Samstag, 15. März 2008

No country for old men

USA 2007 - Regie: Joel Coen, Ethan Coen - Darsteller: Tommy Lee Jones, Javier Bardem, Josh Brolin, Woody Harrelson, Kelly MacDonald, Garret Dillahunt, Tess Harper, Barry Corbin - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 16 - Länge: 122 min. - Start: 28.2.2008

Ein Film ohne Musik, voller Bilder und mit einer direkten Anrede: No country for old men beginnt mit einem Voice Over, das den Zuschauer daran erinnert, dass er es mit den Folgen der Geschichte eines Landes und der Landschaft selbst zu tun bekommt – einer tödlichen Kargheit, die sich in allen Bildern ausdrückt und der selbst die Schönheit der Tafelberge aus den Fordschen Western abhanden gekommen ist.
Aber die Story ist selbst schon Geschichte: sie spielt Anfang der 80er-Jahre, irgendwo im Südwesten von Texas nahe dem Rio Grande. Dort haben Drogenhändler offenbar die Viehdiebe aus dem klassischen Western ersetzt und auch alle anderen alten Regeln sind unter die Räder gekommen.
Eine der Hauptfiguren ist schnell eingeführt: der soziopathische Profikiller Anton Chigurh (Javier Bardem) bringt mit großer physischer Intensität einen Deputy um, der den Fehler begangen hat, Chigurh festzunehmen. Wenig später sehen wir den Mann mit der grotesken Topffrisur mit einem Bolzenschussgerät. Höflich bittet er einen Autofahrer darum, aus seinem Wagen zu steigen: „Halten Sie bitte still!“. Das Gerät wird auf die Stirn gesetzt, der Killer drückt ab, der Wagen wechselt seinen Besitzer. So tötet man sonst Schweine.
Die zweite Hauptfigur ist Llewelyn Moss (Josh Brolin), der bei der Antilopenjagd über die blutigen Folgen eines schief gelaufenen Drogendeals stolpert – mitten in der Wüstenei liegen Leichen und Waffen, eine Menge Drogen und ein Koffer mit zwei Millionen Dollar. Moss sieht einem Mann beim Sterben zu, nimmt das Geld und kehrt nachts zu dem Sterbenden zurück, um ihm Wasser zu bringen. Er weiß, dass er den größten Fehler seines Lebens macht.
Die dritte Figur scheint aus einer griechischen Tragödie zu stammen, in der üblicherweise ein Chor das Geschehen kommentiert. Im Film von Joel und Ethan Coen ist es der alternde Sheriff Bell (Tommy Lee Jones), der immer zu spät kommt und in langen, absurd komischen Gesprächen mit seinem Deputy die wachsenden Leichenberge kommentiert, aber nichts aufhalten und nichts ändern kann.
Fortan sind alle hinter dem Geld her und der Rest ist eine Mischung aus Road-Movie, Spätwestern und Neo-Noir-Krimi, in dem uns die Coen-Brüder demonstrieren, dass die Möglichkeiten des lakonischen Erzählens im Kino noch längst nicht ausgeschöpft sind.
Die Coens sind nach The Big Lebowski (1998), O Brother, Where Art Thou? (2000), The Man Who Wasn’t There (2001), Intolerable Cruelty (2003) und der unsäglichen Komödie Ladykillers (2004) wieder zu ihren Wurzeln zurückgekehrt, zu Blood Simple und Fargo. No country for old men ist zweifellos ein Meisterwerk, aber eins, das sprachlos macht und eine große Leere hinterlässt.

Im Kino der Coolness: Geniale Form ohne Inhalt
Im Oktober 1994 veröffentlichte Andreas Kilb in DIE ZEIT eine bemerkenswerte Doppel-Kritik über „zwei Reisen ins Herz der amerikanischen Finsternis“. Der Titel lautete „Zum Töten geboren, zum Schauen bestellt“ und die Kritik handelte von zwei Filmen, die unsere Wahrnehmung von Gewalt im Kino verändern sollten: Oliver Stones Natural Born Killers und Quentin Tarantinos Pulp Fiction. Stones Gewaltorgie ist zwar nicht vergessen, cineastisch hat sich die Halbwertszeit des Films aber als extrem kurz erwiesen, während Tarantinos Film über die Jahre zum Kultfilm geworden ist.
Kilb war schon vor knapp 14 Jahren skeptisch und bescheinigte Stone, eine „virtuose Furchtbarkeit“ geschaffen zu haben, während Tarantinos Film „bildervoll und menschenleer“ sei - in „Pulp Fiction“ gehe es, so Kilb, nur um den „Moment, den witzigen Einfall, den schönen Trick“. Man kann es auch anders formulieren: Geniale Form ohne Inhalt.

