Freitag, 3. Februar 2017

„Westworld" - die neue HBO-Serie

In „Westworld“ können die gut betuchten Gäste eines Vergnügungsparks die Sau rauslassen. Alles sieht aus wie in einem alten Kinowestern, in Sweetwater kann man völlig risikolos Androiden abknallen, mit ihnen herumvögeln und sie nach Belieben misshandeln. Die künstlichen Geschöpfe wehren sich nicht und wenn sie zurückschießen, dann treffen sie die Besucher nicht. Die Menschen kommen in der neuen HBO-Serie also nicht gut weg.

Umso mehr die künstlichen Geschöpfe. Sie entdecken am Ende ihr eigenes Bewusstsein. Aber nur, weil nicht nur die Gäste, sondern auch ihre Schöpfer sie systematisch quälen und peinigen. Qual, Verzweifelung und Erniederung als Quellen des
„Selbst“: die Menschwerdung stellt man sich anders vor. Aber: Wären die echten Menschen auch bessere Menschen, wäre diese Serie nie entstanden.
Wer es wollte, konnte „Westworld“ vor einigen Monaten in der englischen Originalfassung auf SKY sehen. Dazu gehörte Mut und mehr als nur eine Handvoll Vokabeln, denn der Sci-Fi-Mix aus Western und hypermoderner Bewusstseins-Simulation glänzte nicht nur wegen seiner berauschenden visuellen Qualitäten, sondern auch durch seine metaphernreichen und nuancierten Dialoge, die Autor und Regisseur Jonathan Nolan ("The Dark Knight") und Co-Autorin Lisa Joy den Menschen und den Robotern in den Mund gelegt hatten. Ab 2. Februar läuft nun die deutsche Synchronfassung.



Mainstream ist die gewaltreiche und zugleich äußerst intelligente Reflexion über Menschsein und Künstliche Intelligenz also nicht.
Und wer sich bis zur letzten Episode „The Bicameral Mind“ durchgearbeitet hatte, stellte dann auch noch verblüfft und vielleicht sogar schockiert fest, dass fast alles, was er gesehen hatte, eine grandiose Täuschung gewesen ist. Man sollte sich daher alles noch einmal gründlich anschauen, denn die neue HBO-Serie „Westworld“ ist ein veritabler Kandidat für die Erste Liga des Quality TV.


„The Original“

Die Pilotepisode beginnt mit einem Closeup. Wir sehen das starre Gesicht von Evan Rachel Wood. Sie spielt die Farmerstochter Dolores Abernathy. Später erfährt man, dass Dolores der älteste Host in dem Vergnügungspark ist, und der existiert mittlerweile seit drei Jahrzehnten. Das ist schon recht viel Geschichte.

„Weißt Du, wo Du bist, Dolores?“,
fragt eine männliche Stimme.  
„In einem Traum.“
„Hast Du je das Wesen Deiner Realität in Frage gestellt?“
(Pause) „Nein!“
„Willst Du aus dem Traum erwachen?“
„Ja, ich habe Angst.“
„Sag mir, wie Du Deine Welt siehst!“,
„Manche wollen nur das Hässliche in dieser Welt sehen. Die Unordnung. Ich sehe lieber die Schönheit“, antwortet die Androidin.

Ist das ein neugieriges philosophisches Gespräch mit einer Handvoll raffiniert produzierter Schaltkreise? Ein Spaß, den sich jemand erlaubt, der weiß, dass er mit einer Maschine spricht, die einem Menschen zwar bis ins letzte Detail ähnelt, aber nun ohne einen Funken Verstand lediglich ihr Programm abarbeitet?
Ausgetrickst wird auf jeden Fall der Zuschauer, denn am Ende der
$ 25 Mio. teueren Pilotepisode erfährt er, dass die elaborierten Fragen fester Bestandteil einer stinknormalen Wartungsroutine sind. Und die findet nachts statt. In den unterirdischen Katakomben des „Sweatwater“-Parks sitzen die Androiden nackt den Technikern von DELOS gegenüber, jenem Konzern, dessen exorbitante Einnahmen von der Funktionalität und Berechenbarkeit der Maschinen abhängig sind. Dolores und all die anderen Roboter werden gecheckt, modizifiert, mentale Eigenschaften werden erhöht oder gesenkt, und bei den Huren im Saloon der Westernstadt darf es auch gerne mal eine Spur mehr Aggressivität sein, denn ihre Funktion beschränkt sich auf die Quote zufriedener Freier. Wer trotzdem nicht funktioniert, wird ausgemustert.

