Donnerstag, 17. November 2011

The Tree of Life


USA 2011 - Regie: Terrence Malick - Darsteller: Brad Pitt, Sean Penn, Jessica Chastain, Fiona Shaw, McCracken, Laramie Eppler, Tye Sheridan, Joanna Going, Jackson Hurst, Crystal Mantecon - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 138 min.

(Die zitierten Forumsbeiträge wurden unbearbeitet übernommen. Dies gilt auch für Orthografie und Interpunktion etc.)

Es sind gewaltige Bilder, schönste Stille, ruhige Musik, eine wahre Botschaft. Es ist ein Film, der das Leben zeigt, nicht nur das Leben eines Menschen, das Leben der ganzen Welt. Noch nie habe ich ein derart ergreifendes Meisterwerk gesehen und ich würde es jedem, der noch nicht im vollkommen schnellen Sog der alltäglichen Welt versunken ist, jedem, der noch ein wenig Zeit hat, ans Herz legen, sich diesen Film anzusehen! (Forumsbeitrag)
Ich kann nur 22 Minuten und 18 Sekunden dieses Films beurteilen, da mir mein Player dann leid tat. Er flehte mich an, dieses Trauerspiel zu beenden, da er sich ansonsten meucheln würde - und ich solle doch an die vielen schönen Stunden denken, die wir schon verlebt hatten (Forumsbeitrag).

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Mir hat Terrence Malicks neuer Film „The Tree of Life“ sehr gut gefallen. Allerdings hatte ich keine überwältigenden emotionalen Erlebnisse. Auch spirituelle Erfahrungen wollten sich nicht einstellen. Ich spürte weder Erhabenheit noch völlige Verständnislosigkeit, sondern eine überwiegend sehr kontrollierte Freude an dem Film. Meine Erinnerungen glitten zurück zu Tarkowskis „Der Spiegel“, aber auch zu dessen Film „Stalker“. Beide sind ähnlich hermetisch wie „The Tree of Life“, aber möglicherweise von anderen Grundsätzen geformt worden, wobei Malicks und Tarkowskis Subjektivismus wohl zwangsläufig zu einigen Bildern geführt hat, die nur dem jeweiligen Regisseur etwas bedeuten können. Andere lassen sich besser deuten, wenn man bereit ist, ein wenig in die Tiefen des Kaninchenbaus hinabzusteigen.
Andrei Tarkowski ist neben Malick der andere große Monomane des Kinos, der nicht weniger von der Kunst erwartet als ‚Welterfahrung‘, ‚Sinn‘ und ‚Wahrheit‘. Alles sehr enigmatisch und mitunter weit entfernt von psychologisch-realistischen Erzählweisen mit ihren zielgelenkten Projektionen begrifflicher und vernünftiger Analyse. Aber Tarkowski hat sein Programm kommuniziert.
Was Malick bewegt, weiß man nicht. Er redet nicht zu uns. Seine Filme tun dies. Und wie bei der menschlichen Sprache sind Missverständnisse vorprogrammiert, vielleicht sogar als Teil des Programms.
Bei beiden Regisseuren stellt sich ein freier Fluss der Assoziationen ein. Und wenn man sich „The Tree of Life“ so anschaut, wie man Musik hört, dann wird man als Zuschauer zu einer Art von Resonanzboden, der Schwingungen erzeugt, die wiederum Erinnerungen auslösen, die man nicht ohne Weiteres erwarten konnte. Das ist doch schon eine Menge, oder?

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Ich habe "Der schmale Grad" (1) gesehen und war deshalb mit dem etwas eigenwilligen Stil von Terrence Malick vertraut. Aber was uns hier zugemutet wird, spottet jeder Beschreibung. Ein pseudophilosophisches Werk, das wohl nicht mal Terrence Malick zu verstehen weiß, wird hier dargeboten (Forumsbeitrag). (1) Hier muss ich dann wohl eingreifen, da der dts. Verleihtitel nun einmal „Der schmale Grat“ lautet, was durchaus ein wichtiger Unterschied ist.

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Fremdartigkeit, dieser unvorhersehbare Ausbruch von Originalität, kennzeichnet diejenigen Kunstwerke, die nachfolgenden Generationen immer wieder Rätsel aufgeben, Debatten und ehrfurchtsvolles Staunen auslösen (Paul Schrader). 

Ein grundsätzliches Problem bei der Wahrnehmung vom Kunstwerken besteht darin, dass viele Menschen keine klare Vorstellung davon besitzen, was ‚Verstehen‘ für sie bedeuten kann. Sie suchen nach einer Version des objektiven Verstehens und es ist in diesem Kontext sinnvoll, Paul Schraders Aufsatz über Aufstieg und Fall des Kanons zu lesen, der eben nicht nur von den Kriterien der Kanonisierung in Literatur und Film berichtet, sondern auch von der Konfrontation tradierter Kunstvorstellungen und ihren Masterpieces mit dem vermeintlichen Trash der Unterhaltungsindustrie und den Dekonstruktionen der Moderne und Post-Moderne: „Kanonfutter – All die Filme, ohne die wir nichts wären“ (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino-kanonfutter-all-die-filme-ohne-die-wir-nichts-waeren-1410840.html; Kanonfutter ist kein Rechtschreibfehler, ich zitiere die Quelle wortwörtlich).
Neben diesen historischen Aspekten gibt es auch (kunst)-psychologische: so existiert auch ohne explizite Kenntnisse kunsthistorischer Debatten bei vielen Menschen ein Spannungsfeld zwischen der Vorstellung, dass Kunst bestimmten Regeln unterworfen werden kann und muss, die man lernen kann und muss, damit man am Ende etwas versteht, und der völlig entgegengesetzten Erfahrung, dass plötzlich unerklärliche, oft bedrohlich empfundene Stimmungen entstehen, die sich nicht an Regeln halten, sich nur schwer deuten lassen und vor denen die gewohnten Deutungsgewohnheiten schlichtweg versagen. In der recht kurzen Rezeptionsgeschichte von „The Tree of Life“ kann man dies recht gut nachzeichnen, denn selten konnte man so viele kontroverse und widersprüchliche Reaktionen lesen – von normalen Kinogängern bis hin zu Kritikern, die in einigen Fällen die Contents genau zusammenfassen, aber bei der Conclusio das Handtuch werfen oder sich in Allgemeinplätze flüchten.
Die meisten Menschen wollen keine Unklarheiten, sie wollen Gewissheiten. Wenn man ihnen folgend Regeln anwendet, so soll man gemäß der Vorstellung vieler und besonders im Alltag technisch orientierter Manschen aus dem Werk etwas extrahieren, was man je nach Laune ‚Sinn‘, ‚Aussage‘ oder ‚objektiven Gehalt‘ nennen kann. Viele Menschen sind so, ohne es zu wissen, irgendwie Romantiker oder irgendwie Hegelianer oder befinden sich an der Schwelle zum 19. Jh. -  einer Zeit, in der eine Ästhetik als Wissenschaft vom Schönen mitsamt ihrer Kanons eine Reihe apodiktischer Gebrauchsanweisungen für eine ‚richtige‘ Ausdeutung gab. Das erinnert mich immer ein wenig an technische Anleitungen wie etwa „Wie flicke ich einen kaputten Fahrradschlauch?“. Trotzdem: das Bedürfnis nach Derartigem ist auch heute ungemindert und es ist nicht unberechtigt.

Zu bedenken ist: wie sieht die Gegenthese aus?
In allen Zeiten war Bildungsferne ein Auslöser für Unverständnis – heute erscheint diese in Form schneller Meinungen. Voreiliges Urteilen und die Gültigkeit des Vor-Urteils hat es schon immer gegeben: Das digitale Zeitalter hat dies lediglich potenziert und es gibt mittlerweile wohl einen inneren Treib, sofort und ad hoc anderen etwas mitzuteilen – selbstverständlich ohne längeres Nachdenken.
Da Kunst sich nicht versteckt, erst recht nicht in ihren populären Erscheinungsformen, hat mittlerweile jeder sofort eine Meinung, und die vervielfältigt sich im Internet genauso schnell wie das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. War es früher das Privileg gebildeter Bürger, mehr zu wissen und dies offen zu kommunizieren, ist es heute eine Notwendigkeit, anhaltend zu schweigen, um nicht im Mahlstrom des Geplappers unterzugehen. Doch auch das hilft nicht wirklich.
Geplapper führt häufig in ein spekulatives Reich der Stimmungen und Gefühle, der Wut und der Aversionen, ein Reich, das sich mit einer Reihe von Prädikaten umgibt: schön, hässlich, erhaben, langweilig und kitschig, hochtrabend und intellektuell (dass Letzteres zum Attribut des Negativen werden würde, habe ich mir allerdings nicht träumen lassen). Dies sind in der Praxis sehr subjektive Wahrnehmungen, aber sie sind nicht illegitim.
Man kann „The Tree of Life“ wie eine Symphonie in sich aufnehmen, aber ob man anderen anschließend von dem Film berichten kann? Was ich nich ohne Weiteres toleriere, sind die Botschafter des Unbedingten, die uns mit großer Militanz einige der angeführten Attribute nur so um die Ohren hauen, denn sie tragen leider – darauf hat schon Kant hingewiesen – ihre Sache mit dem Anspruch auf Gültigkeit vor. Dann heißt es „Dieser Film ist kitschig“, aber nicht „Der Film war für mich kitschig“.
Sprache hilft halt beim Totschlagen.