Spannend an Kilbs Artikel war auch etwas anderes. In einer längeren Einleitung beschrieb der Filmkritiker die MTV-Comic-Helden Beavis und Butt-Head als Protagonisten einer neuen Kälte, die zynisch und gewaltverherrlichend ist. Und von der völligen Leere im Kopf handelt. Sex ist cool, Mörder sind cool, Krieg ist cool, Gewalt ist cool. Alles, was uncool ist, muss weg. Beavis und Butt-Head waren für Kilb der „Ausdruck des Ausdrucklosen, der Signalton der absoluten Gleichgültigkeit im Angesicht des Öden und Schrecklichen“. Beavis und Butt-Head sind Monster, aber sorry: was Kilb nicht schrieb, soll hier nachgeholt werden – die beiden sind in erster Linie ungebildete hirnlose Idioten.

Mit der kultur- und medienphilosophischen Konstituierung der „Coolness im Kino“ hat Kilb aus meiner Sicht eine epochale und fast schon prophetische Kritik geschrieben, denn die folgende Kinojahre waren reichlich angefüllt mit Filmen, die nur eins im Sinn hatten: dem Kinogänger brillante Plots, unerwartete Twists und unverbrauchte Psychopathen um die Ohren zu hauen: David Finchers Seven, natürlich Fargo, From Dusk Till Dawn (Rodriguez/Tarantino), aber auch Finchers Fight Club und zuletzt David Cronenbergs A History of Violence spielten das Thema formal und ästhetisch frappierend durch, während Shooting-Star Shyamalan eher eine spezielle Nische besetzte.
Ähnlich wie im Horrorfilm wurden neben den Thrillern, den Noir- und Neo-noir-Filmen im Tarantino-Look auch unsäglich öde und gewaltverherrlichende B-Pictures abgekurbelt (wobei Slasher-Filme in Scream-Stil ein eigenes Sub-Genre schufen) - die Meisterwerke waren also „The cream on the coffee“, mit dem Schmuddelkram wurde Kasse gemacht. Und während die Kritiker ihren eigenen Kanon entwickelten, durfte man sich ganz leise die Frage stellen, ob denn nicht vielleicht das Genrekino aus uns Kinogängern nichts anderes als Beavis-und-Butt-Head-Klone macht, die mit ihrem hechelnden Lachen nur das „cool“ finden, was noch schrecklicher und noch sadistischer ist als das, was uns beim letzten Kinobesuch die Eingeweide durchgeschüttelt hat. Ganz so moralinsauer ist es dann doch nicht.

