Mittwoch, 10. Juni 2015

The Knick

Nach seinem Rückzug aus dem Filmbusiness hat Steven Soderbergh („Traffic“, "Contagion") mit „The Knick“ für den Pay-TV-Sender cinemax eine Serie in die Hand genommen, die auf den ersten Blick wie eine Neuauflage von „House, M.D.“ aussieht – wenn man nur die Hauptfigur betrachtet. Doch in „The Knick“ gibt es keine moderne Gerätemedizin oder eine ehrenwerte Krankenhausverwaltung, sondern Zustände wie in einem Schlachthaus und die Verwaltung ist genauso korrupt wie die brutalen Pfleger der Krankentransporte, die sich auf der Straße mit der Konkurrenz um neue Patienten prügeln.

New York, Anfang des 20. Jh. Clive Owen spielt rustikalem Charme den neuen Chefchirurgen Dr. John W. Thackery, der im Knickerbocker Hospital eine neue Ära der Medizin ausruft. Der notorische Misanthrop weiß, was er der Öffentlichkeit und den Hinterbliebenen schuldet, nachdem sich sein Vorgänger nach einer misslungenen Operation mit den Worten „Ist doch alles egal“ die Kugel gegeben hat.
Dem typischen Fortschrittsoptimismus des neuen Jahrhunderts, dem sich Thackery in der Trauerrede zynisch salbadernd hingibt, entsprechen aber weder die sozialen Umstände in N.Y. noch die technische Ausrüstung im Knickerbocker Hospital, das ohne geduldigen Mäzen nicht lebensfähig wäre. Die Stadt wird von Immigranten überflutet, in den Armenviertel wird nur selten Englisch gesprochen und Hygiene ist ein Fremdwort. Und die Reichen der Stadt fürchten nichts mehr als dass Krankheiten und Seuchen ihre Wohnviertel erreichen. 


Auch Thackery ist alles andere als ein moralischer Saubermann. Ähnlich wie der persönlichkeitsgestörte Dr. House ist der neue Chef-Chirurg ein medizinisches Genie, das pausenlos nach medizinischen Innovationen sucht, dabei aber auch zur Not über Leichen geht. Und wie Dr. House hat er ein kleines Problem: Um die extremen Belastungen am „Knick“ auszuhalten, konsumiert er in hohen Dosen Kokain und verbringt seine spärliche Freiheit in einem chinesischen Bordell, wo er möglicherweise noch anderen verlockenden Angeboten nachgeht.
Als ihm vom reichen Mäzen des Krankenhauses der „Neger-Chirurg“ Dr. Algernon Edwards (Andre Holland) als Stellvertreter zugeteilt wird, verfrachtet er diesen erst einmal in den Kohlenkeller, obwohl der „Nigger“ Referenzen der fortschrittlichsten europäischen Krankenhäuser vorzuweisen hat. Thackery ist also nicht nur ein Junkie, sondern auch ein Rassist.




„The Knick“ ist eine Serie, die anfangs wie eine Splatter-Version von „Emergency Room“ und „House, M.D.“ daherkommt. Die Operationen, oft genug im medizinischen Hörsaal vor neugierigen Kollegen durchgeführt, sind - zumindest aus heutiger Sicht - bestialisch. Soderbergh wendet die Kamera aber nicht rücksichtsvoll ab. Gleich im Piloten zeigt er mit großer Liebe zu anatomischen Details, wie die Ärzte versuchen, einer Schwangeren wegen einer entdeckten Schieflage den Fötus aus dem Bauch zu schneiden. Das überleben nur die Ärzte. Ekel ist einkalkuliert: „The Knick“ konsumiert man am besten mit leerem Magen und einem Eimer neben dem Fernsehsessel.

Gottes gnadenlosestes Krankenhaus

Einen humanistischen Moralcodex sucht man in Gottes gnadenlosestem Krankenhaus vergeblich. Die Episoden werden von blankem Zynismus beherrscht. Im „Knick“ muss Geld verdient werden und man braucht tote Patienten, um Eingriffe trainieren zu können. Da werden schon mal Leichen aus der Pathologie gestohlen und eine gerade zur Witwe gewordene Frau erhält in der Urne keineswegs die Asche ihres Mannes, sondern die eines Schweins. 