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-The Tree of Life- ist ein Film für stille Stunden. Für Besinnung und Ruhe.
Ein Schwergewicht, das nicht leicht zu konsumieren ist. Es gibt keine Action, keinen leicht erkennbaren Sinn hinter all diesen Bildern
(Forumsbeitrag).
Meine Freundin hat mich angefleht das Kino zu verlassen, leider habe ich nicht auf sie gehört und die Hoffnung bis zum Ende des Films nicht aufgegeben. Ich bereue es bis heute. Und entschuldige mich hiermit ganz doll bei meiner Freundin. Es tut mir leid!! (Forumsbeitrag).

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Natürlich ist Malick größenwahnsinnig. Am Anfang und am Ende des Films zeigt er uns einen Nebel voller Licht und Farben.
Gott?
Das kann jeder halten wie er will. Jeder wirklich interessante Künstler hat eine ganz persönliche Sicht der Welt. Bei David Lynch findet man das Hässliche im Schönen, bei Terrence Malick sieht man oft das Schöne im Alltäglichen. Jedem, dem dies nichts bedeutet, kann zumindest versuchen, darüber nachzudenken, wie oft oder wie selten wir überhaupt noch ruhig etwas anschauen können, ohne gleichzeitig die Deutungsmaschine im Kopf anzuwerfen. Und die, falls ihr nichts einfällt, den einen oder anderen zwingt, die entstandene Leerstelle mit Spott zu füllen.

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Alles in allem ein Film der nichts neues bietet, weder neue Fragen aufwirft noch beantwortet. Ein Film der Raum lässt zur Selbstinterpretation, leider viel zu viel davon (Forumsbeitrag).

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Am Anfang wird im Off vom Weg der Gnade und vom Weg der Natur berichtet. Beides wird definiert und die Gnade erscheint als etwas Friedvolles und als Eins-Sein mit der Natur, was natürlich allen esoterisch gestimmten Menschen schon in „Dances with Wolves“ und zuletzt in „Avatar“ so gut gefallen hat.
Die Natur ist in „The Tree of Life“, so lässt es eine erste vordergründige Deutung erkennen, quasi die populärwissenschaftlich und auf wenige Begriffe heruntergebrochene Version des Darwinismus, der besonders von oberflächlich Hinschauenden immer als brutaler Struggle for Life verstanden wird und auch von Skeptikern nolens volens in sozialdarwinistische Philosophiekonzepte hineingelesen wird. 

In „The Tree of Life“ besteht der einzige vertraute narrative Faden darin, dass Malick uns diese beiden Prinzipien an der Familie O’Brien vorzuführen scheint, die zu Anfang vom Tod eines ihrer drei Söhne erfährt. Gnade und Natur treten uns bei der Reise durch die Familiengeschichte, die überwiegend in der 1950er Jahren spielt, in Gestalt der liebevollen Mutter (Jessica Chastain) und des strengen Vaters (Brad Pitt) gegenüber, der als leitender Angestellter in einer Raffinerie arbeitet, zahlreiche Patente sein eigen nennt, und seine Söhne zunehmend mit äußerster Strenge zu Männern erziehen will, die sich im Struggle for Life behaupten können.
 
Bevor Malick uns dies zeigt, führt er uns in einer Zeitreise zurück an die Anfänge des Seins, zum Big Bang, und rast mit uns durch die Evolutionsgeschichte des Kosmos, dann hin zur Entstehung der Erde und zur Entwicklung der Arten.
Natürlich erinnert dies optisch an Kubricks „2001“ (tatsächlich hat Kubricks Trickspezialist Douglas Trumbull auch in „The Tree of Life“ mitgewirkt), aber Kubrick und Malick unterscheiden sich essentiell voneinander. Hier sei nur angemerkt, dass Malicks bildgewaltige Tour de Force durch die Äonen offen für Fragen ist: Alles göttlicher Plan oder schön anzuschauender Zufall? Nur eins ist klar: dass die ein wenig von Hybris geprägte Reise in Texas endet, bei einer auf den ersten Blick nicht ungewöhnlichen Familie, hat wohl etwas Exemplarisches. Nur ist es, wie wir sehen werden, nicht leicht  aufzudröseln.

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Schade um die Zeit, die ich mit diesem Film verschwendet habe. Ich denke, dass hier der Versuch unternommen wurde besonders hochtrabend und intellektuell zu wirken. Geht voll in die Hose! (Forumsbeitrag)

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Gnade und Natur, dualistische Prinzipien, die walten: philosophisch ist die Projektion von Dichotomien auf unser Leben offenbar ein roter Faden, der unsere Geschichte durchläuft. Auf der Suche nach dem Sinn zerfällt alles in antagonistische Begriffe: Tod und Leben, Liebe und Hass, Gewalt und Frieden, Wahrnehmen und Denken.
Auch Malicks Version von Gnade und Natur, die programmatisch dem Film vorangestellt wird, bedient diese fest in uns verankerte und offenbar apriorische Denkform, die förmlich nach strenger Gesetzmäßigkeit riecht und so herrlich plausibel wirkt.
 
Manchmal weiß ich aber nicht, ob dies nicht doch nur Gestank ist, der über die Jahrtausende aus dem Erbe platonischer Schulung emporsteigt – die Welt der Erscheinungen wird profanisiert, weil hinten den Dingen eine göttliche Wahrheit waltet. 
Und um die geht es, ist doch alles andere unheilig.
Mit all den Wesensgewissheiten, die wir auf diese Weise gewinnen, nähern wir uns aber schlimmstenfalls auch einer Schwammigkeit, die alles oder nichts meint. Das vermeintlich so sauber geordnete dichotomische Universum dröhnt „Gute oder böse: Wähle!“ und verschweigt uns so die recht banalen Grautöne und auch den Blick auf das Zufällige und Zerstreute.
Gerade die ehrfurchtsgebietende Pose Malicks ist mir daher doch das eine oder andere Mal auf die Nerven gegangen. Sein Film ist mitunter ein Fass ohne Boden, das empfänglich ist für Deutungen jedweder Art: die berüchtigte Saurierszene kann man als Versöhnung zwischen der barbarischen Natur und der Gnade deuten, oder auch, abhängig von der Stimmungslage, als puren und lächerlichen und bedeutungslosen Zufall, als Tatsache ohne Idee.
Bereits in „The Thin Red Line“ zeigt uns Malick bereits beide Optionen in der Auseinandersetzung zwischen dem skeptischen Edward Welsh (Sean Penn) und dem spirituellen Private Witt (James Caviezel): die Welt (Natur) ist erhaben (Witt) und eine metaphysische Theaterbühne oder sie ist völlig entzaubert (Welsh); sie kümmert sich nicht um die Männer, die sich bei den Kämpfen um einen Hügel abschlachten. Ein Eingeborener geht achtlos an den Soldaten, die sich der Kampfzone nähern, vorbei.
Beide Sichtweisen sind offenbar möglich, wir müssen uns nur entscheiden, auf irgendeine Weise Malicks Fragen zu beantworten: „Dieses Böse, woher kommt es? Wie stiehlt es sich in diese Welt?“ und „Wie kam es, dass wir das Gute verloren, das uns gegeben war?“.
Das wird in „The Thin Red Line“ im Off gefragt. Vielleicht ist die Welt ja trotz ihrer Pracht, die eine menschliche Anschauungsform ist, nur eine Ansammlung gleichgültiger und zufälliger Tatsachen? Vieles weist daraufhin, dass Malick dies ganz anders sieht.

Kino gegen die Entzauberung

Null Handlung, zwischendurch immer Ausschnitte aus Naturdokumentationen, kaum Dialoge und der ganze Film ist echt langatmig. Er dauert fast 2h. Verstehe echt nicht, wieso sich zwei so gute Schaupieler für sowas hergeben, echt nicht (Forumsbeitrag).

Wie finde ich das Glück? Wie kann ich Schönheit wahrnehmen und ihr Relevanz beimessen? -Ich weiß es nicht, du weißt es nicht, der Film weiß es nicht, aber wir arbeitet stetig daran es uns zu erklären. Ein unfassbares Meisterwerk! (Forumsbeitrag)

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Um an dieser Stelle etwas Greifbares anzubieten, möchte ich Eric Repphuns Aufsatz „Look Out Through My Eyes: The Enchantments of Terrence Malick“ vorstellen (http://escholarship.library.usyd.edu.au/journals/index.php/SSR/article/viewFile/711/703.)

Repphun ist Dozent an der University Otago, New Zealand, und hat als Religions- und Filmwissenschaftler bemerkenswerte Brückenschläge zwischen Religion und Popularkultur hergestellt (ich empfehle Genrefreunden besonders seinen Aufsatz 'You Can't Hide from the Things that You've Done Anymore: Battlestar Galactica and the Clash of Civilisations Debate'. Westminster Papers in Communication and Culture, Spring 2011: http://www.westminster.ac.uk/__data/assets/pdf_file/0003/116616/eWPCC_Vol8issue2.pdf).