Grenzüberschreitungen und Verführungen: der geniale Irre
Die andere Seite der Medaille ist der Blick in den Abgrund. Und die Tür zum völlig anderen, der Blick in die Amoralität wird uns im Kino von den Bösewichtern, den Monstern geöffnet. Auch hier hat alles eine Vorgeschichte. Ganz am Anfang waren im Kino die Seiten geklärt - das Gute und das Böse standen sich diametral gegenüber. Das Gute siegte, das Böse musste definitiv untergehen. Ein Exorzismus unserer Ängste... bis die Irritationen einsetzten.
Es fing schon früh an, zum Beispiel mit Fritz Langs Dr. Mabuse: Der geniale Irre, eingesperrt in einer Zelle, gefährlich und unberechenbar, aber von überragender emotionaler und intellektueller Kraft. Ein Stratege des Bösen.
Die cineastischen Spuren werden schon also schon früh ausgelegt, bereits zwei Jahrzehnte nach der ‚Erfindung des Kinos’. Dr. Mabuse, erst dämonisch von Fritz Lang, dann später von eher zweitrangigen Regisseuren zum Serienhelden gemacht, ist ebenso ein Topos des Horrorfilms wie Fantomas, sein alter Ego, dessen bösartige Genialität allerdings mehr zur Farce neigte. Beiden gemeinsam war die Eigenschaft, das pathologische Moment ihres Handels durch dessen Folgen sichtbar zu machen, durch das Tun derer, die sie verführt hatten.
Seitdem hat sich die Erscheinungsweise des absolut Bösen in den Filmen dramatisch weiterentwickelt: das Andere, die schwarzen Phantasien und die vitale Lust am Töten haben eine verführerische Qualität erhalten.
Ein Film, der lange vor Pulp Fiction verführte, war Das Schweigen der Lämmer. In Jonathan Demmes Film war alles anders - das absolut Böse durfte nicht nur entkommen, sondern auch faszinieren. Lemme demonstrierte, dass Hannibal Lecters brillante, fast unmenschliche Intelligenz faszinierender war als die Abscheu vor seinen Morden. Lemme verführte das Publikum zur folgenlosen Teilhabe an den obsessiven, zunächst garantiert empathiefreien Begierden seiner Hauptfigur, um uns dann ein zweites Mal zu überlisten, indem er uns zeigte, dass das Monster auch menschliche Züge besaß (übrigens auch eine der großen Qualitäten des immer noch nicht hineichend gewürdigten Films Blutmond von Michael Mann), auch wenn das Objekt seiner Begierde eine schwer traumatisierte junge Frau war. Egal, das Monster fühlte und begehrte jenseits aller Monstrosität.
In diesem Kontext war David Finchers Zodiac fast schon eine Befreiung. Eine Filme, der Schluss machte mit der Mythologisierung des Serial Killer und ihn als das vorführte, was er ist: ein möglicherweise cleverer, aber im Kern primitiver und seelenloser Psychopath.

Von derartigen Nuancen sind die Coens mit No country for old men weit entfernt. Ihr Monster ist frei von Moral, und das ganz im Sinne Nietzsches. Chigurh, der Mann mit dem Bolzenschussgerät, ist cool im wahrsten Sinne des Wortes: Er tötet nicht nur aus professionellem Interesse, sondern auch aus Verachtung für die Unterlegenen. Und da die absolute Freiheit nicht unbegrenzten Spaß verspricht, ist Chigurh ein Mann mit Regeln und Grundsätzen, der ein Faible für grausame sprachphilosophische Diskurse entwickelt und schon einmal eine Münze wirft, um das Schicksal entscheiden zu lassen, ob jemand sterben soll oder nicht.

Kein Wunder, dass Bardem für diese Rolle einen Oscar erhielt und die Kritik beeindruckt die Luft anhielt. Aber man muss genau hinschauen, denn die Coens zeigen auch etwas, was verblüfft und kaum wahrgenommen wurde: Chigurh ist nur dann effizient, wenn er Wehrlose tötet. Nur einmal, als sich Llewelyn Moss ihm bewaffnet stellt, zieht er den Kürzeren und muss das Weite suchen – eine jämmerliche Niederlage. Chigurh ist ein kalter Schlächter, dessen Faszination sich offenbar nur in den genregeschulten Köpfen der Zuschauer zusammensetzt, während Moss der klassische Noir-Held ist, der trotz seiner Distanz und barschen Wortkargheit einige Werte für unantastbar hält. Am Ende lassen die Coens ihn fast unbemerkt verrecken.

Coolness minus Tarentino = Coen Brothers
Bringen wir es auf den Punkt. No counry for old men ist ein Film, der auf nichts außer sich verweisen kann als das, was in den Köpfen der Coens ist und im Kino und seiner Geschichte selbst existiert. Ein Film voller Referenzen, brillant fotografiert und meisterhaft geschnitten. Filmgeschichtlich ist der No counry for old men ein direkter Antagonist zu Sam Peckinpahs Meisterwerk Getaway, das trotz all seiner Gewalttätigkeit von Werten wie Loyalität berichtet. Und wer noch einen Schritt weitergehen will, um zu begreifen, wie das Universum der Coens funktioniert, dem sei John Sayles Lone Star (1996) empfohlen, auch eine gewalttätige Geschichte aus dem texanisch-mexikanischen Grenzland, auch eine Reise ins „Herz der amerikanischen Finsternis“, aber eine, die verstehen will. Getaway und Lone Star bewahren dabei eine grundsätzliche und bleibende Konsistenz.

