DVD- oder Bluray-Release in 2010 noch eine Chance. Ach ja, Bluray. Insgesamt vier von 20 Filmen wurden in 2009 auf diesem Medium vorgestellt. Das ist nicht viel, aber schon ein gewaltiger Schritt in Richtung „High Definition“.

Und die Flops? Völlig zerrissen wurden Filme wie „Terminator – Die Erlösung“ oder „Operation Walküre“, aber auch überraschend „Happy-go-lucky“ von Mike Leigh. Den anderen Murks will ich erst gar nicht erwähnen. Bis auf einen: „Chaser“ war mit der Note 5,5 der mieseste Film des Jahres 2009. Möge er in Frieden ruhen.

2010 wird ein spannendes Jahr. James Cameron hat mit „Avatar“ ein 3-D-Spektakel auf die Leinwand gebracht, über das zu reden und zu schreiben sein wird. Gleichzeitig wird man auch beobachten müssen, ob die gute alte DVD endgültig den Bach runtergeht und von der Bluray abgelöst wird. Es wäre zu wünschen, denn zum einen bekommt man dadurch DVDs wesentlich billiger, zum anderen ist angesichts der HDTV-Misere in Deutschland die Bluray momentan das einzige Medium, das wirklich einen scharfen Filmgenuss verspricht und auch sein Wort hält. In diesem Sinne wünsche ich allen ein scharfes 2010.

Dienstag, 29. Dezember 2009

The Fall

Indien / Großbritannien / USA 2006 - Regie: Tarsem Singh - Darsteller: Lee Pace, Catinca Untaru, Justine Waddell, Julian Bleach, Leo Bill, Kim Uylenbroek, Ronald France, Sean Gilder, Andrew Roussouw, Michael Huff - FSK: ab 12 - Länge: 117 min. - Start: 12.3.2009

Es ist schon ungewöhnlich, dass der vorletzte Film der Jahres alles, was der FILMCLUB zuvor gesichtet hat, auf den Kopf stellte: Tarsem Singhs „The Fall“ katapultierte sich mit einer überwältigenden Benotung auf Platz 1 der Jahreswertung und dürfte (falls kein potenter Konkurrent in Sicht ist) auch Jahressieger 2009 werden.
Eine Überraschung? Auf jeden Fall, denn mit Singhs opulentem Film, für den die Totale erfunden werden müsste, falls es sie noch nicht gäbe, siegt in einer doch eher an guten Inhalten orientierten Zweckgemeinschaft die Form über den Inhalt, der Stil über die Botschaft. Etwas anderes scheint aber allerdings gute Tradition bei uns zu sein: es siegte der Außenseiter über den Mainstream. Vielleicht ist der Zeitpunkt nicht einmal schlecht gewählt, denn zu Beginn des neuen Jahrzehnts stellt sich das Kino mit James Camerons 3-D-Spetakel „Avatar“ wieder einmal neu auf, um den ewigen und von gleichzeitig auch von ökonomischen Interessen geleiteten Kampf zwischen fotografischer Abbildung und Traumwelt erneut auszutragen. Schön, dass man sich im Kino nicht dogmatisch verorten muss (hoffe ich jedenfalls) und sich in dreister Freiheit einfach alles anschauen kann.

Wider den Dogmatismus
Ein kurzer Rückblick zu den Anfängen: 1895 präsentierten die Brüder Lumière ihren Cinématographen – ihr erster Film Arbeiter verlassen die Lumière-Werke gilt vielen Kinohistorikern als Beginn des Dokumentarfilms, während der französische Theaterbesitzer Georges Méliès wenige Jahre später das fiktionale Potential des Films entdeckte und quasi den ersten Genrefilm drehte: für seine Die Reise zum Mond (1902) wurde die erste Tricktechnik des jungen Kinos erfunden – der Stoptrick. Das Kino scheint seitdem in zwei Lager gespalten zu sein: auf der einen Seite hält die Filmtheorie an der Nähe zur Fotografie und der Verpflichtung zum Realismus fest, auf der anderen Seite existiert das schöne Reich der Illusionen, oder etwas abfälliger: den Rummelplatz mit seinen Freaks. Zum Glück ist selten etwas durch saubere Grenzen getrennt, denn bereits im Lumière-Film wurde die Kamera an verschiedenen Stellen postiert, um ein narratives Element im Film zu etablieren, während Méliès mit theaterhaften Totalen auf eine explizite Erzählästhetik verzichtete und seine Effekte genüsslich zur Schau stellte.
Im Wesentlichen hat sich daran nichts geändert: das Kino mäandert zwischen Roland Emmerich und Ken Loach, zwischen David Lean und Lars von Trier, wobei das Rätselhafte (und mehr noch: der Spaß) nach über hundert Jahren Kinogeschichte darin besteht, dass man in diesem Kampf gar keinen Sieger sehen möchte. Und überhaupt: in Singhs bildgewaltigem Märchen zeigt sich ein Freude am Filmemachen und Geschichtenerzählen, wie man es selten gesehen hat, ein geschicktes Spiel zwischen narzisstischer Schaut-her-was-ich-kann-Ästhetik und einer einfühlsamen Geschichte, die uns daran erinnert, worum es im Kino eigentlich geht – nicht um’s Geschichtenerzählen per se, sondern darum, ob eine Geschichte uns packt. Und dafür gibt es tausend gute Gründe.

Los Angeles, 1915. Der Stuntman Roy Walker (Lee Pace) ist während der Dreharbeiten von einer Brücke auf ein Pferd gesprungen. Für das Pferd endete dies tödlich, für Walkers Seele wohl auch, denn er liegt gelähmt und mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus und hat zudem auch seine Freundin an den Star des Films verloren. Die kleine Mit-Patientin Alexandria (Catinca Untaru) findet den depressiven Anti-Helden bei ihren Exkursionen durch die endlosen Korridore in einem Nebentrakt des Gebäudes. Walker beginnt, dem Mädchen eine phantastische Geschichte über fünf mythische Helden zu erzählen, die gemeinsam einen Rachefeldzug gegen den korrupten Gouverneur Odious planen. Dabei spinnt er das Mädchen geschickt ein in das Netz einer Geschichte, die sich durchaus kalkuliert an den Interessen seiner Adressatin orientiert. Denn es geht um viel mehr: der lebensmüde Stuntman will, dass Alexandria ihm Tabletten besorgt, die ihm helfen sollen einzuschlafen. Es dreht sich allerdings nicht um Schlaftabletten, sondern um eine tödliche Dosis Morphium, die das ahnungslose Mädchen aus dem Medizinschrank stehlen soll.

So etwas hat man noch nie gesehen
Wie in „The Cell“ ist die Geschichte für den indischen Werbefilmer zunächst nur ein Vorwand, um seine Lust an bizarren und traumschönen Bildern zu befriedigen. Wüstenlandschaften verwandeln sich in magische Orte, wie zeitlos wirken die Orte, an denen die Helden prachtvolle Schlösser oder ein "Labyrinth der Verzweiflung" finden. Und obwohl Alexander der Große vorkommt und Charles Darwin sowie ein italienischer Anarchist und Explosionsexperte zu den fünf Helden gehören, die den bösen Gouverneur töten wollen, sind ihre Kostüme ziemlich unhistorisch und Ausdruck einer Fabelwelt, die aus allerlei willkürlich zusammengefügtem Patchwork besteht. Kein Wunder, denn genauso wie Roy Walker den immer wieder unterbrochenen Gang der Geschichte den Bedürfnissen seiner kleinen Freundin anpasst, besetzt diese (oder ist es doch Roy?) die Figuren mit Personen aus ihrer Umgebung, bis der Erzähler und sein Publikum eine Art von Amalgam herstellen, das uns von Singh als grandioses Fantasy- und Märchen-Spektakel vor’s Auge gestellt wird.
Über vier Jahre hat der Werbe- und Musikvideofilmer Tarsem Singh während seiner kommerziellen Einsätze die Locations ausrecherchiert und später mit seinen Darstellern häppchenweise in 18 verschiedenen Ländern gedreht. Eine globale Aktion, die von den Fidschi-Inseln über Chile bis nach Kambodscha reichte und geheimnisvolle Märchenlandschaften schuf, in denen eine geheimnisvolle blaue Stadt, ganze Heerscharen mysteriöser Krieger und schwimmende Elefanten auf die Helden warten. Kaum zu glauben, dass Singh (man muss es ihm wohl glauben) dabei auf digitale Tricks verzichtete und sozusagen einen phantastischen Realismus schuf, wie man ihn selten zuvor im Kino gesehen hat. Um ehrlich zu sein: man hat einen Film wie „The Fall“ eigentlich noch nie gesehen.
Finanzieren wollte dies niemand und so zahlte Singh alles aus eigener Tasche, mit dem Ergebnis, dass er heute pleite, aber nach eigener Aussage glücklich ist. Bereits 2006 stellte Tarsem Singh den Film auf dem Toronto Film Festival vor, aber erst Anfang 2009 kam er in einigen deutschen Kinos auf die Leinwand. „The Fall“ wird mangels Resonanz allerdings alles auf die Karte Nachverwertung setzen müssen, damit sein Macher nicht bis ans Ende seiner Tage den Produktionskosten nachtrauert. Und hier zeigt sich auch, dass der eine oder andere Kritiker, der den Film als Leinwandepos feiert, offenbar an den ökonomischen und technischen Alternativen des Marktes vorbeigedacht hat. „The Fall“ ist trotz seiner Opulenz ein versponnener Nischenfilm, der sich seine Anhänger vermutlich ähnlich wie bei „Donnie Darko“ über die DVD und die Bluray erobern wird. Ersteres würde dem Film nicht einmal zur Ehre gereichen, denn nur die technischen Qualitäten der in einer umfangreichen 3er-Set-Edition auf den deutschen Markt gekommenen Bluray zeigen, dass „The Fall“ ein Referenzfall für’s gehobene Heimkino ist.

Erlösungsgeschichte mit augenzwinkerndem Charme
Walker, der seinen Selbstmordversuch überlebt hat, rächt sich zunächst an den fatalen Umständen, indem er seine Geschichte immer grausamer werden lässt. Ein Held nach dem anderen muss sterben, obwohl Alexandria um ein Happy-end bettelt. Als Roy feststellt "Es ist meine Geschichte", entgegnet sie: "Meine auch!" Ganz am Ende demonstriert uns Singh, dass er uns mehr als ein infantiles Bilderrauschen vorgesetzt hat, sondern vielmehr eine Hommage an das Kino. Und so muss sich der Geschichtenerzähler den lebensbejahenden Wüschen seines Publikums stellen, das nur in begrenzter Dosierung aussichtslose Verzweifelung und tiefe Depression hinnehmen kann. „The Fall“ ist so gesehen wie „The Cell“ eine mythische Geschichte von der Erlösung. Während Jennifer Lopez in „The Cell“ den traumatisierten Serienkiller in dessen Traumwelt nicht besiegen kann und ihn in ihre eigene Phantasielandschaft holen muss, um ihn dort zu töten und gleichzeitig zu erlösen, muss sich der Erzähler in „The Fall“ ganz pragmatisch den Wünschen seiner Zuhörerin stellen, um erlöst zu werden und sein eigenes Leben zurückzugewinnen. Das geschieht trotz aller Dramatik mit einem augenzwinkernden Charme, denn so funktioniert halt Kino dann doch wohl in den meisten Fällen.
Am Ende sitzen die Patienten des Krankenhauses vor einer Leinwand, über die schwarz-weiße Stummfilmbilder flimmern und uns in die Welt des jungen Kinos versetzen. Wir sehen gelungene Stunts und überraschende Tricks, verblüffende Wendungen und bescheuerte Ideen, auch der offenbar genesene Roy Walker ist unter den Akteuren. Wir sehen, wie weit wir die alte Stummfilm-Welt hinter uns gelassen haben und wir verstehen, dass das vielleicht doch nicht so ganz stimmt. Und wir sehen einen Bilderreigen, mit dem sich Tarsem Singh doch eher auf die Seite von Georges Méliès schlägt, wobei wir hoffentlich nicht vergessen werden, dass auch die Arbeiter vor der Fabrik zum Kino gehören, und zwar weil „The Fall“ trotz seiner außergewöhnlichen Qualitäten nur ein Mosaiksteinchen in unserer kinematographischen Kopflandschaft bleiben wird. Also kein Fall für Dogmatiker.