Glauben in „Westworld“ die Androiden, dass sie Menschen sind? Und wenn ja, gehört dann nicht auch eine Spur von Bewusstsein zu dieser Wahrnehmung? Dann, wenn ihre Erinnerungen an den vorherigen Tag routinemäßig gelöscht worden sind, scheint es jedenfalls so zu sein. Aber natürlich ist dies eine Illusion, eine Programmroutine.
Das unterscheidet die künstlichen Menschen von ihrem wohl berühmtesten Urvater. Data wusste in „Star Trek: The Next Generation“ ziemlich genau, was er ist. Aber dennoch wollte er fühlen wie ein Mensch. Dagegen durchleben die von Menschen programmierten Kunstgeschöpfe in
„Westworld“ ihr Leben unschuldig und ahnungslos als Fragment, als Abfolge ständiger Loops. Tagsüber werden die  „Hosts“ von den Gästen des Vergnügungsparks erschossen, vergewaltigt oder erniedrigt, in der Nacht wird in den unterirdischen Laboren alles repariert. Anschließend wird der Reset-Knopf gedrückt und am nächsten Tag geht alles von vorne los. Natürlich einschließlich all der Erinnerungen an eine Biografie, die sie nie gelebt haben und die Teil eines Plots ist, der mit kleinen Variationen ständig wiederholt wird.
Was den Betreibern des Parks dabei vorschwebt, wird in der nächsten Szene des Piloten klar. Zwei Gäste fahren im Zug nach Sweetwater, einer ist schon dagewesen, der andere ist ein „Newcomer“. Er sei schon mal mit seiner Familie in Sweetwater gewesen, erklärt der erfahrene Besucher dem Neuling. „Beim zweiten Mal habe ich mich direkt dem Bösen hingegeben. Das waren die zwei besten Wochen meines Lebens.“

Dolores, die stattdessen an Ordnung und Bestimmung glaubt und naiv davon überzeugt ist, dass in Sweetwater alle nur ihre eigenen Träume verwirklichen wollen, liegt mit dieser einprogrammierten Einschätzung also komplett daneben. Und während das Wartungsinterview im Off weiterläuft, sieht man, wie ihre Storyline tatsächlich aussieht. Sie trifft in Sweetwater nicht zum ersten Mal (daran darf sie sich erinnern) den gut aussehenden Newcomer Teddy (James Marsden), der sich als Gunfighter ausstaffiert hat. Man reitet gemeinsam aus, die Nacht bricht an, in der Ferne fallen Schüsse – Dolores Farm wird überfallen und Teddy, der charming guy, reitet mutig los und erschießt zwei üble Schurken und Vergewaltiger.

„Dolores, was würdest Du denken, wenn Du wüsstest, dass es in dieser Welt keine Zufälle gibt ?“, fragt die Stimme im Off gnadenlos und erklärt, dass alle, die Dolores kennt, nur gebaut worden sind, um uneingeschränkt das Verlangen derjenigen zu befriedigen, die dafür gezahlt haben, um Sweetwater zu besuchen.

Als Dolores endlich die Farm erreicht, sieht sie vor dem Haus ihren erschossenen Vater. Plötzlich taucht ein in Schwarz gekleideter Mann auf (Ed Harris), der „Man in Black“. Er gehört offenbar auch zu den den Schurken, doch Teddy kann ihn nicht erschießen – er trifft einfach nicht. Jeder Schuss prallt von dem MiB ab, der stattdessen völlig gelangweilt Teddy erschießt. Und im Off beantwortet Dolores endlich die Frage: sie wisse, wie schön diese Welt sein kann, während der Zuschauer sieht, wie der MiB sie ins Haus schleift, um sie zu vergewaltigen. Und Teddy? Der war auch nur ein Android.

