Mittwoch, 16. Januar 2019

Ein Wunder (Il miracolo) - ARTE präsentiert eine wundersame Serie

Mit Niccolò Ammanitis „Il miracolo“ (Ein Wunder) präsentiert ARTE zum Jahresbeginn eine Serie über Glauben und Hoffnung und die existenziellen Abgründe globalisierter Gesellschaften. In Italien taucht eine Madonna auf, die Blut weint. Einige Menschen beginnen auf ein Wunder zu hoffen, die meisten haben einfach nur Angst und verschweigen das Phänomen. „Il miracolo“ gehört schon jetzt zu den großen Serienentdeckungen des Jahres. Ein weiteres Meisterwerk aus der italienischen Serienschmiede.

Es ist schon ein kleines Wunder, welche Geschichten wir uns zumuten, wenn wir uns Science-Fiction-Filme im Kino anschauen. Ihre wissenschaftlichen Unzulänglichkeiten haben das Genre von dem programmatischen Science so weit abgerückt haben, dass man einen Großteil der Produktionen gnädig Fantasy nennt. So wird dem Zuschauer immerhin klargemacht, er möge es doch bitte nicht ganz so ernst nehmen, was ihm da aufgetischt wird.




Das große Unbehagen in der Kultur

Ein schönes Beispiel ist Christopher Nolans „Interstellar“. Fantasy ist das nicht, was einem aber für Bullshit über Schwarze Löcher zugemutet wird, kann nur so eben graderücken, dass der Film (auch dank wissenschaftlicher Beratung) vieles richtig macht, wenn es um Gravitation und Zeitdilatation geht.
Immerhin, aber es funktioniert halt nicht immer, etwa wenn Marvel’s Ant-Man sich so unendlich schrumpft, dass er in die Quantenwelt eindringen kann. Dort erwarten ihn nicht Teilchen, die sich gleichzeitig an mehreren Orten aufhalten, sondern aberwitzige Welten, in denen merkwürdige und gefährliche Wesen auf ihn lauern. Schrödingers Katze ist schon längst nicht mehr ein Fall für Blockbuster.

Und nun eine weinende Madonna? Auch das klingt nicht nach Science-Fiction, sondern eher nach religiöser Mystik, die massenmedial längst profanisiert wurde und in die Fantasyfilme abgewandert ist. Dort ist ihr spiritueller Gehalt in den Weiten von Tolkins Mittelerde und HBOs Westeros verloren gegangen.
Verschwunden ist aber nicht das scheinbar unerschöpfliche Bedürfnis nach irrationalen Gegenentwürfen zu einer auf Mehrwert und Effizienz getrimmten materialistischen Gesellschaft, die gleichzeitig ihre eigenen Lebensbedingungen zerstört. Dieses Bedürfnis wird immer größer, bringt Populisten an die Macht und richtet sich, und das ist wirklich paradox, ausgerechnet gegen Medien und Wissenschaft, die uns abraten, weiter in die selbstgewählte Inkompetenz zu schreiten. Während also die ökonomischen Global Player ihrer eigenen Rationalität folgen und uns in verwertbare digitale Objekte verwandeln, wird ausgerechnet in den von ihnen geschaffenen Social Media der Bedarf nach wütenden Protesten gegen all jene artikuliert, die die Realität auf eine Weise erklären, die mehr Fragen formuliert als dass sie Antworten gibt. Die Wut über zu viel Komplexität wird aber längst nicht mehr von einer Kirche kanalisiert, die jahrhundertlang ein erklärter Feind der Wissenschaft war, sondern findet sich nunmehr in den zahllosen YouTube-Channeln wieder, in denen die Erde endlich wieder flach sein darf.


