Montag, 22. September 2014

LOST - eine Erfahrung

Heute genau vor zehn Jahren begann LOST. Als die erste Episode am 22. November 2004 ausgestrahlt wurde, konnte niemand ahnen, dass AMC Entertainment mit der Serie ein neues Kapitel TV- und Mediengeschichte schreiben würde. Ich hatte damals keinen Anlass, um mir etwas anzuschauen, dass à la „Robinson Crusoe“ und „Herr der Fliegen“ von Überlebenden eines Flugzeugabsturzes auf einer fremden Insel erzählt. Dann entwickelte sich LOST zu einem weltweiten Erfolg.

Ein Zwischeneinstieg erschien nach dem Erfolg der 1. und 2. Staffel nicht mehr plausibel. Ich vermutete, dass die als äußerst komplex beschriebene Serie dies nicht zulässt und LOST doch wohl eher in einem Rutsch zu sehen sei. So wartete ich bis zum 10-jährigen Jubiläum, kaufte mir die LOST-Box und beschloss, ein Experiment in Sachen Binge Watching zu wagen: LOST komplett in einem Monat.


Binge Watching is the New Normal

Meine Vermutung hat sich bestätigt: Man kann LOST nicht im TV sehen, weil die Komplexität der Serie weder einen linearen Wochentakt noch mehrmonatige Sendepausen verträgt. Egal, was der Broadcaster macht: Der Zuschauer ist ‚lost’.
„Komplexe Serien“, schreibt Sönke Hahn, „sind im Fernseh-Flow stets dem Risiko ausgesetzt, dass die zum Verständnis unumgänglichen Erinnerungsleistungen der Rezipienten über das Intervall der wöchentlichen Ausstrahlung hinweg nicht realisiert werden können“ (Hahn 2013).

„Netflix declares binge watching is the new normal“, verkündete der US-Streaming-Anbieter bei seinem Deutschland-Start euphorisch.
Ist das die Lösung?
Tatsächlich ist Binge Watching besonders mit dem auf Streaming basierenden VoD-Angeboten von Netflix in Zusammenhang gebracht worden. Die DVD ist m.E. aber immer noch das wichtigere Medium.
Das sogenannte „Komaglotzen“ ist für die Behaltenseffizienz grundsätzlich eine wirksame Alternative zum Weekly TV. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei populären Serien wie „Game of Thrones“ mit seinen multiplen Erzählsträngen ein volles Jahr Pause nicht funktionieren kann, wenn sich ein Plot Twist am Ende einer Staffel als so komplex erweist, dass man bereits Monate später ein gutes Gedächtnis benötigt, um den Faden wieder aufzunehmen. Pay-TV und VoD-Anbieter besetzen diese zeitliche Lücke zwar, aber wenn sich nach einem Jahr RTL II genötigt sieht, alle (!) Staffeln von „The Walking Dead“ vor der Ausstrahlung der aktuellen Staffel zu wiederholen, erkennt man, dass dieses Distributions-Modell nicht zukunftsfähig ist. Ein Teil der avisierten Klientel hat sich in der Regel die neue Staffel bereits 1-2 Wochen nach der US-Ausstrahlung auf illegalen Servern angeschaut. Diese wiederum passen sich dem traditionellen Zeitschema von TV-Serien an und verhindern mit einer wöchentlichen Taktung das Binge Watching, weil niemand weiß, wie lange die Contents auf den Servern abgerufen werden können.
Bei extrem komplexen Serien wie LOST ist Binge Watching sicher ein Vorteil, wenn man alle DVDs/Blurays besitzt oder VoD-Anbieter alles vorhalten. Aber womöglich ist dieser Benefit nur ein temporärer. Irgendwann mitten in Staffel 3 gingen bei mir trotzdem die ersten Fäden verloren. Trotzdem kam für mich der Griff nach Büchern oder das Stöbern in der Lostpedia nicht in Frage, weil ich die Spannungsdramaturgie authentisch erleben wollte. Weder ein Informationsvorsprung noch eine Revision meiner Erinnerungen wäre hilfreich gewesen.

Hat Binge Watching Folgen für das emotionale, kognitive und soziale Leben?
Während Binge Eating als medizinischer Begriff eine behandlungsbedürftige Verhaltensstörung bezeichnet, die möglicherweise ein Kollateralschaden von Binge Watching ist, hat man Probleme, etwas Erhellendes über vergleichbare Störungen nach gesteigertem Serienkonsum zu finden. Die Medientheorie interessiert sich nicht dafür, interdisziplinärer Austausch ist nicht erkennbar. Allerdings legte die American Heart Association im Juni dieses Jahres das ernüchternde Ergebnis einer Studie vor: So verdoppelt ein TV-Konsum von mehr als drei Stunden pro Tag das Risiko, als Couch Potato frühzeitig abzuleben (1). Binge Watcher dürften locker auf mehr Stunden kommen. Also ist mehr Joggen angeraten.

Immerhin hielt ich durch. Außerdem fühlt sich die Abwesenheit von Werbung wie eine Befreiung an. Trotz des ausdrücklichen Wunsches, meine emotionale Distanz nicht völlig aufzugeben, nahm mich LOST gefangen. Bereits nach Staffel 1 machte sich ein spürbares Suchtverhalten bemerkbar. Das tägliche Limit an Folgen nicht zu überschreiten, war schwer zu leisten. Gleichzeitig sank das Interesse für andere Dinge, Aufmerksamkeitsdefizite schlichen sich ein. Die sozialen Aktivitäten wurden an LOST allerdings nicht angepasst. Am Ende war ich aber froh, dass alles vorbei war. Trotzdem möchte ich die Erfahrung nicht missen. Mit anderen Worten: LOST funktioniert sogar dann, wenn man das gar nicht will.


LOST als Vorreiter des trans- und crossmedialer Strategien

Die Macher von LOST haben als Erste eine durchgehend horizontale, aber nicht immer lineare Serienhandlung vor dem Hintergrund eines eigenen Universums mit eigenen Regeln aufgebaut. Mit Naturgesetzen, die weniger mit Physik, umso mehr aber mit Spiritualität zu tun hatten. Und das, obwohl Lloyd Braun, damals der Vorsitzende von ABC Entertainment, zu Beginn gefordert hatte, dass die Story wissenschaftlich begründet sein soll und die Serie am Ende eine vernünftige Erklärung für alles geben müsse.
Damit tauchte bereits damals das Phänomen des World-Making und der Story World auf, das die deutsche Medientheorie deutlich später erreichte (2). LOST war sicher einer der Vorreiter.
Ein Projekt vergleichbarer Größenordnung ist mir nicht bekannt. In Sachen Mythologie können die X-Files mit LOST konkurrieren, aber Scully und Mulder spielten in einer Serie, die mehr vertikale als horizontale Elemente verschränkte. Nur HEROES agierte zeitweilig auf Augenhöhe mit dem Inseldrama, auch weil die Fans das Gefühl hatten, schneller mit der Auflösung der Geheimnisse beliefert zu werden.
Wer also mit zehn Jahren Verspätung LOST sieht, versteht besser, warum Serien wie HEROES, FRINGE und das spektakulär gescheiterte ABC-Produkt FLASHFORWARD unterschiedlich originelle Imitationen sind. Auch sie stellten die physikalischen Gesetze auf den Kopf, reisten in Paralleluniversen oder wiederholten das Flashback-Narrativ (wie es J.J. Abrams selbst in ALCATRAZ erfolglos versuchte), spiegeln damit aber das Paradigma wider, ein erfolgreiches Konzept solange zu wiederholen, bis es keine Einnahmen mehr generiert.

LOST war aber auch aus einem anderen Grund originell. Die Serie traf 2004 auf eine Medienlandschaft, in der sich der Konsument dank DVR und DVD und von festen Sendezeiten abkoppeln konnte.
Und es gab das Internet und die sozialen Medien!


Social TV

In den Jahren 2009 – 2014 nahm in den USA die Anzahl der Haushalte mit Internetzugang von 74% auf 92,5% zu (3). Und fast ausnahmslos handelte es sich um Breitband-Internet, mit dem man zügig streamen konnte. Und so boten die Macher von LOST bereits nach der 1. Staffel spezielle Mobisodes an (kurze, ca. 5-minütige Episoden), die auf dem Handy oder anderen Endgeräten betrachtet werden konnten.
Vor 10 Jahren wurde Mehrwert in den Markt eingeführt, der auch nach den Episoden und zwischen den Staffeln interessant für den Zuschauer war. Andere Shows und Entertainment-Programme haben dies schnell übernommen. Später dann auch Kino-Serien wie „Harry Potter“ – zum Beispiel mit Informationen und Gimmicks in Comics und auf CDs, DVDs und Blurays. Aber auch mit Computerspielen und mobilen Apps wurden die Fans nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch vernetzt.
Aktuelle Serien wie „Game of Thrones“ haben dies noch einmal gesteigert. Exemplarisch zu nennen sind die limitierte Auflage eines Promotionspaketes namens „Maester’s Path“ vor dem Start der 1. Staffel von GOT, das beinahe exzessiv ausführliche Bonusmaterial auf DVD und Bluray, die komplexe Website von GOT, Spiele, Graphic Novels und so weiter.

LOST hatte es bereits vor einer Dekade geschafft, Zuschauer während der Ausstrahlung und noch weit über das Ende der Serie zu binden und dazu anzuregen, sich in einem Netzwerk Gleichgesinnter auszutauschen. Internet und soziale Medien waren ein gewaltiger Multiplikator und man kann sich leicht vorstellen, wie Trendsetting in den Peer-Groups ausgesehen hat. LOST hat deshalb die Serienkultur nicht nur erzählerisch revolutioniert, sondern auch die Gesetze der Bindungswirkung erforscht und herausgefunden, wie man den Zuschauer dauerhaft an ein Medienprodukt fesseln konnte. 


Crossmedia und transmediales Story-Telling

Bahnbrechend ist also nicht nur das Erschaffen einer geschlossenen und widerspruchsfreien Story World in LOST (Letzteres gibt es nicht, wie noch gezeigt wird), nicht das Ende der Serie mit seinem beinahe archaischen Kampf zwischen Gut und Böse, auch nicht das Rauchmonster und die Zeitreisen, sondern vielmehr der Beitrag von LOST zu den Strategien der crossmedialen Distribution und zum transmedialen Storytelling.

Crossmedialität bedeutet vereinfacht: medienübergreifende Verbreitung von Contents (viele Kanäle für viele Zielgruppen. Beispiel: Zeitungen haben Online-Angebote), spezifische Abstimmung dieser Contents auf das jeweilige Medium, Integration des Kernprodukts und der zusätzlichen Angebote in ein integriertes Multi-Channel-Konzept, interaktive Vernetzung der Inhalte und aller Formen der Kommunikation.

