Donnerstag, 20. Mai 2010

Das Massaker von Katyn

Polen 2007 - Originaltitel: Katyn - Regie: Andrzej Wajda - Darsteller: Maja Ostaszewska, Artur Zmijewski, Andrzej Chyra, Jan Englert, Danuta Stenka, Pawel Malaszynski, Magdalena Cielecka, Joachim Paul Assböck - FSK: ab 16 - Länge: 121 min.
Eine seltsame Begegnung mit einer Film-Ikone: fast dreißig Jahre, nachdem ich Andrzej Wajdas „Der Mann aus Marmor“ (1977) und „Der Mann aus Eisen“ (1981) für ein süd-deutsches Medien-Magazin besprach, sehe ich endlich wieder einen Film des großen polnischen Regisseurs, der nunmehr 84 Jahre alt ist. Schon damals, Anfang der 1980er Jahre, hatte Wajda sein Hauptwerk vorgelegt. In den Jahrzehnten danach folgten (nur) noch 12 Filme, „Das Massaker von Katyn“ ist der vorletzte Film eines Mannes, der es einfach nicht sein lässt.
Und meine persönliche Rezeptionsgeschichte? Nichts, Null. Allerdings nicht aus Desinteresse, sondern weil man Wajda nicht zu fassen bekommt – er ist aus der europäischen Filmdistribution verschwunden. Von gelegentlichen TV-Ausstrahlungen abgesehen, ist es fast unmöglich, Wajda-Filme zu sehen oder zu bekommen. Wer bei AMAZON nach den Filmen eines der bedeutendsten Autorenfilmer Europas sucht, findet als deutschsprachige Ausgaben natürlich den „Katayn“-Film (der jetzt endlich auf DVD und Blu-ray erschienen ist) und auch „Die Dämonen“ und „Korczak“, muss sich aber damit abfinden, dass er Wajdas Hauptwerk bestenfalls als Importware aus England oder Polen erhält.

Zerrieben zwischen den Fronten
Mit seinem Historienepos „Das Massaker von Katyn“, das 2008 als Bester Fremdsprachiger Film für den OSCAR nominiert wurde, setzt sich Wajda mit einer schmerzhaften biografischen Erfahrung auseinander: sein Vater gehörte zu den –zigtausenden Offizieren, die 1940 vom sowjetischen NKWD liquidiert wurden. Zwar nicht in Katyn, aber der Name des Wäldchens nahe dem russischen Koselsk wurde in der polnischen Geschichte zum Synonym für eine Gräueltat, die jahrzehntelang im kommunistischen Polen totgeschwiegen werden musste: 20.000 polnische Offiziere, aber auch viele Polizisten und Intellektuelle, wurden an verschiedenen Orten auf Anweisung Stalins, der einer Empfehlung Berias folgte, per Genicksschuss ermordet und in Massengräbern verscharrt. Noch während des Zweiten Weltkriegs exhumierte die Deutsche Wehrmacht die Toten und nutzte die Entdeckung für ihre Propaganda, während die Sowjets 1943 eine eigene Untersuchungskommission aufmarschieren ließ, um die Taten den Deutschen anzulasten. In Polen gab es bis Ende der 1980er Jahre keine Möglichkeit, dem Propaganda-Mythos etwas entgegenzusetzen – erst am 13. April 1990 gestand Gorbatschow die sowjetische Alleinschuld an den Massakern ein.

Wer die DVD startet, sieht zuerst Wajda, der vor dem Film eine kurze Erklärung abgibt, in der seine Betonung der deutsch-polnischen Freundschaft und der Rolle Polens in einem modernen Europa etwas altbacken daherkommt. Auch ich war irritiert. Vielleicht liegt dies daran, dass einem schnell die historische Sensibilität abhanden kommt. Sie ist allerdings gefordert, wenn man sich mit etwas mehr als nur der eigenen Geschichte beschäftigt – wenn dies überhaupt noch geschieht. Für den 84-jährigen Wajda, der nicht nur den Einmarsch der Deutschen in Polen erlebte, sondern auch die bewegte polnische Nachkriegsgeschichte (Wajda wurde als Kandidat der Solidarność in den polnischen Senat gewählt) ein wenig mitgestaltete, dürfte das demokratische Europa einen anderen Stellenwert besitzen als für den (west-)deutschen Kinogänger, der sich heutzutage mehr Gedanken über die Zukunft des Euro als über die Geschichte seines mehrfach überfallenen und geteilten Nachbarn macht.