Die Kunst der Coens besteht darin, die Konsistenz aufzulösen und das Formale bis an die Grenzen des Erzählbaren auszureizen, um das Publikum zu verblüffen und zu verwirren. Nichts ist mehr antizipierbar und selbst Figuren wie der von Woody Harrelson gespielte Kopfgeldjäger, der bedrohlich erscheint, verschwinden lapidar aus dem Film wie der traurige Held Llewelyn Moss, der ein Opfer der ihn verfolgenden mexikanischen Drogengang wird, kurz nachdem die Coens ein bombastisches Show-Down zwischen Moss und Chigurh angekündigt haben. Ein Fake.

Und auch Chigurh geht leer aus: der Killer hinterlässt zwar eine Blutspur, kommt dem Koffer mit den Millionen keinen Schritt näher. Die ganze Kälte des Films kulminiert in einer Szene, in der Chigurh sein Versprechen wahr machen will, nämlich die Frau von Moss zu töten, falls dieser ihm nicht das Geld aushändigt. Obwohl Moss bereits tot ist, hält sich der grimassierende Soziopath an seine ‚Regeln’ und schlägt dem Opfer einen Münzwurf vor. Die Frau lehnt ab und schlägt dem Killer eine moralische Entscheidung vor. Schnitt. Chigurh verlässt das Haus und betrachtet seine Schuhe. Dies tut er immer dann, wenn Blut geflossen ist und er prüfen will, ob seine Bekleidung Schaden genommen hat. Aber im Film ‚existiert’ nur das, was man sieht und auch das ist nur ein Produkt unserer Imagination.

Etwas beherrschen die Coens meisterhaft: sie konfrontieren in ihren Filmen immer wieder einfache und natürliche Menschen mit der Verkommenheit des Bösen. Meist zum Nachteil der Guten. Ähnlich wie Quentin Tarantino machen die Coens coole Filme, aber ohne den grotesken Humor Tarantinos, der immerhin eine gewisse Befreiung durch das Lachen verspricht.
Bei den Coens gibt es nichts mehr zum Lachen. Schon nach Fargo wurde dem Brüderpaar vorgeworfen, dass es die Opfer dem klammheimlichen Vergnügen der Zuschauer aussetzt – eine kalte, boshafte Eigenschaft ihrer Erzählkunst. Doch anders als in Fargo, wo die Anständigkeit nicht völlig unter die Räder gerät, ist No counry for old men ein Film ohne Hoffnung, der uns bestenfalls vorführt, dass das Spiel mit der Gewalt am Ende nur ein Gefühl der Agonie erzeugt. Und das ist nicht übel.

Noten: Klawer = 1, Big Doc = 1, Melonie = 1, Mr. Mendez (vielleicht zu Recht wieder skeptisch) = 2,5.

Sonntag, 2. März 2008

Streets of Rio

Regie: Alexander Pickl, Produzent: Dan Maag, Philip Schulz-Deyle, Buch: Nikolai Müllerschön, Rene Belmonte, Kamera: Arie Van Dam, Verleih: Falcom Media Group, Land: Deutschland, Darsteller: Thiago Martins, Ralf Richter, Luís Otávio Fernandes, Lui Mendes, Naima Santos, Gabriel Mattar, Arthur Bispo, Sandra Pera.

„Streets of Rio“ sieht man nur in kleineren Kinos, zum Beispiel in München oder anderen Großstädten, bevor sie verschwinden – die deutsche Produktion ist sicher einer jener Filme, die im Grunde genommen für den DVD-Markt produziert werden, der (wenn man boshaft ist) das Kino als relevante Distributionsstätte vermutlich schon abgelöst hat.
Erzählt wird eine Geschichte im „City of God“-Stil: Tiago (Thiago Martins) lebt mit seiner schwerkranken Mutter und seinem Bruder in den Armenvierteln von Rio de Janeiro. Der knapp 16-jährige Junge geht nicht mehr zur Schule, dafür kickt er wie ein Weltmeister, aber davon gibt es in den Favelas viele. Und die meisten träumen von einem Probetraining bei einem der großen Vereine, zum Beispiel dem Fluminense Football Club. Der soziale Aufstieg aus von Gangs beherrschten Favelas, ist ohne Geld und Unterstützung allerdings fast unmöglich und vermutlich kicken deshalb noch einige Ronaldinhos unentdeckt am Strand.