Transmedialität bezeichnet alle Phänomene, die das Erzählen einer Geschichte über unterschiedliche Medien verteilen und Interaktivität ermöglichen. Beispiel: Wenn die ARD während des sonntäglichen TATORT Hinweise auf ihr Webangebot einblendet, soll der Nutzer auf seinem Tablet interaktive Angebote nutzen oder sich bei Facebook über den gerade laufenden Krimi austauschen, anstatt diesen zu sehen!
Gut, das war sarkastisch. Aber wenn man beim Zugriff auf diese Angebote mehr über die Geschichte und die Figuren erfährt, ist dies transmediales Storytelling. Es wird also nicht die gleiche Geschichte in einem anderen Format erzählt, sondern die unterschiedlichen Formate erzählen neue Teile der Geschichte – und alles zusammen erschafft eine komplettere Story World.

Der LOST-Fan sollte nun aber nicht zurückschrecken vor dem, was ‚hinter seinem Rücken’ so alles in der Medienwelt passiert und verhandelt wird. Fans sind häufig Digital Natives, sie bewegen sich als technisch kompetente Avantgarde in dieser Welt wie ein Fisch ein Wasser, nur kennen sie nicht immer die Begriffe, mit denen ihr Verhalten beschrieben und klassifiziert wird. Innerhalb der Medientheorie kursiert leider der zynische Witz, dass Fans und Digitale Natives jene Spezies bilden, die am wenigsten weiß, was sie ist. Das ist arrogant und die Fans schlagen häufig zurück, indem die den medienwissenschaftlichen Untersuchungen von LOST mit tiefem Misstrauen begegnen. Die supprimierende Wirkung von Fachtexten kann man zwar nicht leugnen, aber die Experten müssen sich selbst einem hohen Tempo anpassen und wissen manchmal nicht so recht, wovon gerade die Rede ist. Denn hinter all diesen modernen Buzzwords verbergen sich häufig die unterschiedlichsten Definitionen. Wie schnell alles geht, zeigte mir neulich die umfangreiche Studie eines namhaften Dozenten für Medientheorie, der sich 2009 intensiv mit den geschilderten Phänomenen auseinandersetzte. In seiner Arbeit tauchten die Begriffe crossmedial und transmedial gerade mal viermal auf.

Wozu das alles? Ganz einfach: Filme und Serien entstehen nicht, weil tolle Kreative tollen Fans tolle Geschichten erzählen wollen, sondern weil jemand sie erfolgreich ‚pitchen’ konnte. Showrunner sind Spieler in einem Marktprozess, der den Widerspruch erzeugt, gleichzeitig konservativ und innovativ sein zu wollen. Diese Rahmenbedingungen sollte man kennen.
 Denjenigen, die das Ganze bezahlen sollen, eine neue Idee schmackhaft zu machen, also zu pitchen, ist eine Geschichte für sich. Aber natürlich ist klar, dass die Broadcaster und Networks mit Serien
Geld verdienen wollen. Würde man immer wieder den gleichen Senf erzählen können, dann würden wir noch heute Bonanza und Dallas gucken und die Innovativen müssten sich einen anderen Job suchen. Da aber der Zuschauer nicht mitspielt, wenn er erst einmal Gefallen an neuen Ideen gefunden hat, wird der auch von den Quoten erzeugte ökonomische Druck von den Produzenten an die Kreativen weitergereicht. 

Quotendruck und Zuschauer-Engagement: alles nur Ökonomie?

In den USA hatte der harte Wettbewerb am Medienmarkt dazu geführt, dass man den von Nielsen, dem Marktführer bei der Analyse von Medien- und Marketing-Daten, ermittelten Quoten nur noch eingeschränkt vertraute. Denn Nielsen erfasste nicht alle medialen Nutzungsformen wie DVR oder VoD. Im Falle von LOST fand man heraus, dass ca. 25% der Zuschauer die Serie zeitversetzt anschauten. Seit 2005 (in Deutschland seit 2009) werden daher auch die Quoten derartiger Plattformen erhoben.
Die Medienindustrie reagierte auf die Mutation des Zuschauerverhaltens mit Strategien, die unter dem Begriff audience engagement zusammengefasst wurden. Man suchte nach Antworten auf die Frage, wie man Zuschauer dazu bringen kann, sich für Aktionen und Angebote jenseits des eigentlichen Kernprodukts zu interessieren. Und dazu gehörte eben nicht der Verkauf von LOST-T-Shirts und LOST-Kaffeetassen. Es ging und geht um die Bildung einer Community.
Die noch unbewiesene Annahme der Medienindustrie war und ist, dass „engagierte Zuschauer“ empfänglicher für Werbung sind. LOST mit seinen Transmedia- und Crossmedia-Strategien galt daher als exemplarisch und wurde sorgfältig analysiert. Dies war Teil eines noch nicht abgeschlossenen Prozesses, der besonders in den letzten fünf Jahren die gesamte Medienlandschaft radikal verändert hat. Auf eine einfache Formel gebracht: Contents wandern durch die Medien, Nutzer wandern durch die Medien, alles ist irgendwie vernetzt und es wird Geld damit verdient.

Das ausschließlich als ökonomisches Interesse der Film- und TV-Industrie zu deuten, greift meiner Meinung nach zu kurz. Natürlich hat Henry Jenkins (2007) Recht, wenn er Ökonomie als Triebfeder definiert: „Transmedia storytelling reflects the economics of media consolidation or what industry observers call “synergy.” Modern media companies are horizontally integrated – that is, they hold interests across a range of what were once distinct media industries. A media conglomerate has an incentive to spread its brand or expand its franchises across as many different media platforms as possible.“
Andererseits konstatiert er auch: „Transmedia storytelling is the ideal aesthetic form for an era of collective intelligence“. Das macht nachvollziehbar, warum bereits der Konsument von LOST auf bislang nicht gekannte Weise – ganz im Gegensatz zu vertikalen Serien – sehr kreativ an der Ausdeutung und Gestaltung einer komplexen Serien-Mythologie beteiligt wurde und sich dazu in netzwerkähnlichen Strukturen organisierte. Bei der Entwicklung der Storyline von LOST nahmen die Showrunner Damon Lindelof und Carlton Cuse ungewöhnlich intensiv an der Debattenkultur der Fans teil. Das hatte Folgen: unbeliebte Figuren wurden in vereinzelten Fällen nach entsprechenden Fan-Protesten von der Autoren ‚gekillt’.

Natürlich sind die Fan-Netzwerke ein Teil des audience engagement. Aber eben kein passiver. In ihnen wird noch heute, fast wie bei einer Schwarmintelligenz, der Wissensbestand festgehalten und sogar über die faktisch zur Verfügung stehenden Informationen hinaus erweitert. Und was noch wichtiger war: Serien wie LOST waren trotz einiger Ungereimtheiten so innovativ und erfolgreich, dass die Broadcaster mutiger wurden. Die Art, wie man Serien erzählte, machte einen riesigen Sprung und forderte die Zuschauer gewaltig, wenn sie mit auf die Reise wollten – und die Angst vor dem Risiko nahm bei den Entscheidern spürbar ab.
Serien wie LOST oder BATTLESTAR GALACTICA (ebenfalls 2004 gestartet) wurden intelligenter erzählt als die Serien aus dem alten Jahrhundert und manchmal waren es auch die Themen (4). Und HBO als Konkurrent der großen Networks ließ Serien mit schlechten Quoten sogar weiterlaufen.
Wer dies für einen Verkaufstrick hält, übersieht, dass die böse kapitalistische Medienindustrie ein talentiertes Kind namens Quality TV gebar, das gelegentlich (The Wire) wie ein Stachel im Fleisch daherkam und ständig quengelte, aber von den Eltern zum Glück an der langen Leine gelassen wurde.


LOST als revolutionierendes Narrativ: genial improvisiert

Das führt uns wieder zum Geschichtenerzählen. Die Entwicklung der Geschichte in LOST übertraf nicht nur alle Erwartungen, sondern definierte, was man überhaupt in und mit einer Serie machen kann. Die formale Struktur mit ihren Flashbacks, Flashforwards und Flash-Sideways ermöglichte es den Autoren nämlich, beinahe alles zu erzählen, was ihnen gerade einfiel.
Jede Antwort auf eine Frage konnte so mit einem neuen Rätsel kombiniert werden, ohne dass das Konstrukt Schaden nahm. Es funktionierte wie mit den Videos der DHARMA-Initiative: jedes Fünkchen Erklärung wurde mit einem neuen Video konterkariert oder durch ein neues Rätsel ergänzt. Es gehört also zum Funktionieren von LOST, dass alle Rätsel und auch das großes Rätsel (WAS ist die Insel?) nicht vollständig aufgelöst werden durften!

Diese flexible Erzählform war sicherlich ein Geniestreich von J.J. Abrams, der von Lloyd Braun um Rat gebeten wurde, als die ersten Scripts für eine geplante Insel-Serie enttäuschend ausfielen. Abrams war klar, dass eine einfache Survivor-Geschichte nicht reichen würde: Die Insel musste ein Geheimnis haben. 
Welches, das wusste keiner.
Wenig später stieß auch Damon Lindelof zum Entwicklungsteam. Lindelof schlug vor, dass man den Zuschauern den Wunsch wegnehmen müsse, dass die Überlebenden des Fluges 815 die Insel verlassen sollen. Die Figuren sollten vielmehr mithilfe der Backstorys in den Flashbacks so entwickelt werden, dass einige von ihnen ebenfalls den Wunsch hatten, zu bleiben. Von Abrams kam dann die Idee der geheimnisvollen Luke und somit waren zwei der wichtigsten Storyelemente geboren. Ein riskantes Unterfangen, denn komplexes serielles Erzählen war bei ABC nicht beliebt.

Das alles wurde kurz vor Beginn der Dreharbeiten zusammengeschustert, während gleichzeitig gecastet und nach einem Drehort gesucht wurde. Wer also glaubt (wie es einige Medientheoretiker immer noch tun), dass die gesamte Serie aus einem Guss konzipiert wurde, täuscht sich. Aber die beiden ersten Staffeln funktionierten trotzdem so gut, weil man sich mit dem Cross-Cutting zwischen Inselhandlung und den Backstorys der Figuren so ziemlich alles erlauben konnte, um sich von Episode zu Episode zu hangeln. Persönlich haben mich die ersten beiden Staffeln am stärksten angesprochen, während später dann doch einiges aus dem Ruder lief.

Glaubt man Alan Spinwall (5), so hatten Abrams und Lindelof „nur einen groben Entwurf der Mythologie der Serie (...): Dass beispielsweise die Passagiere des Oceanic-Fluges aus einem bestimmten Grund auf der Insel gestrandet waren, als Teil eines Kampfes zwischen Gut und Böse“ (Kindle 2765-2791; i.F. werden nur die Positionen angeführt).
So etwas nennt ergebnisoffen.

Nach der Produktion der 13 Millionen Dollar teuren Pilotfolge verabschiedete sich Abrams aus der Serie. Nun waren Damon Lindelof und der neu verpflichtete und TV-erfahrene Carlton Cuse die allein verantwortlichen Showrunner. Gegen alle Erwartungen sahen dann am 22. September 2004 18,6 Millionen Zuschauer den Staffelstart. Lindelof, der mit einem Flop gerechnet hatte, erlitt nach eigener Aussage eine Panikattacke, da die Serie nach der ersten Staffel weitergehen musste. 