Gut anschauen lässt sich das Ganze auf jeden Fall: Die Settings und damit auch das Production Design sind aufwändig umgesetzt worden. „The Knick“ unternimmt ähnlich wie „Boardwalk Empire“ eine sehr naturalistische und äußerst atmosphärische Reise in die Vergangenheit. Sie führt in die jüngere Steinzeit der Medizin, deren Vertreter sich selbst allerdings als Avantgarde der medizinischen Moderne erleben. 

Dass die Macher von „The Knick“ die historischen Zustände sorgfältig recherchiert haben, ist bei einem ambitionierten Serienprodukt dieser Art keine Überraschung. Soderbergh versammelte für die Serie einen großen Beraterstab um sich, in „The Knick“ dürfte historisch also alles stimmen.
Und Pioniere waren die „Götter in Weiß“ trotz aller Technikmängel durchaus. Thackerys reales Vorbild revolutionierte einige Operationstechniken und führte auch Kokain als stimmungshebendes und schmerzunterdrückendes Anästhetikum ein. Der fiktive Thackery tut dies auch und lässt sich selbst den Stoff zur Not auch von einer Krankenschwester in die Penis-Vene injizieren, wenn er nicht mehr imstande ist, die Spritze zu halten.

Ein formidables Vergnügen für Hartgesottene. Aber keineswegs originell.


The Knick – USA 2014 – Regie: Steven Soderbergh - Idee, Buch: Jack Amiel, Michael Begler, Steven Katz – Darsteller: Clive Owen, Andre Holland, Jeremy Bobb u.a. – VoD (Amazon)


Dienstag, 2. Juni 2015

Phoenix

Im Juni ist es wieder so weit: Der Deutsche Filmpreis wird vergeben. Christian Petzold, der immerhin zu den renommiertesten deutschen Regisseuren der Gegenwart gehört, ist mit seinem neuen Film „Phoenix“ nur in den Kategorien für die beste weiblichen Hauptrolle und die beste weibliche Nebenrolle dabei. Etwas verblüffend, ist „Phoenix“ doch ein Film, der ein Thema aufgreift, das jahrzehntelang im deutschen Kino vermint war.

Wer denn nun eine Lola erhalten wird, dürfte die Kinoöffentlichkeit nur eingeschränkt interessieren. Für sie ist der sogenannte Publikumspreis reserviert und der spiegelt wider, was die Leute hierzulande wirklich sehen. Was wiederum die Feuilletons kaum interessiert. Massengeschmack vs. Autorenfilm?
Das ist garantiert nicht das Thema der Jury, die für die Lola-Vergabe verantwortlich ist. Dennoch verblüfft es, dass einige der von der Kritik bejubelten Filme beim 65. Deutschen Filmpreis nur in den Nebenkategorien gelandet sind, etwas Claudia Messners „Die geliebten Schwestern“ oder Andreas Dresens „Als wir träumten“, der überhaupt nicht auftaucht. Allerdings sind die aktuellen Lola-Kandidaten keine Blindgänger.
Mein Tipp: In Berlin wird Sebastians Schippers formal innovative „Victoria“ aufs Siegertreppchen steigen. Mein Favorit „Im Labyrinth des Schweigens“ von Giulio Ricciarelli wird es wohl nicht schaffen. Warum aber der hyperaktive Hacker-Film „Who am I“ unbedingt in den illustren Kreis aufgenommen wurde, hat zumindest bei mir Ratlosigkeit erzeugt.