In Niccolò Ammanitis Serie „Ein Wunder“ (Il miracolo) ist die weinende Madonna daher eine weitere Provokation. Man rückt ihr mit allen Mitteln der Naturwissenschaft auf den Leib, die zur Verfügung stehen. Die Hoffnung auf eine Erklärung des Rätsels ist nicht unbegründet. Tatsächlich haben ausgerechnet die Naturwissenschaften in den letzten 100 Jahren eine Welt voller rätselhafter Phänomene entdeckt, die scheinbar alle Attribute eines Wunders besitzen. Die wichtigste Erkenntnis ist jedoch auch die folgenschwerste: Man versteht die Dinge nicht, etwa die Quantenverschränkung. Zu begreifen ist das nicht, es sei denn, man beherrscht die Mathematik, und zwar die richtige, nämlich die, mit der nur eine Handvoll wissenschaftlicher Schamanen miteinander kommunizieren kann.
Trotz unserer weitreichenden Kenntnislosigkeit geben wir uns trotzdem und ziemlich paradox als aufgeklärte und zunehmend naturalistisch denkende Menschen, schauen uns Harald Lesch im TV oder auf YouTube an, nur um zu erfahren, dass selbst die größten Anstrengungen eines populären Philosophen und Physikers nahezu ergebnislos bleiben. Viele verstehen weiterhin nur Bahnhof, wenn es um Emergenz und Quantenphysik und andere Spektakel geht. Das könnte man hinnehmen, wenn es aber um fehlendes Verständnis für digitale, ökonomische und ökologische Probleme geht, könnte es uns rasch an den Kragen gehen.

Dann schon lieber Ant-Man.



Die weinende Madonna

In einem Punkt sind sich die meisten Menschen des neuen Jahrtausends aber einig: spirituelle Wunder sind purer Nonsens. Die Geschichte von Jesus und Lazarus? Ein müdes Lächeln. David Bowie hat kurz vor seinem Tod immerhin einen wunderbaren Song daraus gemacht, das Musikvideo macht ihn noch besser: „Look up here, man, I'm in danger. I've got nothing left to lose.“ Danach wünscht sich jeder, David Bowie möge von den Toten wieder auferstehen.

Wenn man nun die auf ARTE gezeigte italienische Serie „Ein Wunder“ staunend bewundert, wird man auf spektakuläre Mirakel verzichten müssen. Ausgerechnet bei Molocco (Sergio Valastro), einem Boss der kalabrischen ’Ndrangheta, wird eine Madonna gefunden. Das allein wäre im zutiefst katholischen Italien keine Überraschung, aber die Madonna ist nicht einfach eine Statue aus dem Devotionalien-Shop. Nein, sie weint. Allerdings keine menschlichen Tränen, sondern Blut.

Das überfordert nicht nur die Politiker und Wissenschaftler. In der wundersamen Serie des Schriftstellers Niccolò Ammaniti werden sehr viele unterschiedliche Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten nun mit einem Phänomen konfrontiert, für das sie keine Erklärung haben. An der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie steht der italienische Ministerpräsident Fabrizio Pietromarchi (Guido Caprino), mindestens ein Agnostiker, der seine Fassungslosigkeit sofort darauf checkt, ob die Madonna ihn endgültig ins politische Nichts befördern könne. Italiens Populisten fordern nämlich einen Exit aus EU und Euro. Und Pietromarchi hat in völliger Verkennung der Lage ein Referendum angesetzt, das über diese Frage entscheiden soll und das er nun mit großer Wahrscheinlichkeit verlieren wird. Nun ist da plötzlich eine Statue, die unaufhörlich Blut weint. Wohin damit, immerhin kommen rasch 600 Liter zusammen? Und es hört nicht auf.
Die Wissenschaftler haben keine Erklärung, das Rätsel wird zur Provokation. Pietromarchi befiehlt, alles zu verheimlich. Weder Öffentlichkeit noch Kirche sollen von dem Mysterium erfahren. Er lässt die Madonna einfrieren. Und tatsächlich: sie hört auf zu weinen.