Geschichte im Fast Forward
„Das Massaker von Katyn“ beginnt mit einer Aufnahme, die plakativ, aber eben auch genau diese polnische Zerrissenheit zeigt: es ist 1939, über ein Brücke hasten hunderte polnische Familien auf der Flucht vor den Deutschen, aus entgegengesetzter Richtung fliehen aber ebenso viele, denn die Russen haben die polnische Schwäche ausgenutzt und sind im Osten einmarschiert. Nur wenig später zeigt Wajda deutsche und russische Offiziere, die in bestem Einvernehmen über die Zerschlagung der polnischen Führungsschicht verhandeln. Die Deutschen schicken die akademische Führungsschicht nach Dachau, die Russen nehmen sich der militärischen Elite an und werden zudem über 100.000 Zivilisten in russische Gulags verschleppen.

Andrzej Wajda erzählt die Geschichte sehr elliptisch, fast jede Szene wird datiert und markiert einen Abschnitt der historischen Gesamtstrecke. Die Zeitsprünge sind oft groß, Überflüssiges wird weggelassen, nichts ist verschlüsselt – was Wajda sagen will, verbirgt sich nicht hinter komplexen psychologischen Konstellationen, fast etwas schulfunkhaft repräsentieren seine Protagonisten wichtige historische Schnittstellen, in denen das Private aufgegangen ist. Charismatische Figuren fehlen, es gibt keine Identifikation mit Helden, es gibt kein Schindler-Feeling. Ein Beispiel: Kurz vor Schluss lernen wir den polnischen Studenten Tadeusz kennen, der für den polnischen Widerstand gekämpft hat und angeekelt die russischen Besetzer provoziert. Fünf Filmminuten später ist er tot. So kappt Wajda alle Erwartungen an eine klassische Dramaturgie und verteilt die Erzählung auf unterschiedliche Schultern: Exemplarisches im Schnelldurchlauf.
So sehen wir am Anfang Andrzej, einen Offizier, der von den Sowjets interniert wird und sich weigert, mit seiner Frau Anna zu flüchten, weil für ihn Eid gegenüber der geschlagenen Armee das Wichtigste ist; in Krakau werden die Professoren von den Nazis gedemütigt und deportiert; die Frau eines Generals versucht, etwas über den Verbleib ihres Mann zu erfahren und wird von den Deutschen zur Kollaboration gedrängt, während in den Straßen über Lautsprecher die Totenlisten aus den Massengräbern verlesen werden.

Während der Film zunächst zwischen dem sowjetischem Gefangenenlager, in dem Andrzej ein Tagebuch führt, und den Schicksalen der männerlosen Frauen in Krakau hin- und herschneidet, zerbrechen im letzten Drittel die narrativen Kohäsionskräfte endgültig, nur noch schlaglichtartig werden Schicksale erzählt: nach der Befreiung Krakaus durch die Rote Armee wird Katyn von der sowjetischen Propaganda den Deutschen in die Schuhe geschoben, während das ‚neue’ Polen bereits mit historischen Aufräumarbeiten beginnt. Historische Zeugen des Massakers verschwinden; Studenten, deren Väter ermordet wurden, müssen ihre Lebensläufe der neuen Lesart anpassen; Jerzy, ein Freund Andrzejs, will sich als einer der wenigen Offiziere, die Katyn überlebt haben, zunächst arrangieren, erschießt sich aber verzweifelt, während eine Überlebende des Warschauer Aufstands ihrem in Katyn ermordeten Bruder einen Grabstein mit dem wahren Todesdatum meißeln lässt und dafür in den Kellern des Geheimdienstes verschwinden. So verschwinden halt die meisten Figuren aus Wajdas Film, so wie sie auch aus der Geschichte verschwunden sind.
Wajda deutet im letzten Drittel des Films die schmale Grenze zwischen Kollaboration und Widerstand in der Volksrepublik Polen nur noch als flüchtige Skizze an und springt dafür abrupt zurück ins Jahr 1940, um zwanzig Minuten lang mit fast dokumentarischer Genauigkeit die Arbeit der Erschießungskommandos zu zeigen, ehe der Film nach diesen schwer zu ertragenden Bildern mit einem langen Schwarzbild und der Musik von Krzysztof Penderecki endet.