Doch was sollte man erzählen?
Lindelof hielt es für Größenwahnsinn, den Plot einer Serie bis zur vierten Staffel im Voraus zu planen. Erst nach dem Ende der ersten Staffel fand ein Autoren-Meeting statt, dass eine etwas genauere Handlungsentwickelung zum Ziel hatte. Cuse räumte ein, dass man zwar einige grundsätzliche Ideen hatte, „aber im Wesentlichen produzierten wir die Serie von Folge zu Folge“ (Spinwall 2783).
Himmel, welche Wahrheiten sollten die Showrunner am Ende aus dem Zylinder ziehen, wenn sie bereits am Anfang am Rande eines Nervenzusammenbruches standen? Nun, irgendwie klappte es, man strengte sich an, auch weil man wusste, dass Kontinuitätsbrüche früher oder später von den Fans aufgedeckt werden.


Murks oder Mythos? Das große Geheimnis

Dass die erzählte Inselhandlung im Jahr 23 n. Chr. beginnt, haben die Macher am Anfang selbst nicht gewusst. Dass sie vielleicht noch früher beginnt, deutet die riesige Statue der Fruchtbarkeitsgöttin Taweret an, die Sawyer, Miles, Juliet und Jin während der unerklärlichen Zeitsprünge zum ersten Mal vollständig sehen (5. Staffel). Die Schutzgöttin der Schwangeren, die übrigens auch Toten die Möglichkeit eines ewigen Lebens nehmen kann (sic!), stammt aus der altägyptischen Geschichte der Jahre 2700 bis 2200 v. Chr.
Das ist nur ein Beispiel für die clevere Vernebelungsstrategie der Serie. Wer nicht Ägyptologe ist, konnte die reptilartige Göttin als Leerstelle behandeln und in seiner Phantasie z.B. als Dämon interpretieren. Aber die Fans sollten tatsächlich rasch herausfinden, was das Denkmal darstellte.
Aber was bedeutete sie?
Dass die von den Machern ununterbrochen produzierten Geheimnisse zum Teil aufgebröselt wurden, verdeckte aber nicht die Erfahrung vieler Zuschauer, dass ihnen das Meiste eben nicht erklärt wurde. Hier wandelten Lindelof und Cuse weiter auf den Spuren von J.J. Abrams.

Dass das nicht vollständig unaufgelöste Geheimnis zu den Motiven des Geschichtenerzählers J.J. Abrams gehört, hat dieser 2007 in einem Vortrag (6) auf der US-Ideenbörse TED klar gemacht. Abrams erzählte davon, dass er als Jugendlicher in einem Zauberartikelladen „Tannen’s Mystery Magic Box“ für 15 Dollar kaufte – und nie öffnete! Für ihn repräsentierte die Zauberbox nicht nur seine Großeltern, die seine Kreativität immer unterstützt hatten, sondern auch Hoffnung und Potential.
Sie nicht zu öffnen, bedeutete das Gleiche wie die Mysterien in seinen Geschichten. Nämlich die Phantasie zu beflügeln und wichtiger als Wissen zu sein. Alle seine Geschichten, so Abrams, seien geheimnisvolle Boxen und Kisten. Und beim Storytelling sei es entscheidend, wichtige Informationen zurückzuhalten.

Wichtiger als Wissen. Zeichnete Abrams hier nach, wie Jack und John Locke sich auf der Insel entwickeln sollten? Weg von den rationalen Erklärungen, hin zu einem Glauben an eine Bestimmung?
Dass die DHARMA-Initiative scheiterte, konnte man als exemplarisch deuten. Und dass die Transzendierung  der empirischen Naturwissenschaften geradezu ein Markenzeichen von LOST wurde, ist nun wirklich keine Überraschung. Aber warum konnten Schwangere auf einer Insel, in der in grauen Vorzeiten einer Fruchtbarkeitsgöttin gehuldigt wurde, ihre Kinder nicht gebären?

Ganz einfach: Ein nur teilweise aufgeklärtes Geheimnis muss immer wieder untersucht werden. Dies haben Lindelof und Cuse von Abrams übernommen. LOST muss diesem Paradigma folgend daher in der Phantasie der Konsumenten weitererzählt werden können, es müssen Bücher über andere Handlungsstränge geschrieben werden können, das Franchise soll unbegrenzt sein, die Bindung der Zuschauer an die Serie ebenfalls. Das Serielle wird über das Ende hinaus verlängert. LOST ist auf diesem Gebiet auf seine Weise ein Solitär, das nicht wiederholt werden kann. Deshalb sind alle Nachfolger und Nachäffer mehr oder weniger gescheitert. 


Das Ende

2013 stellte Jason Mittel (7) fest, dass gerade die letzten Episoden einer Serie exzessiv begutachtet werden und oft nicht die Erwartungen der Fans erfüllen können. „Closure“ (so wird eine widerspruchsfreie Auflösung einer Erzählung genannt) widerspricht aber der Natur des Seriellen, das nach Wiederholung verlangt, so Jason Mittel.
Als LOST vor vier Jahren sein Ende fand, hatten Lindelof und Cuse dies gegen den Widerstand von ABC durchgedrückt. Sie wollten einen zeitlichen Rahmen, um die Geschichte vernünftig zu Ende zu erzählen. Die Bosse wollten ohne Limit weiter Geld mit der Serie verdienen.
Zuvor waren die Showrunner bereits mehrere Male ins Trudeln geraten, zumal die Backstorys nicht endlos erzählt werden konnten. Mir fiel dies in den Staffeln immer häufiger auf, als die Cliffhanger spürbar nachließen und gelegentlich einfach nur noch Personen präsentierten, die für einige Zeit verschwunden waren und ganz dramatisch wieder auftauchten.

Erst als klar war, wie lange man noch produzieren sollte, begannen Lindelof und Cuse den Rest der Geschichte genau zu planen. Die berühmten Flashforwards wurden eingeführt, Zeitreisen und eine nicht-lineare Handlung folgten und schließlich wurden die Fans mit Flash-Sideways konfrontiert, in denen die Helden erleben, was ohne den Absturz der Oceanic 815 passiert wäre. Widerfährt es ihnen etwa in einem Paralleluniversum oder ist alles gar Magie?

Zuvor hatte es nach verschiedenen Episoden erbitterten Widerstand der Fans gegeben (was sich auf die permanente Kommunikation, auf die sich die Showrunner und die Zuschauer eingelassen hatten, nicht gerade positiv auswirkte). Nun aber wurde die LOST-Gemeinde gespalten, als ich herausstellte, dass die Flash-Sideways keine alternative Realität darstellten, sondern einen Ort im Jenseits. Offenbar waren Jack und die anderen tot und eine mysteriöse Kraft ließ sie eine traumartige Welt erfinden, die nur in ihrer Phantasie (oder was es auch war) existierte und in der sie sich an ihr Leben auf der Insel erinnern mussten, um sich an einem spirituellen Ort zu treffen und mit sich und ihrem Leben ausgesöhnt dem Licht zu begegnen.

Ich habe von der weltweiten Hysterie innerhalb der LOST-Gemeinde nichts mitbekommen, weil die Serie in den deutschen Medien mit Ausnahme des SPON-Blogs weitgehend ignoriert wurde. Die Hysterie entstand, weil nach diesem umstrittenen Ende die Hälfte der Fans restlos begeistert war, die andere Hälfte vor Wut aufbrüllte.
Noch
heute müssen Lindelof und auch Abrams auf Fan-Cons ihr Konzept verteidigen. Obwohl sie das Ende sorgfältig erklärten, akzeptierte ein Teil der ‚Gemeinde‘ nicht das Wort der Propheten. Im Gegenteil: Die Lostpedia deutet weiter, tausende Blogger tun dies auch und einige Verzweifelte verbringen ihr Leben damit, die entscheidenden Szenen der Serie in Einzelbild-Schaltung abzutasten (8). Sie suchen nach versteckten Hinweisen, die beweisen sollen, dass die Macher der Serie ihre Fans belogen haben oder dass die ‚Insel‘ von ihren Machern nicht verstanden worden ist.

Nun wird einiges klar: LOST funktioniert(e) auch deswegen, weil Fiktion und Realität verschwimmen. Nicht nur in der Serie, sondern auch bei den Rezipienten. Es gehört zum Fluch von LOST: Man muss jenseits der Story weitersuchen.
LOST wird so zu einem Perpetuum Mobile, das sich selbst nährt. Das fängt an mit den vielen offen präsentierten literarischen Anspielungen (regelmäßig tauchen Bücher auf, die von den Hauptfiguren gelesen werden, natürlich ist auch Castaneda dabei) und hört damit auf, dass der Zuschauer deutlich mehr als nur Grundlagenwissen über Quantenphysik besitzen muss, um das Raumzeit-Konzept der Serie mit eigenen Lesarten auszufüllen. Ob diese Kenntnisse wirklich weiterhelfen oder lediglich den Deutungsraum immer unübersichtlicher machen, muss jeder für sich selbst herausfinden.

Natürlich drücke ich mich nicht vor einer ‚Auslegung’. Hier also die Deutung von LOST.
Die Insel ist Gott oder etwas Ähnliches, aber mindestens 5000 Jahre alt. Die physikalischen Gesetze gelten nicht immer und damit auch nicht die von Raum und Zeit. Propheten wie Jakob verstehen viel, aber nichts alles, und tappen im Dunklen, obwohl sie ein helles Licht hüten und damit verhindern, dass das Böse in die reale Welt entkommen kann. Gleichzeitig hetzt Gott/die Insel/Jakob die Überlebenden von Flug 815 in alternative Zeitlinien, damit sie herausfinden, wie völlig andere Lebensentwürfe funktionieren und was Gut und Böse ist. Am Ende haben alle ihre Bestimmung erfüllt und sind tot, aber im Moment der Auferstehung sind sie zusammen und gehen gemeinsam in ein helles Licht. 
Das war’s? Das war’s!

Mythischer Bullshit? Dabei wollten Lloyd Braun, der Vater der Serie, und die Fans doch eine rationale, wissenschaftlich fundierte Erklärung! Die hat aber auch der geniale Stanislaw Lem in seinen besten Romanen, wie zum Beispiel „Solaris“, noch brutaler verweigert. Lem bot keine spirituellen Ersatzlösungen an, sondern ließ seine Hauptfiguren nach der Begegnung mit außerirdischen Zivilisationen fassungs- und verständnislos zurück. Alles war so anders, dass man es einfach nicht verstehen konnte. Mich hat Lems Lösung überzeugt.
Vielleicht hätte man auch LOST so enden lassen sollen. Jack und die anderen Überlebenden verlassen in dieser Version die Insel, ohne völlig verstanden zu haben, was ihnen widerfahren ist. Das hätte auch ein wenig das post-moderne Lebensgefühl in einer schwer verständlichen und auseinanderdriftenden Welt widergespiegelt. Das hätten die Fans der Serie aber nicht akzeptiert.
Stattdessen durchschreiten einige Inselbewohner, wie zum Beispiel John Locke oder Jack, den Weg von der Ratio zum Glauben – allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen. Während die meisten Religionen konsistente Welterklärungsmodelle anbieten, führen in LOST die spirituellen Erfahrungen Lockes (die auf das Konto des Rauchmonsters gehen) oder die Schicksalsgewissheit Jacks (die auch seinen biografischen Traumata zu verdanken ist) am Ende eben nicht zu einer vollständigen Erklärung, sondern in den Tod und in eine Auferstehung, die noch rätselhafter ist. Der eine wird böse, bleibt aber mit seiner mephistophelischen Intelligenz immer spannend, der andere wird in einem eschatologischen Erlösungsmythos zu einer Art von Jesus-Figur, wie Gerold Sedlmayr in seinem lesenswerten Essay „What They Died For“ erklärt (9).