Das titelgebende Enchantment bedeutet in Repphuns Arbeit über Terrence Malick nicht nur ‘Zauber‘, sondern viel mehr ‚Wieder-Verzauberung‘ im Sinne von Re-Enchantment. Sie ist die philosophische, religiöse und künstlerische Antwort auf die Entzauberung der Welt durch die Säkularisierung des Westens im Zeitalter der Industrialisierung. Repphun führt als Kronzeugen nachdrücklich Max Weber und sein Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ an, bezieht sich dabei explizit auf eine Interpretation des britischen Soziologen Nicholas Gane: “The transition to modernity is driven by a process of cultural rationalization, one in which ultimate values rationalize and devalue themselves, and are replaced increasingly by the pursuit of materialistic, mundane ends. This process of devaluation or disenchantment, gives rise to a condition of cultural nihilism in which the intrinsic value or meaning of values or actions are subordinated increasingly to a “rational” quest for efficiency and control.”
Die Moderne als Prozess einer zerstörerischen Rationalisierung, bei dem unschätzbare Werte sich selbst zerstören und im Profanen einer nur an Zwecken orientierten Effizienz landen - ein Prozess, den Weber selbst nicht ohne Weiteres für umkehrbar hielt.

Kennen wir diese Kritik nicht? Ist es nicht der Fundus der kulturkonservativen Gegenrevolte? Repphun zeigt in seinem Aufsatz, wo man dabei landen kann: in magischen Welten, banaler Wellness-Spiritualität – oder in einer neuen, an Werten orientierten Rationalität.

Damit ist der Kriegsschauplatz abgesteckt. Auch wenn uns dies nicht gerade zügig zu Malick führt, so erfährt man doch einiges und Repphun verweist auf eine Reihe aktueller Beispiele in der angelsächsischen Debatte über ein Denken, das religiöse oder kulturkritische Antworten auf die Entzauberung der Welt bereithält. Sie fordert in letzter Konsequenz die Restaurierung der prä-technologischen voraufklärerischen Gesellschaft mit einer neuen, alten Kultur, in der Seele und Kosmos (wieder) vereint sind und der die Welt wieder verzaubert wird.

Für Repphun liegt die Schlussfolgerung auf der Hand - Terrence Malick gehört zu den Vertretern dieser neo-konservativen Denkrichtung, die in der Wiederentdeckung der Verzauberung eigentlich eine neue, alte transzendentale Spiritualität erkennen: (he) “is one of the great contemporary artists whose work both represents and participates in the process of re-enchantment. Malick’s work is often discussed in religious terms and there are good reasons to approach his films from a religious standpoint, as we approach him here from the standpoint of reenchantment.”

In der Filmgeschichte tritt uns diese grundlegende Form der Rückbesinnung als ‘transzendentaler Stil’ gegenüber, so wie ihn Paul Schrader 1972 in Transcendental Style in Film und unter Bezugnahme auf Yasujiro Ozu, Robert Bresson und Carl Dreyer beschrieben hat.
Was andere möglicherweise als Sujet erwarten, ist für Schrader zunächst Stil, der sich durch drei Eigenschaften und Erzählhaltungen auszeichnet: die Beobachtung des alltäglichen Lebens, das Motiv der zunehmenden Uneinigkeit (wir würden eher von Entfremdung reden) zwischen den Menschen und ihrer Umgebung (der Natur?) und zuletzt die Beschreibung des Stillstands, ein erstarrter Zustand, der die Entfremdung nicht überwindet, aber transzendiert: „Complete stasis, or frozen motion, is the trademark of religious art in every culture.
It establishes an image of a second reality which can stand beside the ordinary reality; it represents the Wholly Other” (Schrader, ebd., S. 49) und über Ozu (was Repphun nahtlos auch für Malick als zutreffend bezeichnet): „In effect, he accepts a construct such as this: there exists a deep ground of compassion and awareness which man and nature can touch intermittently. This, of course, is the Transcendent.”
 
Der Schritt zu André Bazin ist natürlich nicht weit und dieser merkte zu Robert Bressons “Diary of a Country Priest” an, dass die Transzendenz der Gnade etwas ist, was wir in aller Freiheit ablehnen können.
„This form of transcendence”, so folgert Repphun, „is deeply ironic and unquestionably postmodern, and we can see it in Malick’s films. Like Bresson, who lamented the rising secularization and industrialization of Europe and Ozu, who grappled endlessly with the Westernizing of Japan following the Second World War, in this irony Malick’s films are studies in loss, elegies for a vanished world.”

Stilistisch, so Repphun, erleben wir Parallelen zwischen Ozu und Malick in den ‘Codas’, langen statischen Einstellungen von Natur oder Wasser, mit denen Ruhe und Stille Einzug halten. Wenn wir Codas „The Thin Red Line“ sehen und auch in „The Tree of Life“, so steht dies wie auch in anderen Filmen Malicks ein, so Repphun, für die Wiedervereinigung von Geist und Körper, Menschlichkeit und Natur, Wissenschaft und Religion, Kunst und alltäglichem Leben.

Disparates
So spannend diese luzide Deutung auch sein mag, ich sehe hier einige Probleme in Hinblick auf „The Tree of Life“. Zum einen macht es wenig Sinn, den Weg der Gnade und den Weg der Natur als rivalisierende Gegensätze zu beschreiben, denn damit würde Malick urplötzlich eine andere Sicht der Natur als in "The Thin Red Line" anbieten und dies steht im Widerspruch zu Repphuns Deutung. 
Oder ist hier der aktuelle Zustand unserer gesellschaftlichen Natur als einer entfremdeten gemeint? 
Im Gegensatz zu der Stringenz, die man in „The Thin Red Line“ entdecken kann, wirkt der Natur-Begriff in Malicks „The Tree of Life“ daher irgendwie kontingent. Oder macht sich Malick einen Spaß daraus, seinen eigenen Themenpark ein wenig durcheinander zu wirbeln?

Nach Malicks 20-minütigem rauschhafter Tour de Force vom Big Bang bis zu den Sauriern landet der Zuschauer in Texas. Ist das die Quintessenz der Evolution? Steht am Ende des göttlichen Plans eine zunächst glückliche Familie, die immer mehr Zerstörendes in sich aufnimmt („Wie kam es, dass wir das Gute verloren, das uns gegeben war?“).

Sieht man sich den Teil der Erzählung an, der sich mit der Familie O’Brien beschäftigt, so bietet es sich an, die Figur des Vaters als Repräsentanten der technischen Intelligenz zu deuten – einen Patriarchen, der gleichzeitig aber auch einen Wertecodex vertritt, der sich aber nicht ausschließlich einem darwinistischen Selbstbehauptungswillen verdankt. Im Gegenteil, die Figur wird nicht durchgehend als unsympathisch dargestellt und darf an einer Stelle sogar sagen „Die Pracht um uns herum“, so als würde Malick die Charaktere von Caviezel und Pitt amalgamieren. Klar ist aber, dass die Figur des Vaters einen Riss in der Familie erzeugt, der sich Hass seines Sohnes Jack niederschlägt, der sich als Erwachsener (Sean Penn) traumatisiert durchs Leben schlägt.
Und die Mutter? Sie ist eine vage Nebenfigur in dem Patriarchat, die – bei allem Wohlwollen irgendwie zwischen anti-autoritärer Erziehung und Blümchen-Esoterik niederlässt. Tiefere Einsichten liefert diese Figur nicht, genauso wenig wie die Figur des erwachsenen Jack, der merkwürdig durch den Film geistert. 
Erst vor kurzem hat sich Sean Penn geoutet (http://latimesblogs.latimes.com/movies/2011/08/sean-penn-terrence-malick-tree-of-life-critical.html) und festgestellt, dass ihm seine Rolle in dem Film unverständlich geblieben ist: "I didn’t at all find on the screen the emotion of the script, which is the most magnificent one that I’ve ever read. A clearer and more conventional narrative would have helped the film without, in my opinion, lessening its beauty and its impact… Frankly, I’m still trying to figure out what I’m doing there and what I was supposed to add in that context. ... Terry himself never managed to explain it to me clearly."
Am Ende darf Penn mit anderen Menschen über einen Strand wandeln und so etwas wie Versöhnung erfahren. Eine Szene, die auffällig mit Nahtoderfahrungen übereinstimmen, so wie sie von Betroffenen häufig als ‚Gemeinschaft der Glückseligen‘ beschrieben wurde.

Aber was hat dann das Filmende thematisch und inhaltlich mit den Auszügen aus dem Buch Hiob zu tun, das alttestamentarisch von einer Wette zwischen Gott und dem Satan berichtet? Ist der menschliche Teil der Evolutionsgeschichte etwa der satanische Anteil dieser Wette und die Versöhnung mit Gott nach allen Peinigungen eine Gnade, die er ohne eigenes Zutun erwirbt?

Der Verfasser dieser Zeilen muss (im Moment) eine Antwort schuldig bleiben und je tiefer er in den Kaninchenbau vorgedrungen ist, desto weit verzweigter wird das Labyrinth der Gänge. Auf seiner Suche hat der Autor viele interessante Entdeckungen gemacht und er wurde auch inspiriert durch die Erfahrungswelt kenntnisreicher Filmliebhaber, von denen er dank des globalen Internets lesen durfte. Und vielleicht ist dies auch der Mehrwert dieser Arbeit.
Auch hat der Verfasser immer dafür plädiert, dass gute Filme wie alle Kunstwerke einen gewissen Grad an Mehrdeutigkeit besitzen müssen, weil sie uns so immer wieder neue Angebote machen. Und mal ganz ehrlich: selbst wenn es konsistente Ästhetik gäbe – wäre es nicht schrecklich, mit einer schlüssigen und widerspruchsfreien Deutung ins Kino zu marschieren? Wäre es nicht langweilig, in einer enträtselten Welt zu leben?