Displaced Persons

Es gibt Filme, die den Zuschauer mit der ersten Einstellung einfangen. „Phoenix“ beginnt mit so einem Bild, einer Nahaufnahme von Nina Kunzendorf vor einem diffusen, dunklen Hintergrund. Eine exquisite Einstellung, ähnlich aus Zeit und Raum gefallen wie die berühmten Closeups in Carl Theodor Dreyers „La passion de Jeanne d’Arc“ (1928). 
Petzold beginnt mit einem dissoziierenden Blick, erst die Folgeeinstellung beendet die Abspaltung und der Film beginnt mit der Identifizierung seiner Akteure. Wir sehen Lene (Nina Kunzendorf), die sich nachts mit ihrem Auto einem Checkpoint der US-Army nähert. Neben ihr sitzt eine in Decken gehüllte Frau, nicht zu identifizieren, aber offenbar entsetzlich verstümmelt. Die Soldaten prüfen die Papiere und bestehen rücksichtslos darauf, dass Lenes Begleiterin ihr Gesicht zeigt. Leitmotivisch geht es also um Identität und Identifikation. Aber noch stärker ahnt man das Grauen der Vorgeschichte, das sich hinter dem Gesicht der Unbekannten verbirgt. Davon erzählt „Phoenix“.


Spätsommer 1945. Lene, die für Jewish Agency arbeitet, bringt ihre Freundin, die Sängerin Nelly Lenz (Nina Hoss) zurück nach Berlin. Nelly ist Jüdin und hat eine Massenerschießung in Auschwitz-Birkenau nur knapp überlebt, dabei aber massive Geschichtsverletzungen erlitten. Der Chirurg, der sie nun zusammenflickt, wundert sich, dass die Künstlerin 1938 aus England ins Nazi-Deutschland zurückgekehrt ist: „Dann sind Sie zurück, als Jüdin? Warum?“
 Nun aber könnte sie ein völlig neues Gesicht bekommen. Zum Beispiel das von Zarah Leander. Vielleicht nicht das größte Übel für eine Jüdin im Deutschland des Jahres 1945 – nicht mehr erkannt zu werden, nicht Antworten geben zu müssen, aber auszusehen wie ein UFA-Star. Nelly will aber kein neues Gesicht, sie will ihr altes zurück. In der Klinik geistert sie mit anderen Patienten, deren Gesichter ebenfalls bandagiert sind, durch die Gänge – Mumien, die vielleicht ebenfalls zu den über 6 Millionen Displaced Persons gehören, die in den Nachkriegsjahren die westlichen Besatzungszonen bevölkerten. Oder auch nicht, denn es gab sicher auch andere Gründe, um im Nachkriegsdeutschland sein Gesicht loszuwerden.

Aber Nelly will auch ihr altes Leben zurück, sie will ihren Mann Johnny (Ronald Zehrfeld) finden, einen Deutschen, der sie während der Kriegsjahre so gut es ging vor der Gestapo versteckte, ehe Nelly 1944 entdeckt wurde. Und Nelly will wissen, ob Johnny sie an die Nazis verraten hat.
 Lene will mit ihrer Freundin nach Palästina auswandern, Nelly durchstreift dagegen traumwandlerisch das nächtliche Berlin, immer auf der Suche nach Johnny, der so schön Klavier spielen konnte. Und dann findet sie ihn, in einer amerikanischen Bar, die „Phoenix“ heißt. Was dies allegorisch bedeutet, ist überklar. Aber Johnny spielt dort nicht Klavier, sondern arbeitet als Kuchenhilfe. Nelly gibt sich nicht zu erkennen und auch Johnny erkennt seine tot geglaubte Frau nicht, ist aber von der frappierende Ähnlichkeit der Unbekannten so überzeugt, dass er ihr einen morbiden Vorschlag macht: die fremde Doppelgängerin soll die Rolle seiner Nelly einnehmen, um gemeinsam an das Erbe der Toten zu gelangen.