„Westworld“ präsentiert sich in der ersten Episode als Sodom und Gomorrha, als Sündenbabel, das einige Hundert Androiden in diversen Plots und variierenden Storylines den niederen Instinkten seiner Gäste aussetzt. Der Strippenzieher des Parks ist der Creative Director Robert Ford (Anthony Hopkins), der von Anfang an dabei war. Mittlerweile entwickeln andere die Storylines, während Ford eigenen Interessen nachgeht und den Androiden zusammen mit seiner rechten Hand, dem Leiter der Programmierabteilung Bernard Lowe (Jeffrey Wright), geheimnisvolle Updates implementiert.


Offenbar ein Problem, denn einige Androiden erleben die nun überraschend auftauchende Erinnerungen an Tod und Erniedrigung in Sweetwater als qualvoll. Sie scheinen leidensfähig zu sein. Dies löst aber eine Reihe von Fehlfunktionen aus. Die leitende Managerin Theresa Cullen (Sidse Babett Knudsen) ist besorgt. Ein Androide verlässt seine Storyline und massakriert ein Dutzend seiner Artgenossen, andere entwickeln plötzlich Fähigkeiten, die sie nicht haben dürften. So hat Dolores' Vater Peter (Louis Herthum) seiner Tochter ein Foto gezeigt, das ein Gast verloren hat und das für ihn eigentlich keine Bedeutung haben dürfte – nun sitzt er im Kontroll- und Wartungszentrum und gesteht im „Betriebsmodus“, dass er auf Inhalte seiner vergangenen Konfigurationen Zugriff hat. Er weiß, dass alle Teufel in Sweetwater sind und seine Tocher fliehen müsse.
Dass ein Android sich daran erinnert und dann auch daran verzweifelt, was seiner Tochter täglich in Sweetwater angetan wird, ist alarmierend. Dass er seine Schöpfer treffen will, um Rache zu nehmen und Robert Ford in bestem Shakespeare-Englisch hämisch klarmacht, dass er gefangen ist
„in den Sünden Deiner Welt" macht ihn allerdings zu einem Kandidaten für den Schrottplatz.

Tricks und Täuschungen – Die Selbstreferenzialität in „Westworld“

„The Original“ steckt die Eckpfeiler des Narrativs listig ab. Es ist ein Spiel mit doppeltem Boden. Mit Täuschungen und Tricks, die auch in den grandios gefilmten Settings gespiegelt werden.
Die überwaltigenden Postkartenmotive des Castle Valley erinnern an die Westernlandschaften John Fords, magische Orte, die in warmen Farben gehalten sind und deren anheimelnder Look ziemlich sarkastisch den erbarmungslosen Zynismus und die exzessive Gewalt konterkariert, die sich in dieser Frontier-Kulisse ereignen.
In Weiß und kaltes Licht getaucht sind dagegen die unterirdischen Hallen des Kontroll- und Wartungszentrums. In ihnen werden in den folgenden Episoden von
„Westworld“ die Machtkämpfe und Intrigen der heimlichen Herrscher inszeniert. Dabei wird sich der von Anthony Hopkins gespielte Mastermind als der cleverste Stratege erweisen.
Aber auch die kalte Bildästhetik dieser abweisende Orte hintertreibt ihre wahre Bestimmung, denn ausgerechnet dort, wo Planung und Kontrolle stattfinden sollen, werden die Androiden Teil eines seit Dekaden geplanten Megaplots, der Widerstand und Befreiung verspricht. Und am Ende auch Bewusstsein.

Täuschungen und Tricks findet man also zur Genüge in „Westworld“. Auch in den selbstreferentiellen Erzählstrategien. „Westworld“ erzählt von den Storylines einer Unterhaltungsindustrie, die technisch zwar ziemlich futuristisch ist, deren Sci-Fi-Duktus aber eher auf uns, den Zuschauer abzielt. Vordergründig ist darin eine moralische Parabel zu erkennen. Die gab es bereits in der Kinoversion von Michael Crichton (1973). Und so scheint es, dass wir medienkritisch an das erinnert werden sollen, was uns als Konsumenten immer stärker umtreibt: der Wunsch nach raffinierten Plots, das Bedürfnis nach expliziteren Inhalten, nach Sex, Splatter und Gewalt, allerdings bitteschön intelligent verpackt in immer komplexer werdenden Erzählungen. Will uns „Westworld“ zeigen, dass das DELOS-Team ähnlich wie die modernen TV-Macher dem Affen Zucker geben müssen, damit das verwöhnte Publikum nicht abspringt? Sollen die Raffinessen des Plots und die intelligente Dialoge nur übertünchen, dass die Substanz des Ganzen am Ende doch nur eindimensionale Befriedigung verschaffen kann?