Der Dokumentarfilmer und Werbeclip-Spezialist Alexander Pickl und seine Drehbuchcrew erzählen die Geschichte Tiagos mit der Highspeed-Digitalkamera, schnell, etwas dreckig und an Originalschauplätzen gedreht. Auch wenn die Dialoge etwas simpel gestrickt sind und der Plot nicht frei von dramaturgischen Klischees ist, die sich meistens leicht erahnen lassen, gelingt das Ganze doch recht überzeugend, zumal einige Figuren alles andere als eindimensional gezeichnet werden. Da ist zum Beispiel der extrem brutale Gangboss Tubaro, der Thiagos Talente respektiert und alles dafür tut, um dem Jungen die Kriminalität der Favelas zu ersparen, einem Milieu, in dem Gangmitglieder selten älter als 30 Jahre werden. Bis am Ende möglicherweise doch eine Chance auf Thiago wartet, müssen einige Protagonisten ins Gras beißen.

Fast noch spannender als der Film ist das Presseheft des Schweizer Verleihs Falcom Media, in dem Pickl sehr eindrucksvoll von seinen Erfahrungen in Brasilien und den Drehbedingungen in den Favelas erzählt. Und er erzählt von den Talenten, die nur mit einer Plastiktüte bewaffnet in ein Flugzeug gesetzt werden, um bei irgendeinem europäischen Klub vorzuspielen. Fast alle kehren zurück – der Traum vom Fußballstar bleibt halt ein Traum.
Wer übrigens wissen will, was Fußball in Brasilien ist, nicht immer fernab der Vorstellungen, die man als Europäer so hat, sollte sich im Internet einmal auf der Homepage von Fluminense umsehen, wo es auch einen richtigen Online-TV-Kanal gibt: http://www.canalfluminense.com.br/index2.php.
Und auch sonst hätte man dem Film die eine oder andere realistische Fußballszene gewünscht. Egal: „Streets of Rio“ ist ein ästhetisch durchaus gelungener Film, dem man gelegentlich einen forcierteren Schnitt gewünscht hätte, der aber, zumindest konnte ich dieses Gefühl nicht loswerden, mehr über die Favelas von Rio zeigt als so manche bekannte Mainstream-Produktion.
Note: BigDoc = 3

Samstag, 1. März 2008

Michael Clayton

USA 2007 - Regie: Tony Gilroy - Darsteller: George Clooney, Tom Wilkinson, Tilda Swinton, Sydney Pollak, Michael O'Keefe, Robert Prescott, Ken Howard, Denis O'Hare, Austin Williams, Sean Cullen, Merritt Wever, David Lansbury - FSK: ab 12 - Länge: 120 min.

Ich bin Shiva – der Gott des Todes

„Michael Clayton“ ist ein „schöner“ Film. Mit der stilistisch präsenten Fotografie von Robert Elswit („Magnolia“), dem depressiven Off-Prolog von Tom Wilkenson, seinen Stimmungen und Tönen und der außergewöhnlich guten Musik von James Newton Howard (einer der Besten seines Faches, zuletzt machte er die Score für alle Shyamalan-Filme, insgesamt wurde Howard sechsmal für den Oscar nominiert) bietet der Film nicht nur am Anfang alles auf, was ein guter Paranoia-Film benötigt – inklusive Sidney Pollack in einer netten Nebenrolle, eben jener Pollack, der vor 33 Jahren THREE DAYS OF THE CONDOR machte und den man sich ruhig noch einmal anschauen sollte. Das alles packt vom ersten Moment, auch wenn (oder vielleicht gerade deswegen) die Montage fast kalt und wie im Staccato den Plot abarbeitet und keine Zeitsprünge scheut - wir sind im Labor und schauen zu, wie Ratten durch die Irrgänge huschen und den Ausgang suchen.

Mächtige Ratten
Die Story ist nicht übel, aber alles andere als neu, denn dass ein Chemie-Multi mit einem Entlaubungsmittel arme Bauern killt und danach natürlich an sämtlichen Drähten zieht, um sich eine Sammelklage über 3 Mrd. Dollar vom Halse zu halten, dürfte die Verschwörungsphantasie der Zuschauer nicht sonderlich überfordern, zumal alles, was wir über Multis wissen, sowieso meistens aus dem Kino stammt, entweder fiction ist oder von Michael Moore stammt. Nun gut.