Guido Caprino spielt den Politiker als kontrollierten, rationalen Mann, der aber sein Wahlvolk längst nicht mehr erreicht, wenn er ihm im TV mit Tierallegorien zu erklären versucht, dass ein „Italy First“ geradewegs in den Untergang führen wird. Vergebens, die Menschen haben bereits eine neue Spiritualität entdeckt: die der schlichten Worte und einfachen Gedanken. Also die der modernen populistischen Wunderheiler, die dem gebeutelten Land neue Größe versprechen, wenn man zuvor alles zerstört, was es gerade noch zusammenhält.

Aber der Politiker wird nicht nur durch die Populisten gebeutelt. Zu Hause wartet Sole auf ihn, seine Frau (Elena Lietti), die ihn hasst und betrügt und so intelligent und empathiefrei ist, dass einem fröstelt. Dass ausgerechnet im Haushalt der Pietromarchis das polnische Kindermädchen Olga (Irena Goloubeva) den Kindern das Beten und eine religiöse Innerlichkeit einimpft, ist für Sole geradezu ein Skandal.

Ausgerechnet ein gefallener Engel soll dem Ministerpräsidenten alles erklären - ein guter Freund aus Studienzeiten – Padre Marcello (hervorragend: Tommaso Ragno). Der ist depressiv, sieht sich Pornos an, ist Huren nicht abgeneigt, ist spielsüchtig und plündert die tiefgläubigen älteren Damen seiner Gemeinde aus, indem er die Spendengelder für notleidende Afrikaner in die die eigene Tasche fließen lässt. Aber das findet
Pietromarchi erst viel später heraus.
Marcello ist als Figur kein anti-klerikales Klischee. Seine Gemütsveränderungen sind Nebenwirkungen eines Medikaments, ohne das der Padre einer schweren neurologischen Krankheit zum Opfer fallen würde. Ob hier die Evolution Mechanismen der Auslese geschaffen hat oder diese nicht verhindern konnte oder ob es die göttliche Schöpfung ist, die einen Webfehler besitzt, bleibt den religiösen Paradigmen der Zuschauer überlassen. Marcello, erst einmal mit der weinenden Madonna konfrontiert, wird jedoch seinen Glauben wiederfinden und sein Kreuz auf sich nehmen. Das ist in „Ein Wunder“ dann auch im wortwörtlichen Sinne zu verstehen.

Geradezu sinnfällig fällt auch die zwischen Wissenschaft und Mystizismus hin und her schwankende Biologin Sandra Roversi aus, die Alba Rohrbacher mit einem verzweifelten kindlichen Glauben spielt. Sandra, deren Leben von ihrer gefühlskalten und nun schwerkranken katatonen Mutter beherrscht wurde, rettet sich wie viele an einem Unglück schuldlos Beteiligte in Schuld- und Versagensvorwürfe, wirft sich aber mit voller zwanghafter Energie auf eine DNA-Untersuchung des Madonnenblutes. Die liefert schließlich sogar einen Phänotyp. Sozusagen ein aus den genetischen Sequenzen extrapoliertes 3 D-Foto, eine digitale Hochrechnung. Prompt lässt Sandra alles durch einen Gesichtsscanner laufen, um die Person zu finden, die das gleiche genetische Profil wie das Madonnenblut besitzt. Sandras wahnwitzige Idee: Gott hat mit dem Blut den Menschen den genetischen Quellcode für einen ‚neuen Menschen‘ geschickt und nun will sie den biologischen Prototyp finden.
 Auch davon erzählt „Ein Wunder“, nämlich dass die Verzweiflung die Menschen immer dorthin treibt, wo man eine wundersame Rettung der eigenen Misere finden könnten – egal, ob durch Wissenschaft, Voodoo oder YouTube.