Nur ist leider so, dass die schillernde Mehrdeutigkeit eines Kunstwerkes an sich kein Perpetuum mobile ist und nicht unbegrenzt Energie zur Verfügung stellt, ohne dass ihm welche zugeführt wird. Vielmehr ist es das deutende Erkenntnissubjekt, das die Apparatur in Schwung hält, aber die Bauweise der technischen Konstruktion erlaubt uns dabei keine Willkürlichkeiten die Freiheit beim Deuten ist nicht unbegrenzt. Tradition, Thema und Sujet setzen im Regelfall Grenzen.
Terrence Malicks Stärke ist daher auch sein Schwachpunkt: der ehemalige Philosophielehrer und Übersetzer von Martin Heidegger (Man beachte Repphuns Anmerkung: „There is no denying that Heidegger’s unease over the nature of technology and its ever-increasing presence in human life underscores Malick’s films“) hat seine Filme so enigmatisch verschlüsselt, dass man mit der De-Codierung (zum Beispiel die leicht umformulierten Ausschnitte aus Gedichten von Woodsworth in „The Thin Red Line“) sein ganzes Leben verbringen kann. 
Der profunde Bildungsbürger Malick distanziert sich von den philosophischen Leichtgewichten und den romantischen Stimmungsgewinnern ‚da draußen‘ durch Schweigen und lässt eine schmale Tür nur für jene offen, die seinen Diskursen in aller Tiefe folgen können. Allen anderen erscheinen seine Filme, und dies gilt besonders für „The Tree of Life“, als Schwamm, der ohne mit der Wimper zu zucken, die widersprüchlichsten Deutungen aufsaugt.
Der Preis, den Malick zahlen muss, ist nicht gering: wahlloses Fabulieren, voreilige Trugschlüsse und Projektionen, wahllose Versimplifizierungen begleiten ein Werk, das zweifellos zu den wichtigsten im Kino gehört, aber immer dem Generalverdacht ausgesetzt ist, den Zuschauer arrogant abzuweisen.

Noten: Klawer, BigDoc = 1,5

Dienstag, 8. November 2011

Source Code


USA / Frankreich 2011 - Regie: Duncan Jones - Darsteller: Jake Gyllenhaal, Michelle Monaghan, Vera Farmiga, Jeffrey Wright, Michael Arden, Cas Anvar, Russell Peters, Brent Skagford, Craig Thomas, Gordon Masten, Susan Bain - FSK: ab 12 - Länge: 93 min. - Start: 2.6.2011

Kurz vor Chikago fliegt ein Personenzug in die Luft: ein Terrorakt, dem angeblich weitere folgen sollen. Und plötzlich wacht der Hubschrauberpilot Colter Stevens (Jake Gyllenhaal) in einem Zug auf (es ist DER Zug) und sitzt einer hübschen jungen Frau gegenüber, die ihn als eine Person anspricht, die er nicht ist.
Stevens weiß nicht, warum und wie in diese Situation gekommen ist. Ein Blick in den Spiegel verrät zudem, dass sein Bewusstsein sich offenbar in dem Körper eines anderen Mannes befindet. Es bleibt kaum Zeit, sich an den Schock zu gewöhnen und schon fliegt dem kampferprobten Soldaten der Zug um die Ohren. Er ist tot.
Das, was nun folgt, ist kaum besser: Stevens erwacht in einem Tank. Ein Monitor ist die einzige Möglichkeit mit der Außenwelt zu kommunizieren, aber er sieht dort nur den weiblichen Air-Force-Captain Coleen Goodwin (Vera Farmiga), der keineswegs zur Aufklärung beiträgt und ihn ihn ohne viel Federlesen zurück in den Zug schickt, wo sich alles zu wiederholen scheint.

Die Rätsel der Quantenphysik
Nein, Source Code ist kein Film über das ‚Leben nach dem Tod’ und es ist kein erneuter Beitrag zum Thema ‚Virtuelle Welten’. Nein, Duncan Jones’ Film ist vielmehr eine spekulative Abhandlung über die metaphysischen und ethischen Konsequenzen der Quantenphysik, genauer gesagt: der Many-Worlds-Interpretation (dts. Viel-Welten-Theorie) des Physikers Hugh Everett, die wiederum auf einer bestimmten, kontrovers diskutierten Deutung der so genannten Kopenhagener Deutung basiert. Und die wiederum beschreibt quantenmechanische Überlagerungszustände und unter anderem die Folgen, die eintreten, wenn man sie messen versucht.
Kollaps oder Konstanz? Zustandsbeschreibung oder doch reale Welt?
Wenn Everett Recht hat, dann existiert neben dem uns bekannten Kosmos eine schier unendliche Anzahl von Parallelwelten, wobei einige der unseren bis auf Nuancen ähnlich sind und in anderen Adolf Hitler den Krieg gewonnen hat.

Sie verstehen nur Bahnhof? Ja, das ist verständlich, denn die Quantenphysik versteht trotz verzweifelt bemühter populärwissenschaftlicher Werke möglicherweise nur eine Handvoll Menschen auf diesem Planeten, obwohl mittlerweile fast ein Drittel unser avancierten Technologien ohne die Postulate der Quantenphysik nicht funktionieren würden. Auch die Interpretation des vermeintlichen Paradoxons von „Schrödingers Katze“, die in einem Tank durch eine bestimmte Versuchsanordnung eine Fifty-Fifty-Chance hat, nämlich tot oder lebendig zu sein, wird nur selten verstanden. Die Idee, dass man als Beobachter über ihr Schicksal entscheidet, wenn man in den Tank schaut, wird häufig als empirischer Versuch interpretiert, während das berühmte Beispiel doch eigentlich nur aufzeigen will, dass die Katze beides zugleich ist – nämlich tot und lebendig, aber eben nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit.
So ein Thema ist im US-amerikanischen Kino an sich der Tod des Autors und seines Regisseurs, denn immer noch gilt, dass Filme narrativ und inhaltlich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, also den dümmsten anzunehmenden Zuschauer, heruntergebrochen werden müssen. So betrachtet grenzt es schon an ein Wunder, dass Duncan Jones seinen Film überhaupt machen durfte.

Schrödingers Katze meets „Und täglich grüßt das Murmeltier“
In Source Code begnügt sich Drehbuchautor Ben Ripley mit einigen sehr vagen Hinweisen auf eine neue Technik, die an dem Afghanistan-Veteranen Stevens ausprobiert wird: eine besondere Forschungseinheit der Army hat unter den Toten, die dem Anschlag zum Opfer gefallen sind, einen ‚kompatiblen’ Körper gefunden, dessen Gedächtnis-Engramme es mit einigen quantenmechanischen Tricks erlauben, Stevens in die letzten acht Minuten vor der Detonation zu versetzen, den so genannten Source Code. Dort soll er den Täter finden und nicht etwa das Unglück verhindern, denn die Opfer sind tot und die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.
Von nun an befindet sich Colter Stevens in einer Situation, die wir aus Und täglich grüßt das Murmeltier kennen: er weiß bei jedem Eintauchen in die acht Minuten immer mehr über die Ereignisse, die aber erstaunlicherweise in kleinen Nuancen voneinander abweichen. Mal findet er die Bombe, ist aber kurz danach tot. Und mal findet er einen falschen Täter und auch das hat fatale Folgen. Nur einmal gelingt es ihm, die hübsche junge Christina (Michelle Monagham) zu retten, aber das ist, so bedeuten ihm seine Auftraggeber, letztlich irrelevant.

Ähnlich wie in Moon, dem viel beachteten ersten Film von Duncan Jones, entfaltet sich in Source Code erneut das Schreckenspanoptikum einer depravierten Lebensform, die mehr ist als sie zu glauben weiß und die für andere nur verfügbare Biomasse ist. Sie hängt, obwohl sie fühlt und denkt und leidet, wie eine Marionette an den Fäden inhumaner Strippenzieher, die ihr Opfer zum Objekt erklären und zu einer verdinglichten Existenz verdammen. Der Weg zurück in das, was wir Menschsein nennen, besteht bei Jones allemal darin, das Singuläre der eigenen Existenz anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Viel Raum für 08/15-Moral lässt dies nicht.

Die Physik ist in Source Code kein McGuffin
Das Besondere an Source Code (den man vermutlich mehr als einmal sehen muss, um den raffinierten Plot wirklich in seiner ganzen Ambivalenz zu verstehen) ist der Umstand, dass der Kinogänger etwas über Quantenphysik verstehen muss. Diese ist nicht ein McGuffin oder eine leere Worthülse wie in anderen Filmen des Sci-Fi-Genres, sondern die conditio sine qua non, ohne die keine Logik beim Betrachten entsteht.
In Source Code glauben die verantwortlichen Wissenschaftler, dass sie kaum mehr als eine Simulation betreiben, die auf ihren informativen Gehalt geprüft werden kann. Tatsächlich aber landet Colter Stevens immer wieder in Paralleluniversen, die real sind und in dem die Menschen wie auch der Körper von Stevens Alter ego real sterben, nur dass Stevens immer wieder per Reset aufs Neue in ein anderes Paralleluniversum geschickt wird, in dem sich alles auf ähnliche oder besser gesagt: auf wahrscheinlich gleiche Weise wiederholt.
Dass die Rückkehr in einen Tank tatsächlich eine Illusion, ein Fake ist, bildet die perfide Spitze des Eisberges, denn Stevens selbst ist bereits selbst bei einem Einsatz in Afghanistan gestorben, während die Reste seines Körpers künstlich am Leben erhalten werden, damit seine noch vorhandenen Hirnströme den Weg in eine andere, nur probalistisch zu beschreibende Realität finden.