Falsch ist das nicht, aber man kratzt damit nur an der Außenschicht. Die einfache Lesart entpuppt sich bald als doppelbödig. Die mediale Selbstreferenzialität kann man zwar als straighte Botschaft wahrnehmen, aber nach einigen weiteren Episoden wird man sie eher als ironischen Kommentar von Jonathan Nolan und seiner Frau Lisa Joy lesen, die mit ihrer wortgewaltigen Geschichte ganz sicher nicht Eindimensionalität im Sinn hatten. Aber auch sie geben dem dem Affen natürlich Zucker, denn Sex und Gewalt kommen in
„Westworld“ ganz gewiss nicht zu kurz. Nolan und Joy fangen sie ihre Zielgruppe mit einem Genremix aus Western und Science Fiction und der HBO-typischen Exploitation von Gewalt ein. Manipulativ ist die neue Serie schon. In etwa so, wie in „Westworld“ auch die Gäste des Parks manipuliert werden, die uns – ob wir wollen oder nicht – zu einem voyeuristischen Blick einladen. 

Nicht nur die Androiden, auch der Zuschauer wird getäuscht

Natürlich geht es in „Westworld“ um medienkritische Nabelschau und Moral, aber darüber hinaus natürlich auch um kybernetische Fragen, die nach der Erschaffung künstlicher Intelligenzen beantwortet werden müssen. „Westworld“ geht dabei zwar multi-perspektivisch vor, bevorzugt aber überwiegend den Point of View der Androiden. In der zweiten Episode „Chestnut“ fragt der Newcomer William (Jimmi Simpson) ein DELOS-Hostess: „Sind Sie echt?“ Die aber erwidert lächelnd: „Wenn Sie es nicht erkennen, ist es dann wichtig?“
Gut, da haben wir das Problem, das Alan Turing zu lösen glaubte. Und so spüren die Zuschauer, die Schöpfer der Kreaturen, aber auch die Roboter der eigentlichen Frage nach: Besitzen die Androiden am Ende der ersten Staffel tatsächlich Denkfähigkeit, Empfindungen und Bewusstsein oder imitieren sie diese Fähigkeiten lediglich auf perfekte Weise. Und: ist dieser Unterschied überhaupt von Bedeutung?

Die Manipulation
der Androiden und deren Leidensfähigkeit ist aber offenbar, wir werden es am Ende erfahren, der einzige Weg zum Bewusstsein, auch wenn der Weg dorthin eine endlose Blutspur ist. Bereits in Dantes „Göttlicher Komödie“ war der Weg von der Hölle zum Paradies mühsam und die gestorbenen Seelen wurden bei Dante, je näher sie dem Paradies kamen, entweder noch sündiger oder noch heiliger als sie es zuvor waren.
So ambivalent sind auch die getäuschten Androiden in „Westworld“. Der Zuschauer bekommt es mit jeder neuen Episode zu spüren: Kaum jemand ist im dem Hi-Tec-Vergnügungspark das, was er zu sein glaubt, und keiner hat die Bedeutung, die der Zuschauer ihnen zuweist.
Das gilt zum Beispiel für William und seinen Stiefbruder Logan (Ben Barnes), die in der zweiten Episode „Chestnut“ in Sweetwater auftauchen. William ist ein empathischer, etwas schüchterner Besucher, während der mit den Möglichkeiten des Parks bestens vertrauten hedonistische und empathiefreie Logan seinen Stiefbruder zur Hemmungslosigkeit verführen will: Töten, Foltern, Ficken - all inclusive. 