Einigermaßen gefasst bleibt in dem zunehmend als Inferno erzählten Mix aus politischen Untergangsvisionen, schweren Glaubenskrisen, religiösem Fundamentalismus und opportunistischen Purzelbäumen nur der „Generale“. Sergio Albelli spielt Giacomo Votta, den Chef der Carabinieri, als zurückhaltenden Mann, der sich nach anfänglicher Erschütterung immer mehr als vorurteilsfreier Beobachter entpuppt. Er wird sich auf die Suche nach dem Geheimnis der Madonna machen und am Ende eine ziemlich einsame Entscheidung treffen.

Und schließlich ist da noch der geistig zurückgebliebene Nicolino (Carmelo Macri) , ein Junge, der eines Tages mit Moloccos toter Tochter auftaucht, danach als deren Mörder gilt und vom eigenen Vater auf Befehl des Mafiabosses getötet werden soll. Eine beinahe zynische Allegorie, die unschwer an Abrahams Bürde erinnert, auf Geheiß Gottes seinen Sohn Isaak zu töten.
Also auch alttestamentarisch geht es in „Ein Wunder“ zu. Doch was will die Madonna? Man weiß es nicht. Aber man sieht, wie sie weint. Wunder gibt es aber nicht. Die wenigen Menschen, die von ihrer Existenz wissen, werden vielmehr immer tiefer in existenzielle Krisen gestürzt, die eine ganze Menge mit Italien zu tun haben, aber darüber hinaus durchaus als Blaupause für ein gescheitertes Leben in globalisierten Zeiten verstanden werden können.



Der Mythos der weinenden Madonna

Schöpfer der achtteiligen Serie, die ARTE im Januar dieses Jahres ausstrahlte und auch als Stream bereitstellte, ist der italienische Schriftsteller Niccolò Ammaniti. Dem 53-Jährigen gelang 1994 der literarische Durchbruch mit seinem Roman „Die letzte Macht auf den Inseln.“ Als Drehbuchautor hat sich Ammaniti häufig mit der Verfilmung eigener Werke beschäftigt, für die unter anderem von SKY und ARTE produzierten Serie „Il miracolo“ schrieb er nicht nur gemeinsam mit seinem langjährigen Co-Autor Francesca Marciano das Drehbuch, sondern führte auch zusammen mit den fernseherfahrenen Francesco Munzi („Saimirs Entscheidung“, 2004) und Lucio Pellegrini (Episoden 4-8) Regie.

Visuell verortet sich die Serie zwischen nüchternem Realismus und verführerischer Mystik. Kamerafrau Daria D'Antonio hatte es bereits in Paolo Sorrentinos „La Grande Belezza“ (2013) mit den Untiefen der italienischen Gesellschaft zu tun. In „Il miracolo“ stellt sie die schwer angeschlagenen Protagonisten häufig in eine Architektur, die einer strengen Geometrie folgt und symbolisch die Verfassung der Figuren ankündigt, bevor die überhaupt ein Wort gesagt haben. 
Es sind Bilder, die nicht aufdringlich sind, aber vielsagend, etwa wenn Nicolino am Tag seiner Tötung einen allerletzten Ausflug mit seinem Vater macht und durch einen dunklen Felstunnel schreitet, an dessen Ende ein für ihn wunderbarer Blick auf einen brausenden Wasserfall wartet. Es scheint einen Moment so, als wolle er sich freiwillig ihn die Tiefe werfen, als wüsste er, was sein Vater beabsichtigt – aber der reißt ihn zurück. Nicolino ist übrigens die einzige Figur in der Serie, die sehr häufig „Ich bin glücklich“ sagt.