Und da Kino keine Handreichung à la ‚Per Anhalter durch die Quantenphysik’ ist, sondern handfeste moralische und emotionale Konflikte benötigt, besteht die Quintessenz in Source Code darin, dass der sehr empathische Held am Ende die Versuchsanordnung besser versteht als seine gefühlskalten Schöpfer: Es war keineswegs irrelevant, die Opfer des Anschlags zu retten und am Ende ist es die instinktive moralische Integrität des Helden und seine messerscharfe Intuition, die ihm das Leben retten und ihn – so will es das Kino – am Ende auch die Frau erobern lässt, wobei ähnlich wie ihn Matrix der lange finale Filmkuss wieder einmal metaphysisch als Erlösung fungiert und den kalkulierenden Verstand in die zweite Reihe verweist. Aber das ist ein anderes Thema.

Thriller mit einigen Schwächen
So gesehen ist Source Code ein Film, der trotz der intellektuellen Raffinesse seines Plots einige handfeste Standardformeln benutzt, die man als ärgerlich oder als notwendiges Zugeständnis an das breite Publikum betrachten kann. Sie erlauben es, dass man den Film sehr emotional und auch durchaus legitim einfach nur als Thriller konsumieren kann. Und als solcher funktioniert Duncan Jones’ Film durchaus passabel, aber nicht immer gelungen.
Leise Kritik kommt auf, wenn man sich die Nebenfiguren genauer anschaut: Während Vera Farmiga Stevens’ primäre Bezugsperson durchaus glaubwürdig verkörpert, lässt ihr das sehr auf den Kernplot konzentrierte Script wenig Raum, um wirklich eine interessante Figur zu werden. Dagegen ist der für alles verantwortliche Versuchsleiter Dr. Rutledge (Jeffrey Wright) nicht anderes als das abgegriffene Klischee eines amoralischen ‚Mad Scientist’, der holzschnittartig konturiert wird. Leider gilt diese Nachlässigkeit bei der Figurenzeichnung auch für Christina, die schöne Unbekannte aus dem Zug, bei der das Potential von Michelle Monaghan (Gone Baby Gone) verschenkt wird.
Dies sind keine lässlichen Schwächen, denn Filme fesseln eben nicht dank brillanter intellektueller Spekulationen, sondern durch glaubwürdige und interessante Figuren. Der Rest kommt später. Und so hinterlässt Source Code zwar einen finessenreichen, letztlich sogar bestechend logischen Eindruck, bleibt aber im Umgang mit seinem Personal irgendwie etwas autistisch.

Einstein hat übrigens nicht besonders viel von Quantenphysik gehalten. Dass sich im Mikrokosmos Dinge nur noch im Rahmen von Wahrscheinlichkeitsaussagen beschreiben lassen, erschien dem an einen deterministischen Kosmos glaubenden Genie als uneleganter Gedanke („Gott würfelt nicht“), aber wenn der Zuschauer trotz dieser Vorbehalte einige essentielle Grundaussagen der Quantenphysik und der Stringtheorie kennt, wird er mehr als nur ahnen zu können, wie der Source Code funktioniert und dass sich hinter Duncan Jones’ faszinierender Fiktion letztlich die Frage verbirgt: Was ist eine Person?

Noten: der Film hinterließ im Filmclub gespaltene Fraktionen. Einzelne Statements zeigten deutlich, dass der Plot tatsächlich ohne einige Grundkenntnisse der Quantenphysik unverständlich bleibt oder falsch interpretiert wird. Auch der Verfasser dieser Zeilen konnte sich nur nach längerem Nachdenken dazu durchringen, seine spontan vergebene Note etwas aufzuwerten, Source Code ist eben ein Film mit Haken und Ösen.

Noten: Melonie, Mr. Mendez = 4, Klawer, BigDoc = 3

Vorgestellt wurde der Film auf Bluray. Im Gegensatz zu den euphorischen Kommentaren in einschlägigen Foren waren bei der KINOWELT-Edition leider erhebliche Mängel zu verzeichnen: das Bild ruckelte regelmäßig und der Schwarzwert begann in den dunklen Szenen grobflächig zu flackern. Insgesamt konnte das Bild aber durch exzellente Schärfe und gute Kontraste überzeugen, die allerdings die ärgerlichen Schwachpunkte nicht auszubügeln vermochten.

Donnerstag, 3. November 2011

The Fighter


USA 2010 - Regie: David O. Russell - Darsteller: Mark Wahlberg, Christian Bale, Amy Adams, Melissa Leo, Jack McGee, Dendrie Taylor, Melissa McMeekin, Bianca Hunter, Erica McDermott, Jill Quigg, Kate B. O'Brien, Jenna Lamia - FSK: ab 12 - Länge: 116 min.

The Fighter ist ein Film über zwei Boxer, aber auch die Geschichte der Stadt Lowell, Massachusetts, in der die irisch stämmigen Menschen stolz auf ihre Boxsportler sind. Mickey "Irish" Ward (Mark Wahlberg) ist ein Teil dieser reichlich mythengeschwängerten Kultur: seinem Halbbruder Dick „Dicky“ Eklund (Christian Bale) gelang es auf dem Höhepunkt seiner Karriere, den amtierenden Weltmeister Sugar Ray Leonard wenigstens einmal auf die Bretter zu schicken und dieser – allerdings umstrittene - Niederschlag machte den ehemaligen New England Champion im Weltergewicht zum „Pride of Lowell“ –geliebt und verehrt von den Menschen, aber noch mehr von der eigenen Familie, die sich nun ganz in den Dienst der Karriere seines Halbbruders Micky stellt.
Mutter Alice (Melissa Leo) führt dabei als Managerin die Regie, umgeben von ihrer überwiegend aus Töchtern bestehenden Großfamilie, während das „Boxgenie“ Dicky seinem Bruder immer noch sagen will, wo es lang geht. Doch dessen Weg führt ziemlich steil nach unten: Micky bekommt schlechte Kämpfe und Dicky ist längst ein durch Crack ausgezehrtes Drogenwrack, das nicht einmal mitbekommt, dass das HBO-TV-Team, das ihn seit Monaten begleitet, keineswegs ein Feature über sein Comeback machen will, sondern eine brutale Absteigerstudie: das später für den Oskar nominierte Doku High on Crack Street: Lost Lives in Lowell lief tatsächlich 1995 im TV und Regisseur David O. Russell baut die Dreharbeiten zu diesem Film als Baustein einer maroden Familiengeschichte konsequent in seinen Film ein.

Nach einer erneuten Niederlage zweifelt Micky endgültig an seinem Können, bis er die in einer Bar arbeitende Charlene (Amy Adams) trifft. Während die Familie seine selbstbewusste Freundin ablehnt und für Mickys Zweifel verantwortlich macht und Dicky ins Gefängnis muss, beginnt Mickey sich langsam aus dem familiären Korsett zurückzuziehen. Wie es trotz schwerer körperlicher Verletzungen und einem angeknacksten Ego am Ende doch noch für den ganz großen Kampf reicht und wie man sich zudem noch mit einer Familie aussöhnen kann, deren Mythologie einen zu ersticken droht, erzählt Russell in einem bemerkenswert unsentimentalen, aber dennoch sehr emotionalen Film.

Der Trottel am Seil
Ein „Rope-a-Dope“ ist im Boxen -frei übersetzt- ein Trottel am Seil, der sich passiv hinstellt und sich mit Schlägen eindecken lässt, bis der Gegner sich müde geprügelt hat. Dann schlägt der ‚Trottel‘ zurück – und gewinnt. So ähnlich lief der berühmte Kampf zwischen George Foreman und Muhammad Ali 1974 in Kinshasa ab, den Ali in Runde 8 mit zwei Links-rechts-Kombinationen für sich entschied. Bis heute eine Legende.

Zu den nicht ganz so bekannten Boxmythen gehört der Sieg von Mickey Ward gegen Shea Neary, den Ward am 11. März 2000 mit einer schnellen Kombination aus Körpertreffer und Uppercut für sich entschied, nachdem er zuvor einige Runden lang kräftig Dresche bezogen hatte. Dank der Rope-a-Dope-Taktik wurde Ward WBU-Weltmeister im Halbweltergewicht. „He did it again! He did it again!“, schrie der TV-Reporter perplex – zu Recht, denn Ward, dessen Boxerkarriere eigentlich schon am Boden lag, hatte bereits zuvor mit der Trottel-Strategie einen Kampf als krasser Außenseiter gewonnen. Dieser Sieg spülte einen Boxer, der bestenfalls Gagen im 5-stelligen Bereich erhalten hatte, in einen nicht mehr für möglich gehaltenen Titelkampf.

Das ist natürlich guter Stoff für einen Sportfilm. Und dies wiederum ist ein Genre, wie es typischer nicht sein kann für das US-amerikanische Kino: Nie aufgeben, Niederlagen wegstecken, wieder aufstehen und an sich glauben, auch wenn alle anderen es längst nicht mehr tun. Zu den beliebten Varianten dieses Genres gehören deshals Plots, in denen ein Ex-Profi eine Gruppe von mäßig talentierten und zudem noch rassisch und sozial diskriminierten Außenseitern zusammenschweißt und auf den Olymp führt. Rückschläge eingeschlossen.