Nachlese
Die Filmkritik (das ist wohl bei außergewöhnlichen Filmen hierzulande nicht zu vermeiden) reagierte schwelgerisch und angesäuert auf den Film. Magali-Ann Thomas schreibt für das Bayerische Fernsehen: „Herausragendes Kinospektakel für alle, die in einem Film Abenteuer, Liebe, Geschichte, Drama und großartige Bilder finden wollen. Mit einer kleinen Hauptdarstellerin, die alle Herzen erreicht: pummelig, neugierig und unheimlich tapfer.“
Gut zu wissen.
Sascha Keilholz sieht auf critic.de nur „Mumpitz in schönen Bildern“ und spielt Singhs Film gegen die (auch meiner Meinung nach gelungeneren) Filme The Devil’s Backbone (2001) und Pans Labyrinth (El Laberinto del Fauno, 2006) von Guillermo del Toro aus: „Während die beiden genannten Filme del Toros dem Zuschauer inhaltliche und ästhetische Dichte bieten, ist Tarsem Singhs Bilderrevue trotz aller vorgeschobenen erzählerischen Komplexität völlig leer und hohl. Der Blick des Kindes weicht hier einer Kindlichkeit und schließlich dem Hang zum Kindischen. Eindeutigkeit ist ein Merkmal dieser Kinoform. Damit steht ‚The Fall’ tatsächlich beispielhaft für eine Tendenz in den USA produzierter Mainstreamfilme. Der Blick auf ein immer jünger werdendes, filmhistorisch und ästhetisch anspruchsloses, die Sensationen suchendes Publikum, führt zu Ausmaßen an Beliebigkeit, technischer Ungenauigkeit und letztlich Geistlosigkeit, die in dieser Form neu ist.“
Ob dies Mumpitz in schönen Worten ist, mag jeder für sich entscheiden. Die Erfolglosigkeit von Singhs Films an den Kassen deutet eher nicht daraufhin, dass das anspruchslose Publikum erreicht wurde. Woran das wohl liegt?
Auch Daniel Sander sieht in SPIEGEL-ONLINE neben der Magie eher Wahnsinn am Werke: „Anders als Guillermo del Toros artverwandter Glücksgriff ‚Pans Labyrinth’ bietet Tarsem keinen intelligenten und spannenden Kontext für seine traumhaften Bilder, der Film erstickt ohne glaubwürdige Ebene fast in Magie und Wahnsinn. Doch wer an die Macht der Bilder glaubt und das Kino liebt, weil es Welten erschaffen kann wie kein anderes Medium, der ist in "The Fall" richtig. Einfach fallen lassen und genießen.“ Das hat doch einen versöhnlichen Ausklang, oder?
Birgit Roschy sieht in epd-Film genau das Gegenteil. Wie schön. „Mit buchstäblich traumwandlerischer Sicherheit setzt Singh seine Fata Morgana ins Bild, mit Landschaftspanoramen im Stil alter Postkarten, Puppentheater und Stummfilm-Sequenzen. Gedreht wurde das entspannte Werk, das sichtlich keinen kommerziellen Erwägungen geschuldet ist, während mehrerer Jahre, in denen Singh als Werbefilmer um den Globus reiste. Es verwundert nicht, dass diese L’art-pour-l’art-Spinnerei von den ehemaligen Werbefilmern David Fincher und Spike Jonze mitproduziert wurde.“
Dagegen entdeckt Mary Keiser im gewiss nicht distanzlosen SCHNITT die gelungene Parabel: „Alexandria stemmt sich mit dem natürlichen Gerechtigkeitsbedürfnis eines Kindes gegen Roys hoffnungslosen Pessimismus. Für beide ist die Geschichte zu einer Parabel über ihr Leben geworden. Genau das entspricht dem ursprünglichen Zweck von Geschichten, ob Mythen, Märchen oder Sagen. Singh führt fast alle Formen menschlichen Erzählens als kulturelle Universalie auf, von einfachen Ritualen über klassisches Theater bis zum Film… Der indische Regisseur erinnert mit seinem …Film daran, dass alle Menschen Geschichten brauchen – besonders in Form von solchen Filmen.“
Rüdiger Suchsland sieht in „The Fall“ einen wunderschönen Film über das Erzählen, kann sich in seiner sehr lesenswerten Kritik aber einen kritischen und ideologiekritisch geschulten Seitenhieb nicht verkneifen: „Aber wirklich überzeugend sind Singhs Bilder trotzdem nicht. Über ihnen liegt etwas seltsam Steriles. Zu sehr ähneln die Wow-Bilder vor allem jenen sündteuren Werbeclips, in denen Autohersteller ihre Fahrzeuge in Wüsten und Vulkanlandschaften, vor das Taj Mahal oder zwischen tanzende afrikanische Eingeborene platzieren, um dann weltrettende, kulturverbindende oder gar philosophische Messages zu verzapfen, obwohl sie doch eigentlich nur Autos verkaufen wollen.“ Oups, daran hatte ich gar nicht gedacht.
Am besten gefällt mir Marc Olsens Fazit in der Los Angeles Times:„‚The Fall‘ erweckt nie den Eindruck, als hätte er eine andere Daseinsberechtigung, als schön anzuschauen zu sein.“
Für unsentimentale Cinephile sicher ein Graus. Mir reicht dies durchaus.

Noten: Mr. Mendez = 2, Klawer = 1, BigDoc = 1, Melonie = 1

Sonntag, 1. November 2009

Schwarze Pädagogik

Nachtrag zu Michael Hanekes Film "Das weiße Band"
Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hat zu dem Film ein nahezu perfektes Materialheft vorgelegt. Leider wurden die ergänzenden Anmerkungen zur Schwarzen Pädagogik schlecht recherchiert. Die bpb nennt in diesem Zusammenhang (S.9) besonders ein Buch: „Im ‚Methodenbuch für Väter und Mütter der Familie und Völker’ von 1880 (Rutschky, 1977) beispielsweise wird detailliert beschrieben, wie man diese Erziehungsmethoden gezielt verwendet, um Kindern ihre völlige Abhängigkeit von der Willkür der Eltern vor Augen zu führen und ihren Willen zu brechen.“
Der Quellenhinweis zielt auf die Soziologin Katharina Rutschky ab, die mit Untersuchungen über die Pädagogik des 18. und 19. Jh. bekannt wurde (Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, 1977). Zum einen wird von der bpb unterschlagen, dass dieses Buch von dem bekannten Reformpädagogen Johann Bernhard Basedow stammt, zum anderen ist es bereits 1770 erschienen. Nun kann Basedow kaum als Vorreiter der Schwarzen Pädagogik genannt werden. Basedows Bemühungen hatten eine kreative Reform der überkommenen Schulpädagogik zum Ziel: die Schüler sollten frei und mit großer Selbstständigkeit forschen und lernen. Das Prinzip des selbst ernannten Philanthropen lautete „Nicht viel, aber mit Lust“ und kündigt nicht gerade eine sadistische Quälpädagogik an. Ich verweise gerne auf eine Quelle.
Aufschlussreich sind aus meiner Sicht die Postulate des schweizerischen Philosophen Johann Georg Sulzer (1720 – 1779), dessen ästhetisches Kompendium „Allgemeine Theorie der schönen Künste“ (1753) als Paradebeispiel der deutschsprachigen Hochaufklärung gilt. Sulzer versuchte sich auch als Pädagoge und merkte zur frühkindlichen Erziehung an: „Diese ersten Jahre haben unter anderem auch den Vorteil, dass man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen nehmen, so erinnern sie sich hiernach niemals mehr, dass sie einen Willen gehabt haben.“ (J. Sulzer: Versuch einiger vernünftiger Gedanken von der Auferziehung und Unterweisung der Kinder (1745)).
Sulzer war nun nicht etwa ein pathologischer Sadist, sondern hatte nicht weniger als die „Glückseligkeit“ der Anempfohlenen im Sinne. Man kann mit Schaum vor dem Mund auf die Pädagogen des 18. Jh. eindreschen oder das Scheitern der Aufklärung beklagen, sollte aber wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass sich die frühe Pädagogik auf einem noch nicht ganz umgepflügten Acker befand. Theoretiker wie Sulzer standen in der Tradition eines brachialen Christentums, das dem Kind per se die Neigung zum Bösen unterstellte. Dessen Eigensinn musste nicht nur deshalb gebrochen werden, damit es unterworfen wird, sondern weil der frühkindliche Eigensinn aus dem angeborenen Bösen herrührt. So gerät Pädagogik natürlich zum Exorzismus, aber den geschichtlichen Kontext habe ich in der Filmkritik mit Verweisen auf den Calvinismus und den protestantischen Codex und einem Zitat von Max Weber hoffentlich etwas aufgehellt.
Natürlich war diese Pädagogik leib- und sexualfeindlich und repressiv, aber in ihrem Begründungszusammenhang bleibt sie ein Kind der Aufklärung und des Idealismus, ging es doch darum, das Kind zum sittlichen Vernunftwesen zu formen, was auch im Kantschen Sinne letztlich die Freiheit des Individuums in vollendeter Form darstellte. Die im Nachhinein so genannte Schwarze Pädagogik beschreibt nichts anders als den Weg des Kindes vom Tier zum sittlichen Vernunftwesen, das aus Einsicht seine Autonomie gewinnt.
All diese aus heutiger Sicht obskuren Ansichten hielten sich wacker – und zwar über das 19. Jh. hinaus. Geprügelt wurde aus Überzeugung und wie der Pfarrer in „Das weiße Band“ salbadernd an seiner Härte leidet, könnte auch der deutsche Pädagoge K.A. Schmid gelitten haben: „,Du hauest ihn (den Knaben) mit der Rute; aber du errettest seine Seele von der Hölle.‘ In diesem Wort malt Salomo das Hartseinkönnen der wahren Liebe. Es ist nicht die harte stoische oder einseitig gesetzliche Strenge, die Gefallen an sich selber hat und lieber den Zögling opfert, als dass sie einmal von ihrer Satzung wiche; nein, sie lässt ihr herzliches Wohlmeinen bei allem Ernst doch immer wieder in Freundlichkeit, Erbarmen, hoffender Geduld, wie die Sonne durch Wolken, hindurchleuchten. Sie ist bei aller Festigkeit doch frei und weiß immer, was sie tut und warum sie es tut.“ (Aus: K. A. Schmid [Hrsg.]: Enzyklopädie des gesamten Erziehungs und Unterrichtswesens, 1887, zit. n. [Rutschky 1977]). Wer sich gründlicher informieren will, dem sei Material der TU Darmstadt ans Herz gelegt.

Die Fortschreibung dieser unseligen Geschichte sind die Exzesse katholischer Heimerziehung, die bis in die 1970er Jahre fortgesetzt wurden und als verlängerter Arm der Schwarzen Pädagogik gelten. Auch hier empfehle ich eine leicht zugängliche Quelle, die ihrerseits eine Reihe aufschlussreicher Links anbietet.

Man kann an diese Thematik aus psychoanalytischer oder soziologischer Sicht herantreten, am Ende steht das Pathologische, das längst seine Herkunft aus der Aufklärung abgeworfen hat: das Kind ist der Feind. Auch heute geraten die Pädagogen mit ihren liberalen Entwürfen erneut in einen Erklärungsnotstand, wenn sie Mobbing und Aggression an Schulen entgegentreten sollen. Denn erneut treten jene auf den Plan, die nach strenger Härte rufen. Sie sollten sich umschauen, um herauszufinden, in welcher Tradition sie stehen.

Samstag, 31. Oktober 2009

Das weiße Band

Michael Haneke und sein Film über das Wesen der Gewalt

Michael Haneke ist ein Regisseur, der scheinbar genau weiß, warum er immer wieder aneckt und den Zuschauern Bilder zumutet, die oft abstoßen (Bennys Video, 1992, Funny Games,1997) und gleichzeitig magisch anziehen, wenn man das Gesehene ertragen kann. Dass ihm, der nach den Wurzeln von Gewalt sucht, nicht selten die Verherrlichung der Gewalt unterstellt wurde, gehört zu den – allerdings vorhersehbaren – Paradoxien der Filmrezeption. „Das weiße Band“, der Sieger in Cannes, wird nun unisono als Meisterwerk gefeiert. Zu Recht.
Haneke spürt erneut den Ursachen von Gewalt und Terror nach, diesmal im auch filmästhetisch geschlossenen Mikrokosmos eines Dorfes am Anfang des 20. Jahrhunderts, komplett in Schwarz-Weiß gedreht und dank aufwändiger digitaler Nachbearbeitung so konsequent durchgestylt, dass einige Kritiker sich schon Sorgen um das Sujet machten, dessen thematische Morbidität möglicherweise so viel Opulenz und Schönheit gar nicht verdient.

Schönheit hat ihren Preis
Am Schwarz-Weiß-Film hängt ein Mythos. Schwarz-Weiß scheint, obwohl es alles andere als eine naturalistische Wiedergabe der Realität ist (die Natur ist bunt!), eine mimetische Kraft zu besitzen, die ihn unweigerlich ans Dokumentarische fesselt. Vielleicht ist dies seiner Herkunft aus dem Photographischen geschuldet, aber ein schwer beweisbarer Mythos bleiben solche Betrachtungen dennoch. Wer sich ältere Arbeiten von Orson Welles anschaut, dem der ästhetische Aspekt seiner Filme alles andere als gleichgültig war, kann unschwer erkennen, dass sich die schwarz-weiße Ästhetik ganz rasch auf die Seite einer expressionistischen, häufig auch narzisstischen (Selbst-)Bespiegelung der Realitätswahrnehmung schlagen kann. Auch das geht.

Das Ganze ist eine Frage des Stils und Stil ist bei Haneke immer eng mit dem Narrativen verbunden. Und so ist sein historischer Ausflug in ein norddeutsches Dorf kurz nach der Jahrhundertwende in seiner Farbwahl deswegen so konsequent, weil sie ans historische Foto erinnert, genauso wie der Off-Erzähler (Ernst Jacobi) literarische Traditionen des ausgehenden 19. Jh. (Fontane) anklingen lässt, deren vermeintlich biederer und gleichmütiger Tonfall eine Sicherheit vorgaukelt, die es nicht gibt: der Erzähler richtet zwar seinen Blick aus sicherer Distanz zurück auf das Gewesene, aber dies hält denjenigen, dem es erzählt wird, nicht auf Distanz. Meist wird so ganz beiläufig die Büchse der Pandora geöffnet und es tauchen scheußliche Dinge auf, an die man nicht erinnert werden möchte. Beides, die Farbe und den Erzähler, kann man durchaus als Verfremdungseffekt interpretieren, so wie es Haneke in Interviews angedeutet hat. Es sind aber im Gegensatz zum deutlich schrilleren Brechtschen V-Effekt leise Töne einer Dissonanz, die Tradiertes nutzt, ohne dass der Zuschauer es sich allzu sehr gemütlich machen kann. Schönheit hat bei Haneke ihren Preis.