Den anderen ist das nicht möglich. Auch denen nicht, die verzweifelt auf ein Wunder der Madonna warten. So etwas Verzweifeltes hat es ja schon einmal gegeben, als 1953 im südsizilianischen Syrakus eine Madonna zu weinen begann. Allerdings menschliche Tränen. Hundertausende gläubige Katholiken pilgerten in die Stadt. 
„La Madonna piange“, die Madonna weint – und auch damals tauchten Wissenschaftler im Auftrag des bischöflichen Ordinariats auf und kamen zu dem Ergebnis, dass hier keine Massensuggestion vorliegt, sondern dass die Tränen real sind. 300 unerklärliche Heilungen wurden von Medizinern bestätigt. Vier Tage weinte die Madonna, dann hörte sie auf und nicht wenige waren erleichtert. Immerhin blieb die Madonna von Syrakus das einzige von der Kirche anerkannte Wunder dieser Art.
 Der SPIEGEL berichtete davon 1953 überraschend distanzlos.
Auch das italienischen Civitaveccia wurde 1995 zu einem Wallfahrtort, als dort eine Madonna Bluttränen vergossen haben soll. Auch in diesem Fall wurde das Blut untersucht – er war wie in Niccolò Ammanitis Serie das eines Mannes. 
Ansonsten sind weinende Madonnen eher ein Fall für Biologen, Chemiker und Kriminalisten, denn die Mehrzahl der Phänomene konnte als optische Täuschung oder raffinierter Betrug aufgeklärt werden.



Die Madonna ist eher ein Menetekel

„Ich bin nicht gläubig, aber unglaubliche, unerklärliche Wunder faszinieren mich. Vor allem fasziniert mich daran, wie sie das Leben der Menschen völlig verändern“, erklärte Niccolò Ammaniti seinen Achtteiler. Dafür dreht er kräftig am Rad der volkstümlich-religiösen Kultur seines Landes und lässt seine Madonna aberhunderte Liter Blut weinen. Es ist ein erzählerischer Kniff, der Zweifelsfreiheit über den Realitätscharakter des seltsamen Phänomens herstellt – eine Freiheit, wie sie nur Fiktionen besitzen. 

Man kann das Ganze aber auch als McGuffin sehen, wie man ihn besonders aus den Filmen Alfred Hitchcocks kennt. Als etwas, was die Handlung vorantreibt, selbst aber keine große Bedeutung besitzt. 
Sieht man es so, ist die weinende Madonna keine schlechte Wahl gewesen, denn in der religiösen Kultur Italiens ist sie weit verbreitet und gleichzeitig ein Katalysator unerwarteter Ereignisse. So gesehen ist die Madonna in „Ein Wunder“ zweifellos auch den Riss in der italienischen Gesellschaft, in der Glaube und Rationalität existieren, ohne dass man diese soziokulturellen und spirituellen Parallelwelten auf den ersten Blick erkennt.

Auch Olga, das tiefgläubige Kindermädchen, verkörpert diesen Riss. Sie gehört einer religiösen Gruppe an, die einen religiösen Gesang nicht abbrechen lässt, weil sich die Mitglieder der Gruppe dabei abwechseln, in einer mysteriösen Sphäre permanent zu singen. So soll die Wiederkehr Jesu Christi heraufbeschworen werden. Das hat sich friedvoll an, ist aber bedrohlich und Irena Goloubeva spielt das auch so. Diesen stinkfreundlichen Fundamentalisten möchte man die Zukunft auf keinen Fall anvertrauen.

Allen anderen aber auch nicht. „Ein Wunder“ kann man als Gesellschaftsdrama lesen, das aus den unterschiedlichsten Perspektiven von politischen, religiösen und existenziellen Krisen erzählt. Dabei will Ammanitis Geschichte das ganze Spektrum der Ursachen abdecken: von der Politik über die Gewalt der Mafia hin zur Seelenlosigkeit der Ökonomie.
Niccolò Ammaniti packt also eine Menge Themen in seine Serie, verliert dabei aber nicht die Balance Etwas mehr Politik hätte man sich schon gewünscht. Aber wenigstens verzichtet Ammaniti - abgesehen von einigen mysteriösen Szenen - auf Fantasy. Allerdings werden die Protagonisten der Geschichte von surrealen Alpträumen gequält. Padre Marcello sieht die Madonna (gespielt von Monika Belucci) in einer Vision tief auf dem Meeresboden als Hybrid, unter dessen Füßen sich Tentakeln winden. Sie wird Marcello ewiges Leben versprechen, am Ende kommt es anders.