Darstellerisch ist „Phoenix“ grandios. Nina Hoss (u.a. „Yella“, „Jerichow“ und „Barbara“) verkörpert die Holocaust-Überlebende mit präziser Mimik und Gestik als Frau, die nicht begreifen kann, warum sie noch lebt. Psychologisch hebt Petzold anfänglich die Distanz zu seiner Figur nicht auf, er psychologisiert sie nicht aufdringlich, sondern lässt den Zuschauer in Nellys anfänglicher Sprachlosigkeit den Riss erkennen, den das Überleben (scheinbar paradox) einer menschlichen Exstenz zufügen kann. Schlichter gesagt: Man zieht nicht um den Block, wenn man Auschwitz hinter sich hat.
Beinahe noch eindrucksvoller ist Nina Kunzendorfs (u.a. Bayerischer Fernsehpreis für „Marias letzte Reise“) Spiel. Lene ist mit Deutschland fertig, sie versteht ihre Freundin nicht: „Die Überlebenden kommen zurück – und verzeihen!“ Der ultimativen Zivilisationskatastrophe setzt sie die Utopie eines Exodus ins Gelobte Land entgegen – im Land der Faschisten gibt es keine Rückkehr zu dem, was Nelly will: ihre Identität. Kunzendorf spielt dies mit harter Entschlossenheit, umtriebig, agil, messerscharf in der Analyse.
Ronald Zehrfeld (u.a. in „Barbara“, „Im Angesicht des Verbrechens“, „Weissensee“) gelingt es, sein jungenhaftes Aussehen gekonnt zu konterkarieren. Hinter der manipulativen Härte, mit der er Nelly beinahe rüde überredet, eine Doppelgänger-Rolle zu übernehmen, verschwindet das Psychologische. Johnny redet zwar viel und energisch, aber Petzolds Regie lässt der Figur wenig Raum und konzentriert sich eher auf die Außenansichten eines Mannes, dessen Motive bis zum Schluss unklar bleiben. Zehrfeld konturiert dies geschickt, sein Johnny bleibt trotz seiner vordergründigen Härte zwischen Verletzlichkeit und möglicher Schuld immer authentisch.



Zwischen Trümmerfilm, Fassbinder, Sirk und Hitchcock

„Phoenix“ knüpft lose an die deutschen „Trümmerfilme“ der Nachkriegszeit an und wagt den ambitionierten Versuch, das Leben nach dem Holocaust mit einem Genremix aus noir und Melodram zu kommentieren. Diese Perspektive ist nach Petzolds Filmen „Die innere Sicherheit“ (Deutscher Filmpreis 2001) und „Barbara“ (Deutscher Filmpreis in Silber 2012), um nur einige der politisch expliziteren Arbeiten des Regisseurs zu nennen, stilistisch eine Überraschung.
Das Drehbuch hat Christian Petzold zusammen mit Harun Farocki verfasst. Farocki, der lange Jahre Petzolds Co-Autor gewesen ist, starb kurz vor der Uraufführung des Films im Alter von 70 Jahren. Farocki war es, der Hubert Monteilhes „Le Retour des Cendres“ (dts. „Der Asche entstiegen") entdeckt hat. In dem französischen Krimi aus dem Jahre 1961 findet man den Kernplot von „Phoenix“ wieder.
Monteilhes Geschichte kam schließlich 1965 in J. Lee Thompsons „Return from the Ashes“ zum ersten Mal auf die Kinoleinwand: Maximilian Schell spielt in dem Film den Schachmeister Stanislaus Pilgrin, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs seine Frau für tot hält. Die Jüdin Michele (Ingrid Thulin) hat aber das KZ überlebt, ihr Aussehen wurde chirurgisch verändert. Als Michele ihren Mann aufsucht, erkennt dieser seine Frau nicht und überredet sie dazu, die Rolle Micheles zu spielen, um an das Geld der vermeintlich Toten zu gelangen.
Einen noch größeren Einfluss auf die Scriptentwicklung hatte laut Petzold aber Alexander Kluges Kurzgeschichte „Ein Liebesversuch“ aus dem Jahre 1962. Kurz vor dem Beginn der Auschwitz-Prozesse, von denen Giulio Ricciarellis „Im Labyrinth des Schweigens“ erzählt, schildert Kluge die Geschichte eines medizinischen Versuchs, der in Auschwitz stattfand. Um die Wirksamkeit der Massensterilisation durch Röntgenstrahlung zu prüfen, werden in Kluges Geschichte ein männlicher und ein weiblicher Lagerinsasse in eine luxuriös ausgestattete Zelle gesperrt und zum Beischlaf animiert. Aber der Versuch scheitert, die Versuchspersonen, die zuvor tatsächlich eine Liebesbeziehung hatten, verweigern sich und werden schließlich erschossen. Kluges „Ein Liebesversuch“ wurde Pflichtlektüre für Petzolds Darsteller.