Unbehagliche Außenansichten
Es ist Abend, die Zeit für die letzte gemeinsame Mahlzeit des Tages. In der Pastorenfamilie sitzt aber niemand, alle Familienmitglieder stehen vor ihren Stühlen. Mit maßvollen und sorgfältig gewählten Worten kanzelt der Pastor zwei seiner zu spät gekommenen Kinder ab. Martin und Klara und der Rest der Familie wirken schreckstarr, es wird nicht das erste Mal sein, dass das Familienoberhaupt für den nächsten Tag eine Prügelstrafe in Aussicht stellt. Der strenge Patriarch empfindet dies allerdings als Belastung. Für sich wohlgemerkt. Er schickt die Familie mitsamt der Mutter ohne Essen ins Bett und lässt sich die Hand küssen.
Der Satz „Strafe muss sein!“ ist auch heute noch geläufig. Dieser pädagogische Imperativ besitzt einen Sprachduktus, der jedes Hinterfragen überflüssig macht. Auch aus der Sicht der Kinder ist Widerstand sinnlos, jede Erklärung ihres Handelns fruchtlos. Michael Hankes „Das weiße Band“ wird nach dieser frühen Szene seine Geschichte an anderen Orten weitererzählen, aber unerbittlich kehrt er am Folgetag zurück zur protestantischen Pfarrersfamilie, um den Akt der Züchtigung zu dokumentieren. Der Zuschauer bleibt jedoch draußen. Haneke zeigt die beiden Sünder beim Betreten eines Zimmers, in dem sie vor der versammelten Familie ihre Strafe empfangen sollen. Die Tür schließt sich, dann öffnet sie sich wieder und Martin holt den Prügel aus einem anderen Zimmer, kehrt zurück und schließt erneut die Tür. Die Kamera bewegt sich keinen Zentimeter und man wartet, bis die ersten Schreie zu hören sind. Das ist weder Suspense noch ein dramaturgischer Kniff, der die Spannung steigern soll. Es ist ein Brennglas, das Haneke benutzt, und wie auch in seinen früheren Filmen spürt man eine zunehmende Unbehaglichkeit im Kinosessel.

Es sind Außenansichten einer erbarmungslosen Bildungs- und Sozialkultur, die Haneke bietet. Eine Psychologisierung der Handlung, die um Verständnis bemüht ist, gibt es nicht. Sie käme zustande, wenn die Kinder miteinander reden würden, wenn der Zuschauer wie ein allmächtiger Beobachter immer etwas mehr wüsste als die Handelnden. Aber dies tut er nicht, er bleibt außen vor, denn die Kinder reden nur selten und die wenigen Sätze bleiben mysteriös. Meist gehen sie gemeinsam durchs Dorf und häufig sind die Mädchen, angeführt von der in Schwarz gekleideten Klara, enger beisammen als die Jungs. Wie bei Rohmer hält sich die Kamera dabei meist an einem Ort auf, es gibt keine Fahrten, kaum Schwenks und in langen Einstellungen werden die Szenen nüchtern und mit wenigen Schnitten ausgebreitet. Das Brennglas, das Haneke nutzt, vergrößert alles, aber man weiß, dass der Gegenstand der Beobachtung auch einem Brennpunkt unterliegt und alles in Flammen aufgehen kann, wenn Winkel und Betrachtungsdauer stimmen.

Wir sind im Jahre 1913, in Eichwald, einem protestantischen Dorf. Die Hierarchie steckt Haneke schnell ab: an der Spitze der Baron (Ulrich Tukur), dessen über Generationen weitergereichte ökonomische Vormachtstellung brüchig zu werden scheint; es folgen der Pastor (brillant: Burghart Klaussner), der Arzt (Rainer Bock), der Lehrer (Christian Friedel), dann die Bauern und ganz am Ende die osteuropäischen Erntehelfer. Der dörfliche Friede, ein Begriff, der nur Sinn macht, wenn er die fein ausbalancierte Klassenstruktur meint, wird gestört, als sich seltsame Vorfälle häufen: Zunächst verunglückt der Arzt mit seinem Pferd - ein dünner Draht wurde zwischen zwei Bäumen gespannt und ist anderentags spurlos verschwunden. Eine Bauersfrau kommt bei einem Arbeitsunfall im Sägewerk ums Leben, worauf ihr Sohn, der den Baron für verantwortlich hält, dessen Kohlernte nach dem Erntedankfest abmäht. Der älteste Sohn des Barons wird am gleichen Tag entführt und am nächsten Morgen gefesselt und misshandelt im Sägewerk aufgefunden. Viel später, als sich das Dorf ein wenig beruhigt hat, wird eine Scheune in Brand gesetzt und alles eskaliert endgültig, als der behinderte Sohn der Hebamme schwer misshandelt im Wald gefunden wird.
Wer tut so etwas?
Gibt es eine Verschwörung, die die Missetaten plant und ausführt? Oder sind es Einzeltäter, die spontanen Racheimpulsen folgen? Die Vernichtung der Kohlernte ist schnell aufgeklärt, der Vater des Verantwortlichen wird sich später aufhängen. Der Unfall im Sägewerk deutet auf einen morschen Boden hin. Aber das Attentat auf den Arzt und alle weiteren Gewalttaten bleiben ungeklärt, auch dann, als die Hebamme spurlos verschwindet, nachdem sie dem Lehrer angedeutet hat, dass sie den oder die Täter kennt. Der Lehrer, der spürbar gealtert auch Off-Erzähler ist, wird am Ende die Kinder verdächtigen, die immer wieder in Gruppen an den Orten auftauchen, an denen etwas geschehen ist. Aber auch dies bleibt ungeklärt, obwohl man einmal sieht, dass ein Dorfjunge den Sohn des Barons in den Weiher wirft, ohne danach eine Hand zu rühren, um ihn vor dem Ertrinken zu retten. Dies tut ein Freund, aber der brutale und spontane Akt der Gewalt scheint keinem Plan zu folgen. Es scheint, als würden die Strukturen des Dorfes langsam und unausweichlich implodieren und einen Zeitenwechsel andeuten.

Ein Biotop am Rande der Verzweifelung
Das alles könnte einen veritablen Krimiplot abgeben, zudem angereichert mit einem Schuss Fantasy. Aber Haneke arrangiert die ungeheuerlichen Ereignisse sehr locker, um sich immer wieder den mikroskopischen Strukturen des Gemeinlebens zuzuwenden. Dort spiegelt sich die äußere Gewalt, die sich nicht nur gegen Unterlegene und Außenseiter wendet wie den geistig behinderten Sohn der Hebamme, in den viel feineren Strukturen eines repressiven familiären Systems wider. Und immer wieder kehrt Haneke zur Pastorenfamilie zurück, um minuziös dieses Zusammenspiel der Komponenten zu beobachten. Sei es, wenn Klara die tobende Klasse vor dem Beginn des Konfirmationsunterrichts ganz im Sinne ihres Vaters zu beruhigen versucht, von diesem aber als Rädelsführerin missdeutet, misshandelt und gedemütigt wird, bis sie kollabiert; sei es, wenn Klara dafür den Lieblingsvogel ihres Vaters köpft und mitsamt der Schere zu einem christlichen Kreuzsymbol arrangiert; oder sei es auch dann, wenn der Pastor von seinem Jüngsten einen neuen Vogel geschenkt bekommt und mit seinem Kiefer mahlt, um seine Gefühle für das Kind zu unterdrücken und nur ein knappes „Danke“ zuwege bringt.

Überall begegnet dem Zuschauer in Hanekes Film eine Kälte hart am Rande zur Verzweifelung. Das Biotop Eichwald zeigt sich sowohl in makroskopischer als auch in mikroskopischer Hinsicht als autoritär-repressiver Kontext, der sich zwar in der nächsten Generation reproduzieren möchte, aber mittlerweile so aufgeheizt ist, dass seine durch christlichen Glauben und nicht hinterfragte Traditionen definierten Adhäsionskräfte versagen.
Dass selbst die essentiellen moralischen Übereinkünfte der Dorfgemeinschaft an den Rändern aufbrechen, zeigt Haneke am Beispiel des Arztes, eines Zugezogenen, der seine Geliebte, die Hebamme sowohl sexuell als auch rhetorisch quält und erniedrigt, während er sich nächstens inzestuös an seiner Tochter zu schaffen macht.

Menetekel des Faschismus?
Es liegt nahe, den Film als Menetekel zu lesen, das den von Fromm bis Adorno oft beschworenen ‚autoritären Charakter’ in seinen soziologisch erkennbaren Sedimenten dingfest macht. Dieser Typus beugt sich, durch Erziehung und Sozialisation gebrochen, widerspruchsfrei den Gesetzen eines totalitären Gesellschaftssystems, um dort nach Maßgabe durch die eigene gesellschaftliche Rolle nun auch selbst sadistische Impulse ausleben zu können und zu dürfen. Faschismus ante portas?
Diese Deutung springt den Zuschauer, insofern er über entsprechende Bildung und Wissen verfügt, förmlich an. Genauso wie das Nachspüren der Einflüsse der später so genannten Schwarzen Pädagogik, jenen Handreichungen für Erzieher und Eltern, die beginnend mit ersten Schriften aus dem ausgehenden 17. Jh. ein repressives Erziehungsideal in den Familien verankerte, dessen eigentliches Ziel die Zerstörung der kindlichen Persönlichkeit war.
Beides mag stimmen und vielleicht werden die Kinder des Dorfes zwei Jahrzehnte später willfährige Nazis sein. Aber „Das weiße Band“ ist subversiv genug, um sich nicht allzu schnell und vor allen Dingen vollständig enträtseln zu lassen. Wer tiefer gräbt, wird jene seismographischen Schwingungen entdecken, die eine Verbindung zwischen dem leibfeindlichen und depravierenden Calvinismus und der später von Max Weber ausführlich beschriebenen protestantischen Arbeitsethik aufzeigen, deren Wesen ontologisch als tiefe Entfremdung gedeutet werden kann. Weber beschreibt dies als Walten eines unnahbaren Gottes: „Maßstäbe irdischer Gerechtigkeit an (Gottes) souveräne Verfügungen anzulegen, ist sinnlos…der Sinn unseres individuellen Schicksals ist von dunklen Geheimnissen umgeben, die zu ergründen unmöglich und vermessen ist…Denn jede Kreatur ist durch eine unüberbrückbare Kluft von Gott geschieden und verdient von ihm…lediglich den ewigen Tod…Anzunehmen, dass menschliches Verdienst oder Verschulden dieses Schicksal mitbestimme, hieße Gottes absolut freie Entschlüsse, die von Ewigkeit her feststehen, als durch menschliche Einwirkung wandelbar ansehen: ein unmöglicher Gedanke.“
Und die Konsequenz? „In ihrer pathetischen Unmenschlichkeit musste diese Lehre nun für die Stimmung einer Generation, die sich ihrer grandiosen Konsequenz ergab, vor allem eine Folge haben: ein Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums“ (Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1905).

Ein Film, der verstört
"Die weiße Farbe soll Euch an Unschuld und Reinheit erinnern", sagt der Pastor seinen ‚sündigen’ Kindern Martin und Klara, bevor er sie mit einem ebensolchen Band ausstaffiert. Daher rührt der Titel des Films. Fast scheint es in diesem deterministischen Kosmos, in dem alles von Gott bestimmt ist, auch die Sünde und das Gutsein, vollkommen logisch zu sein, dem des freien Willens beraubten Kind die Normen ohne jedweden Diskurs einzubläuen. Es geht nicht um Verstehen, sondern um Funktionieren. Es geht nicht um Vernunft, sondern um Gehorsam. Das weiße Band stigmatisiert die Kinder als Sünder und kann zugleich als Ehrenzeichen getragen werden. Ein verstörender Widerspruch, der sich bald historisch auflösen wird, dann nämlich, wenn Judensterne gewiss keine Ehrenzeichen mehr sein werden.

„Das weiße Band“ stellt seine Themen gleich im Dutzendpack zur Debatte: das Scheitern einer Religion, die sich mit alttestamentarischer Härte der Zucht zuwendet; die sexuelle Frustration; die spät-feudalistischen Strukturen einen Klassengesellschaft, die als letztes Aufbäumen den Faschismus generiert; die Sublimierung von Aggressionen durch Gewalt gegen Schwache und Außenseiter – an diesem gewaltigen Themenüberbau scheitert Haneke nicht, weil er seine Figuren nur selten etwas verhandeln lässt, sondern sie beobachtet. Dies gibt dem Film eine formale Geschlossenheit, die Spuren hinterlässt. Spuren, die man rational deuten kann, die emotional aber verstören.
Am Ende entlässt Haneke nicht nur seinen Erzähler in den 1. Weltkrieg. Dies hat auch Thomas Mann mit dem jungen Castorp gemacht, nachdem sich die illustre Zauberberg-Gesellschaft mit einem kollektiven Veitstanz verabschiedete. Castorp verlor der Autor aus den Augen. Den jungen Lehrer, der weder das humanistische Gewissen des Dorfes noch ein zivilcouragierter Strahlemann ist, sondern einfach nur anständig, lässt er in Eva sein privates Glück finden. Nach dem Krieg wird der junge Mann Schneider. Wie sein Vater.

Noten: BigDoc = 1, Klawer = 1

Sonntag, 11. Oktober 2009

Appaloosa

Appaloosa Originaltitel: Appaloosa, Produktionsland: USA 2008, Länge: ca. 114 Minuten, FSK 12, Regie: Ed Harris, Drehbuch: Robert Knott, Ed Harris, D: Ed Harris: Virgil Cole, Viggo Mortensen: Everett Hitch, Jeremy Irons: Randall Bragg, Lance Henriksen: Ring Shelton, Renée Zellweger: Allison French

Wenn man einen neuen Western sieht, dann geschieht dies im Bewusstsein, einem alternden, fast vergessenen Genre beizuwohnen. Wie ein guter Freund, der nach all den Jahren nichts von seiner Persönlichkeit, seinem Charme und seinen Gewohnheiten abgelegt hat, begegnet einem im Western selten etwas Neues. Die Geschichten sind erzählt: von der klassischen Phase des Western in den 50er und 60er-Jahren, über die Neo-Western eines Robert Altman bis hin zu den Spätwestern, die uns wie Todeszug nach Yuma lediglich Variationen der bekannten Themen vorlegen. Es geht um Gewalt und Recht, Männerfreundschaften, Loyalität und Landschaften, wobei diese weniger als realistischer Background dienen, sondern schon längst eine Traum- und Phantasielandschaft geworden sind, in denen der mythologische Aspekt des Genres abgearbeitet wird.