Überhaupt wird „Ein Wunder“ auf der Zielgrade pechschwarz. In Episode 6 „Die Prinzessin der Schwimmbecken“ führt Ammaniti den Zuschauer auf eine Müllhalde im europäischen Niemandsland. Dort schuften afrikanische Flüchtlinge wie Sklaven. Als eine junge Frau einen Moment lang nicht aufpasst, wird sie von einem Lkw erfasst und stürzt in die Tiefe. Ihr verzweifelter Mann muss zuschauen, wie die Leiche seiner Frau genauso emotionslos entsorgt wird wie der Schrott entsorgt wurde, den die Flüchtlinge offenbar auf wiederwertbares Material untersuchen müssen.
Ausgerechnet in diesem Vorhof der Hölle findet die Biologin Sandra scheinbar das menschliche Äquivalent des Madonnenblutes. Unter den Männern, die die Unglücklichen antreiben, ist nämlich auch Sandras Zielperson und am Ende der Episode kann sie froh sein, dass sie von ihrem ‚neuen Menschen‘ nicht vergewaltigt wurde. Wenigstens stellt sich heraus, dass es doch keine genetische Übereinstimmung gibt. 

Die subtile Filmmusik ist überragend

Episode 6 ist nicht nur wegen der Schrottplatz-Sequenz ein grausamer Höhepunkt der Serie. Auch Fabrizio Pietromarchis Familie wird heimgesucht, obwohl der Politiker verzweifelt und betend vor der Madonna auf die Knie sinkt. Diese Szenen werden von Antonio Vivaldis „Nisi Dominus“ (RV 608) kommentiert: „Cum dederit dilectis suis somnun“ verspricht das Largo – „Denn seinen Geliebten gibt er (Anm.: der Herr) Schlaf“. Verballhornt auch als „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“ bekannt. Vivaldis Vertonung bezieht sich auf den Psalm 127 und ist im Kern ein Aphorismus über das Lebensglück, das man nicht erzwingen kann, auch nicht mit einem vorbildlichen Lebenswandel. Gott gibt es den Seinen im Schlaf, sprich: auch denen, die es vermeintlich nicht verdienen. Pietromarchi geht jedoch leer aus. 
Das ausgeklügelte Musikkonzept der Serie steckt auch das voller Querverweise. Und die fallen nicht selten etwas zynisch aus. In der Main Title Sequence besingt Jimmy Fontana in seinem weltberühmten Schlager „Il mondo“ (1965) die verschwundene Liebe zu einer Frau, an die er nicht mehr denkt, während die Welt sich weiterdreht. Dazu gibt exquisite Stücke wie „Reminiscence“ aus Ólafur Arnalds „Chopin Project“, auch gecoverte Songs wie Santa Esmeraldas Discoversion „The House of the Rising Sun“ sind an der richtigen Stelle platziert. 

Niccolò Ammaniti verfährt also recht grausam, aber wundersam mit seinen Figuren. Jene, die von der Madonna eine Zeitenwende erwarten, gehen unter oder werden größenwahnsinnig wie die Biologin Sandra, die am Ende aus der letzten verbliebenen Blutprobe einen Menschen klonen lässt. Agnostiker und Opportunisten wie der italienische Ministerpräsident versinken in familiären Tragödien, die zwar Leben kosten, aber am Ende über seine politische Karriere entscheiden. Die mit Pietromarchi trauernden Italiener entscheiden sich für einen Verbleib in der EU. Aus Mitgefühl. Den Seinen gibt’s der Herr dann doch wohl im Schlaf.