Eine andere Form von Realismus
Sportfilme werden häufig anderen Genres zugeschlagen. Möglicherweise zu Unrecht, denn kein anderes Sub-Genre greift emotional so tief auf die populären moralischen Grundkonflikte der amerikanischen Gesellschaft zu wie der Sportfilm: sei es als Plädoyer für die Überwindung rassischer Vorurteile in Gegen jede Regel (Remember the Titans, R.: Boaz Yakin, USA 2000), sei es als Plädoyer für eine christliche Lebenseinstellung wie in Facing the Giants (USA 2006, Alex Kendrick), als simpler Stand-up-and-fight-Plot wie in The Replacements (USA 2000, Howard Deutch) oder etwas empathischer in Sie waren Helden (We are Marshall, USA 2006, McG), aber auch als sozialkritischer Realismus in Spiel auf Bewährung (Gridiron Gang, USA 2006, Phil Joanou).
In vielen der erwähnten Filme war es gerade die Mischung aus wuchtiger Emotionalität und präziser Nähe zum geschilderten Milieu, die zu überzeugenden Ergebnissen führte. Kulminationspunkt dieser in den letzten zehn Jahren sehr ausgeprägten Entwicklung war Darren Aronofskys The Wrestler.

Die Geschichte, die David O. Russel in The Fighter über Micky Ward erzählt, ist als Boxerfilm natürlich die Geschichte des alles entscheidenden Kampfes und sie endet auch wie die klassischen Vertreter dieser Gattung auf dem Höhepunkt des Erfolgs, aber sie ist wie die erwähnten gelungenen Sportfilme der jüngeren Vergangenheit auch genaue Milieustudie und realistisches Drama, dabei auch eine hochgradig emotionale Familiengeschichte.

Es ist keine Überraschung, dass Mark Wahlberg, der in The Fighter nicht nur die Hauptrolle spielte und sich als Produzent auch frühzeitig die Rechte an dem Stoff sicherte, ursprünglich Darren Aronofsky (The Wrestler) als Regisseur ins Boot holen wollte. Dieser entschied sich aber für Black Swan, agierte aber als Produzent im Hintergrund, sodass der bereits in der Branche nach dem zu intellektuellen Kassenflop I Heart Huckabees fast abgeschriebene David O. Russell die Chance zu einem Comeback erhielt.

Die treibende Kraft in diesem Projekt dürfte allerdings Wahlberg gewesen sein. Wahlberg hat bereits als Co-Produzent der Therapeutenserie In Treatment gezeigt, dass er auch im TV ambitionierte Projekte auf den Weg bringen kann. The Fighter hat eine andere Vorgeschichte: Wahlberg ist in dem Milieu, über das der Film berichtet, groß geworden. Es ist die weiße Arbeiterklasse, die in ihren Stadtteilen genauso eine eigenständige Sozialkultur prägt wie dies andere Ethnien in den ihrigen tun. Eine Kultur, die von Ups und Downs, Drogen und Kriminalität (Wahlberg selbst befand sich mehrmals mehr als nur am Rande der Kriminalität), Familiensinn und Stolz genauso geprägt ist wie die anderer Ethnien, nur dass sich ihre weniger schönen Seiten im diskriminierenden Begriff White Trash spiegeln - ein Wort, das auch nur eine andere Erscheinungsform des Rassismus ist.

Unsentimental und präzise und doch hochemotional
David O. Russell und Produzent Mark Wahlberg haben einen Film realisiert, den man im besten Sinne als ‘amerikanischen Realismus’ bezeichnen kann. Ganz unmittelbar und physisch wird dies in Wahlbergs Rollenadaption sichtbar: in der vierjährigen Vorlaufphase trainierte er jeden Tag von 04.00 – 06.00 Uhr hart und regelmäßig, um sich die die Rolle des Micky Ward vorzubereiten.
Dass mag man Marotte abtun, aber die exakte Rekonstruktion des Äußeren bis ins Detail, die Interpretation einer Rolle über die Physis und die Psychologie gleichermaßen, sind keineswegs untypisch für das amerikanische Kino.

Erzählerisch orientiert sich David O. Russell kaum überraschend und sehr explizit an Rocky, während meiner Meinung nach der andere große Boxerfilm der letzten Jahre, Million Dollar Baby, als Aufsteigerstudie eher als weiteres Vorbild herangezogen werden kann. Clint Eastwoods melodramatische Geschichte einer dem White Trash zugeordneten jungen Frau taugt eher zum Vergleich als der in diesem Zusammenhang oft genannte und grandiose, aber doch eher (im positiven Sinne) artifizielle Raging Bull von Martin Scorsese.  

Was The Fighter aber auf jeden Fall von den genannten Vorbildern unterscheidet, ist die unsentimentale gradlinige Erzählung, die auch in der Produktion sichtbar wird. Gedreht wurde im echten Lowell - trotz des Risikos, dass sich die Bevölkerung und die am Set präsenten echten Dicky und Micky gegen eine denkbare und möglicherweise zu schroffe Entmythologisierung wehren würden. Das blieb aus.
Einige Rolle wurden von den echten Personen, zum Teil Freunden und Verwandten der Familie Ward, verkörpert. So spielt der Trainer von Micky sich in dem Film selbst und Sugar Ray Leonard hat einen Cameo-Auftritt in dem Film.  Die Boxkämpfe wurden – eigentlich völlig untypisch – nicht per Storyboard geplant und für die szenische Auflösung choreographiert, sondern in einem Stück unter Mitarbeit von erfahrenen TV-Teams abgedreht. Nicht nur dies, sondern auch die ziemliche nüchterne und direkte Kameraarbeit des Schweizers Hoyte van Hoytema (mit dem Schwedischen Filmpreis ausgezeichnet für So finster die Nacht) trägt mit ihrem dokumentarischen Stil (zum Glück ohne Wackeln) zum Gelingen des Ganzen bei.

Getragen wird der Film jedoch von den außergewöhnlichen darstellerischen Leistungen. Mark Wahlberg ist
die Rolle des gradlinigen Arbeiterkindes Mickey Ward geradezu auf den Leib geschrieben, während Christian Bale als brüderlicher Crackjunkie nicht nur wegen seiner exzessiven Gewichtsreduzierung zur Höchstform aufläuft: wenn Dicky im Knast mit seinen Zellengenossen ‚seinen‘ Film High on Crack Street sieht, nur um zu erkennen, dass hier ein zerstörtes Leben vorgeführt und gnadenlos desillusioniert wird, sieht man großes Schauspielerkino, für das Bale 2011 den Oscar als Bester Nebendarsteller erhielt. Sieben Oscar-Nominierungen erhielt „The Fighter“ und neben Bale erhielt Melissa Leo ebenfalls einen Oskar für die Beste Nebendarstellerin in der Rolle der omnipotenten Mutter Alice Ward.
Auch wenn man im europäischen Kino den filmischen Realismus sicher anders und möglicherweise zu intellektuell definiert, so schreibt The Fighter auf seine sehr authentische Art und Weise ein eigenes Kapitel dieser filmischen Traditionsgeschichte.

Die entscheidenden Kämpfe

Ein wichtiger Plot-Point in The Fighter ist Micky Wards Entscheidung, mit einem neuen Manager noch einmal einen neuen Anlauf zu wagen. Nach einigen erfolgreichen Aufbaukämpfen muss Ward 1997 gegen den ungeschlagenen Alfonso Sanchez antreten, der von Anfang an seine Überlegenheit ausspielt. Obwohl Ward mit seinem Trainer eine andere Taktik vereinbart hat, erinnert er sich in aussichtsloser Situation an einen Tipp seines Bruders, den Micky bei einem Besuch im Knast erhalten hat. Hier der Originalkampf (Ward in grüner Hose):


In The Fighter geht es dann sehr schnell weiter mit dem entscheidenden Kampf um den „WBU Light Welterweight Title“. Tatsächlich erfolgten vor dem WM-Kampf noch weitere Kämpfe. Hier der Originalkampf (Ward in weißer Hose) gegen Shea Neary am 11.3.2000, ebenfalls gewonnen durch einen überfallartigen Konter in schwieriger Situation:

 

Noten: BigDoc, Mr. Mendez, Klawer, Melonie = alle 2




Samstag, 29. Oktober 2011

Die Abenteuer von Tim und Struppi - Das Geheimnis der Einhorn


USA / Neuseeland / Belgien 2010 - Originaltitel: The Adventures of Tintin - Regie: Steven Spielberg - Darsteller: (Motion Capture) Jamie Bell, Andy Serkis, Daniel Craig, Simon Pegg, Nick Frost, Cary Elwes, Toby Jones - FSK: ab 6 - Länge: 107 min.

Tintin, der hierzulande eingedeutscht „Tim“ heißt, und sein kluger Hund Milou, der im gleichen Zuge den unsäglichen Namen „Struppi“ verpasst bekam, sind nicht einfach nur Comic-Figuren, sondern noch mehr pop-kulturelle Ikonen. Das liegt nicht nur an ihrer unbestreitbaren Popolarität, sondern auch an der Ästhetik ihres Schöpfers Hergé. Man kann durchaus Frames aus seinen Geschichten nehmen, vergrößern und ähnlich wie das Bild einer Tomatendose von Warhol an die Wand hängen. Jeder kennt die Figuren – nicht nur Tintin und Milou, sondern auch den trinklustigen Kapitän Haddock oder den schrulligen Professor Bienlein - und die Konsistenz der Bilder erledigt dann den Rest: Tintin und Milou und alle anderen sind Kunstfiguren in Kunstwerken, die über die Jahrzehnte Zeitgeist geatmet haben und ihn nun als Teil der Pop-Ästhetik verkörpern können.