In der durchweg überzeugenden ersten Regiearbeit von Ed Harris, den man als Schauspieler in seiner Bedeutung für das amerikanische Kino möglicherweise etwas unterschätzt, begegnet einem die lakonische Seite des Genres. Und die besteht darin, dass Harris den Meta-Plot nur benutzt, um dem Zuschauer seinen Sub-Plot zu erzählen: es ist die Geschichte von zwei Männern, deren Gefühlsleben sich aufgelöst hat und die, von jeglichen Erwartungen befreit, von einem beinahe zynischen Pragmatismus gelenkt werden, der keine großen Fragen mehr stellt, sondern sich eiskalt kalkulierend mit den Abfällen des Lebens zufrieden gibt. In „Appaloosa“ ist dies eine Femme fatale, die ihre jeweiligen Liebhaber rücksichtslos ausbeutet und selbst ausgebeutet wird.
Man braucht eine gewisse Zeit, um zu erkennen, dass die Worte und Gesten der Figuren wenig zählen, sondern nur die Taten. Nur die beiden Professionals können ihren Worten trauen und dem einen der beiden gehen sie sogar zuweilen aus, er ringt sowohl allegorisch als auch symptomatisch mit der Sprache, bis sein Freund ihm weiterhilft. Ein schöner Einfall. Harris schildert die Psychologie und den Moralcodex seiner Protagonisten unaufdringlich, fast mit drögem Tempo, aber nach der ersten Begegnung mit dem Film verlangt alles nach einem zweiten Blick. Das ist schon an sich eine Menge wert.

Natürlich geht es in „Appaloosa“ wieder einmal um einen klassischen Konflikt: der Rinderbaron Randall Bragg (routiniert als kultivierter Bösewicht: Jeremy Irons) terrorisiert nicht nur mit seinen Männern die Kleinstadt Appaloosa in New Mexico, sondern hat auch drei Gesetzeshüter erschossen.
Der Name der Stadt ist auch der Name einer Pferderasse. Appaloosas sind Arbeitspferde, kleine, wendig und ausdauernd auf kurzen Strecken. Genau dies sind die Qualitäten, die Virgil Cole (Ed Harris) und Off-Erzähler Everett Hitch (Viggo Mortensen) benötigten, um die zeitlich und räumlich sehr begrenzten Gunfights zu überleben. Cole nicht mehr der Jüngste, aber immer noch der Schnellste; Hitch ist der intelligentere von beiden, ein Mann, der sehr ökonomisch den Einsatz der Waffen plant – vom Einsatz einer riesigen Schrotflinte bis zur richtigen Körperhaltung beim finalen Show-down. Beide sind Gunmen, also Professionals, dabei aber öffentlich legitimierte Friedenshüter; als US-Marshalls zwar dem Justizministerium unterstehend und verantwortlich für den Schutz des Gerichtswesens, de facto aber Reisende in Sachen Selbstjustiz. Cole und Hitch stehen in der Tradition eines Wyatt Earp: sie heuern dort an, wo man sie braucht, und sie nennen sich selbst ‚Friedenshüter’.

Die Professionals
Harris lässt keinen Zweifel daran, dass in Appaloosa alles ökonomischen Interessen folgt: die Honoratioren der Stadt räumen Cole und Hitch nur deshalb uneingeschränkte Autorität ein, weil Braggs Bande sich in Geschäften und Saloons selbst bedient und nie bezahlt. Bei der legendären Auseinandersetzung der Earp-Brüder mit den Clantons und der Bande der ‚Cowboys’ war dies noch anders: wenn man den historischen Quellen trauen darf, bezahlten die ‚Cowboys’ immer und waren bei den Geschäftsleuten wohlgelitten. Ein kleiner Unterschied. Es verwundert nicht, dass die erste Amtshandlung von Cole darin besteht, die gültige Rechtsverfassung des Ortes aufzulösen und Regeln einzuführen, die zwangsläufig zur Eskalation führen müssen, und zwar bevor die feindlichen Lager sich wieder einigen.
Neu ist dieser Typ von Gunfighter im Western nicht, auch der Zynismus ist nicht neu. Man sieht ihn bereits in John Sturges „The Magnificent Seven“ (1960), wo eine Gruppe professioneller Revolverhelden ein armes Dorf gegen eine ausbeuterische Bande schützt. Fast noch wichtiger für das Genre war Richard Brooks’ „The Professionals“ (1966), wo Gunmen ein Blutbad anrichten, das von Anfang an auf einer hinterhältigen Täuschung basierte.
Claudius Weil und Georg Seeßlen beschreiben den Typus des Gunman als kühl und distanziert: Er hat „fast keine menschlichen Beziehungen zu seiner Umwelt, nicht einmal zu den Leute, für die er kämpft und sein Leben riskiert. Ansporn ist ihm die Freude an der Aktion, die Befriedigung darüber, in ein bestehendes Machtsystem einzugreifen und es auf den Kopf zu stellen (worin vielleicht sogar eine Art verschüttetes Gerechtigkeitsempfinden ausgedrückt ist, das funktioniert, obwohl oder gerade weil die Helden und die Schurken sich viel näher stehen als der Held…“ und seine Auftraggeber.
Auch Cole und Hitch sind Männer ohne große Empathie, aber im Gegensatz zu den cooleren Genrevorbildern reden beide immer wieder über ihre Gefühle und vergewissern sich ständig, dass der Job getan werden muss, handwerklich exakt und ohne große Anteilnahme.

Unters Brennglas gerät diese Lebensphilosophie, als in Appaloosa eine Frau auftaucht: Allison French (Renée Zellwanger) ist eine Frau mit besonderen Fähigkeiten. Nicht nur dass sie Orgel und Klavier spielen kann, nein, Cole wird auch später über sie berichten, dass sie stets reinlich ist, abends immer ein Bad nimmt, gut kochen kann und „alles fickt, was nicht kastriert ist“. Aber Letzteres erfährt erst später über seine Geliebte.
Cole und Hitch entführen Bragg und sorgen dafür, dass der Bandenchef von einem Berichtsrichter für die Morde an einem Sheriff und seinen Deputys zum Tode verurteilt wird. Bragg wird wenig später von zwei anderen Gunmen, die Allie entführt haben, frei gepresst und Cole darf während der Verfolgung beobachten, dass sich Allison bereits dem nächsten Alphamännchen an den Hals geworfen hat.
Dieser Sub-Plot ist das eigentliche Spannungselement in „Appaloosa“. Natürlich kommt es zum Show-Down mit den Entführern, aber nur wenig später ist Bragg vom US-Präsidenten auf mysteriöse Weise begnadigt worden, plötzlich zu Reichtum gekommen und damit ein ehrenwerter Bürger in Appalossa. Harris erzählt die Geschichte also dort weiter, wo andere Western schon längst ihr Ende gefunden hätten. Und je länger die Geschichte dauert, desto deutlicher wird der Grad der Beschädigung, den Harris’ Helden aufweisen, denn nach der vermeintlichen Desillusionierung Coles wird klar, dass dieser einen Stoizismus besitzt, mit dem er sogar seinen Freund überrumpelt. Genau abwägend setzt Cole nämlich seine Beziehung zu Allison fort und hegt sogar Träume von einem Haus mit Veranda. Er hat eine kultivierte Frau, die reinlich ist und guten Sex bietet, und er weiß, dass seine promiskuitive Gefährtin ihn ohne jede Regung an das nächste neue Alphamännchen verraten wird. Hitch wird es am Ende sein, der als einziger zu einer wirklich empathischen Tat fähig ist, bevor er (nicht ohne Ironie und durchaus genre-referentiell im Off geschildert) in den Sonnenuntergang reitet.

Helden ohne Heimat
Das Ganze ist innerhalb der Grenzen des Genres präzise erzählt. Es gibt schöne Dialoge und man muss sehr sorgfältig hinhören. Und es gibt Momente der Ruhe, in sich sehr widersprüchlich, nämlich wenn Cole und Hitch auf der Veranda sitzen, ihre Waffen im Schoß, wenig redend und wartend. Fast ein wenig wie in John Fords „My Darling Clementine“. Es sind Bilder, die man durchaus kennt. Und es gut, dass Harris diese Genregrenzen nicht transzendieren will.
Innerhalb des Gewohnten und innerhalb dieser strengen Immanenz stößt der Zuschauer nicht nur auf Vertrautes, sondern in der Variation auf Ungewöhnliches. Keineswegs neu ist das Gefühl der Heimatlosigkeit in einer gewalttätigen fast vor-zivilisatorischen Gesellschaft, die in sich herzlos und beinahe korrupt ist, und die von den Überlebenswilligen und ruhelos Wandernden außergewöhnliche Anpassungsleistungen verlangt – nicht nur die Professionalität beim Umgang mit den Waffen, sondern jene beim Umgang mit den letztlich nicht vermeidbaren Gefühlen. Dieser Antagonismus ist uns auch in der modernen Arbeitsgesellschaft durchaus vertraut, die gelegentlich und vielleicht immer häufiger ein ruheloses Umherwandern verlangen wird, jene Flexibilität, deren Preis die Veränderung der eigenen Gefühlswelt ist. Neu ist allerdings, dass in „Appaloosa“ auch die letzten Reste von Hoffnung bereits vergiftet sind.

Die Helden im Western sind, wie es Elisabeth Bronfen in ihrer luziden Analyse von John Fords „The Searchers“ dargelegt hat, dauerhaft von einer Heimat, einem ‚Home’, ausgeschlossen. Ihre Konflikte sind einfach strukturiert, was auch jenes kollegiale Umgehen von Cole und Hitch erklärt, das sie mit den beiden Gunmen Braggs’ pflegen, bevor sie sie erschießen. Es sind Männer der ‚einfachen Widersprüche’, die sich in der weiblich-codierten zivilen Behausung immer unwohl fühlen müssen, obwohl diese als Traumfigur in ihren Phantasien eine Rolle spielen muss. Es ist ein fundamentaler Antagonismus, der diese Figuren umtreibt. Wir, die zivilisierten Zuschauer, „können diese Störung inmitten des familiären Lebens ertragen, weil wir von einem tragischen Helden träumen, der an unserer Stelle die Freiheit des einfachen Widerspruches genießt, in der Traumwelt jenseits der Filmleinwand“ (Elisabeth Bronfen).

Allerdings führt der Weg aus der Traumwelt jenseits der Filmleinwand wieder zurück in die Traumlandschaften des Kinos. Man muss sich immer wieder fragen, was man an diesen einsamen desillusinierten Helden so mag. Was spiegeln sie, was sagen sie uns? Wenn man die Traumlandschaften des Western studiert, wird man vielleicht spüren, wie sie zur Reflexion der eigenen Befindlichkeit führen können. In „Appaloosa“ wartet allerdings da "No way out" auf uns, denn Virgil Cole ist eine Figur, die den von Bronfen geschilderten Antagonismus im klaren Bewusstsein seiner zeitlichen Befristung, aber zugunsten seiner Phantasien von Heimat und Zuhause ausleben will. Das bietet Reibungsflächen. Aber das wirklich Bemerkenswerte an Ed Harris’ Western ist, dass zum ersten Mal in einem Spätwestern die Konsistenz des von Frauen definierten ‚Home’ so brutal wegbricht. Sie ist vom „Struggle for Life“ infiziert. Anders als die fürsorglichen und mütterlichen Frauen bei Ford, die ihr ‚Home’ gefunden haben und damit auch definieren, ist Allison immer noch auf der Suche: nach Schutz, nach materieller Sicherheit. Sie dekonstruiert das idyllische 'Home' und setzt es nach Maßgabe durch die ökonomischen Zwänge wieder zusammen. Was sie zu bieten hat, wurde von der Korruption erfasst und muss als Illusion gesehen werden, die man gelassen ertragen muss, wenn man aus ihr die letzten verwertbaren Abfälle des Lebens herauspressen will. Ein Film ohne Hoffnung, wäre da nicht Hitch, der mit einem letzten Freundesdienst dafür sorgt, dass Cole diese Illusion noch ein wenig genießen darf.

Postscriptum: Nachdem ich das Ende der Kritik noch ein wenig überarbeitet habe, fiel mir ein, dass es kaum Western gibt, die den Gunman als als alten Mann zeigen. John Wayne hat in "The Shootist" zumindest noch einen heroischen Abgang. Als einziger hat Sam Peckinpah dieses Thema durchgearbeitet, nicht nur in "Ride the High Country", sondern besonders konsequent in "The Wild Bunch". Dort weniger an den elegischen Endzeit-Charakteren von Holden und Borgnine, sondern am Beispiel des alten, gehässigen, Kautabak kauenden Veteranen, der als einziger überlebt und einfach weitermacht.

Literatur
Elisabeth Bronfen: Heimweh – Illusionsspiele in Hollywood, Berlin 1999.
Seeßlen/Weil: Western-Kino, Hamburg 1979

Noten: Melonie = 2,5, Klawer = 2,5, BigDoc = 2,5

Donnerstag, 1. Oktober 2009

District 9

USA / Neuseeland 2009 - Regie: Neill Blomkamp - Darsteller: Sharlto Copley, Jason Cope, Nathalie Boltt, Sylvaine Strike, Elizabeth Mkandawie, John Summer, William Allen Young, Greg Melvill-Smith, Nick Blake - FSK: ab 16 - Länge: 112 min.