Williams Liebe zu Dolores wird später Robert Fords Credo recht erbarmungslos umsetzen: die Besucher sollen nicht erfahren, was sie sind, sondern was sie sein könnten. Es wird William verwandeln und der Rausch des Tötens ist eine Reise in die Finsternis, wie sie sich grausamer auch ein Joseph Conrad nicht hätte ausdenken können.

„Westworld“ ist nicht nur ein pointiertes Vexierspiel, sondern wird immer mehr zu einem Crescendo aus Gewalt und Niedertracht. Dies führt  alle Figuren immer tiefer in ein Labyrinth, aus dem es scheinbar keinen Ausweg gibt. Wer also beim Zuschauen das Gefühl hat, in den zahllose Haupt- und Nebenhandlungen nicht mehr ganz mitzukommen: keine Sorge, das ist geplant.
 

Die Hauptfiguren in sind nicht die Männer mit den Sixshootern. Es sind die Frauen, die in „Westworld“ dominieren. Dies gilt nicht nur für Dolores, die schöne Naive, deren zahlose Storylines wohl nie ganz gelöscht werden konnten und die sie zur Quelle der Gewalt zurückführen werden. Und dies gilt noch mehr für Maeve Millay (Thandie Newton mit exzellenter Performance), die zur heimlichen Hauptfigur der Serie wird – eine Hure und Zuhälterin, die in „Chestnut“ während der Wartung urplötzlich ebenfalls von grausamen Erinnerungen an alte, eigentlich gelöschte Storylines überwältigt wird. Maeve wird die erste Figur sein, die erkennt, was sie ist und der es sogar gelingt, in ihre eigene Programmierung einzugreifen. Doch ausgerechnet, als sie davon überzeugt ist, dass sie sich einen freien Willen verschafft hat, wird man sie damit konfrontieren, dass auch dies nur Teil des Metaplots ist, den sie nie durchschauen konnte.

Alles Charade und Camouflage? Tatsächlich funktioniert „Westworld“ exakt so. Nichts ist, was es zu sein scheint. Und die Gewaltorgien des „Man in Black“, die der Suche nach dem Zentrum des Labyrinths und damit nach dem heimlichen Sinn des Parks dienen, führen letztlich ins Nichts. Der MiB wird erkennen, dass fir Auflösung des großen Geheimnisses nie für ihn bestimmt war.

Der cleverste Trick der Showrunner ist ein fulminanter Red Herring, dem die Protagonisten nachjagen. Eigentlich sind es mehrere ‚rote Heringe’, jene erzählerischen Nebelkerzen, die auf eine falsche Fährte führen sollen. Dabei geht es ausgerechnet um die Figuren, die man nicht zu Gesicht bekommt wie den geheimnisvollen Arnold, der Robert Fords
Partner in den Gründungsjahren war. Auch der brutale Outlaw Wyatt, den alle zur Strecke bringen wollen, ist ein Red Herring – und noch mehr ist es ist der finale Plot Twist. Er enthüllt  dem Zuschauer, dass er von Beginn an einer Illusion erlegen ist: „Westworld“ lässt zunächst glauben, dass die Geschichte abgesehen von einigen Flashbacks linear erzählt wird. In „The Bicameral Mind“ heraus, dass man sich in verschiedenen Zeitlinien bewegt hat. Das ist nicht einfach zu verdauen, aber alles fügt sich zusammen.

„Westworld“ wird sich am Ende also als das entpuppen, was es im Kern ist: ein gewaltiger Mindfuck. Raffiniert und intelligent arrangiert, aber ein Rätsel, das letztlich auch den Zweck hat, das vertrackte Täuschungskonstrukt auf die zweite Staffel vorzubereiten. Dann werden wir - wie in den „X-Files“ - mit dem Versprechen auf die Wahrheit vermutlich noch tiefer in die labyrinthischen Untergeschosse des Kaninchenbaus geführt. Die neue HBO-Serie erinnert also nicht nur beiläufig an die „Matrix“-Trilogie. Man sollte darauf vorbereitet sein und genau hinschauen. Von Anfang an.