Gelegentlich haben sie ihn auch ausgeatmet, den Zeitgeist, und die Geschichte der Widerstände und Proteste gegen die Geschichten Hergé sind ein Kapitel für sich. Sehr häufig und nicht immer zu Unrecht wurde auf Political Correctness bestanden. Nun hat sich Steven Spielberg der Geschichten des belgischen Comicautors Georges Prosper Remi (1907 – 1983) angenommen und dies bedeutet fast zwangsläufig, dass die Adaption der „Aventures de Tintin“ ganz gewiss korrekt sind und garantiert kein garstigen Politikum auf der Leinwand erscheinen wird.

Technik und Erzählung ergänzen sich perfekt
Zunächst plante Spielberg einen Realfilm, aber nach der Sichtung der zusammen mit Peter Jackson („Der Herr der Ringe“) entwickelten Probeaufnahmen, die mit der Perfomance-Capture-Technologie produziert wurden, realisierten beide einen
3 D-Animationsfilm, der als erster Teil einer Tintin-Trilogie angelegt wurde.
Das Ergebnis ist verblüffend, man mag es sogar einen ´großen Wurf` nennen, denn Spielberg und Jackson, der im ersten Teil Produzent war und im zweiten Teil vermutlich Regie führen wird, haben zusammen einen Film auf die Leinwand gebracht, der (offen gestanden auch für mich ganz unerwartet) die Technik ganz der Geschichte unterordnet.
Im Gegensatz zu vielen abgespeckten und billig aussehenden Pseudo-3 D-Filmen und auch im Gegensatz zu den effektsüchtigen Jahrmarkttricks, mit denen der 3 D-Brille tragenden Zuschauer verblüfft werden soll, vergisst man bereits nach wenigen Minuten, bewusst über die 3 D-Ästhetik nachzudenken und ständig die Güte der Effekte zu bewerten. Vielmehr folgt man ganz entspannt der Geschichte. So soll Kino sein und trotz seiner exzellenten Qualität habe ich dies bei „Avatar“ noch anders erlebt. Da konnte man den Film erst im Heimkino in der 2 D-Version richtig entdecken.

Dass Spielberg / Jackson hier bereits den ersten fetten Pluspunkt einfahren, liegt auch an der erwähnten Perfomance-Capture-Technologie, die als Weiterentwicklung des Motion-Capture-Verfahrens nicht nur Körper-, sondern auch das Mienenspiel perfekt scannt. Mit etlichen Kameras werden dabei die Bewegungsabläufe der Protagonisten mithilfe von speziellen Markern aufgezeichnet, die an den Schauspielern befestigt werden. Diese Daten können von speziellen Programmen gelesen und auf 3 D-Modelle übertragen werden. Alternativ können diese Daten auch mit so genannten Body Suits erzeugt werden.
Als Ergebnis sieht man nach Abschluss der kompletten Entwicklungsphase sehr realistisch wirkende virtuelle Figuren, die nicht nur die Bewegungen der Schauspieler wiedergeben, sondern auch in punkto Physiognomie sehr menschlich wirken.
Wie zu erwarten wurde von einigen Kritikern der Umstand aufs Korn genommen, dass die berühmte „Ligne Claire“ in Spielbergs Film dabei auf der Strecke geblieben ist, jene ausgefeilte Zeichenästhetik Hergés, die monochrome Farben und präzise Figurenkonturierung ohne Schatten vor realistischen Hintergründen zu einem unverwechselbaren Markenzeichen des Belgiers machte. Das mag man bedauern, allerdings sollte man bei einer computerbasierten Adaption den Machern ihre eigene Gestaltungsfreiheit einräumen. Auf mich wirkt es geradezu frivol, Spielberg / Jackson vorzuwerfen, dass die Herkunft aus dem Computer in ihrem Film nicht zu übersehen sei. Man kann dem Steak natürlich ebenfalls vorwerfen, dass man ihm ansieht, dass es in der Pfanne gebraten wurde.

Tatsächlich funktionieren Technik und Erzählung in „Die Abenteuer von Tim und Struppi“ über die Maßen gut, weil Spielberg die Geschichte einer Schatzsuche zwar erkennbar auch als Hommage an seine „Indiana Jones“-Filme gestaltet, dabei aber zunächst mit großer Sorgfalt erzählt und den Figuren den notwenigen Raum lässt. Dazu gehört eine Bildmontage, die wirklich überzeugend die Anforderungen der 3 D-Animation umsetzt: der Schnittrhythmus ist ausgewogen, es gibt (zunächst) keine hektische Staccato-Schnittorgie. Vielmehr nutzt die virtuelle Kamera mit Fahrten in den Raum und um die Figuren herum ganz unaufdringlich die Möglichkeiten des dreidimensionalen Mediums, sodass der Eindruck überwiegt, dass die Technik der Geschichte erst richtig auf die Beine hilft.
Neben intelligenten und überraschenden Bildübergängen, bei denen sich ein wallender Vorhang schon einmal in eine heiße Wüste verwandeln darf, und einigen netten Gimmicks, orientiert sich Spielberg zum Glück vorrangig an der Dramaturgie der Geschichte. Aber gerade bei Spielberg sollte man in seinen Mainstream-Filmen den Figuren nicht psychologisch nachstellen: wie in der Vorlage bleibt Tintin ein Held ohne Ambivalenz, eine Figur, die der narrativen Dynamik des traditionellen Comics geschuldet ist und fast ohne Entwicklung das bleibt, was er ist: ein jugendlicher Draufgänger, stilisiert bis zur Eindimensionalität. Die Nebenfiguren erscheinen, auch das ist bekannt, häufig differenzierter, was Spielberg überzeugend an der Vorlage an der Figur des Kapitän Haddock vorführt, auch wenn dabei einige Ecken und Kanten auf der Strecke bleiben. Zugenommen macht alles richtig Spaß beim Zuschauen, auch wenn man in den virtuellen Figuren durchaus Mühe hat, die modellgebenden Darsteller, zum Beispiel Jamie Bell und Daniel Craig, wiederzuerkennen.

Gelungene Einführung in den Hergé-Kosmos
Da ich schon lange nicht mehr einen Hergé-Band in der Hand hatte, will ich mich nicht an den manchmal etwas puristisch wirkenden Diskussionen über die Storyline beteiligen, in die Erzählstränge aus den drei Comic-Bänden Die Krabbe mit den goldenen Scheren, Das Geheimnis der „Einhorn“, sowie Der Schatz Rackhams des Roten eingeflossen sind.

Wie so häufig bei Hergé führt die Geschichte ihre Helden rund um die Welt.
In „Das Geheimnis der Einhorn“, dem ersten Teil der Kino-Trilogie, entdecken Reporter Tim (Jamie Bell) und sein Foxterrier Struppi ein Schiffsmodell, in dem sich Hinweise auf einen geheimnisvollen Schatz verbergen. Beide geraten an den Schurken Sakharin (Daniel Craig), der natürlich auch den Schatz in seinen Besitz bringen will.
Natürlich muss der Film den Spagat zwischen einer temporeichen Erzählung und der Einführung weiterer Figuren aus dem Hergé-Kosmos bewerkstelligen. Das gelingt durchaus: neben den skurrilen Detektiven Dupont und Dupond (Nick Frost, Simon Pegg), dts. Schulze und Schultze, taucht natürlich auch der bei den Tintin-Nerds überaus beliebte Kapitän Haddock auf, dessen Vorfahre dereinst gegen den gefährlichen Piraten „Rackham der Rote“ um jenen Schatz kämpfte, den Tintin und seine Freunde nun an allerlei exotischen Schauplätzen suchen. Es ist anzunehmen, dass der geniale Professeur Tryphon Tournesol, dts. Professor Bienlein, mit Sicherheit im zweiten Teil seinen großen Auftritt haben wird.

Spaßkino, das mit einer überflüssigen Bildorgie endet
Insgesamt ist Steven Spielberg eine üppige Portion Spaßkino gelungen, die genauso schmeckt wie sie auf dem Teller aussieht: ein 3 D-Film, der über weite Strecken einen ganz wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Erzählweise getan hat, die dem freidimensionalen Raum angemessen ist – nämlich diesen Raum zu erkunden, sich dafür die nötige Zeit zu nehmen und die Gelassenheit zu besitzen, auf Effekte zu verzichten, an denen man sich schnell satt gesehen hat.
Das gelingt aber nicht durchgehend. Gelegentlich wird auch in „Das Geheimnis der Einhorn“ zu früh geschnitten, wo doch zwei zusätzliche Sekunden ganz bestimmt mehr von dem Reiz des jeweiligen Schauplatzes gezeigt hätten.
Das kann man noch verkraften.

Weniger erfreulich und leider auch enttäuschend ist das große Finale, das sich als spektakuläre Actionorgie entpuppt und damit den zuvor teilweise meisterhaft vorgetragenen Erzählrhythmus völlig über Bord wirft. Die ohren- und augenbetäubende Hektik des Finales verrät, dass Spielberg an dieser Stelle seinen Instinkt für ein emotional überzeugendes Ende zugunsten eines Bildrausches aufgegeben hat, in dem Duelle mit großen Baukränen ausgefochten werden und eine ganze Stadt mehr oder weniger in Schutt und Asche gelegt wird. Und so verließ nicht nur der Kritiker ziemlich betäubt das Kino, sondern möglicherweise auch der eine andere jüngere Zuschauer, der auf diese Weise mit der Bildhybris Hollywoods konfrontiert wurde, die bislang noch fast jede Geschichte zerstört hat, die mit viel versprechenden Ansätzen begann. Schade um einen Film, der so charmant begonnen hat.