Neo-klassisch erzählt
Neil Blomkamp ist bislang eher als Trickfilmzeichner aufgefallen. Seine erste Regiearbeit ist allerdings ein Volltreffer, denn das SF-Drama „District 9“ bietet eine heutzutage bereits konservativ anmutende Lust am genauen Erzählen, erinnert also mehr an klassische SF-Parabeln denn an Effektgewitter à la Roland Emmerich. Das ist angenehm.
Der Plot ist zudem originell, denn Aliens wie diese mag man (als Kreuzung der ‚Bugs’ aus den „Starship Troopers“ und den Aliens eines Ridley Scott) vielleicht schon gesehen haben, ihr sozio-kultureller Background ist allerdings um Längen interessanter als der jener anonymen Killermaschinen, die man möglichst effektvoll wegballert: über Johannesburg schwebt ein gigantisches Raumschiff, das kein Vorbote einer bevorstehenden Invasion ist, sondern ganz einfach ein gestrandetes Schiff, auf dem ganze Heerscharen unbekannter und grotesk aussehender Wesen krank dahinvegetieren, ohne dass man versteht, was denn nun vorgefallen sein mag.
Was macht man mit einer ständig wachsenden Anzahl fremdartiger Gäste, die niemand eingeladen hat? Man interniert sie. Kein Wunder, denn sie sind weder weise Lichtgestalten wie bei Spielberg noch tumbe Insekten, sondern ‚normale’ Migranten, die sich schnell an das Milieu anpassen, in das sie geworfen werden: Sie leben im Dreck und folglich wühlen sie darin. Die Kloake heißt District 9 und sieht aus wie eine Müllhalde.

Physische Dekonstuktionen
Blomkamp setzt dies ästhetisch angemessen in einem Semi-Doku-Look à la Cloverfield um und zeigt gleich zu Beginn ziemlich drastisch die desaströse Art und Weise, mit der die nunmehr fast 2 Mio. „prawns“ in ein weiter entlegenes Lager umgesiedelt werden sollen. Beide Kulturen können nach einigen Jahren zwar miteinander kommunizieren, verstehen ist etwas anderes. Gewalt liegt in der Luft, kleinste Konflikte schlagen in Brutalitäten um und der für die Aktion verantwortliche Wikus van de Merwe (Sharlto Copley) ist kaum imstande, den mit der Umsiedlung beauftragen privaten Security-Dienstleister Multinational United (MNU) einigermaßen zivilisiert auftreten zu lassen. Als sich der südafrikanische Biedermann, der zwischen vagem Altruismus und systemkonformen Vorurteilen oszilliert, mit einer unbekannten Flüssigkeit infiziert, beginnt eine rapide voranschreitende genetische Mutation, die ihn ganz offensichtlich in ein Alien verwandelt.
Irgendwie fühlt man sich an physische Dekonstuktionen wie in „The Thing“ oder Cronenbergs Remake von "Die Fliege" erinnert, angereichert mit einem dezent pädagogischen Zeigefinger, der anmahnt, dass man in eine fremde Haut schlüpfen muss, um das Andersartige zu verstehen. Diese und andere etwas vordergründigen, aber nicht von der Hand zu weisenden Allegorien sind allerdings verzeihlich, denn Blomkamp ist weit von irgendwelchen Rührseligkeiten entfernt - die Geschichte wird treffsicher und mit sardonischem Humor weitererzählt. Dazu gehört auch die alles andere als originell wirkende Plot-Wendung, die plötzlich die ‚Bad Scientists’ der Regierung als zynische Schlächter auftreten lässt. Van de Werwe, dem bereits ein Alien-Arm gewachsen ist, scheint nämlich der einzige Mensch zu sein, der die bio-genetischen Wunderwaffen der Aliens bedienen kann. Eine regelrechte Vivisektion steht dem leicht beschränkten Beamten bevor, und die will nicht einmal sein einflussreicher Schwiegervater verhindern.

Dumm, gierig und ignorant
30 Mio. Dollar kostete „District 9“, was man als billig einstufen darf. Immerhin konnte der Film überwiegend auf einer Müllkippe gedreht werden. Dass es am Ende etwas teurer wurde, liegt wohl daran, dass Blomkamp im letzten Drittel des Films seine Zivilisationsstudie zugunsten eines Action-Spektakels aufgibt, das für meinen Geschmack zu sehr an die „Transformers“ und „Iron Man“ erinnert: Van de Werwe hat sich mit dem Alien Christopher angefreundet, der ihm Heilung verspricht, wenn es gelingt, auf das Mutterschiff zu gelangen. Der Mensch-Alien-Hybrid hält Wort, besteigt eine Alien-Kampfmaschine und schießt seinem neuen Freund den Weg frei.

Ob „District 9“ das Zeug zu einem Genreklassiker besitzt, wird sich zeigen. Als kräftiger Kontrapunkt zu der uns bevorstehenden 3 D-Invasion im Kino funktioniert er allemal. Was mir am meisten Spaß gemacht hat, war die lässige Schnodderigkeit des Plots: die Menschen sind nicht böse, sondern überwiegend dumm, gierig und ignorant. Und über weite Strecken hat man den Eindruck, dass die Überirdischen möglicherweise keinen Deut besser sind, auch wenn sie ganz ‚menschlich’ ihre Kinder lieben.
Sollten wir tatsächlich mal fremden Wesen gegenüberstehen, dann gibt es wohl kein mystisches Erweckungskonzert wie in „Close Encounter of the Third Kind“. Die Fremden werden so aussehen wie in „District 9“.
Warum soll es ihnen besser gehen?

Noten: Klawer = 1,5, BigDoc = 2

Donnerstag, 17. September 2009

Aktuell: die "Basterds" floppen

Kontrovers ist noch geschönt: der neue Film von Quentin Tarantino hat nicht nur den Pressewald rauschen lassen, sondern auch das Publikum gespalten. Im Filmclub war es nicht anders, aber die eigentliche Überraschung war, dass der Film, der nicht nur meiner Ansicht nach zu den spannendsten Kinoereignissen der letzten Jahre gehört, in der Gesamtbewertung komplett durchfiel.
Nach der ergänzenden Notenabgabe zweier Mitglieder schafften es die BASTERDS mit 3,0 P nicht einmal in die Top Twenty.
Wer sich noch einmal mit dem Film auseinandersetzen will und die ganze Palette der Meinungen ("Meisterwerk" bis "Schund") an sich vorbeiziehen lassen will, der kann dies tun:
http://www.film-zeit.de/Film/20713/INGLOURIOUS-BASTERDS/Presse/

Donnerstag, 10. September 2009

Neue Rankings

Kräftig durcheinandergewirbelt wurden unser Ranking der Top Twenty in den letzten Wochen des August und besonders in der ersten Septemberwoche. Dies lag nicht nur an dem großen Erfolg von "The Wrestler" oder dem neuen Film von Sam Mendes, sondern auch daran, dass einige Filme, die bislang nur zwei Benotungen erhalten hatte, durch ein weitere Note in die Vollwertung aufgenommen werden konnten. So zum Beispiel Clint Eastwoods "Changeling", der monatelang mit zwei sehr guten Noten im Hintergrund schlummerte.

Das Ergebnis: die alte Nr. 1 kippte, die Nr. 2 stürzte sogar auf den 6. Platz ab.

Noch ist das Jahr nicht vorbei!

Mittwoch, 9. September 2009

Waltz with Bashir

Israel / Deutschland / Frankreich 2008 - Regie: Ari Folman - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 87 min.

Der Krieg findet im Kopf statt. Erst verschwindet er aus dem Gedächtnis, dann soll, ja muss ihm energisch nachgespürt werden, denn Ari Folman hat das Meiste von dem vergessen, was er vor über 25 Jahren als 19-jähriger israelischer Soldat im Libanonkrieg erlebt hat. All dies könnte er ruhen lassen, aber sein Freund Boaz wird immer wieder von einem Traum heimgesucht, in dem Nacht für Nacht 26 garstig aussehende Horror-Hunde von seinem Fenster auftauchen, um ein entsetzliches Geheul anzustimmen. Da Boaz keine Menschen töten konnte, musste er während seines Einsatzes im Libanon immer die Hunde des Dorfes mit einem schallgedämpften Gewehr erschießen, damit seine Einheit unbemerkt eindringen konnte. Nun, ein Vierteljahrhundert später, sind die Hunde wieder da und an jeden einzelnen kann sich Boaz erinnern. Folman weiß, dass er seinem Freund nur dann helfen kann, wenn er seinen eigenen, fest verschlossenen Schubladen öffnet.

Unwirklicher Alptraum: Doku-Fiction - genau recherchiert
Realität und Fiktion gehen gleich in der ersten Szene von Ari Folmans „Waltz with Bashir“ eine ambivalente Beziehung ein, denn der Regissuer Ari Folman ist in dem Film auch eine Figur und damit sein eigener Erzähler. Mit dem Thema Libanon wurde er konfrontiert, als er nach dem Ausscheiden aus der Reservearmee zu einer obligatorischen Therapiesitzung geladen wurde. Als real Beteiligter, dann als Filmemacher, aber auch als Filmfigur geht Folman nun in „Waltz with Bashir“ auf die Suche nach der verlorenen Zeit. „Verlorene Erinnerungen, Unbewusstes, Halluzinationen, Albträume“ begleiteten während seiner ersten Recherchen den Weg zurück und anscheinend ging es vielen seiner Kameraden auch so.
An einen Spielfilm dachte Folman allerdings nicht. Um stilistisch einem konventionellen Dokumentarfilm auszuweichen, in dem Zeitzeugen vor neutralen Hintergründen sitzen und von ihren Erinnerungen erzählen, verwandelte Folman seine Recherchen in Video-Interviews mit Kriegsteilnehmern und dramatisierte die berichteten Ereignisse in Spielszenen. Erst anschließend entstanden Illustrationen, aus denen im letzten Schritt die animierten Sequenzen hergestellt wurden. Dies wirkt zunächst etwas irritierend, weil man ohne diese Hintergrundinformation glaubt, das Ganze sei die fiktionale Nacherzählung eines historischen Ereignisses. Ist es aber nicht: alles in „Waltz with Bashir“ ist genauso passiert. Folmans Film ist präzise Doku-Fiction und in diesem Genre der erste animierte Film dieser Art.

Der Hintergrund für die erste israelische Intervention im Libanon waren zahlreiche Terroranschläge, die in Israel von PLO-Kämpfern begangen wurden. Die PLO operierte dabei von libanesischem Gebiet. Im Juni 1982 kesselte die israelische Armee rund 10.000 PLO-Kämpfer in Beirut ein. Als im September der Führer der christlichen Lebanese Forces Baschir Gemayel, der drei Wochen zuvor zum Präsident des Libanon gewählt worden war, bei einem Attentat getötet wurde, kam es zu Vergeltungsaktionen der christlichen Phalangisten, die den Israelis nicht entgingen und sogar durch israelische Beobachtungsposten unterstützt wurden.

Schicht für Schicht legt Folman diese Geschehnisse in seinem Film frei. Ein Prozess, der mit der Beseitigung einer partiellen Amnesie zu vergleichen ist, eine Spurensuche, die in zahlreichen Gesprächen mit ehemaligen Kameraden das fast Vergessene frei legt und immer mehr zum Kern der Ereignisse vordringt. Die animierten Szenen dehnen dabei die einzelnen Situationen mit einer Eindringlichkeit in die Länge, die konventionellen Kriegsfilmen mit ihrem Schnittgewitter versagt bleibt. Die Bilder zeigen immer wieder aufmerksam Gesichter und die Regungen, die das Erlebte auslöst. Es gibt Bilder der Ruhe und der Stille, dann wieder Ausbrüche der Gewalt. Fast scheint es, als würden die sparsamen Animationen das Archetypische der Situationen freilegen: Beim allerersten Einsatz geschieht die Liquidierung einer libanesischen Familie in ihrem Auto noch aus blinder Panik, ein anderer Zeuge berichtet von absurden nächtlichen Schießorgien ohne Ziel, in einem idyllischen Olivenhain wird eine Einheit von einem Kind mit Panzerfäusten angegriffen, ein Soldat schwimmt nach einem fehlgeschlagenen Angriff auf dem Meer kilometerweit zu seiner Einheit zurück und wird von Scham überwältigt, weil er glaubt, als Überlebender nicht genug getan zu haben. Alles unterlegt mit einem Mix aus 80er Jahre-Hits, Bach, Chopin Schubert und Songs wie »I bombed Beirut today«. Und immer wieder sieht man wie in einem surrealen Traum Ari und zwei Kameraden im Meer treiben, ehe sie nackt und wie unwirkliche Untote aus dem Wasser steigen und sich mit ihren Waffen dem Strand von Beirut nähern.

Irgendwo zwischen Breughel, Dali und Dante
Folman weiß, dass Erinnerungen nicht objektiv sind, erst recht dann, wenn Ungeheures verarbeitet werden muss, und er macht dies dem Zuschauer früh klar. Ständigen Ergänzungen, Umdeutungen und Fälschungen ausgesetzt, wendet sich Erinnertes ins Erträgliche, und falls dies misslingt, verschwinden die Erinnerungen oder es stellen sich nach über einem Vierteljahrhundert urplötzlich traumatische Prozesse ein, die sich wie Gespenster der Vergangenheit an denen rächen, die sich nicht erinnern wollen. Und dennoch sind nur diese Erinnerungen der Schlüssel zum Verstehen. Folman selbst, als seine eigene Figur, nähert sich dabei zusammen mit dem Zuschauer in spiralenförmigen Bewegungen den Ereignissen, die in Beirut ihren traumatischen Höhepunkt finden.
Erst ganz zum Schluss wird Folman klar, dass es einen Grund dafür gab, dass er in einer bestimmten Nacht ununterbrochen Leuchtraketen in die Luft schießen musste, von einem Dach, das den freien Blick auf die Lager von Sabra und Schatila ermöglichte. In jener Nacht drangen christliche Phalangisten in die Lager vor. Als der Anführer der Phalangisten, Elie Hobeika, über Sprechfunk gefragt wird, was man mit den Gefangenen tun soll, antwortet er : „Do the will of god!“ (zitiert aus einem Bericht der Untersuchungskommission des Israelischen Außenministeriums). Danach richteten die Phalangisten ein Blutbad unter den palästinensischen Zivilisten an. Es wurde getötet, gefoltert, verstümmelt und vergewaltigt und erst nach über 48 Stunden wurde das Massaker beendet. Ob nun knapp 500 oder über 3000 Menschen umkamen, spielte bei der Einschätzung der Ereignisse keine Rolle mehr: Das Massaker wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 16. Dezember 1982 als Genozid gewertet und Folmans Nosce te ipsum lautete: ich bin in dieser Nacht zum „Nazi“ geworden.