Der eigentliche Fluch ist, dass eine Diegese eigentlich nie mehr Fakten bereithält als in den Bildern und Texten zu sehen und zu lesen ist. Sie ist zwar dank ihrer zahlreichen, aber nicht unbegrenzten Verknüpfungen deutungsoffen, aber nicht beliebig deutbar. 
LOST funktioniert aber aufgrund seiner enigmatischen Struktur nur, wenn man die Fakten unbegrenzt anreichern kann. Die Verknüpfungen sind ihrer Natur nach endlich, werden aber vom LOST-Fan als unendlich empfunden, was natürlich durch die trans- und crossmediale Strategien der Macher und Vermarkter unterstützt wurde und wird.
Damit nicht genug. Theodor W. Adorno hat in seiner „Ästhetischen Theorie“ oft genug auf den Rätselcharakter der Kunstwerke hingewiesen, freilich in einem völlig anderen Kontext. Kaum dass man ein Rätsel gelöst hat, würde ein neues die Augen aufschlagen, so Adorno. Damit wurde aber auch angedeutet, dass moderne Kunstwerke keineswegs in platten Anschauungen aufgehen, sondern nicht selten (philosophisch) verschlüsselte Konzepte beinhalten.
Adorno und LOST zusammenzuführen, ist ein wenig frivol. Aber echte LOST-Fans suchen trotz des surrealen Sujets nicht nur in, sondern auch jenseits der Diegese nach Indizien und Wahrheit’ und werden von den mächtigen Leerstellen des Textes dabei unterstützt. Die Trennung zwischen Fiktion und Wirklichkeit wird auf diese Weise beseitigt und wenn man ihnen eine Insel zeigen würde und ihnen sagt, dass dies DIE Insel ist, würden sie zwar nicht zu Tausenden durch den Dschungel stapfen, um endlich die Wahrheit zu finden. Aber sie würden es in Betracht ziehen.
Mind over Matter.

Dabei kam es doch nicht aufs Ende und die Auflösung aller Rätsel an, oder? Wenn man sich LOST anschaut und annimmt, dass der Weg das Ziel ist, dann erinnert man sich gerne an Mystery, Science Fiction und ein wenig Soap, aber auch viele spannende Figuren und gute, berührende Geschichten mit Dramatik und Tragik, aber auch mit Witz und Charme. Interessante Charaktere sind für J.J. Abrams & Co. immer genauso wichtig gewesen wie das große Geheimnis oder der Mythos. Und ganz am Ende findet man heraus, dass nicht Jack oder Locke oder Saywer oder Jakob, sondern der fette Hurley der eigentliche Held der Geschichte gewesen ist. Darauf muss man erst einmal kommen. Und warum dies so ist, das ist eigentlich schon wieder ein neues Rätsel.


Fußnoten


(1) http://newsroom.heart.org/news/watching-too-much-tv-may-increase-risk-of-early-death-in-adults

(2) Zum Beispiel als die Frankfurter Philologin Julika Griem 2013 vorschlug, sich bei der Untersuchung von Serialität stärker auf die Aspekte zu konzentrieren, die verdeutlichen, wie in einer Narration eine ‚Welt’ erschaffen wird. Besser spät, als nie.
„Internationale Konferenz der DFG Forschergruppe „Ästhetik und Praxis populärer Serialität" (2013). Abstract von: Maria Sulimma, abgerufen am 15.9.2014.

(3) Die Zahlen entsprechen in etwa denen in Deutschland im gleichen Zeitraum, wobei bereits 2003 die Anzahl der Breitband-Anschlüsse in den USA dramatisch zunahm.

(4) Da scheint es wie ein böser Traum zu sein, wenn hierzulande immer noch einige Medientheoretiker fordern, bei einer Serie wie zum Beispiel LOST nur den ‚Haupttext’ (also die einzelnen Episoden) analysieren zu wollen. Genauso gut könnte man bei der Beschreibung eines Apfels verschweigen, dass er an einem Baum wächst.


(5) Alan Spinwall: „Die Revolution war im Fernsehen“, 2013.

(6) Den Vortrag kann man als Video sehen, zusätzlich werden Transkripte in unterschiedlichen Sprachen, auch Deutsch, angeboten.

(7) Jason Mittel (2013): „The Ends of Serial Criticism“, Konferenz der DFG Forschergruppe, vgl. Fußnote 2.

(8) So wird im Forum von Lostpedia beschrieben, wie man in der Episode „Konturen der Zukunft“ bei Minute 28:52 einen Blitz und dann den weißen  Kopf eines Hundes oder Wolfes entdeckt. Der Kopf, so der Verfasser, muss absichtlich eingefügt worden sein.

(9) Gerold Sedlmayr (2013): „What They Died For“, in: „Durch das Labyrinth von LOST“, S. 201 ff., vgl. Literaturverzeichnis.


Literaturverzeichnis


Sönke Hahn: Von Flow zu Flow: Konvergenzen und (TV-)Serien.
In: Journal of Serial Narration 2013, abgerufen am 15.09.2014.

Henry Jenkins: Transmedia Storytelling (2007), abgerufen am 15.09.2014

Verena Schmöller, Marion Kühn: Durch das Labyrinth von LOST, Schüren Verlag 2012, 2. Auflage.

Sandra Ziegenhagen: Zuschauer-Engagement – Ein amerikanisches Konzept als neue Währung der Fernsehindustrie? In: TV Diskurs 51, 1/2010 (fsf – Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen).

Markus Kaiser (Hrsg.): Innovation in den Medien – Crossmedia – Storywelten – Change Management. In: medienWiki, 2013. Kostenloser Download des gleichnamigen Buches abgerufen am 21.09.2014.

Freitag, 12. September 2014

Der blinde Fleck

„Akte X“ lässt grüßen. In Daniel Harrichs „Der blinde Fleck“ wird ein Terroranschlag auf deutschem Boden verübt und die Ermittlungsbehörden bis hin zum Generalbundesanwalt tun scheinbar alles, um Zeugen zu manipulieren, Hintergründe zu vertuschen und der Öffentlichkeit eine windige Einzeltäter-Theorie zu präsentieren. Wichtige Beweise verschwinden aus der Asservatenkammer, und wie in der Watergate-Affäre und den X-Files spielt ein deutscher „Deep Throat“ einem Journalisten Verschlussakten zu. Fehlt nur noch der „SmokingMan“. Aber es kommt noch schlimmer in dem hervorragenden deutschen Polit-Thriller.

Wäre der Film pure Fiktion, hätte man vor einigen Jahren sicher den Kopf geschüttelt. Doch seit der NSU-Affäre hat sich gezeigt, dass die Wirklichkeit das Kino mühelos überholen kann, wenn sie sich richtig ins Zeug legt. 

Vorab die Prämisse: Es gibt Filme, bei denen Settings und Ausstattung, Kostüme und falsche Bärte, Kamera und Montage nicht so wichtig sind wie die Geschichte, die erzählt wird. Diese Filme sind zentrifugal: am Ende schleudern sie alles nach außen, und was jenseits des Kinos passiert, ist entscheidend. Und das hat den Kritiker dann zu interessieren. Daniel Harrichs Film „Der blinde Fleck“ ist so ein Film. Deshalb hat die folgende Kritik einen dicken Anhang.


Zunächst führt die Reise zurück ins Jahr 1980. Während des Münchner Oktoberfestes explodiert eine mit TNT gefüllte Rohrbombe. 13 Menschen werden getötet, 200 zum Teil schwer verletzt. Kurz danach wird der 21-jährige Gundolf Köhler als Täter präsentiert. Obwohl der bei dem Anschlag ums Leben gekommene Student enge Verbindungen zur rechtsextremen Wehrkampfgruppe Hoffmann hatte, verschwinden viele wichtige Zeugenaussagen zu diesem Aspekt aus den Ermittlungsakten, Hinweise, die einen Anfangsverdacht erhärten könnten.

Dies schmeckt Ulrich Chaussy (Benno Fürmann), einem Journalisten des Bayerischen Rundfunks, nicht. Zu viele Fragen sind offen geblieben und Chaussy beginnt zusammen mit Werner Dietrich (Jörg Hartmann), dem Rechtsanwalt einiger Opfer, die möglichen Hintergründe zu erforschen. Als Chaussy die ersten Erkenntnisse in seinen Rundfunkbeiträgen der Öffentlichkeit präsentiert, stürmt eine schwerbewaffnete Sondereinheit der Polizei seine Wohnung. Chaussy wird verhört und soll preisgeben, wo er (sic!) den Sprengstoff (sic!) versteckt hat! Mit dieser Polizeiaktion beginnt der Film und der Zuschauer weiß bereits nach wenigen Minuten, wohin Daniel Harrich den Film steuern will.


Prominentes Schauspieler-Ensemble

Benno Fürmann spielt den investigativen Journalisten Ulrich Chaussy mit überzeugender Hingabe. Sein reales Vorbild agierte vor 34 Jahren in der Tradition der US-Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein, die für die Washington Post die Watergate-Affäre aufdeckten. Fürmann vermittelt überzeugend den obsessiven Fokus dieses Mannes, der nicht aufgeben kann und ähnlich wie Robert Graysmith (1), einer der Jäger des Zodiac-Killers, bereit ist, sein Leben für die Aufklärung des Falles aufs Spiel zu setzen. Nicht weniger engagiert ist Jörg Hartmann als Anwalt Werner Dietrich. Hartmann verkörpert einen zunehmend verunsicherten Spurensucher, der rasch an die Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit stößt. Zu gefährlich scheint die Nähe zu geheimen Strukturen im bayerischen Bundesland zu sein.