Noten: Melonie = 1, BigDoc = 2, Mr. Mendez = 2,5
(wobei anzumerken ist, dass meine Begleiter erklärte Tim und Struppi-Fans sind und zumindest einer der beiden mit allergrößter Skepsis den Weg ins Kino antrat. Beide waren am Ende begeistert, der eine mehr, der andere eine Spur weniger).

Freitag, 14. Oktober 2011

Quick Review: Alles, was wir geben mussten


Großbritannien / USA 2010 - Originaltitel: Never Let Me Go - Regie: Mark Romanek - Darsteller: Keira Knightley, Carey Mulligan, Andrew Garfield, Sally Hawkins, Charlotte Rampling, Nathalie Richard - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 105 min.

Kathy (Carey Mulligan: Wall Street 2: Money never sleeps, 2010) steht hinter einer Scheibe und blickt liebevoll in einen OP, auf dessen Tisch ein junger Mann liegt und sie traurig anschaut.
Rückblende, England 1978: Kathy, Tommy (Andrew Garfield: Red Riding, 2009, The Social Network, 2010) und Ruth (Keira Knightley: Abbitte, 2007) verbringen ihre Kindheit in Hailsham, einem idyllischen englischen Internat, in dem strenge Regeln gelten. Die Erzieherinnen sorgen mit Disziplin und hohem Aufwand für die körperliche Gesundheit der Kinder, die auch eine intensive schulische Ausbildung erhalten. Als eine neue Aufseherin den Kindern erklärt, dass sie Klone sind und nicht alt werden können, da sie den Menschen als Organspender dienen müssen, wird sie umgehend entlassen. Kathy, die sich voller Zuneigung um den Außenseiter Tommy kümmert, muss erleben, dass die dominante Ruth sich in die Beziehung drängt.
Einige Jahre später: Tommy und Ruth sind immer noch zusammen. Die erwachsen gewordenen Kinder leben nun in Cottages und dürfen sich relativ frei bewegen, bis sie den Bescheid für ihre erste Spende erhalten. Dort lernen die Drei ein junges Paar kennen, das fest davon überzeugt, dass Liebende einen kleinen Zeitaufschub erhalten. Kathy, Ruth und Tommy, der sich überraschend zu einem äußerst talentiert Zeichner entwickelt hat, sind davon überzeugt, dass die Bilder, die sie als Kinder der Galerie der mysteriösen Madame überlassen mussten, dafür genutzt werden, in ihre Seele zu blicken, um die Authentizität der Liebe zu prüfen. Kurz danach verlässt Kathy die Cottages und lässt sich als Betreuerin ausbilden: sie wird nun die Spender begleiten.
Jahre später sieht Kathy ihre Freunde erneut: Ruth und Tommy sind getrennt und haben bereits ihre ersten Spenden hinter sich. Nun kommen sich Kathy und Tommy näher, was auch von Ruth unterstützt wird, die es bedauert, die frühere Beziehung von Kathy und Tommy zerstört zu haben. Das Paar sucht die Galeristin auf, um einen Aufschub zu erlangen. Dort treffen sie auch die Leiterin von Hailsham (Charlotte Rampling), die ihnen erklärt, dass die Bilder nur einem Zwecke dienten: nämlich zu zeigen, dass Klone eine Seele haben. Dieses Vorhaben sei aber gescheitert. Kurz darauf stirbt Ruth nach einer neuerlichen Spende und die Rückblende ist beendet. Der junge Mann, den Ruth im OP sieht, ist Tommy, der für immer seine Augen schließt. Kurz darauf erhält Kathy ihren ersten Bescheid. Im letzten Bild denkt sie darüber nach, ob es den Empfängern der Spenden wirklich besser geht als den Spendern.

Unkritische Dystopie
Mark Romanek erlangte mit seinen Musikvideos, unter anderem für Michael Jackson, Weltruhm. Sein zweiter Spielfilm One Hour Photo (mit Robin Williams), die Geschichte eines versponnenen realitätsfremden Außerseiters, war ein relativ erfolgreicher Festivalfilm, floppte aber an der Kinokasse. Mit Alles, was wir geben mussten verfilmte Romanek nah an der Vorlage den gleichnamigen Roman des Japaners Kazuo Ishiguro.
Alles, was wir geben mussten ist ein dystopischer Science Fiction-Film, der in der Vergangenheit spielt, einem ländlich geprägten Großbritannien, über dessen gesellschaftliche Verfasstheit der Zuschauer nichts erfährt. Romanek konzentriert sich überwiegend auf eine melodramatische Erzählung, deren ruhiger Erzählfluss fast angenehm altmodisch wirkt. Romanek gelingt es durchaus, ein subtiles Bild von entfremdeten Menschen zu entwickeln, die trotz ihrer Intelligenz aufgrund ihrer spezifischen Sozialisation merkwürdig realitätsfremd wirken und sich ohne Widerstand ihrem Schicksal fügen. Ein Anflug von Newspeak erinnert sogar an George Orwells 1984. Hier enden aber die Gemeinsamkeiten, denn das Drehbuch von Andrew Garland (Script für 28 Days Later, 2003) zeigt nicht im Geringsten ein Interesse an der politischen und ethischen Entwicklung, die erklären müsste, warum eine Gesellschaft, die offenbar an einem Überalterungsproblem leidet, sich für diesen Weg entschieden hat. Nur in der Schlüsselszene, in dem Gespräch von Kathy und Tommy mit Miss Elly (Charlotte Rampling), erfährt der Zuschauer, dass die Menschen offenbar verdrängen wollen, aus welcher Quelle ihre lebensverlängernden Spenden kommen.

Reaktionärer, gepflegter Kitsch
Dies ist auch das Dilemma von Never Let Me Go (Originaltitel), denn nicht nur das Sci-Fi-Genre, sondern überhaupt das Kino, lebt vom dramatischen Antagonismus. Im vorliegenden Fall jenem, der zwischen den Prämissen der Herrscher und den Bedürfnissen der Beherrschten entsteht. Romanek zeigt uns allerdings die Herrscher nicht. Der völlige Verzicht auf eine ideologische Reflexion (1) führt den Film damit folgerichtig in eine blutarme Leere.
Funktionieren könnte der Film dann, wenn der Zuschauer tatsächlich in der von Ishiguro in seinem Roman beschriebenen Welt leben würde: in diesem Fall wäre er als flammender Appell für die Menschenwürde zu lesen. Da dies aber nicht der Fall ist, wirkt Alles, was wir geben mussten mit zunehmender Länge nicht nur aufdringlich, sondern auch lästig, da seine moralische Botschaft quasi offene Türen einrennt.
Die kritische Kraft einer Dystopie besteht darin zu zeigen, dass das pessimistische Bild der Gegenutopie in ihren Wurzel glaubwürdig und damit denkbar erscheint. Romaneks Film verweigert uns diese Sicht der Dinge und belastet auch die psychologische Glaubwürdigkeit nachhaltig, indem er dem Zuschauer willenlose Klone zeigt, die nicht einmal instinktiv die Frage nach Widerstand formulieren.
Ästhetisch wird dies durch teilweise erlesen fotografierte Bilder verstärkt, die mit viel Tränen und einem ziemlich unerträglichen Soundtrack unterlegt werden, der mit hoher emotionaler Redundanz jene Gefühle verstärken möchte, die allein schon die Bilder nachhaltig erzeugt haben. Handwerkliches Ungeschick spiegelt nicht selten fehlende inhaltliche Substanz wider und so ist Mark Romaneks Alles, was wir geben mussten leider eine filmische Bankrotterklärung, die bestenfalls dazu dienen kann, jenen Menschen, die von diffusen und kulturpessimistischen Ängsten vor der Gentechnologie geplagt werden, einen künstlerischen ‚Beweis‘ anzudienen. Argumente für eine wirklich nachhaltige Debatte liefert dies nicht und deshalb ist Alles, was wir geben mussten nicht nur gepflegter Kitsch, sondern auch reaktionär.

Noten: BigDoc, Melonie = 5 

(1) Ideologische Reflexion bedeutet nun nicht die genreübliche Abbildung eines 'bösen' Pharmakonzerns, einer verschlagenen Regierungsverschwörung o.ä., wie es in US-amerikanischen Thrillern üblich ist, sondern den Diskurs darüber, inwieweit das Bewusstsein der Teilnehmer an einer sozialen Handlung imstande ist, eigene Interessen von fremdbestimmten zu unterscheiden. In dieser Hinsicht schätze ich einen Film wie "Splice - Das Genexperiment" (Vincenzo Natali) als überzeugendere Variante ein.
"Splice" zeigt, wie Forscher das Fremde und Andersartige, das autonome Andere bereitwillig fremden, dann aber auch ihren eigenen Bedürfnissen unterwerfen, was durchaus den Umkehrschluss zulässt, dass man im Fremden und Andersartigen auch das Autonome, hier: die Menschenwürde, finden kann. Dazu müsste man aber einen Teil der Geschichte aus der Täterperspektive erzählen. Allein dies kann man Mark Romanek angesichts der Tatsache, dass es sich um eine Literaturverfilmung handelt, nur bedingt anlasten. So viel Fairplay
muss sein.