Der Zuschauer ist an dieser brutalen Reise ins Innere unmittelbar beteiligt. Er landet zusammen mit dem Erzähler in diesem Vorhof der Hölle, irgendwo angesiedelt zwischen den apokalyptischen Visionen Breughels, den surrealen Bildern Dalis und dem Fegefeuer Dante Alighieris. Erst recht, als Folman am Ende auf reale Bilder schneidet, in denen man die Leichenberge in Sabra und Schatila und die schreienden und weinenden Überlebenden sieht. Dann ist der Film zu Ende.
Die Therapiesitzung ist es auch, aber die Katharsis will sich zunächst nicht einstellen. Dazu muss man an den Anfang des Films zurückkehren, denn wenn man aus „Waltz with Bashir“ einen Funken Hoffnung mitnehmen kann, dann ist es die Erkenntnis, dass nur das Sprechen über gemeinsame Erfahrungen die Seele entlastet, weil es aus einer subjektiven Erfahrung eine öffentliche macht.

Postskriptum
Es gibt eine bizarre Szene in dem Film. Israelische Soldaten sind in das halb zerstörte Beirut vorgedrungen und werden plötzlich aus den Fenstern der Hochhäuser beschossen. Deckung ist kaum vorhanden und im Hintergrund stehen die Libanesen auf ihren Balkonen und schauen ohne Angst um Leib und Leben zu. Einer der Soldaten greift sich ein MG und wagt den Ausbruch. Aber er überquert die Straße nicht, sondern beginnt unter einem Bild Baschir Gemayels einen irrwitzigen Tanz, während er Garben aus seiner Waffe in die Fenster jagt: „Waltz with Baschir“ meets „Apokalypse now“.
Durch das gespenstische Szenario schreitet ein Kriegsberichterstatter mit seinem Kameramann, während beiden die Kugeln um die Ohren fliegen. Es ist Ron Ben-Yishai, der wenig später Verteidigungsminister Ariel Scharon in einem nächtlichen Telefongespräch über alles informiert. Sharon rührt in dieser Nacht keinen Finger, um das Massaker zu stoppen, sorgte aber über zwanzig Jahre lang dafür, dass Ron Ben-Yishais Karriere beim israelischen Fernsehen ausgebremst wurde.

Ari Folman hat mit seinem Film in Israel für volle Kinos gesorgt. Angriffe blieben zu seiner Überraschung aus, auch die israelische Armee, noch gebeutelt durch den zweiten Libanon-Krieg, hielt sich zurück. Überhaupt scheint die Diskussion um den Verlust der „moralischen Unschuld“, wie es einige Kommentatoren nannten, in den letzten Jahren eher zugenommen zu haben. Dass die israelische Armee sich zumindest durch passive Duldung an einem Völkermord beteiligte, ist ein öffentliches Trauma, das die Nachkommen der Holocaust-Opfer auf singuläre Weise belastet, aber für Außenstehende seltsam irreal bleibt. Auch ich hatte das Massaker von Sabra und Schatila längst vergessen und erst durch Folmans Film und nach zusätzlichen Recherchen erreichte mich die Dimension der Ereignisse – und dies sowohl intellektuell als auch emotional. Das exemplarische Durcharbeiten der Traum- und Erinnerungslandschaften der Kriegsteilnehmer stellt Ari Folman in Bildern bereit, die unter die Haut gehen, weil sie die Mit-Täter nicht als Botschafter des Bösen zeigen, sondern als hilflos Gestrandete, denen am Ende ihren bösen Träume zeigen, dass auch dieser Umstand keine moralische Entlastung gestattet.

Der Hoffnung, man könne aus Geschichte lernen, wurde in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als ein Schlag versetzt. Die aufklärerische Geste erweist sich als naiv, die realen Lektionen werden uns nicht nur durch psychotische Idi Amins und Pol Pots erteilt, sondern auch durch uns selbst: immer noch und täglich auf dem Schwarzen Kontinent, in Sebrenica, im Irak, in Sabra und Schatila, zuletzt in Afghanistan. Wer „Waltz with Bashir“ mit besten Absichten und großer Geste pädagogisch nutzbar machen will, steckt schon in der Falle. Man sollte sich auch klar darüber sein, dass ein moralisches Verdikt anmaßend ausfallen muss, wenn man diese cineastische Auto-Psychotherapie ohne empathische Integration der Fremderfahrungen für politische Schuldzuweisungen instrumentalisiert. Das einzige, was übrig bleibt, ist die Teilnahme an der Trauerarbeit.

Anmerkung (zitiert nach Wikipedia): 2008 konkurrierte Folmans Film bei den 61. Filmfestspielen von Cannes ohne Erfolg um die Goldene Palme, wurde aber vom Publikumfrenetisch gefeiert. Im gleichen Jahr wurde Waltz With Bashir als offizieller israelischer Beitrag als einer von fünf Filmen für den Oscar als bester nichtenglischsprachiger Film nominiert. Bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises 2008 war Waltz with Bashir in vier Kategorien nominiert, aber nur der deutsche Komponist Max Richter wurde mit dem Preis ausgezeichnet. Bei der Golden-Globe-Verleihung 2009 wurde Folmans Regiearbeit als Bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet. Im Januar 2009 erhielt der Film von der History Makers Conference 2009 in New York den Preis als Beste Produktion, Wochen später den französischen César als bester ausländischer Film.
Im Filmclub erhielt der Film 3x eine 1 und eroberte sich den ersten Platz in der Jahresauswertung 2009.


http://www.mfa.gov.il/MFA/Foreign%20Relations/Israels%20Foreign%20Relations%20since%201947/1982-1984/104%20Report%20of%20the%20Commission%20of%20Inquiry%20into%20the%20e enthält den "104 Report of the Commission of Inquiry into the events at the refugee camps in Beirut- 8 February 1983"

Noten: Klawer, BigDoc, Melonie = 1, Mr. Mendez = 2,5

Freitag, 4. September 2009

Der diskrete Charme der Bourgeoisie

Herausragende DVD-Edition
Die Editoren der KINOWELT geben sich mit ihren ARTHAUS-Editionen sehr viel Mühe. Vom Filmklassiker bis zum Dogma-Kino, von Dreyer bis Wong-Kar-Wai: Cinephile kommen auf ihre Kosten, vorbei auch in technischer Hinsicht Kosten und Mühen nicht gescheut werden. Ein gutes Beispiel ist die Neuauflage des Buñuel-Klassikers „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“, der exzellent gemastert auf DVD vorliegt und mit atemberaubenden Boni ausgestattet wurde.
Ich frage mich: Wer soll sich das anschauen?

Es fehlt uns die Sprache, deshalb haben wir Begriffe
Luis Buñuel und sein langjähriger Co-Autor Jean-Claude Carrière brüten im Café und suchen verzweifelt nach einer neuen Filmidee. Der Produzent sitzt ihnen im Nacken und will etwas Handfestes. Ideen werden durchgespielt und verworfen. Ein Zufall hilft, als ihnen eine Geschichte erzählt wird, die sich tatsächlich so zugetragen hat: gemeinsame Freunde laden zwei Brasilianer zum Essen ein, doch die Geladenen erscheinen einen Tag zu früh, die Gastgeber sind perplex und nicht vorbereitet. Das gemeinsame Essen scheitert.
Bingo! Die erste Szene des Films steht und nun muss die Geschichte 'nur noch' weiterentwickelt werden. Wie in einem Running Gag werden sich in Buñuels Film die getriebenen Mitglieder der Obersicht immer wieder zum Essen verabreden und immer wieder wird alles scheitern, verwoben mit Traumsequenzen, die den Bezug von Fiktion und Realität so auseinandersprengen, dass man am Ende nicht mehr weiß, was man überhaupt sieht.

Als das Script steht, müssen Buñuel und Carrière dem Kind noch einen Namen geben. Wie es sich für guten Surrealisten gehört, soll der Titel a posteriori dem Ganzen eine Deutungsebene geben, die bei der Stoffentwicklung noch nicht erkennbar war. Man schlägt sich gegenseitig einiges vor, aber nur Buñuels „Der Charme der Bourgeoisie“ hält der Prüfung stand. Rund ist das noch nicht, aber Carrière hat die rettende Idee: ein Adjektiv muss her! Man stellt eine Liste zusammen und hat zweifellos viele nette Ideen, aber am Ende bleibt nur das Wörtchen „diskret“ übrig.
Ist das alles? Eine Ausgangsszene suchen und dann einfach erzählen, was einem gerade so einfällt. Und ganz zum Schluss als Taschenspieltrick und Dreingabe der Titel als Bedeutungsgenerator?
Tagträumend begebe ich mich in meine Schulzeit, in der mir eingehämmert wurde, dass Kunst tiefe Wahrheiten in unsere Wahrnehmung befördert, dass die Werke allerdings einer korrekten Deutung bedürfen, um erkennbar zu werden. Alles andere fällt hintenüber, ausgesondert als unzulässiges Phantasiematerial.
Bis zum Erbrechen von der hermeneutischen Deutungslehre oder den positivistischen Puzzelspielereien durchsozialisiert, suchen unsere malträtierten Hirne seither bis ans Lebensende nach dem Schlüssel für die Rätsel der Kunst.
Und was passiert, wenn wir ihn gefunden haben?

Was soll’s. Buñuel ist sowieso vergessen. Vermutlich.
Ich habe schon mächtig gestaunt, als neulich zu nachtschlafender Zeit das „Gespenst der Freiheit“ im TV wiederholt wurde. In den 70er Jahren gab es, falls ich mich recht entsinne, mal eine Buñuel-Schwemme im TV und einige seiner schönsten Arbeiten wurden so zugänglich. Keine Ahnung, ob sie damals gekürzt wurden. In den 50er Jahren hat man ja im TV alles Surrealistische rausgeschnitten. Da wir in der Post-Post-Moderne alle viel cooler sind, wäre es spannend, wenn man L'Âge d'Or zur Hauptsendezeit zu sehen bekäme. Die Zeit ist reif. Das Aufführungsverbot von Buñuels zweitem Film wurde schließlich 1981 aufgehoben.

Wanderungen
Die Widerbegegnung mit „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ war nach fast 35 Jahren zunächst eine kleine Enttäuschung. Irgendwie war mir Buñuels Film viel radikaler im Gedächtnis geblieben. Man hat mittlerweile so viele Attacken auf’s frivole Bürgertum gesehen, dass man alle Spielarten durchgenommen hat. „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ wirkt in seiner ruhigen und sorgfältigen Erzählweise dagegen geradezu unpathetisch, erst Recht, wenn man sich direkt davor „Magnolia“ angeschaut hat. Böser Vergleich.

Vielleicht musste ich erst eine Kurve machen, etwas durch die Lebens-, Traum- und Kinolandschaft wandern. Da hilft einem die KINOWELT weiter. Auf der Bonus-DVD findet man einen wunderbaren Film: „Das letzte Drehbuch – Erinnerungen an Luis Buñuel“ (El último guión - Buñuel en la memoria). Der Dokumentarfilm von Javier Espada und Gaizka Urresti (Spanien/Frankreich/Deutschland 2008, 94 Minuten) ist besser als der Hauptfilm oder anders gesagt: man sollte sich diese ungewöhnliche Wanderung anschauen, bevor man sich „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ anschaut.
„Das letzte Drehbuch“ wurde bereits anlässlich des 25. Todestages Luis Buñuels (29. Juli 1983) von 3sat gezeigt. Zusammen mit zwei Vertrauten des Regisseurs, dem Drehbuchautor und langjährige Mitarbeiter Jean-Claude Carrière und Buñuels Sohn, dem Filmemacher Juan Luis Buñuel, durchwandert man die Lebensstationen Luis Buñuels in Spanien (Calanda, Zaragoza, Toledo und Madrid), Frankreich, Mexiko und den USA. Zunächst wirkt das im Stile eines Video-Tagebuchs gedrehte Abschreiten irgendwie versponnen und nostalgisch, dann schält sich immer mehr das heraus, was Buñuels Leben und seine Filme ausmacht: die enge Freundschaft mit Künstlern und Literaten wie García Lorca und Salvatore Dali (der Buñuel später in den USA als Kommunist anschwärzen sollte und jawohl, es wurde in diesem elitären Freundeskreis gesoffen), die ambivalente Beziehung der Spanier zum Tod, die Architektur der Städte, frühe Kinoerfahrungen wie Fritz Langs „Der müde Tod“, der Geist des Surrealismus und die Lust am Kino und am Fabulieren, die Buñuel eigentlich nur dann leben ließ, wenn er einen Film drehen durfte.
Anschließend weiß man, warum es absurd ist, Buñuels Traumlandschaften in „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ in dem bedeutungsgeladenen Begriff „Satire“ einzufrieren.