Der heimliche Star des Films ist jedoch Heiner Lauterbach, der unaufdringlich, aber dennoch Angst einflößend den Leiter des Bayerischen Verfassungsschutzes Dr. Hans Langemann spielt. Harrich, der zusammen mit Chaussy das Drehbuch verfasst hat, sind für die Figur einige brillante Szenen eingefallen. Zum Beispiel jene, in der Langemann als Dozent seinen Polizeischülern erklärt, wie geheime Terrorzellen funktionieren: sie manipulieren potentielle Attentäter, um danach alle Fäden zu kappen. Eine beinahe prophetische, aber auch suggestive Aussage.
Dass Langemann damals manipulativ die Medien zu steuern versucht hat, gilt heute jedoch als sicher. In „Der blinde Fleck“ spielt Udo Wachtveitl (Tatort-Kommissar „Franz Leitmayr“) den Quick-Reporter Werner Winter, der von Langemann in einen geheimen Kreis von Journalisten aufgenommen wird, denen exklusive und auch vertrauliche Informationen durchgestochen werden. 
Kritisch wird es in dem Film allerdings, wenn Harrich zeigt, dass der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß dem „zweitmächtigsten Mann in Bayern“ (Langemann) verklausuliert die Anweisung gibt, die Ermittlungen nach dem Anschlag im Sinne der Landesregierung zu beeinflussen. 
Der Hintergrund: Strauß und andere CSU-Politiker hatten die Wehrkampfgruppe Hoffmann verharmlost und konnten kurz vor einer Bundestagswahl kaum daran interessiert sein, dass der Wolf im Schafspelz sein wahres Gesicht offenbart. Offen gestanden kann ich angesichts des brisanten Sujets wenig mit einer Szene anfangen, die faktisch nicht restlos abgeklärt ist, aber als historisch authentisch vermittelt wird. Der reale Langemann versicherte 1980 übrigens in einer eidesstattlichen Erklärung, dass Strauß die Wehrkampfgruppe als gefährlich eingeschätzt habe.
Honi soit qui mal y pense.

Wachtveitls Tatort-Kollege Miroslav Nemec spielt in einer Nebenrolle den Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, der sich Langemanns Einzeltäter-Hypothese anschließt. Den „Deep Throat“-Part übernimmt gelungen geheimnisvoll August Zirner, der für den Verfassungsschutz arbeitet und als „Meier“ lange Zeit offen lässt, ob er Chaussy in Langemanns Auftrag manipulieren will oder vielmehr gegen seinen Chef intrigiert. Einen eher undankbaren Part übernimmt dagegen Nicolette Krebitz, die als Chaussys Frau Lise zunächst als loyaler Stichwortgeber fungiert, dann aber schwanger wird und ihren Mann kurz vor dem endgültigen Durchbruch in dem Fall so lange unter Druck setzt, bis er die Recherchen vorübergehend einstellt.


Die Fakten stimmen

Insgesamt hinterlässt „Der blinde Fleck“ einen gut recherchierten Eindruck. Der Film spielt clever mit dem ambivalenten Informationsgemenge, das auch Jahre nach dem Anschlag nicht restlos aufgelöst werden konnte. Sicher, einige Schlüsselfiguren waren undurchsichtig: So berichtete ein Zeuge, dass er den mutmaßlichen Täter Köhler vor dem Anschlag mit zwei anderen Personen beobachtet habe. Dieser Zeuge war möglicherweise undercover im Einsatz und sollte den BHJ (Bund Heimattreuer Jugend) unterwandern. Er starb zwei Jahre später unter mysteriösen Umständen an Herzversagen. Andere Zeugen, und das wird in Harrichs Film auch deutlich, waren ebenfalls zweifelhaft, andere sind dagegen als glaubwürdig einschätzen.

War der Bayerische Verfassungsschutz dem Politiker Strauß gefällig? Welche Motive hatte Rebmann oder ließen die damals vorliegenden Beweise keine anderen Schlussfolgerungen zu? In dem Gewebe aus historischen Fakten und fiktionalen Elementen verliert „Der blinde Fleck“ selten den Überblick, obwohl zeithistorisch nicht vorinformierte Zuschauer gelegentlich Probleme bekommen werden. Gelegentlich hätte ich mir ein etwas langsameres Montagetempo gewünscht. In Harrichs Film wird mit schnellem Cross-Cutting ein wenig zu stark aufs Gaspedal gedrückt, besonders, wenn Sequenzen stark zergliedert werden und auch dann, wenn Zeitsprünge stattfinden.

Fans der Paranoia-Movies à la Alan J. Pakulas „Parallax View“ werden auf jeden Fall auf ihre Kosten kommen. Obwohl Pakukas Film formal und inhaltlich komplexer und damit auch ein Stück unverständlicher war, kann „Der blinde Fleck“ mit dem Klassiker des Verschwörungsfilms gut mithalten. Trotz fehlender physischer Action steigert sich der Thrill langsam, aber dafür umso nachhaltiger: Als Chaussy auf das überraschende Drängen seiner Frau im Jahre 2006 wieder seine Recherchen aufnimmt, hat die Forensik dank DNA entscheidende Fortschritte gemacht. Endlich kann auch jene abgerissene Hand untersucht werden, die 1980 keinem der Toten und Verletzten zugeordnet werden konnte. Man muss beinahe grinsen, wenn Chaussy schriftlich den Bescheid erhält, dass diese Asservate bereits vor fast 10 Jahren vernichtet wurden. Tatsächlich hatte man auch fast 50 Kippen entsorgt, die in Köhlers Auto gefunden wurden und zu sechs verschiedenen Sorten gehörten.

Ob Gundolf Köhler nun ein Einzeltäter war, der mit dem Bombenanschlag die bevorstehende Bundestagswahl zugunsten der konservativen Parteien im Sinne einer „Strategie der Spannung“ (vgl. Anhang) beeinflussen wollte oder ein von sogenannten Stay-behind-Gruppen des BND aus unerfindlichen Gründen angeheuerter und gesteuerter Killer gewesen ist, wird auch in Zukunft eine Frage sein, die beantwortet werden muss. Sowohl die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als auch Die Linke haben in den letzten Jahren in Kleinen Anfragen immer wieder nachgehakt.
Hans Langemann wurde übrigens1982 festgenommen, weil er vertrauliche Informationen an die Medien weitergeben hatte. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung verurteilt, die deshalb so niedrig ausfiel, weil ein Gutachter ihm bescheinigte, dass er unter Stimmungsschwankungen leide und häufig weinen müsse.

Diese Gefühle können einen allerdings auch überkommen, wenn man Daniel Harrichs Film erst mit Staunen und dann mit aufgerissenen Augen anschaut. „Der blinde Fleck“ wurde mittlerweile im Bayerischen Landtag vorgeführt. Die Ermittlungen werden nun wohl wieder aufgenommen, Verschlussakten über den Anschlag auf dem Oktoberfest 1980 werden freigegeben.
2011: In einer der letzten Szenen flimmern die Bilder der Explosion in einem Zwickauer Haus über den Bildschirm. Bilder, die noch einmal mit dem Finger auf die Botschaft des Films zeigen: Es ist alles schon einmal passiert. Merkwürdige Ermittlungen, manipulierte Abschlussberichte. Etwa steht fest: Die Wirklichkeit ist noch schlimmer als sie das Kino ausdenken kann.


Fußnoten:

(1) Wie auch Graysmith (der in David Finchers „Zodiac“ von Jake Gyllenhaal gespielt wird) wird sich Daniel Chaussy zeitlebens mit dem Fall beschäftigen. 2014 hat er das Buch „Oktoberfest - Das Attentat. Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann“ veröffentlicht.

Anhang

„Gladio“ und die geheimen Armeen in Europa

Der eigentliche Horror beginnt mit den Recherchen zu dem Film. Dazu muss man allerdings nicht in die 1980er Jahre zurückgehen, sondern weiter ausholen. 
Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten US-Geheimdienste auf deutschem Boden Stay-behind-Organisationen (1). Darunter versteht man Geheimarmeen, die im Falle einer militärischen Auseinandersetzung den Feind (gemeint war in den 1950ern natürlich eine russische Invasion) mit Partisaneneinsätzen bekämpfen sollten. Im Nachkriegsdeutschland wurden zu diesem Zweck in nicht geringem Umfang SS-Männer und einschlägig qualifizierte Wehrmachts-Offiziere rekrutiert, die sich unterschiedlich tarnten und geheime Waffendepots anlegten. Dass viele der angeworbenen ‚Experten’ fanatische Nazis waren, störte nicht weiter. Historiker gehen davon aus, dass die Regierung Adenauer nichts oder nur wenig davon wusste. Zudem war zu diesem Zeitpunkt der BND noch nicht gegründet worden. Nach dessen Gründung im Jahre 1956, so das ZDF, wurden die Stay-behind-Netzwerke Teil des neuen deutschen Geheimdienstes. Reinhard Gehlen soll sogar darüber nachgedacht haben, Listen nicht nur von kommunistischen, sondern auch von sozialdemokratischen Politikern zusammenzustellen, die ggf. von den Stay-behind-Gruppen zu liquidieren seien. Damit wäre die Partisanenarmee in Friedenszeiten gegen legitim gewählte Politiker in Stellung gebracht worden. Ein Sumpf.

Charakteristisch für die weitere Entwicklung waren zwei Aspekte:
1. Einerseits die dauerhafte Anonymität und die damit verbundene fehlende parlamentarische Kontrolle derartiger Geheimorganisationen ‚hinter’ den offiziellen Diensten, andererseits der Ideologiewechsel innerhalb der verschiedenen Gruppen, zunächst vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, später wohl aus anderen Gründen.
So verstand in den 1950er Jahren der ehemalige Oberst der Wehrmacht Walter Kopp seine Aktivitäten als Fortsetzung des Rassenkrieges, während sich in Italien anti-kommunistische Gruppen an Terroranschlägen beteiligten, die anschließend der Kommunistischen Partei in die Schuhe geschoben werden sollten.
2. Die zunehmende Involvierung der Nato und der CIA in diese Geheimaktivitäten. Organisationen wie die italienische „Gladio“ handelten offenbar auch im Auftrag der Nato und der CIA. Alle diese geheimen Armeen, von denen die Parlamente nichts wussten, werden heute für zahlreiche unterschiedlich motivierte Terroranschläge in ganz Europa verantwortlich gemacht.

1990 enthüllte der italienische Ministerpräsident nicht ganz freiwillig dem italienischen Senat die Existenz der Stay-behind-Gruppen. In Italien sei die Organisation „Gladio“ als Unterabteilung des Verteidigungsministeriums gegründet worden. Als Teil des militärischen Geheimdienstes, so Andreotti, sei sie immer noch aktiv. „Gladio“ wurde nach heftigen Protesten angeblich aufgelöst, aber weitere Einlassungen Andreottis deuteten an, dass weitere Geheimarmeen existieren, die von einem geheimen Ausschuss der Nato koordiniert und von der amerikanischen CIA und dem britischen MI5 ausgerüstet und koordiniert werden.