In „Ein Wunder“ bleiben am Ende die Wunder also nicht ganz aus. Die blutende Madonna ist aber eher ein Menetekel. Also etwas, was wir zu ignorieren gelernt haben. Ammaniti erzählt davon, dass wir recht viel wissen und gleichzeitig recht wenig. Am wenigsten über uns selbst. Wenn wir das erkennen, dann ist das einerseits sehr sokratisch, andererseits muss man um des lieben Friedens willen eine andere Wahrheit in Betracht ziehen: nämlich an etwas zu glauben und gleichzeitig das Gegenteil für möglich zu halten.
So gesehen ist der Pragmatismus des „Generale“ am Ende recht clever. Er tauscht die Madonna gegen eine aus, die nicht blutet, und legt die echte in die Kühltruhe zu seinen Grillsachen. Dann brät er Burger auf der Hochzeitsfeier seiner Mutter. Die über 80-Jährige hat sich frisch verliebt. Am Ende gibt es also doch ein echtes Wunder in Niccolò Ammanitis großartiger und tiefschwarzer Serie.
 

Ein Wunder (Il miracolo) – SKY Italia, ARTE 2018 – 8 Episoden - Drehbuch: Niccolò Ammaniti (Showrunner), Stefano Bises, Francesca Manieri, Francesca Marciano – Regie: Niccolò Ammaniti, Francesco Munzi, Lucio Pellegrini – D.: Guido Caprino, Elena Lietti, Lorenza Indovina, Sergio Albelli, Irena Goloubeva, Tommaso Ragno, Monica Belluci (als Madonna), Sergio Valastro, Sandra Roversi, Carmelo Macri.

Nachtrag (26. Juni 2019)

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Xavier Giannolis Ende 2018 in die Kinos gekommener Film "Die Erscheinung" (L'Apparition). 137 Minuten lang spürt ein Journalist im Auftrag Roms dem Geheimnis eines jungen Mädchens nach, das eine Marien-Erscheinung gehabt haben will. Der von Vincent Lindon gespielte Jacques Mayano soll nun mit den Mitteln des investigativen Journalismus frischen Wind in einer kanonische Untersuchungskommission bringen. Die ist aber gar nicht so altmodisch, sondern rückt der jungen Anna (Gallatéa Bellugi) mit einer Psychiaterin und PET-Screening auf den Leib. Permanent spürbar ist das Unbehagen der Katholischen Kirche angesichts derartiger "Wunder", wohl auch, weil man keine Kontrolle über das besitzt, was die Mutter Gottes zu sagen hat.
Xavier Giannolis 137 Minuten langer Film bezieht einen großen Teil seiner Spannung aus der Frage, ob die Erscheinung real oder nur Teil eines verwickelten Crime Plots gewesen ist. Ersteres zu zeigen, davor hüten sich Filmemacher natürlich. Und so endet "Die Erscheinung" zwar nicht mit der Aufdeckung eines Betrugs oder eines Verbrechens, sondern mit einem Plot Twist, der Raum für weitere ungeklärte Rätsel lässt. Und damit, dass der Journalist, der sich mit einem Kriegstrauma herumschlägt, seine eigene Spiritualität entdeckt.
Das besitzt auf gewisse Weise einen seriösen Charme, zumal der allgegenwärtige Wallfahrts-Tourismus mitsamt des spirituellen Mechandisings in digitalen Zeiten auch sein Fett wegbekommt. Als strikter Agnostiker finde ich es spannend, dass Horrorfilme nicht die geringsten Probleme damit haben, die Existenz Satans in ihre Narrative einbauen, ohne mit der Wimper zu zucken, während das religiöse Drama sich krampfhaft darum bemüht, den Wunderglauben zu dekonstruieren, um dann doch noch eine klitzekleine Hintertür zu öffnen. Zu empfehlen wären den Zuschauern daher einige Filme von Robert Bresson (1901-1999), aber Bressons Meisterwerk "Das Tagebuch eines Landpfarrers" gibt es hierzulande nur noch auf DVD als UK-Import zu sehen. So ist es um die Bewahrung der Filmkultur des 20. Jh. halt bestellt.