HBO braucht „Westworld“

Mit dem vielschichtigen Epos um Roboter und Cowboys landete Autor und Regisseur (erste und letzte Episode) Jonathan Nolan ("The Dark Knight") bei der Kritik einen Volltreffer. Auch quotentechnisch gab man sich zufrieden: die von J.J Abrams ("Star Trek", "Lost") für HBO produzierte Serie habe in den USA mehr Zuschauer vor den Bildschirm gelockt als die erste Staffel von "Game of Thrones". Dass derartige Vergleiche relativ sind, zeigen die absoluten Zuschauerzahlen: In „Westworld“ konnten nur wenige Episoden die 2 Mio-Marke knacken. Das ist kein Flop, aber doch etwas mager. Die Pilotepisode wurde sogar von dem mauen "Fear The Walking Dead" übertroffen, das „Westworld“ mit der doppelten Zuschauerzahl locker toppte.
Allerdings konnte das neue HBO-Flagschiff beim zeitversetzten Fernsehen glänzen: im 7-Tage-Fenster erreichte die Serie bis zu 12 Mio. Zuschauer - ein Rekord. Und rechnet man die hauseigenen Plattformen wie HBO Now und HBO Go ein, dann sahen das Staffelfinale 3,6 Mio. Zuschauer - also ebenfalls deutlich mehr als die bei der Live-Ausstrahlung erreichten Quoten.


Die anteilig von Warner Bros. Television und HBO finanzierte Serie wird aber weiterhin um Aufmerksamkeit kämpfen müssen. HBO war bis vor kurzem ein Synonym für Quality TV. Und das bedeutete drei Dekaden lang: „Oz“, „The Sopranos“, „The Wire“, „Deadwood“, „In Treatment“, „True Blood“ und „Boardwalk Empire“.
Qualität bedeutet aber nicht Quote, zumindest nicht sofort. Und so liegen Lichtjahre zwischen dem exzellenten, aber vom Publikum ignorierten „In Treatment“ und den HBO-Erfolgsgeschichten von „Game of Thrones“ und „True Detective“. Die erste Staffel von
„True Detective“ gilt mittlerweile als Mythos, ein Quotenhit war die Serie bei der Erstausstrahlung aber auch nicht. Und wenn nun für „Westworld“ damit geworben wird, dass es die Quoten der ersten Staffel von „Game of Thrones“ übertroffen hat, dann sollte man nicht vergessen, dass die Westeros-Saga erst nach der ersten Staffel zum Markenhit wurde.

Danach hatte HBO kein gutes Händchen. Die von Martin Scorsese und Mick Jagger produzierte Serie „Vinyl“ wurde ein Quotensarg, „The Night Of“ wollte auch nicht funktionieren und ohne die Verfilmung von George R.R. Martins „A Song of Ice and Fire“ hätte HBO momentan kein Zugpferd mehr vorzuweisen. „Westworld“ soll nun als Phoenix aus der Asche dem Sender zu altem Glanz verhelfen. Deshalb ist HBO & Co. zuzutrauen, dass die Serie durchfinanziert wird, allein nur, um ein Premiumprojekt in der Hand zu halten. Ähnliches führt auch Showtime vor, dass seine Serie
The Affair“ trotz unterirdischer Quoten weiter laufen lässt. Immerhin konnte die Serie einige Golden Globes einsammeln, was das breite Publikum aber völlig kalt ließ. Investiert wurden in „Westworld“ über $ 100 Mio., für HBO und seine Partner geht es also um einiges. Natürlich wäre die Serie ohne den gleichnamigen Film von Michael Crichton aus dem Jahr 1973 kaum vorstellbar. Aber fast ein halbes Jahrhundert später sieht man, wie grandios sich das Storytelling weiterentwickelt hat. Eben auch durch den Siegeszug des Quality TV. Der Sci-Fi-Film des Bestsellerautoren Michael Crichton wirkt im direkten Vergleich mit Jonathan Nolans Version regelrecht simpel und altbacken. 
Crichtons Film besaß in den Mittsiebzigern wegen der innovativen Plotidee und seines dämonisch agierenden Hauptdarstellers Yul Brynner durchaus markante Alleinstellungsmerkmale. Den Menschen ging es an den Kragen, ob der Aufstand der Roboter allerdings eine technische Fehlfunktion oder ein ungewollter Evolutionsschritt der technischen Spezies war, wurde aber nie ganz klar.
„Crichtons „Westworld“ war in den 1970zigern trotzdem enorm erfolgreich, Tiefgang besaß der Film allerdings nicht. Denn Crichton setzte bei der Verfilmung seines Romans auf Action und schaute nicht hinter die Kulissen. Immerhin skizzierte sein „Westworld“ bereits den Kern der Story, der von der HBO-Serie nun weitergesponnen wird. Auch Crichton zeigte den Freizeitpark als zivilisatorisches Fiasko, denn dort konnten die zahlungskräftigen Besucher in einer Westernkulisse aus dem 19. Jh. ziemlich ungehemmt „Herumhuren“ und Roboter abknallen, stellte ein Kritiker fest, als der Film 2006 auf DVD erschien. „Wenn ethische Grundsätze nichts mehr zählen und die Befriedigung niederer Triebe (...) in den Vordergrund treten, hilft auch alle Technik nichts, so die Botschaft dieses Films“ (Prisma-Online zum DVD-Start 2006).