In Deutschland stellte die Regierung Kohl fest: „Eine Nato-Geheimtruppe Gladio gibt es nicht!“ Nach diesen anfänglichen Dementis musste nicht nur Deutschland, sondern auch andere europäische Regierung die Richtigkeit von Andreottis Enthüllungen einräumen: Stay-behind-Armeen existierten demnach auch in Frankreich, Spanien, Portugal, Griechenland, Türkei, Belgien, Luxemburg, Niederlande und Norwegen, aber auch in neutralen Ländern wie Schweden, Schweiz, Österreich und Finnland, wie der Schweizer Historiker Daniel Ganser 2004 resümierte (2). Nun gab auch Kohl klein bei und sagte zu, dass die Stay-behind-Gruppe des BND bis 1991 aufgelöst werden solle. Der britische „Observer“ (3) sprach später vom „bestgehüteten, gefährlichsten politisch-militärischen Geheimnis seit dem Zweiten Weltkrieg.“


Die „Strategie der Spannung

Doch was unternahmen Organisationen wie „Gladio“ tatsächlich?
Zunächst, so Ganser, geht es um die Frage, „unter welchen historischen Umständen die Geheimarmeen zu Terrorzellen werden konnten, welche Ziele mit den Terroranschlägen verbunden waren und in welchem Grad diese Mutation lokal erfolgte oder vom Pentagon, von der Nato, von der CIA oder vom MI6 planmäßig ge-steuert wurde.“
Eine Erklärung wurde vom italienischen Richter Felice Casson geliefert. Die von ihm aufgedeckte Ideologie trug den Namen „Strategie der Spannung“, die laut Casson darauf abzielt(e), „innerhalb des Landes Spannung zu erzeugen, um konservative, reaktionäre soziale und politische Strömungen zu stärken.“ Die Aktione bestanden aus tatsächlich durchgeführten blutigen Terrorakten, die den Linken untergeschoben wurden, um einer rechtsnationale Law-and-Order-Politik die erforderliche Begründung zu liefern.
„Man musste Zivilisten angreifen, Männer, Frauen, Kinder, unschuldige Menschen, unbekannte Menschen, die weit weg vom politischen Spiel waren. Der Grund dafür war einfach. Die Anschläge sollten das italienische Volk dazu bringen, den Staat um größere Sicherheit zu bitten. […] Diese politische Logik liegt all den Massakern und Terroranschlägen zu Grunde, welche ohne richterliches Urteil bleiben, weil der Staat sich ja nicht selber verurteilen kann“, gibt Ganser eine Aussage des Terroristen Vincenzo Vinciguerra wieder, der bis heute darauf besteht, im Auftrag des Staates gehandelt zu haben.

Angesichts dieser Ungeheuerlichkeiten müssen drei Fragen beantwortet werden. 1. Welche Taten gehen auf das Konto von Stay-behind-Organisationen im übrigen Europa? 2. Inwieweit ist die Bundesrepublik in Strukturen verwickelt, innerhalb derer es zu einer Zusammenarbeit von Stay-behind-Gruppen, Rechtsextremisten und Bundes- und Landesbehörden gekommen ist? Und drittens: Haben sich einige Gruppen möglicherweise von ihrer Puppenspielern gelöst und sind eigene Wege gegangen? Die Antworten darauf sind spannend.

Als sicher gilt, dass eine „Counter-Guerilla“ im Auftrag der Nato und der CIA in der Türkei Kurden bekämpfte, 1977 am Taskim-Platz-Massaker beteiligt war und in nicht geringem Maße politische Gegner gefoltert hat, was der damalige türkische Ministerpräsidenten Bülent Ecevit seinem militärischen Bündnispartner mehrfach empört vorgeworfen hat. Zudem soll die griechische Geheimarmee LOK am Militärputsch 1967 beteiligt gewesen – in enger Kooperation mit dem Geheimdienst KYP.

In Deutschland wurden ähnliche Strukturen bereits Anfang der 1950er Jahre von einem ehemaligen SS-Mann enthüllt. Bei uns hieß die Stay-behind-Organisation zunächst euphemistisch „Bund Deutscher Jugend – Technischer Dienst
(BDJ-TD). Im Fokus standen – wen wundert’s – besonders KPD- und SPD-Mitglieder, die im Ernstfall liquidiert werden sollten, eine Idee, die Gehlen später übernehmen sollte. Als daraufhin einige Mitglieder der BDJ-TD verhaftet wurden, ordnete die Bundesanwaltschaft die Freilassung aller Terroristen an, was der hessische Ministerpräsident August Zinn hämisch mit dem Hinweis kommentierte, dass dies wohl auf Anweisung der Amerikaner geschehen sei.

Wie in einem amerikanischen Paranoia-Movie wähnt man sich auch angesichts des fehlgeschlagenen Attentats auf das jüdische Gemeindehaus in West-Berlin am 9. November 1969, den die „Berliner Zeitung“ im Jahre 2005 (4) als „vielleicht größten Skandal seiner Art in der Geschichte der alten Bundesrepublik“ bezeichnete. Die Aktion ging auf das Konto der linksextremen „Tupamaros Westberlin“ (TW) und ihres Initiators Dieter Kunzelmann, der offenbar ein bekennender Antisemit war. Inwieweit der Berliner Verfassungsschutz mit einem namentlich bekannten Agent provocateur beteiligt war und aus welchen Motiven, wurde später von Wolfgang Kraushaar in seinem Buch „Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus“ verarbeitet. Es basiert auf Aussagen des verantwortlichen TW-Bombenlegers und dokumentiert laut „Berliner Zeitung“, dass der Berliner Verfassungsschutz aus unerfindlichen Gründen daran interessiert war, die linken Extremisten zu provozieren.
 

Schwer zu beantworten lässt sich dagegen die Frage, wann und wo sich gefährliche Geheimkommandos der Steuerung entzogen haben. In einem Milieu, in dem Täuschung und Verrat zum Handwerkszeug gehören, dürfte dies nicht selten der Fall gewesen sein. Wann und wie dubiose Verbindungen von Behörden, Verfassungsschützern und Extremisten bestanden oder bestehen, ist allerdings kein Stoff für Historiker, auch wenn dies viele deutsche Politiker wünschen. 
Interessant ist jedenfalls, dass nach der BDJ-TD-Affäre fortan die Verbindungen deutscher Stay-behind-Organisationen zur rechtsextremen Szene in Deutschland nicht mehr konsequent untersucht worden sind. 

München und die Hintergründe

Zurück zum Anschlag auf das Oktoberfest. Für den Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest wurden Materialien aus einem Sprengstofflager der rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann verwendet. Profi-Sprengstoff, wie Waffenexperten feststellten. Kurz nach dem Anschlag ging Generalbundesanwalt Kurt Rebmann noch davon aus, dass Köhler kein Einzeltäter gewesen sei. Später wurde diese Auffassung revidiert.
Allerdings liegen dem ZDF bislang geheim gehaltenen Akten des BND vor, die belegen, dass die Wehrsportgruppe Hoffmann kurz vor dem Münchner Attentat zusammen mit italienischen Rechtsextremisten im Libanon in einem Terrorcamp der christlichen Falange ausgebildet worden war. Dabei wurde auch, laut BND, über Anschläge in Deutschland gesprochen.
1980, und das macht die Sache mysteriös, fand eine gemeinsame Operation der der Stay-behind-Gruppe des BND und der von Helmut Kohl als nicht-existent bezeichneten „Gladio“ statt – kurz vom dem verheerenden Bombenattentat in Bologna. Ein blinder Fleck, denn so freimütig Sprecher des BND heute über Stay-behind-Gruppen ihres Dienstes in Interviews sprechen – die Zusammenarbeit ihrer geheimen Partisanenarmee mit einer mafia-ähnlichen Terrororganisation wird immer noch nicht kommentiert.
 

Bereits im September 1980 sagten zwei Neo-Nazis über den Förster Heinz Lemke aus, dass dieser geheime Waffendepots in der Lüneburger Heide besitzt. Eine Hausdurchsuchung bleibt ergebnislos, später aber wurden riesige Waffenlager im Wald entdeckt, darunter auch militärisches Material. Lemke wird verhaftet. Kurz vor seinem ersten Verhör findet man ihn in seiner Zelle – erhängt.
Kurt Rebmann stellte anschließend lapidar fest, dass auch Lemke ein Einzelkämpfer gewesen sei, der sich im Falle einer russischen Invasion halt nur habe wehren wollen.

Was aber ist in München nun tatsächlich passiert? Ob hier im Rahmen der „Strategie der Spannung“ ein Anschlag geplant und durchgeführt wurde, gehört in den Bereich der Spekulation. Ulrich Chaussy hält die Beweislage für dünn. 10 Jahre gingen ins Land, dann folgte Andreottis Auftritt vor dem italienischen Senat.

Immerhin schien im Jahre 1990 das Europäische Parlament so massiv beunruhigt zu sein, dass es in einer Sonderdebatte gegen die Nato und die beteiligten Geheimdienste protestierte. Im Amtsblatt Nr. C 324/201 (5) forderte das Parlament die Auflösung aller militärischen und paramilitärischen Geheimstrukturen, „die in bestimmten Mitgliedsländern mit schwerwiegenden Terrorakten und Verbrechen in Verbindung gebracht werden.“

Damit nicht genug. Auch die deutsche Politik beschäftigte dieses Problem, und damit auch die vermeintlich aufgelösten Geheimarmeen, bis ins Jahr 2013. In einer Kleinen Anfrage (6) der Fraktion Die Linke wurde 2013 das Thema explizit in Zusammenhang mit den Ereignissen des Münchner Oktoberfestes gebracht und erneut die Aufdeckung der Aktivitäten von „Gladio“ gefordert.

Hintergrund der Anfrage war, dass im Luxemburger Bombenleger-Prozess ein Zeuge die Aussage gemacht hatte, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) „an mehreren Bombenanschlägen in Europa und (...) auch für das Attentat auf das Münchner Oktoberfest im Jahr 1980 verantwortlich“ gewesen sei. Kurz zuvor hatte die Fraktion bereits eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, die in ihrer Antwort darauf verwies, dass die historische Forschung für eine Klärung zuständig sei. Und nach einer erneuten Anfrage verneinte die BR einen Zusammenhang zwischen dem Anschlag auf dem Münchner Oktoberfest und dem BND. 

Ob die Feststellung der BR, dass „das Informationsinteresse des Parlaments hinter die berechtigten Geheimhaltungsinteressen“ zurücktreten muss, allgemeiner Natur war oder explizit den Gegenstand der Anfrage meinte, ist in diesem Zusammenhang eine unvermeidliche Frage. Immerhin räumte die BR ein, dass die Stay-behind-Organisation des BND aufgrund der Prüfung der Altunterlagen, sofern noch vorhanden, an sechs geheimen Übungen und Operationen teilgenommen hat. Weitere Informationen wurden nicht offengelegt. „Eine unabgestimmte Bekanntgabe solcher Informationen (...) kann dazu führen, dass die Verlässlichkeit des BND als Partner auch aktuell in Frage gestellt würde“, fasste die BR ihre Antwort zusammen.

Sichtbar wird hier, wie komplex die lange vermisste parlamentarische Kontrolle von Geheimdienstaktivitäten im Einzelfall ausfällt. Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, ist nicht Aufgabe dieses Textes. Notwendige Antworten mag sich jeder Leser im Zeitalter von NSA und NSU, Aktenschredderei und der Notwendigkeit des Anti-Terrorkampfes selbst geben. Dass die Rezeption eines Films wie „Der blinde Fleck“ weit über die Grenzen cineastischer Fragestellungen hinausgeht, ist aus den dargelegten Gründen eine erforderliche Einsicht.
Dass weder mir noch den anderen Mitgliedern des Filmclubs Begriffe wie „Gladio“ und Stay-behind-Netzwerke bekannt waren, wird an dieser Stelle freimütig zugegeben. Auch in meinem ansonsten gut informierten Freundes- und Bekanntenkreis lautete der Tenor: Nein, noch nie gehört. Mittlerweile hat sich weniger Erstaunen, sondern vielmehr Fassungslosigkeit bei uns breit gemacht. Den Machern von „Der blinde Fleck“ ist für diesen Erkenntnisgewinn zu danken. Dass alles seit Jahren im Internet mühelos zu recherchieren ist, ist ein anderes Thema ...