Mehr Melodram als Film Noir

„Phoenix“ lässt sich als Chiffre einer Identitätsauslöschung lesen. Die inneren Verwüstungen der Überlebenden des Holocaust werden symbolisch in den äußeren Verwüstungen Nellys sichtbar. Auch nach der Gesichtsrekonstruktion kann sie nicht mehr erkannt werden, weil die inneren Verwüstungen nicht verschwinden wollen. Nelly will sich aber selbst wiederfinden. Hartnäckig, mit zunehmendem Trotz legt sie ein Veto ein gegen die Verhältnisse, ohne zu verdrängen, dass es eine unbeantwortete Frage gibt: Ist sie verraten worden?

Mit den ausdrücklich politischen „Trümmerfilmen“ wie Wolfgang Staudtes „Die Mörder sind unter uns“ (1946) hat „Phoenix“ aber wenig zu tun. Das deutsche Nachkriegskino glaubte an einen politisch-moralischen Auftrag, der mit Aufklärung verbunden war. Daran wollte das Kinopublikum allerdings nicht teilhaben, es wollte nichts wissen und suchte den Eskapismus, der dann im Kino der 1950er hohe Wellen schlug und eigentlich auch nie richtig aus den Köpfen verschwand. 

Da passt es, wenn man in den Archiven stöbert und im SPIEGEL (4/1969) nachlesen kann, dass ein hessischer Regierungspräsident einem engagierten Lehrer zweimal den Job kündigte, weil dieser Alexander Kluges Liebesverlust im Unterricht lesen ließ. Unvorstellbar sei der „fast brutal anmutende Zwang auf die Schüler“, stellte der Beamte fest, für den es unvorstellbar war, dass sich 15- bis 16-jährige Schüler in die Verhältnisse eines KZ's hineindenken sollen. Und dann noch diese sexuelle Problematik. Man fühlt sich an die eigene Schulzeit erinnert, in Hessen gab es wenigstens Proteste.

Petzold macht aus der beinahe vergessenen filmhistorisch kurzlebigen Episode der „Trümmerfilme“ ein Melodram, das heute keinen mehr aufregt, ab 12 Jahren freigegeben ist und eher an Douglas Sirk und die reifen Arbeiten Rainer Werner Fassbinders erinnert (beispielsweise „In einem Jahr mit 13 Monden“), aber auch ohne Pedro Almodóvars „Die Haut, in der ich wohne“ (La piel que habito, 2011) nicht denkbar wäre – Regisseure, die ein Faible für starke, provozierende Frauenfiguren hatten und haben, aber auch von Männern erzählen, die Frauen mehr oder weniger gewaltsam manipulieren.
Unübersehbar stand auch Alfreds Hitchcocks „Vertigo“ Pate für
„Phoenix“. In Hitchcocks Film, in dem James Stewart eine Frau nach dem Ebenbild seiner toten Liebe formt, wurde bereits das romantische Doppelgängermotiv mit dem Verlust der weiblichen Identität kurzgeschlossen, so wie ihn Kim Novak in den Obsessionen James Stewarts erlebt.

Obwohl in „Phoenix“ gelegentlich lange Schatten zu sehen sind, ist der Film eher kein Noir-Film. Weder Lene noch Nelly sind ‚femmes fatales’ und eine paar atmosphärisch gelungene Kameraeinstellungen muss man nicht gleich mit noir assoziieren. Also nur etwas noir, aber sehr viel Melodram, starke, aber keineswegs lebensgefährliche Frauen und ein Land, das in Trümmern liegt, aber Raum lässt für geschmackvoll arrangierte Genretopoi. 
Ist das politisch korrekt?
Anders als bei Staudte tauchen in „Phoenix“ keine Nazis auf. Vielmehr verwandelt sich Deutschland in Petzolds Film in eine Traumlandschaft, vor deren Hintergrund eine vergebliche Suche nach der verlorenen Zeit und verlorenen Liebe stattfindet. Petzold musste sich sogar vorhalten lassen, dass in seinem Film die deutschen Juden wieder in ihren alten Villen sitzen und sein Film möglicherweise ein böses Klischee bedient. Das ist natürlich Unsinn und eine absurde Version der Political Correctness, die eigentlich schon selbst antisemitisch ist. Suggeriert wird nämlich, dass nur jene Juden legitime Holocaust-Opfer sind, die zuvor nichts mit Geld am Hute hatten.