Vom ungelösten Geheimnis
Vielen Menschen ist die Fähigkeit, sich über Filme zu freuen, völlig abhanden gekommen. Erst werden sie durch das Erwachsenwerden zugerichtet und schämen sich über die Filme, von denen sie als Kinder begeistert waren, dann werden durch ihren Beruf endgültig ihrer Phantasie beraubt.
Besonders Freunde, die in technischen Berufen arbeiten, können einen in die Verzweifelung treiben. In einer Welt, in der alles funktionieren muss, hat das Objekt keine obskuren Eigenschaften, sondern muss einen klaren Zweck haben, der gleichzeitig auch Sinn ist. Eine unheilige Beziehung.
„Was hat dieser Film zu bedeuten?“, fragen sie mit leuchtenden Augen, was immerhin andeutet, dass irgendetwas sie berührt hat.
Normalerweise beantworte ich solche Fragen nicht.

Machen wir eine Ausnahme: „Buñuel zeigt uns, dass das, was wir im Kino in unseren Köpfen zusammensetzen, auf Gewohnheiten basiert. Deshalb infiltrieren Träume den Film solange, bis man die fiktive Realität nicht mehr von den Träumen der Figuren unterscheiden kann. Würden wir erkennen, wie sehr uns unsere Träume im Leben verfolgen, dann würden wir auch erkennen, wie brüchig unser Konzept von Wirklichkeit ist!“
Enttäuschung auf dem Gesicht des Angesprochenen. „Das ist alles? Mehr ist in dem Film nicht drin?“.
Da haben wir es: kaum haben sie ihre Bedeutung, wollen sie schleunigst das Geheimnis zurück.

Epilog
Wenn man in „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ jene sinnlose Szene sieht, in der die Protagonisten über eine Landstraße marschieren, eine Szene, die so sinnlos ist, dass sie sich jeder vernünftigen Deutung widersetzt, sträuben sich bei den Meisten die Nackenhaare.
Luc Lagier hat einen kleinen Film gemacht, der mit dieser Szene beginnt. Eine wirklich diskrete und luzide Deutung: „Ein Spaziergang unter Schatten“ (2005). Die KINOWELT hat Lagiers Film zum Glück mit auf die Bonus-DVD gepackt. Lagier, der übrigens ein bekannter Spezialist für die Zusammenstellung von Bonusmaterial ist, entfaltet ein Deutungspanorama, das nach 28 Minuten erneut auf der erwähnten Landstrasse landet. Nichts ist wahr daran und alles ist richtig. Die Phantasielosen haben endlich ihre Deutung, alle anderen dürfen sich ans Werk machen und sich selbst etwas ausdenken. Ich glaube, das würde Luis Buñuel noch im Grab begeistern.

(Zu empfehlen ist http://www.kunst-der-vermittlung.de/artikel/luc-lagier-ueber-dvd-boni/. Der kleine Text von Lagier über die Gepflogenheiten beim Zusammenstellung von Bonus-Disks ist sehr witzig).

Samstag, 29. August 2009

Zeiten des Aufruhrs

USA / Großbritannien 2008 - Originaltitel: Revolutionary Road - Regie: Sam Mendes - Darsteller: Leonardo DiCaprio, Kate Winslet, Michael Shannon, Kathryn Hahn, David Harbour, Kathy Bates - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 119 min.

Connecticut in den Mittfünfzigern: Frank (Leonardo DiCaprio) und April Wheeler (Kate Winslet) sind Mitte 30 und leben in einem eigenen Haus in der Revolutionary Road. Frank ist ein mittelmäßiger Angestellter, der früh seine Ambitionen verloren hat, April hat eine Schauspielschule besucht, wird aber durch den mäßigen Erfolg in einem Amateurtheater ernüchtert. Beiden ist der Aufstieg in den gesicherten Mittelstand gelungen, die Banalität und Tristesse ihres sozialen Milieus ödet sie aber an. Die Ehe bröckelt. April sucht einen Ausweg und versucht Frank davon zu überzeugen, nach Paris zu ziehen, wo sie für den Lebensunterhalt sorgen will, damit Frank herausfinden soll, was er aus seinem Leben machen kann. Zunächst lässt sich Frank überzeugen, doch als ihm ein Sprung auf der Karriereleiter angeboten wird, distanziert er sich zunehmend. Aprils erneute Schwangerschaft lässt den Traum endgültig platzen, Frank beginnt eine Affäre mit einer Schreibkraft, auch April geht fremd. Als die Ehe zerrüttet ist, beginnt ein Rosenkrieg, auf dessen Höhepunkt April eine suizidale Entscheidung trifft.

Fesselnder Film, der aber nicht restlos überzeugt
„Zeiten des Aufruhrs“ basiert auf dem 1961 erschienenen Roman Revolutionary Road von Richard Yates. Auch in zahlreichen Kurzgeschichten arbeitete sich Yates an seinem Hauptthema ab, der präzisen Schilderung der Mittelmäßigkeit und des Scheiterns seiner Mittelstands-Figuren. Eine Steilvorlage für Sam Mendes, der bereits mit American Beauty (1999) eine brillante Vivisektion des American of Life vorlegte.
„Zeiten des Aufruhrs“ reicht nicht ganz an Mendes’ Meisterwerk heran, ist aber stilistisch und inhaltlich kohärent genug, um zu fesseln. Der aus meiner Sicht typische Mendes-Touch besteht darin, mit dezent eingesetzten Mitteln des Melodrams seine tragischen Figuren heroisch zu überhöhen, ohne dabei die Balance zu verlieren. Gelingt dies, begibt man sich als Zuschauer in eine stilistisch konsistente Kunstwelt, die ihre Bezüge zur sozialen Realität aber nicht einbüßt. Mendes ist daher weniger Realist, eher ein subtiler Vertreter des amerikanischen Melodrams. Persönlich favorisiere ich bei der Darstellung von Mittelstandskrisen eher den phantastischen Realismus Ang Lees („Der Eissturm“, 1997).
Mendes gelingen in „Zeiten des Aufruhrs“ schöne Szenen, zum Beispiel, wenn er die Fassungslosigkeit, den Neid und die Missgunst im Freundeskreis des jungen Paares skizziert. Auch die Eskalation der Ehekrise ist fein gezeichnet, etwa wenn Frank seiner Frau mit dem Psychiater droht (eine extreme Bedrohung, wenn man weiß, wie die amerikanische Psychiatrie in den 40er und 50er Jahren mit renitenten Ehefrauen umgegangen ist).
Etwas aus der Balance gerät der Film in stilistischer Hinsicht, wenn die Kamera April nach ihrem Abtreibungsversuch in einer ästhetisch geschmackvollen Aufnahme sinnierend am Fenster zeigt, während ihr das Blut an den Schenkeln entlang läuft. Da ist er, der Mendes-Touch, der Anflug von Heroisierung. Das hat ein Geschmäckle, nicht nur weil Mendes alles für seine brillant spielende Frau Kate Winslet zurechtrückt, sondern weil man durchaus auch die Lanze für Frank ergreifen kann, der von der Kritik überwiegend als feiger Biedermann skizziert wurde. Ich habe Leonardo DiCaprio anfangs die Rolle nicht zugetraut, besonders wegen seiner bekannten Manierismen, aber man kann (wenn man will) auch sehen, dass Frank lediglich das Opfer eines utopischen Lebensentwurfes ist, dem sich April selbst nicht stellen will. Ist die versprochene Freiheit als Bohemien in Paris wirklich so begehrenswert, wenn man zu ahnen beginnt, dass diese Grenzenlosigkeit angesichts der zu erfahrenden Durchschnittlichkeit möglicherweise zum Fiasko gerät?

Aussetzer im dramatischen Konzept
Ein wenig schwankt die Balance auch hier, aber wirklich ärgerlich ist dies nicht. Wesentlich übler sind die einzigen Schwächen des Scripts: man sieht die Kinder von April und Frank nicht, sie sind in dem dramatischen Konzept schlicht verloren gegangen – Randfiguren, die nicht ins Geschehen eingreifen; auch mit der Nebenfigur des John Givings (Michael Shannon) konnte ich nicht glücklich werden. Der Charakter wird als psychotischer Hofnarr, der unerbittlich die Wahrheit sagt, in ein gut geöltes Ensemble eingeführt, das auch ohne diese Deutungsversuche sehr triftig zeigt, worum es in diesem Film geht. Michael Shannon spielt zwar grandios, sprengt aber die Intimität des Plots.
Gelungen ist Mendes’ Film dort, wo er emotional berührt und Fragen stellt, die jeder narrativen Kunstform zu Eigen sind: Ist mein Leben auch so? Was würde ich tun? Mit welcher Figur kann ich mich identifizieren? Dies sind die elementarsten Reaktionen auf Lebensnähe in Literatur, Kino und Theater und sie finden vor jeder Reflexion über Form und Stil statt.
Kinodramen über zerrüttete Ehen legen daher, wen wundert es, den Finger auf die Wunden der Zuschauer. Mal mit zerstörerischer Aggressivität wie in der Selbstzerfleischung von Liz Taylor und Richard in „Wer hat Angst vor Virginia Wolff?“ oder in den schwer erträglichen „Szenen einer Ehe“ von Ingmar Bergman, dessen Mixtur aus Psychoanalyse und existenzialistischer Schärfe man sich nur ungern aussetzt, weil sie ins Fleisch schneidet.
Sam Mendes verlagert das Drama in wohltuender Distanz in die 50er Jahre, in einen schützenden Raum, der nur an der Peripherie soziologisch ausgeleuchtet wird, aber so weit von uns entfernt ist, dass die vorsichtige Aufgabe dieser Distanz nicht wirklich weh tut. Die warmen Farben, die sorgfältig gewählten Interieurs und die sensible Kameraarbeit muten uns das Seelendrama lediglich in homöopathischer Dosierung zu.

Wie zu erwarten war, hatte der Film großen Nachhall und katapultierte sich mit einem exzellenten Notenschnitt gleich auf Platz 2 der Topfilme 2009. Dass ich mich persönlich nicht zu einer besseren Note durchringen konnte, liegt daran, dass einige Soaps (man möchte es nicht glauben) mit einem sehr direkten Realismus und einem Schuss Ironie das Thema aus meiner Sicht authentischer abhandeln. Man schaue sich nur einmal die Ehekrise des Dr. Greene in den beiden ersten Staffeln von von Michael Crichtons ER (Emergency Room) an. Wer die frühen Folgen der Serie kennt, weiß, was ich meine...

Noten: Klawer = 1, Melonie, BigDoc = 2, Mr. Mendez = 2,5

Pressespiegel:
„Handlungsarmut bei wenig ausdrucksstarker Filmsprache ist … eines der zentralen Probleme der Sam Mendes-Adaption des Romans »Revolutionary Road«, dessen Kernkonflikt zudem fatal nah an Mendes’ großem Erfolg American Beauty zu verorten ist.. Dennoch ist die Dramatik der Beziehung nach dieser Zeit echter Begegnung bei aller Vorhersehbarkeit schockierend: Nach deutlich zu langen ersten zwei Dritteln schöpft der Film sein Potential aus und lässt im Endspurt sogar fast logische Ungereimtheiten und aufdringliche Filmmusik vergessen“ (Kyra Scheurer in: SCHNITT).
„Das Kolorit vergangener Zeiten wird durch Milieu sowie Kulisse, Requisite und Kleidung kenntlich gemacht, doch in dem hedonistischen Lebensstil der Figuren, ihrer Ichbezogenheit, ihr Angewiesensein auf ein Dasein im behaglichen Wohlstand, der Lust, sich der Zerstreuung hinzugeben und dem fehlenden Idealismus schimmert ein moderner Zeitgeist durch“ (Arwen Haase in CRITIC.DE).
„Ein Beziehungs-Drama, das an die Nieren geht“ (Walli Müller in BR-ONLINE).
„’Zeiten des Aufruhrs’ (ist) vor allem eine überaus hellsichtige und berührende, mitunter auch bittere Betrachtung über Entfremdung, Hoffnungslosigkeit und Angst vor der Freiheit. …Es ist der Mann Frank, der diese Feigheit repräsentiert, … Es ist auch die Frau, die, wieder einmal, am Ende dafür bestraft wird. … Nicht die Träume sind schuld am Unglück, sondern dass wir aufgeben“ (Rüdiger Suchsland im FILM-DIENST).

Freitag, 28. August 2009

Watchmen - Die Wächter

Großbritannien / USA 2009 - Originaltitel: Watchmen - Regie: Zack Snyder - Darsteller: Jackie Earle Haley, Malin Akerman, Billy Crudup, Matthew Goode, Carla Gugino, Jeffrey Dean Morgan, Patrick Wilson - FSK: ab 16 - Länge: 163 min

Am Ende entfernt sich ein Gott, der keiner sein möchte, gelangweilt aus unserem Sonnensystem, um in einer anderen Galaxis Leben zu erschaffen. Die Erde ist zu einer weltweiten Hippie-Kommune geworden, in der sich alle Weltenbürger friedlich und respektvoll begegnen. Für dieses Utopia mussten allerdings 15 Mio. Menschen ins Gras beißen. Ein größenwahnsinniger Superheld hat die Visionen Alexander des Großen wahr werden ließ und sich gleich das dazu passende Denkmal gebaut. Soziopathen sind die einzigen ernst zu nehmenden Moralisten in einer Gesellschaft, in der Nixon nach wie vor US-Präsident ist, während die Welt vor dem nuklearen Finale steht. Durchgeknallt? Nein, nur ein wenig, insgesamt aber eher nicht, aber dazu muss man fast drei Stunden bereit sein, sich auf eine recht extreme Erfahrung einzulassen.
Das wird vielleicht nicht auf Anhieb gelingen. Immerhin ist anzunehmen, dass nach „The Dark Knight“ der eine oder andere glaubte, dass Comicverfilmungen in stilistischer und visueller Hinsicht ihren Zenit erreicht haben. So etwas rächt sich meistens, denn das Kino lässt sich nicht aufhalten. Und so betritt in „Watchmen“ der Zuschauer ein dunkles Universum, das stilistisch und visuell fast mühelos mit Nolans Visionen mithalten kann und zu den beeindruckendsten Filmen der letzten Jahre gehört. Noch wichtiger ist, zumindest aus meiner Sicht, dass "The Dark Knight" und "Watchmen" jenseits ihrer singulären visuellen Originalität das Erzählen entdeckt haben. Und zwar ein Erzählen, das seine Figuren ernst nimmt.