Fußnoten /Quellen:

(1) ZDF-Mediathek (2014) „Stay-behind - Die Schattenkrieger der NATO“

(2) Daniele Ganser:
Nato-Geheimarmeen und ihr Terror, in: „Der Bund“, 20.12.2014. PDF, abgerufen am 11.09.2014.

(3) vgl. auch The Guardian „Secret agents, freemasons, fascists... and a top-level campaign of political 'destabilisation'“, 5.12.1990, abgerufen am 11.09.2014.

(4) Gerd Koenen in Berliner Zeitung: „Rainer, wenn du wüsstest!“, 06.07.2005, abgerufen am 11.09.2014.

(5) Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften v. 20.09.1990, abgerufen am 11.09.2014.

(6) Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE zu „Maßnahmen der Bundesregierung zur Aufdeckung der Tätigkeiten von Gladio“


Anmerkungen:

„Die Strategie der Spannung (italienisch strategia della tensione) ist ein 1990 in Italien bekannt gewordener Begriff für eine Reihe unter „falscher Flagge“ inszenierter terroristischer Aktivitäten von italienischen Geheimdiensten, Rechtsextremisten, der NATO/CIA-Geheimorganisation Gladio und der Geheimloge Propaganda Due (P2). Diese hatten das Ziel, die öffentliche Meinung zu Ungunsten der politischen Linken zu manipulieren, insbesondere der Kommunistischen Partei Italiens. Weil sich ähnliche Vorgänge auch in anderen Ländern nachweisen ließen, wird der Begriff mittlerweile generell für bestimmte staatsterroristische Aktivitäten verwendet, siehe Strategie der Spannung (Wikipedia: Strategie der Spannung (Italien)).“ 
Quelle: Wikipedia, vgl. Links.

„... die Fakten selbst sind polemisch und lassen den Zuschauer hilflos empört zurück. Eine gefährliche Nebenwirkung sollte allerdings nicht verschwiegen werden: Der blinde Fleck ist in keiner Weise geeignet, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu fördern und den Bürger volkspädagogisch zu ertüchtigen. Schon damals zeigten sich für Chaussy dieselben Muster wie beim NSU-Prozess: Die Hüter der Verfassung lieben das Dunkle und fühlen sich als "tiefer Staat", als Arkanum der Macht. Dass der Verfassungsschutz rechte Gewalttäter nachlässiger ins Visier nimmt als linke Staatshasser, ist nur eine Vermutung, aber bei Chaussy spricht manches dafür.“
Thomas Assheuer über „Der blinde Fleck“, in: DIE ZEIT

Nach der Lektüre dieses Beitrages machte mich ein befreundeter Rechtsanwalt auf den Absturz der Itavia-Flug 870 aufmerksam, die 1980 von einer Luft/Luft-Rakete abgeschossen wurde. Dies kam erst nach jahrelangen Ermittlungen heraus. Fest steht, dass vor dem Abschuss ein Luftkampf zwischen Nato-Kampfflugzeugen und libyschen MiG-23 stattgefunden hatte. Die sehr realistischen Verschwörungstheorien und die Involvierung der Geheimdienste beschäftigen das Land noch heute. Zwischen 1980 und 1995 starben fast ein Dutzend Zeugen, einige davon standen unmittelbar vor einer erneuten Aussage. Auch das könnte einen interessanten Kinofilm abgeben.

Noten: Klawer, Melonie, Mr. Mendez, BigDoc = 2

Samstag, 6. September 2014

The Returned - Weder Zombies noch Menschen

Zerplatzende Schädel, abgeschlagene Köpfe und andere delikate Methoden, um einen Zombie endgültig ins Jenseits zu befördern, sucht man in dem spanisch-kanadischen Film „The Returned“ vergeblich. Regisseur Manuel Carballo verhandelt in einem weitgehend gewaltfreien kammerspielartigen Drama die sozialen und ethischen Konsequenzen einer weltweiten Pandemie. Alles moralisch korrekt, aber trotz der interessanten Ausgangsidee am Ende doch sehr unentschlossen.

Dass Zombiefilme das Bildungsgefälle ihrer Fans nachzeichnen, indem sie von subtilen Allegorien bis hin zum stumpfen Spatter-Gemetzel ein breites Spektrum von narrativen Grundmodellen anbieten, hat sich nicht nur bei Nerds und Filmkritikern herumgesprochen. Literarisch gebildete Cineasten freuen sich über die mitunter satirisch formulierte Gesellschaftskritik und die rabenschwarzen Dystopien, die das Genre liefert. Splatterfans können mit diesem Überbau oft wenig anfangen und der Streit zwischen beiden Gruppen kann in entsprechenden Foren nachgelesen werden. Dabei wird der Grundton der Debatte häufig durch Arroganz und Wut abgesteckt. Zombie Urgestein George A. Romero bedient clever beide Seiten. Manuel Carballo schlägt sich mit
„The Returned“ auf die Seite der Allegorie, allerdings nicht gerade subtil, sondern eher formelhaft.

Didaktisches Kammerspiel in einem entzombifizierten Zombiefilm

Zombies sind in Carballos Film nur dreimal zu sehen. Im Vorspann, der sehr dirty aussieht, fällt ein zombifizierter Familienvater über seine Frau her, während die Kinder in Schockstarre zusehen, ehe die Tochter zur Schrotflinte greift. Dann sieht man einen Untoten kurz in einem Laborfilm und irgendwann begegnet Alex, die männliche Hauptfigur in „The Returned“, in einem Laden einer dieser Kreaturen, die er mit einem Kopfschuss aus dem Verkehr zieht. 

Mehr Zugeständnisse an das Genre macht Manuel González Carballo („Der Exorzismus der Emma Evans“, 2010) nicht. In „The Returned“ agieren die Figuren in einer post-apokalyptischen Gesellschaft, die eigentlich ganz normal aussieht, hätte es nicht vor Jahrzehnten eine weltweite Zombieplage mit Millionen Toten gegeben. Wie sie beendet wurde, erfährt man nicht. „The Returned“ erzählt vielmehr von den gleichnamigen Infizierten, dem Kollateralschaden der Seuche, die zwar nicht zu Untoten geworden sind, aber nur dank eines aus den Körpern ‚toter Untoter’ gewonnenen Proteins vor der endgültigen Verwandlung bewahrt werden können.

Der Musiker Alex (Kris Holden Reed: „The Tudors“, „Underworld: Awakening“) gehört zu den „Returned“, die täglich eine Injektion benötigen, um nicht auf blutige Futtersuche gehen zu müssen. Seine Frau Kate (Emily Hampshire, „Snow Cake“, „Cosmopolis“) arbeitet in einem Krankenhaus als Ärztin in einer speziell für die „Returned“ eingerichteten Fachabteilung und nutzt ihre privilegierte Stellung als landesweit bekannte Wissenschaftlerin, um mit etwas Bestechung an die zur Neige gehenden Ampullen zu gelangen.
Die Katastrophe naht, als die Produktion eines synthetischen antiviralen Mittels nicht so recht vorankommt. Die Stimmung in der Bevölkerung schlägt um, die Anti-Returned-Bewegung wird immer gewalttätiger und ermordet ihre infizierten Mitbürger schließlich in den Krankenhäusern. Die WHO nennt dies übrigens Entsolidarisierung aus Selbsterhaltungstrieb und auch Alex überlebt nur knapp den Überfall eines Killerkommandos. Dann beginnen Armee und Polizei damit, die Infizierten in Auffanglagern zu internieren.


Carballos „The Returned“ hat inhaltlich auf den ersten Blick nichts mit der französischen TV-Serie „Les Revenants“ (2012) zu tun, natürlich auch nichts mit dem vom Broadcaster Arts & Entertainment Network (A&E) geplanten US-Remake, das auch unter dem Titel „The Returned“ firmieren wird. 
Die Vorlage der französischen TV-Serie war Robin Campillos Spielfilm „They Came Back“ (Les Revenants, 2003), der sich mit dem Problem der Re-Integration von „Wiedergängern“ in die menschliche Gemeinschaft befasste. Alles Filme, die wenig mit den aktuellen Zombie-Narrativen à la „The Walking Dead“ oder den Romero-Klassikern zu tun haben, sondern vom sozialen Konfliktpotential der überraschend aus ihren Gräbern gestiegenen Verstorbenen erzählen. Was macht man mit ihnen, wenn sie wieder mitten unter uns leben wollen?

Gute Frage. Denn dass angesichts des weltweiten Undead-Revivals immer wieder erzählerische Nebenpfade gesucht werden, überrascht nicht wirklich. Carballo und sein Autor Hatem Khraiche knüpfen an die Vorbilder dieser entzombifizierten Zombiefilme an und man muss als Zuschauer nicht viel Phantasie aufbringen, um herauszufinden, welches ethische Problem da eigentlich in Stellung gebracht werden soll: „The Returned“ interessiert sich ebenso wie Campillos Film nicht im Geringsten für genretypische Konstellationen, sondern für die sozialen Mechanismen der Stigmatisierung einer gesellschaftlichen Randgruppe. Zombies, und das wird leicht nachvollziehbar auf dem didaktischen Silbertablett serviert, können jederzeit durch Aids, Sars oder Ebola ersetzt werden, ohne dass die Dynamik des Zerfalls einer zivilen Ordnung anders verlaufen würden. Und die moralische Botschaft des Films ist nach einer Viertelstunde auch auf den Punkt gebracht: Die Rede ist von Menschen und nicht von potentiell tödlichen Bestien.

„The Returned“ wurde vom deutschen Verleih mit der idiotischen Titelergänzung „Weder Zombies noch Menschen“ auf den Markt geworfen, was geradezu aufreizend dämlich die überdeutliche moralische Botschaft des Films ad absurdum führt. Die Idee des von den Machern von „REC“ co-produzierten Films fasziniert trotz dieser Irreführung. Die Umsetzung lässt allerdings zu wünschen übrig. 

Man mag sich darüber streiten, ob man die politisch korrekte Botschaft eines Films bereits nach einer Viertelstunde auf den Punkt bringen muss. Dass die betuliche Einführung der Figuren und die lehrbuchhafte Plotentwicklung dem biederen Script geschuldet ist und auch dem offenbar sehr knapp bemessenen Budget, ist dagegen schwer zu leugnen. So zeigt „The Returned“ nur gering ausdifferenzierte Figuren, sparsame Settings und eine geringe physische Präsenz, wenn der Übergang einer zunächst humanitär agierenden zu einer totalitären Gesellschaft dargestellt wird. Carballo konzentriert sich stattdessen eine Stunde lang auf ein psychologisches Kammerspiel. Die Handlung wird über Dialoge und einige TV-Einspieler abgewickelt und die eng abgesteckte Figurenkonstellation, die im Wesentlichen aus vier Personen besteht, soll pars pro toto zeigen, wie sich moralische Dilemmata entwickeln, wenn eine Pandemie global aus dem Ruder läuft. 