Willkürlich ist diese Kritik nicht, sie drückt Spannungen aus, die der Film selbst atmosphärisch entstehen lässt. Christian Petzolds Film ist der interessante und punktuell gelungene Versuch, deutsche Nachkriegsgeschichte aus der Perspektive der Genrekinos nachzuzeichnen. Die Liste großartiger Vorbilder für seinen Film ist ellenlang, aus „Vertigo“ werden sogar klassische Schlüsselszenen übernommen und stilsicher neu arrangiert. Petzold, der große Kinokenner, wird sich der Vorbilder für seinen Film durchaus bewusst gewesen sein. Er war sicher auch nicht so naiv, um zu glauben, dass man mit einem Melodram den Identitätsverlust der Holocaust-Opfer nach- und durchzeichnen kann. Das war wohl auch nicht seine Absicht, aber die starke Genrefixierung von „Phoenix“ zeigt diese Geschichte, von der viele mittlerweise nichts mehr wissen wollen, als raffinierte, allerdings stilsichere Melange von Zitaten: Nellys Suche ist am Ende nur eine private Katastrophe, hinter der das Historische wie in Nebel gehüllt erscheint. Oder anders gesagt: In der Verknüpfung komplexer Metaphern und geschmackvoll arrangierter Filmtopoi entsteht eine gegenseitige Kommentierung, die zu einer Über-Konnotierung führt. Und die führt halt zu Unschärfen.

Das ist vielleicht gewollt. Zum einen lässt Petzold mit der Figur der Lene die einzige Figur per Suizid aus dem Film verschwinden, die bissig die artifizielle Versponnenheit der Hauptfigur schonungslos kommentierte und dabei eine geschichtsreflexive Position einnahm. Inhaltlich beinahe eine Katastrophe, erzähltechnisch sicher effizient. Zum anderen ist das Filmende zwar dramaturgisch grandios, aber unschlüssig – und erneut eine kunstvoll verschlüsselte Reminiszenz.
Als Nelly dank Lenes Abschiedsbrief klar wird, welche perfide Rolle ihr Johnny bei ihrer Internierung tatsächlich gespielt hat, singt sie auf der Begrüßungsfeier noch einmal – mit Johnny am Klavier. Es ist „Speak Low“, ein Song von Kurt Weill für das Broadwaystück „One Touch of Venus“. Dort wird die Statue der antiken Göttin Venus versehentlich von einem Mann zum Leben erweckt, verliebt sich in diesen aussichtslos und erstarrt am Ende wieder zu Marmor:
„We're late, darling, we're late
, the curtain descends
. Everything ends too soon, too soon
. I wait, darling, I wait. 
Will you speak low to me, speak love to me and soon.“

Johnny, der endlich erkennt, wer das singt, erstarrt auch, während sich Nelly in der letzten Einstellung in der Unschärfe einer Gegenlichtaufnahme auflöst.
 Das hinterlässt ein ungutes Gefühl nach einem Film, dessen erste Einstellung bereits unwiderruflich in den Bann zog.

Noten: BigDoc = 3

Phoenix – Deutschland 2014 - Laufzeit 95 Minuten – FSK 12 - Regie: Christian Petzold – Drehbuch: Christian Petzold, Harun Farocki – Kamera: Hans Fromm – Darsteller: Nina Hoss, Ronald Zehrfeld, Nina Kunzendorf, Kirsten Block, Imogen Kogge u.a.