Abgesang auf den Realismus
Wer soll sich so einen Film anschauen? Deutsche Schüler und Studenten, die bereits Schwierigkeiten mit den Eckdaten deutscher Geschichte haben, wohl kaum. Ihre polnischen Altersgenossen sollen im Kino geweint haben, aber berührt uns das noch, während wir von den Medien fast täglich mit frischen Grausamkeiten versorgt werden?
Andrzej Wajda hat lange Jahre an seinem Drehbuch gearbeitet und mit fast manischer Akribie Szenen entwickelt, die fast ausnahmslos durch historische Dokumente belegt sind. Nichts Künstliches, nichts Erdachtes sollte in die Fiktion einsickern, die ein Film letzten Endes immer ist und bleibt. Natürlich ist das Manische daran eben auch eine Antwort auf jahrzehntelange Lügen, aber es scheint auch ein trotziges Beharren auf einer Form von filmischem Realismus zu sein, die möglicherweise vor dem Aussterben steht: Ehrlichkeit, Exaktheit der Recherche, keine klassische Dramaturgie mit ihrem Identifikationspotential und den zwangsläufig damit verknüpften Entlastungsangeboten, Sujets, die von uns berichten, unserem Leben, unserer Geschichte, auch wenn Hollywood ein ähnliches Thema dem Publikum in bester 3-D-Qualität untergejubelt hat – falls es dies bemerkt hat.

„Solange es keine Filme und keine Literatur gibt, die die Fakten darstellt, existiert das Ereignis nicht im kollektiven Bewusstsein. Das sollten sie aber“, erklärte Wajda. „Es gibt die Überzeugung, dass eine Gesellschaft ohne Intelligenz eine Gesellschaft ohne Erinnerung, ohne Gedächtnis ist. Ohne Gedächtnis sind wir aber nur ein Sammelsurium, das man jederzeit zerstören kann.“

Der deutschsprachigen Kritik fehlte gelegentlich das Verständnis, aber nicht durchgehend. Es ist immer interessant zu sehen, was in Kritikerköpfen vorgeht und der eine oder andere Einwand kann durchaus ernst genommen werden. Wenn auch nicht jeder.
Rüdiger Suchsland erkennt in dem Film „Polit-Kitsch im Dienst der guten Sache“, Michael Kienzl reibt sich etwas differenzierter auf critic.de an der Narrativik, der es „an einer dramaturgischen Einheit (mangelt). Mehrmals schwankt er zwischen einer linearen, auf ein Einzelschicksal gerichteten Erzählweise und einer episodischen und fragmentarischen Struktur… Häufig...bleiben die Figuren leblose Illustration einer These.“ Und Ekkehard Knörer gehen in der TAZ ganz und gar die Gäule durch: ihm fehlt gar „ein Befreiungsschlag durch kühn kontrafaktische Fantastik, wie er Quentin Tarantino mit seinen "Inglourious Basterds" gelang, (dies) liegt einem Vertreter der Erzmoderne wie Wajda denkbar fern. So wählt er für seine Elegie das realistische Register und damit die naivste bildpolitische Variante.“
Hier hält wenigstens Andreas Kilb in der FAZ dagegen: „Der Film zerfällt in zwei Teile, eine lange Erzählung der Lebenden und eine kurze Erzählung der Toten, und es ist gerade diese Uneinheitlichkeit, diese dramaturgische Unwucht, die Andrzej Wajdas „Massaker von Katyn“ so faszinierend macht.“

Mein Fazit fällt etwas anders aus, zumal ich in einem realistischen Duktus zum Glück immer noch nicht die ihm innewohnende bildpolitische Naivität entdecken kann: den Andrzej Wajda, den ich kannte, habe ich nicht wieder gefunden – den raffinierten, intellektuell herausfordernden Filmemacher von „Der Mann aus Marmor“ und „Der Mann aus Eisen“, der Geschichtslektionen mit formal abgründigen Medienanalysen verknüpft hat und Meisterwerke des europäischen Kinos geschaffen hat.
In „Das Massaker von Katyn“ ist mir ein Filmemacher begegnet, dessen Alter die denkbare Option, nämlich im Kino der Suche nach ästhetischen Innovationen noch Bedeutung beimessen zu wollen, abhanden gekommen ist. „Das Massaker von Katyn“ schert sich nicht darum, der Film ist weder emotional noch pathetisch und ganz gewiss fehlt ihm die auch die gewohnte dramaturgische Einheit. Wajdas Film ist streng und reduziert und verzweifelt. Diese Begegnung von Kino und Purgatorium hat sich mir eingeprägt.

Noten: BigDoc = 2