Am Ende doch noch ein Actionfilm

Kate und Alex läuft die Zeit davon, als sie von ihren Freunden Amber (Claudia Bassols) und Jacob (Shawn Doyle) das Angebot erhalten, sich in ihrem Landhaus vor dem Mob und den Behörden zu verstecken. Doch die langjährigen Freunde entpuppen sich nicht als altruistische Wohltäter. Amber gehört selbst zu den „Returned“ und bald sind die Gastgeber mit den letzten Ampullen ihrer Freunde verschwunden. Alex hat kaum mehr als 24 Stunden Zeit, bis er sich in ein blutrünstiges Monster verwandeln wird. Verzweifelt kettet er sich selbst an, während Kate versucht, beim Leiter ihres Krankenhauses die letzten eisernen Reserven zu bekommen. Das gelingt ihr zwar, aber als sie auf dem Heimweg überfallen wird, werden alle Phiolen zerstört und das Drama nimmt seinen Lauf.

Zombiekiller, die infzierte Kinder erschießen, Autoverfolgungsjagden, Kates Kampf um die letzten Ampullen: In der letzten halben Stunde verwandelt sich „The Returned“ doch noch in einen Actionfilm. Kates Wettlauf mit der Zeit ist dramaturgisch zwar nicht unplausibel, aber das angezogene Tempo wirkt ein wenig so, als würde Carballo doch noch nach einem Kompromiss mit den Zuschauererwartungen suchen. Damit geht aber die Chance verloren, das ethische Dilemma des Films konsequent zu verhandeln. Angesichts der gewählten Binnenperspektive der Erzählung, die die spontane Sympathie der Zuschauer auf die Hauptfiguren lenkt, gerät das angedeutete Schreckenspanoptikum der brutalen Verfolgung der „Anderen“ zwar zu einem vertrauten Genrebild, aber originell ist dies keineswegs. 
In einer dialogzentrierten Erzählung, die durchaus Züge eines Thesenfilms aufweist, hätte dem Figurenensemble eine antagonistische Position gut getan, anstatt die real zu erwartenden Probleme eines Pandemie-Szenarios mit dystopischen Schwarz-Weiß-Konstellationen zu beantworten.
Wer da nun wen beklaut, ist weniger interessant als die subversiven Fragen: Wer erhält antivirale Mittel, wenn sie nur noch begrenzt verfügbar sind? Ärzte, Wissenschaftler, Polizisten und Soldaten, und zwar nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung? Oder die, die es bezahlen können? Werden gar im Extremfall zu Recht die bürgerlichen Rechte des Einzelnen suspendiert, wenn ein globaler Super-Gau vor der Tür steht? Ist die Internierung hochpotenter Überträger inhuman oder legitimes Mittel der Infektionsbekämpfung?

Dass der Film einige dieser Fragen zu früh beantwortet, macht ihn dröge. Dass das tragische Ende von Carballo außergewöhnlich feinfühlig inszeniert wird, gehört zu seinen Stärken. Die letzte Einstellung des Films ist dagegen ein ziemlich platter Plot-Twist. Am Ende ist man hin- und hergerissen, aber "The Returned" verdient keinen Verriss. Denn last but not least wird der Film trotz seiner Formelhaftigkeit von einer spannenden Ausgangsidee getragen. Angesichts der aktuellen Bilder, die uns die Medien vom anarchistischen Zerfall des ebola-geplagten afrikanischen Kontinents zeigen, wirkt das nicht nur beinahe realistisch. Es liegt auf der Hand, sich zu fragen, wie wir uns verwandeln, wenn Ebola den europäischen Kontinent betritt. Dass in einschlägig bekannten Foren bereits ein Einreiseverbot für „Neger“ oder gar der Abwurf von Atombomben über den afrikanischen Seuchengebieten gefordert wird, lässt wenig Gutes erwarten. 


Noten: Big Doc = 3
 
The Returned (dts. Weder Zombies noch Menschen) – Spanien/Kanada 2013 - Regie: Manuel Carballo – Laufzeit: 98 Minuten – D.: Kris Holden-Reed, Emily Hampshire, Shawn Doyle, Claudia Bassols)

„The Returned“ lief nur kurz in den US-Kinos und wird per Direct-to-DVD und Video-on-Demand vermarktet. In Deutschland ist der Film seit Mai auf DVD und Bluray erhältlich.

Freitag, 5. September 2014

Nebraska

Zu den erfreulichen DVD-Reviews der letzten Wochen gehörte „Nebraska“. Der familienfilmerprobte Regisseur Alexander Payne („Sideways“, 2004; „The Descendants“, 2011) hat mit seinen Drehbücher bereits zwei Oscars gewonnen und gilt auf diesem Gebiet als Spezialist für schwierige Fälle. Sein neuer Film ist nicht nur ein gut geöltes Road-Movie, sondern auch eine Hommage an den großartigen Bruce Dern, der für seine Altersrolle im letzten Jahr den Darstellerpreis in Cannes erhielt. Dern hat es verdient.

Gibt es ein Leben vor dem Tod? Biologisch lässt sich die Frage einfach beantworten, in metaphysischer Hinsicht wird es dann schon etwas schwieriger. Wenn man mehr oder weniger ständig betrunken ist, mit einem keifenden Hausdrachen zusammenlebt und sich bereits leichte Senilität breit macht, sollte man besser nicht über das Wesen der eigenen Existenz nachgrübeln und vielleicht auch keine großen Pläne mehr schmieden. Woody Grant (Bruce Dern) sieht das alles allerdings etwas anders. Die Gewinnmitteilung eines Lotterieunternehmens nimmt er wortwörtlich, dass es lediglich ein Werbebrief ist, durchschaut er nicht mehr und so träumt er von den vielen Millionen, die in Lincoln (Nebraska) auf ihn warten. Er muss sie nur abholen. Zur Not halt auch zu Fuß.


Reise in die Provinz

Bei so einem Plot gibt es naturgemäß wenig Auswahl, um die Geschichte zu erzählen. Entweder wird das Ganze ein tristes Sozialdrama oder eine nicht ganz kitschfreie Komödie. Irgendwo dazwischen hat Alexander Payne seine Geschichte als Tragikomödie verortet und das hat er gut hinbekommen. Dazu wird aber ein Katalysator benötigt und der ist Woody Sohn David (Will Forte), der es leid ist, seinen Vater immer wieder auf der Landstraße einzusammeln. Zusammen brechen sie mit dem Auto in Montana auf, um, denkt Woody, den Gewinn abzuholen oder, glaubt David, 900 Meilen weit einem desillusionierenden Ende entgegenzufahren.

Vater-Sohn-Geschichte, Road Movie und eine Fahrt in die tiefste amerikanische Provinz. Richtig originell hört sich das nicht an, aber es funktioniert. Und das liegt zunächst an dem 78-jährigen Bruce Dern, der in mehr guten Filmen mitgespielt hat, als so mancher Kinogänger in seinem ganzen Leben zu sehen bekommt. Dern spielt den alten Grantler von der ersten bis zur letzten Filmminute mit einer stoischen Kratzbürstigkeit, die sich partout nicht mehr ändern lässt. Ein rührseliges Happyend schließt das aus – Woody ist und bleibt, was er ist, ein Mann, der in den Gesprächen mit seinem Sohn die gemeinsame Familiengeschichte auf banale Oneliner und Grobheiten reduziert und keinen Blick in sein Inneres zulässt. Zugegeben: viel Raum bleibt da für Will Forte nicht und ich hätte mir eher Bob Odenkirk (Saul Goodman in „Breaking Bad“), der stattdessen in einer Nebenrolle Woddys ältesten Sohn Ross spielt, in Fortes Rolle gewünscht. Aber dies hätte den Grundton des Films verändert.

Für das comic relief sorgen in „Nebraska“ andere. Als Woody und David durch Woodys Heimatstadt Hawthorne fahren, beschließt David, die Familie zu besuchen. Sein Vater ist alles andere als erfreut. Der Besuch endet in einem Fiasko, das von Payne als Hinterwäldler-Groteske inszeniert wird. Schweigend sitzt man zusammen vor dem großen Fernseher und hat sich nichts zu sagen. Erst als durch einen Zufall bekannt wird, dass Woody ein millionenschwerer Lotteriegewinner sein soll, tauen die Provinzler auf und schnell werden Begehrlichkeiten wach.
Alles gipfelt in der Konfrontation mit Woodys ehemaligem Geschäftspartner Ed Pegram (Stacy Keach mit einer fulminanten Performance), der plötzlich bei Woody alte Schulden eintreiben will, obwohl er es gewesen ist, der Woody einst einen Kompressor gestohlen hat. Und bald kommen andere auf die gleiche Idee. Die große Gier macht sich breit und am Ende überfallen sogar Woodys grenzdebile Neffen ihren Onkel, um an den Wettgewinn heranzukommen. Als die Wahrheit herauskommt, wird Woody mit Häme und Spott bedacht.


Ein Film für Söhne mit knarzigen Vätern

Ohne die großartigen Darsteller und die einfühlsame Regie von Alexander Payne hätte „Nebraska“ leicht in die Nähe einer banalen Provinzklamotte geraten können. Aber Payne kontrastiert die grotesken Momente des Films immer wieder mit stillen Momenten, die hinter der derben Farce eine melancholische Grundstimmung aufscheinen lassen. Diese wird von den wunderbaren Schwarz-Weiß-Bildern des Kameramanns Phedon Papamichael (“The Descendants”, “The Monuments Men”) eindrucksvoll sichtbar gemacht. So gelingt nicht nur ein Road-Movie mit unaufdringlich schönen Momenten, sondern auch ein Stimmungsbild des amerikanischen Mittelwestens und seiner Städte, die häufig einer ungewissen wirtschaftlichen Zukunft entgegenblicken.
 

Und natürlich kommen sich auch Vater und Sohn am Ende etwas näher, spätestens dann, wenn David etwas über von den traumatischen Korea-Erfahrungen seines Vaters erfährt. Spätestens in diesen Momenten dürfte so mancher männliche Midlife-Zuschauer einen emotionalen Berührungspunkt zu dem alten Mann finden, der am Ende zwar nicht der Millionengewinn erhält, dennoch triumphierend am Steuer eines nagelneuen Pick-Ups durch seine alte Heimatstadt fährt und es allen noch einmal zeigt. Das war sein eigentlicher Traum. “Nebraska” ist ein sehenswerter Film für Söhne mit alten, knarzigen und bockigen Vätern.

Noten: Klawer = 1,5, Melonie, BigDoc = 2

Nebraska – Laufzeit: 114 Minuten - Regie: Alexander Payne – Kamera: Phedon Papamichael - Darsteller: Bruce Dern, Will Forte, June Squibb, Bob Odenkirk, Stacey Keach – FSK: ab 6 Jahren.