Sind Androiden die besseren Menschen?

Herumgehurt und abgeknallt wird auch in Nolans „Westworld“, und das nicht zu knapp. Jonathan Nolan erzählt die gleiche Geschichte, aber expliziter und blutrünstiger und er schreckt dabei auch nicht vor explizit sadistischen Szenen zurück. Aber – und das ist der Unterschied beim Storytelling - er integriert das Netzwerk von verwobenen Handlungselementen und Hauptfiguren auf außergewöhnlich spannende Weise. Allerdings in einem komplexen Narrativ, das sich dem Zuschauer nicht auf Anhieb enthüllt und daher sehr viel Geduld einfordert.  
Was aber macht „Westworld“ sehenswert? Es sind die Production Values, die die Serie zu einem Must-see machen. Die phantastische Settings, die exquisite Kameraarbeit, die Bildkompositionen, die ruhige Montage, die streckenweise brillanten Leistungen der Darsteller. 
Und dann sind da noch die raffinierten Dialoge, die philosophisch durch die Handlung mäandern und sich irgendwo zwischen klugen Kalendersprüchen und tiefschürfenden Gedanken verorten lassen. Immer angereichert mit Metaphern und Allegorien, in denen nicht nur Ockham's Razor, Shakespeare und Dante auftauchen, sondern auch vieles, was den intelligenten Robotergeschichten Stanislaws Lems mühelos das Wasser reichen kann.
 

Jonathan Nolan hat dabei seine Köder geschickt ausgelegt - und das macht enorm viel Spaß. Der Titel der letzten Episode „The Bicameral Mind“ spielt auf die Psychologie des Bewusstseins des amerikanischen Psychologen Julian Jaynes an und der Zuschauer soll ihm in dieses Labyrinth folgen. Google hilft dabei! Jaynes vertrat die Überzeugung, dass die vorhomerischen Menschen kein Selbst besaßen, ihnen also die Quintessenz unsere kognitiven und emotionalen Fähigkeiten fehlte. Stattdessen
halluzinierten sie bei ihren Entscheidungen die Stimme Gottes und wussten dank dieser Eingebungen, was zu tun ist. Das hört sich nach Schizophrenie an, tatsächlich konnten die vor-zivilisatorischen Menschen, so Jaynes, nicht die Aktivitäten unterschiedlicher Hirnregionen erfolgreich integrieren. Bewusstsein in unserem Sinne entstand erst, als der brutale Druck der Außenwelt zu groß wurde und der mentale Dualismus kollabierte (1).

Die Androiden in „Westworld“ hören auch ‚Stimmen’ – aber es sind keine göttlichen, sondern die ganz profanen Echos ihrer Software. Oder gehört God's Voice etwa
Arnold“, dem Über-Vater aller Andoriden? Kann auch hier nur der Kollaps zu einem neuen Bewusstsein führen und beginnt danach die Evolution der Androiden?
Die Evolution, so glaubt es zumindest Robert Ford zu wissen, hat den Menschen mit einem entscheidenden Wesenszug ausgestattet: dem Fehler. Nun aber habe die Zivilisation dank Wissenschaft und Medizin einen Stillstand erreicht. Fehler würden erfolgreich vermieden, die Evolution sei beendet. Und so stattet Ford heimlich seine Geschöpfe mit Fehlern aus, die ihren bikameralen Geiste kollabieren lassen. Genauso erklärt auch Dolores in der dritten Episode „The Stray“ ihrem heimlichen Gesprächspartner Bernard ihre kognitiven Dissonanzen: „There aren’t two versions of me, there’s only one. When I discover who I am, I’ll be free.“