Was den Film einmalig macht, „schön“ im besten Sinne, ist die schlafwandlerische Müdigkeit, mit der sich die Protagonisten erschöpft durch die Handlung schleppen. Es sind Menschen, die nur noch wie konditionierte Laborratten funktionieren. Sie sind programmiert und es geht darum, die Macht nicht zu verlieren und viel, viel Geld abzuzocken. Das macht fertig.
Wie zeigt uns Tony Gilroy (er schrieb die Bücher für "Die Bourne Identität" und die "Die Bourne Verschwörung") diese hochintelligenten Ratten? Sie schauen sich ihre Schweißflecke in der Achselhöhle an! Kein Wunder, regiert doch die Angst alles zu verlieren, das Geld, die Karriere, die Macht.
Da ist die wundervolle Tilda Swinton, die Karen Crowder spielt. Crowder vertritt juristisch die Interessen des Multis U/North und bestellt schließlich ziemlich verdruckst einige Morde, als alles aus dem Ruder läuft. Immer wenn Crowder vor den Kameras und auf Versammlungen öffentlich lügen muss, bis sich die Balken biegen, übt sie dies ausführlich vor dem Spiegel und spielt dabei alle mimischen und rhetorischen Varianten durch. Sogar die Frage nach dem „Ausgleich“, dem „Privatleben“ antizipiert diese Frau und sie, die kein Privatleben hat, weil sie nur schläft und arbeitet, hat darauf eine Antwort, die ihre Sprache zu Metall gerinnen lässt. Gilroy zeigt uns dies als perfekte Studie der Zu- und Abrichtung, bei der sich die Ratte selbst konditioniert. Am Ende, wenn alles vorbei ist, läuft ein wellenartiges Zittern über ihr Gesicht, Swinton kollabiert und kriecht auf allen Vieren über den Teppich.
Da ist George Clooney. Er ist der „Janitor“, der Ausputzer, der Mann, der alles wegräumt. Er spielt Michael Clayton, einen Mann, den die Bullen für einen Juristen halten und die Juristen für einen Bullen. Die öffentliche Anwaltskarriere hat er an den Nagel gehängt, um für die Kanzlei Kenner, Bach & Ledeen die Drecksarbeit zu machen. Und er ist gut. Fast hart am Rande des Klischees zeigt ihn Gilroy als desillusionierten Profi mit einem Hang zur Spielsucht und fast tödlich hohen Schulden. Auch Clooney wirkt müde, dabei aber wie aufgezogen, ein Charakter, der nicht Herr in seiner Haut ist.

Da rettet nur der Wahnsinn
Wirklich fantastisch und der heimliche Held des Films ist Tom Wilkenson. Er spielt Arthur Edens und der ist ein Freund von Clayton. Eigentlich soll Edens als Anwalt von Kenner, Bach & Ledeen die Interessen von U/North vertreten. Aber er wird nach sechs Jahren Aktenarbeit scheinbar wahnsinnig, strampelt, schlägt um sich, zieht sich während einer Anhörung nackt aus – no longer acting like a rat.
Aber warum? Edens kann beweisen, dass U/North weiß, dass sein Entlaubungsmittel killt. Schlimm wäre diese Erkenntnis für die meisten Beteiligten nicht, aber leider ist Edens eine bipolare Persönlichkeit - er ist manisch-depressiv, hat vergessen, seine Pillen zu nehmen und so entdeckt er mitten im Pharmaentzug die Moral. Schlecht gelaufen, aber ein herrlicher Einfall.

Gilroys Regiedebüt überzeugt über die vollen 120 Minuten, auch wenn man nicht wirklich etwas Neues sieht. Aber Gilroy variiert das Thema virtuos und es macht wirklich Spaß, diesen Neo-noir-Thriller auf sich wirken zu lassen. Clooney ist gut, Swinton hat ihren Oscar verdient, aber wirklich stark ist Tom Wilkenson, bei dem man nie weiß, ob er nun mitten in einer manischen Phase steckt oder einfach nur lustvoll die Freiheit des Denkens und Handelns genießt. Ein Anarchist, der aus einem Bunuel-Film geflohen sein könnte und sich nun in einem Paranoia-Movie verirrt hat. Herrlich.

Note: BigDoc = 2