Gott ist ein Amerikaner
Die „Watchmen“ von Alan Moore (Text) und Dave Gibbons (Zeichnungen) wurden 2005 als einziger Comic vom Magazin "Time" unter die 100 besten englischen Romane (!) seit 1923 gewählt. Auch sonst wurde mit Preisen nicht gespart und lange Zeit galt das Ganze als unverfilmbar. Ob Zack Snyder (Dawn of the Dead, 300) eine konsequente Umsetzung der berühmtesten Graphic Novel der 80er Jahre gelungen ist, mögen die Comic-Nerds beurteilen. Der Streit ist nicht unbeträchtlich und reicht von ‚minuziös’ bis ‚stark gerafft’. Der Umstand, dass die Schöpfer der „Watchmen“ dem Filmprojekt jegliche Unterstützung entzogen, soll als Petitesse am Rande vermerkt sein.

Begegnet man dem Film ohne jegliche Vorkenntnisse, könnte einiges daneben gehen. Den Kernplot und die wichtigsten Hauptfiguren sollte man schon vorher googeln, sonst rauscht der Prolog mit den Credits vorbei, ohne dass man auch nur ansatzweise versteht, dass hier das „Watchmen“-Universum in einer bildgewaltigen Tour de Force vorgestellt wird: von dem Auftauchen der ‚Minutemen’, eine Vigilantentruppe, die sich in Latexkostüme zwängt, aber über keine Superkräfte verfügt, bis hin zum Verbot der Superhelden durch die Nixon-Regierung – ein Verbot, das nur umgangen werden kann, wenn die tough guys von einst zu einer Zusammenarbeit mit den Behörden bereit sind. Anderenfalls drohen der Frühruhestand oder die Psychiatrie.

„Watchmen“ katapultiert uns in ein alternatives Universum im Jahre 1985: die Superhelden der 30er Jahre sind in Rente gegangen, ihrer technisch aufgerüsteten Nachfolger-Generation wurde wegen exzessiver Selbstjustiz dank des Keene-Acts in den 70zigern die Rote Karte gezeigt. Nur der nach einem Strahlenunfall zum gottähnlichen Wesen mutierte Physiker Jon Osterman (Dr. Manhattan) und Adrian Veidt (Ozymandias, der „klügste Mensch der Welt“) sind der Öffentlichkeit seither bekannt. Den Vietnam-Krieg hat Dr. Manhattan (nomen est omen) im Alleingang gewonnen und die Herren Bernstein und Woodward sind wegen ähnlicher Interventionen auch nicht zum Zuge gekommen. Richard Nixon strebt also seine fünfte Amtszeit ungefährdet an, allerdings steht der Kalte Krieg unmittelbar vor der Tür. Alle Hoffnungen ruhen auf Dr. Manhattan, der Teleportation und Telekinese beherrscht und Zeit und Raum nur noch Marginalien registriert. Als ein vermummter Killer auftaucht und einen alten Mitstreiter, den zynischen „Comedian“, aus dem Fenster eines Wolkenkratzers wirft, werden die „Watchmen“ nachdenklich. Der letzte illegal aktive Vigilant „Rorschach“ (Jackie Earle Haley, u.a. „Little Children“) deutet den Vorfall als Komplott gegen die Gruppe und versucht dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Nur zögerlich schließen sich der unsichere und labile Dan Dreiberg (Night Owl II) sowie die traumatisierte Laurie Juspeczyk (Silk Spectre II) dem extrem gewalttätigen Streetfighter Rorschach an.
Schon in Christopher Nolans „The Dark Night“ war die moralische Integrität des Helden arg gefährdet. Batmans Kampf gegen den „Joker“ schilderte Nolan als langsame Verwandlung des dunklen Ritters in einen prä-faschistischen Big Brother, dessen Ambivalenz nur durch die zerstörende Gewalttätigkeit eines anti-zivilisatorischen Gegenspielers gerechtfertigt werden konnte. Die meisten „Watchmen“ haben dagegen auch ohne derartig omnipotente Bösewichter die Grenzen eines zivilen Moralcodex überschritten: Rorschach verwandelte sich nach der brutalen Hinrichtung eines pädophilen Mörders in einen sadistischen Racheengel, der das Gespür eines Phillip Marlowe mit den Psychosen eines Travis Bickle wirkungsvoll ergänzt; der von den Medien gefeierte Dr. Manhattan („Gott ist echt, und er ist Amerikaner!“) kann sich zwar mühelos an mehreren Orten aufhalten, verliert aber immer mehr seine Emotionen und seine Empathie. Am Ende deutet er wie ein kirre gewordener Dr. Spock den Massenmord an Millionen Menschen mit einer pastoral-verschwurbelten Rhetorik als logisches Problem, lässt den entlarvten Strippenzieher am Leben und pulverisiert sogar einen renitenten Zeugen, bevor er sich angewidert in eine ferne Galaxis teleportiert.

Snyder setzt nicht nur ästhetisch neue Maßstäbe
Dass dies alles nicht als grelles Panoptikum daherkommt, liegt an zwei Eigenschaften des Films. Beide kommen unerwartet. „Watchmen“ ist zum einen Erzählkino in seiner uneigentlichen Bedeutung, es wird geredet und philosophiert, die Figuren erkunden ihre Beziehungen, rücken sie gerade, Vergangenes wird erinnert und Verdrängtes ans Tageslicht befördert.
Das Drehbuch von David Hayter (X-Men 1+2) und Alex Tse nimmt sich Raum und Zeit für unschiedlichen Facetten der Figuren und man wundert sich zunehmend, dass die komplexe Struktur der unterschiedlichen Handlungszweige und Flashbacks so gut funktioniert und langsam, wirklich ganz langsam, eine ungeheure Spannung erzeugt. Aber das ausgebremste Tempo macht Sinn, denn irgendwann sind alle Binnenperspektiven offen gelegt und es wird klar, warum es die eher schwächeren und labilen Watchmen und -women sind, die sich ihre menschlichen Instinkte bewahrt haben, während sich die Hauptfiguren als Psychopathen outen. Wer Action im Minutentakt erwartet hat, muss diese Hürde in dem immerhin 162 min langen Film nehmen. Und er sollte dabei genau hinschauen.

Das dieses Spektakel gelingt, liegt daran, dass Zack Snyder die eher morbide Ästhetik seiner vorherigen Arbeiten straff organisiert hat und in den Dienst der Story stellt. Und das wiederum ist Erzählkino in seiner eigentlichen Bedeutung. Die Sets und auch die digitalen Effekte überzeugen nicht nur durch eine opulente Detailfreude und raffinierte Überraschungen, sondern stellen eine dichte Atmosphäre her, die das Innere der Figuren im Äußeren widerspiegelt, zum Beispiel dann, wenn Dr. Manhattan seine Ex Laurie auf den Mars teleportiert und in einem gigantomanischen gläsernen Raumschiff empfängt, das nicht mehr von dieser Welt ist. Ein Konstrukt irgendwo zwischen Jules Verne und Spielbergs „Close Encounter“-Starships: fragil und immer von der Zerstörung bedroht. Die schmuddelig-verregneten Szenen, in denen der düstere Rorschach dem Übeltäter nachspürt, spiegeln sich in einer stimmigen noir-Ästhetik, während die Szenen, in denen Nixon und Kissinger über den Weltuntergang sinnieren, im „Strangelove“-Look eines Stanley Kubrick gehalten sind, ohne dass dies zu einem augenzwinkernden Zitat missrät.

Überhaupt gibt es eine Reihe von Anspielungen und nicht nur die für Snyder so typischen Slow-Motions erinnern gelegentlich an die Maxtrix-Ästhetik. Man hat aber nie das Gefühl, dass hier à la Tarantino mit einem Stil-Mix aus dem post-modernen Fundus jongliert wird, denn in „Watchmen“ ist der Stil zu eng mit dem Inhalt verzahnt: Jeder der Watchmen hält eine singuläre Deutung der Welt bereit und immer sorgen die Bilder für eine verblüffende Umsetzung dieser unterschiedlichen Lesarten. Wenn der wie Shakespeares Hamlet ständig unsicher grübelnde Night Owl II und die von einem Vergewaltiger gezeugte Silk Spectre II ihre Kostüme anlegen und aus Trainingsgründen eine Streetgang windelweich prügeln, um danach mit dem zynisch-verzweifelten Rorschach ins letzte Gefecht zu ziehen, ist dies kein Auftritt von Superhelden, sondern die Revolte der Durchschnittlichen und Kaputten gegen die Hybris der Übermenschen. Menschlich ist der, der selbst gelitten hat, und auch dies wird in einem der letzten Bilder fast en passent versteckt. Man muss nur genau hinschauen. Fazit: Snyders Verfilmung des "Watchmen"-Kosmos ist auch inhaltlich absolut stringent und all dies kann man auch ohne zitatensichere Kinobildung (die allerdings auch nicht schaden kann) unmittelbar spüren und erleben.

Freigegeben ab 16
Allerdings ist „Watchmen“ nichts für feingeistige Kinofreunde. Die exploitations-freudige Darstellung von Gewalt und Sex dürfte dem einen oder anderen auf den Magen schlagen. Sex unter Superhelden, o.K., aber berstende Knochen, die durch die Haut getrieben werden, das ausgiebige Spalten eines Kopfes mit einem Schlachterbeil, das Abtrennen von Armen mit einem Flex-Schneider, Hunde, die sich an einer Kinderleiche verköstigen und andere Ruppigkeiten lassen einen über die hierzulande ab 16 Jahren erteilte Altersfreigabe staunen.
Snyders Begründung sind flau, und das ist noch geschmeichelt: „Nichts ist schlimmer als diese alltägliche, ab 13 Jahren freigegebene Gewalt in Actionfilmen, in denen niemand wirklich verletzt wird oder niemand stirbt. Das finde ich gefährlich, besonders für die Kids. Ich aber will den Punkt beim Zuschauer erreichen, an dem er sich selbst beim Genuss der schrecklichsten Szenen ertappt und sich fragt, ob etwas mit ihm nicht stimmt. Dann wird es wirklich interessant, dann denkt er vielleicht auch über die ganze andere Gewalt nach, die er in anderen Filmen einfach so als Unterhaltung konsumiert.“
Das reflexive Potential von Gewaltdarstellungen hat schon vor über achtzig Jahren der deutsche Filmtheoretiker Siegfried Kracauer verteidigt. Der Theoriepapst vertrat die Ansicht, dass die Bilder des Grauens "den Zuschauer befähigen (sollen), ... das Grauen zu köpfen, das sie spiegeln". Genauso gut kann man behaupten, dass sie den Zuschauer lediglich auf neue Schocks vorbereiten und zu seiner Abhärtung beitragen.
Das Subversive, das Snyder in seinen grellen Schockszenen behauptet, gehört meiner Meinung nach zum geläufigen Business As Usual. Regeln, die auch die Kritikergilde gut kennt, aber unterschiedlich auslegt.
Man muss über die Lobeshymnen für „Watchmen“ nicht staunen, sie sind gerechtfertigt. Aber bitteschön nicht vergessen, dass Zack Snyder nach dem auch aus meiner Sicht unsäglichen „300“ mit dem Stigma leben musste, die faschistische Führerkultur in gewalthuldigende Bilder gegossen zu haben. Mittlerweile hat Filmkritik mur noch wenige Adressaten, aber wenn man liest, was Nerds in ihren Forumsgruppen über Snyders letzten Film angesichts dessen Opulenz schrieben, entsteht schnell der Eindruck, dass derartig Feinsinniges an ihnen abgeperlt ist – so wurde von ihnen Ästhetik als Inhalt gefeiert, während der Inhalt nicht so dechiffriert wurde wie gewünscht. Auch in „Watchmen“ kann man allerlei hineininterpretieren, was nicht genehm ist, und der Hinweis eines Zunftkollegen, dass das Comic-Opus einige Zuschauer ohne explizite Kinobildung emotional überfordern könne, ist verräterisch und legt die Stirn des Verfassers in Sorgenfalten.
Hop oder Top?
Schieben wir das Akademische beiseite. "Watchmen" hat eine ungeheure Präsenz, eine Wucht, die man nur selten im Kino erlebt. Ungeachtet meiner klitzekleinen Bedenken wird es wohl dazu kommen, dass man in ein bis Jahrzehnten „The Dark Knight“ und „Watchmen“ als Meilensteine der Kinogeschichte feiern wird. Zu Recht.

Noten: BigDoc = 1, Klawer = 1,5

"Watchmen" wurde im Filmclub auf Bluray vorgestellt. Etwas anderes kommt nicht in Frage. Nur am Rande: erst kürzlich habe ich mir noch einmal den Klassiker "Der Dieb von Bagdad" angeschaut, der mit Douglas Fairbanks sen. in der Hauptrolle der erste Film war, der die Millionen-Dollar-Grenze überschritt. Ob das Kino einen Kampf zwischen Realismus und den Spektakeln der Jahrmarktsbude austrägt, will ich nicht diskutieren. 85 Jahre nach dem "Dieb von Bagdad" haben die Schauwerte vielleicht die Nase vorn, aber sie haben ihre Naivität eingebüßt. Die burlesken Comic-Verfilmungen der 80er Jahre wollte ich mir nicht antun - mittlerweile sind die Comics aber erwachsen geworden und trotzdem haben sie den Charme der Jahrmarktsbude mit ihren verbotenen Sensationen nicht eingebüßt. Man sieht es mit weit aufgerissenen Augen, aber nach ein paarTausend Filmen auf dem Buckel freut man sich, dass es immer wieder etwas zum Staunen gibt.