Klar, für viele wird es No-go sein, wenn man googeln muss, um die Subtexte einer Serie zu entschlüsseln. Man sollte dies aber auch nicht zu kopflastig betrachten, denn Über-Konnotierung ist nicht erst seit
True Detectiveein gängiges Rezept, um affine Publikumsgruppen zu erreichen. Und für die Auflösung der Rätsel haben Jonathan Nolan und Lisa Joy sowieso noch genug Zeit. Die erste Staffel von „Westworld“ umfasst 10 Episoden, die zweite Staffel ist für 2018 angekündigt. Man wird sehen, ob das neue Prestigeprojekt und seine hermetisch verschlüsselten Geheimnisse dem zuletzt nicht gerade erfolgsverwöhnten Kabelsender HBO wieder auf die Füße helfen. Ich habe gewisse Zweifel, bin aber sicher, dass in einigen Jahren das Gleiche wie etwa mit „Breaking Bad“ geschehen wird: alle, die es nicht gesehen haben, müssen sich für diese Fehlentscheidung entschuldigen.

(Update: Meine Zweifel haben sich zerstreut. Die von FORBES ausgewerteten Nielsen-Ratings weisen die Serie als besten HBO-Serienstart aller Zeiten aus. Das Finale sahen 2,2 Mio. Zuschauer. Hinzu kamen die Nutzer der Streamingportale HBO go und HBO now, aber auch die zeitversetzt schauenden Fans (DVR). Rechnet man nun auch die +3 und +7-Nutzung hinzu (also zeitversetztes TV innerhalb eines festgelegten Zeitfensters), so sahen „Westworld“ im Schnitt 12 Mio. Zuschauer pro Woche.
Möglicherweise liegt dies auch an der positiven Resonanz der Medien. Während
„Westworld“ in Deutschland ausschließlich bei den Streaming-Anbietern SKY und AMAZON VIDEO zu sehen ist und die deutschen Medien schwerpunktmäßig über den Serienstart, aber nicht über das Serienende berichteten, gibt es in den USA und z.B. beim englischen Guardian“ regelmäßig ausführliche Reviews und Recaps zum aktuellen Seriengeschehen. Dies hält das Interesse hoch. Deutschland ist im Vergleich dazu eine mediale Wüste - abgesehen von den bekannten Fan-Portalen. Beispiel: Im Ressort TV-Serien berichtete der SPIEGEL am 15.11.2016 zum letzten Mal über „Westworld“. Wer regelmäßig erscheinende und gut recherchierte Rezensionen lesen will, muss also sein Schulenglisch aufmöbeln.)
 
Noten: BigDoc = 1

 "Der Plot packt den Betrachter von der ersten Sekunde an, und die detailverliebten Bilder – ein rasanter Wechsel zwischen sterilem Hightech und mit reichlich Blut getränktem Westernstaub - scheinen einen dieser überdimensionierten Hochauflösungsfernseher endlich zu rechtfertigen" (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Ein Interpretationsversuch aus Sicht der modernen Neurowissenschaft gibt es in
Welches Geheimnis steckt in WESTWORLD?
 
(1) Julian Jaynes entwickelte 1976 das Modell der bikameralen Psyche, die anthropologisch zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte führt. Dort hätten die Menschen kein Bewusstsein in dem uns bekannten Sinn besessen. Über ihre Handlungen entschieden nicht-bewusste Prozesse, die von ‚befehlenden’ und ‚ausführenden’ Instanzen gelenkt wurden: der bikamerale Geist. Unsere Vorfahren halluzinierten, so Jaynes, die Stimme Gottes, die ihnen sagte, was zu tun sei. Das Bewusstsein, das unsere Spezies später entwickelte, sei dem Zusammenbruch des bikameralen Verstandes zu verdanken. Jaynes Modell wurde von der Fachwelt nicht akzeptiert.