Mittwoch, 19. Juni 2013

DVD-Review: Dexter, Season 6 & 7

Etwas herb und nervig am Anfang, dafür stark im Abgang. Diesmal beschäftigt sich Dexter nicht ganz freiwillig mit Religion, Gott und der Welt. Und Debra findet heraus, wer der richtige Mann in ihrem Leben ist. Die 6. Season von „Dexter“ funktioniert wie ein Mittelklassewein – erst will er nicht schmecken, dann entdeckt man wenigstens einige Vorzüge. Die 7. Season ist dagegen so gut geworden, dass sie selbst eingefleischte Fans überraschen wird.
 

Als Dexter ab 2006 über die Mattscheiben flimmerte, erlebten Serien-Aficionados einen Kulturschock. Die Helden waren nicht ein unbestechlicher Cop oder ein kauziger Forensiker, der zusammen mit einem Team aus noch kauzigeren Spezialisten auf Mörderjagd geht (Bones), sondern ein finsterer Forensiker, der als Blutspurenanalytiker im Miami Police Department arbeitet, in seiner Freizeit aber als Serienkiller seinen dunklen Trieben nachgeht. Nun ist die 6. Season mit zweijähriger Verspätung in Deutschland auf dem Markt, aber schon lange ist bekannt, dass in den USA zum ersten Mal die Ratings im Keller waren. Kühlt sich das Phänomen Dexter ab?

Ein kalkulierter Tabubruch

Ein Soziopath, der menschliche Gefühle imitiert, weil er selbst keine hat. Der wohl übelste fiktive Serienmörder seit Hannibal Lecter. Und trotzdem eine Figur, die nicht nur wegen der darstellerischen Performance von Michael C. Hall die meisten Zuschauer dazu verführt hat, ihr die Daumen zu drücken.
Was Showtime, der zweitgrößte Cable TV-Anbieter der USA, da vom Stapel ließ, war ein gewaltiger Tabubruch. Aber ein ziemlich erfolgreicher, selbst die humorlosesten Moralisten konnten den innovativen Schwung der Serie nicht leugnen: Harte, aber keineswegs splatterige Unterhaltung für Erwachsene. Die Folge: Die Serie wurde bei den Emmys und den Golden Globes mit Preisen zugeschüttet und konnte dort mit Breaking Bad und Mad Men zumindest auf Augenhöhe agieren.
Mit Dexter ist nach der 8. Season dann doch wohl Schluss. Blicken wir zurück: Die erste Season traf den Zuschauer noch mit voller Wucht, dann wurden die funkelnden Werkzeuge ausgebreitet, das Thema wurde in den folgenden Staffeln in allen denkbaren Facetten durchdekliniert. Dies immer wieder zu toppen, ist alles andere als leicht. Wenn die Quoten stimmen, und das war bei Dexter bis zur 6. Season der Fall, muss man sich um exzellente Bücher bemühen.
Das klappt nicht immer. Und auch Dexter begann zu schwächeln. Das hatte Gründe: Die Männer und Frauen der ersten Stunde, die kreativen Köpfe, verließen Dexter spätestens nach erfolgreichen 4. Staffel und mit Scott Buck hat die 6. Season Serie den x-ten Showrunner. Und zum ersten Mal gingen dann die von Metacritic ermittelten Ratings in den Keller. 

Dexter am Ende? Auserzählt und angezählt?
Doch dann kam die dramatische Kehrtwendung: Die 7. Season erzielte in der zweiten Jahreshälfte 2012 Superquoten, fast so hoch wie in den Jahren 2006 – 2008. Ein Comeback, das wie ein Lucky Punch aus dem Nichts kam.

Dexter auf der Suche nach Gott?

Die 6. Staffel ist seit Juni auf dem deutschen DVD- und Bluray-Markt, die siebte gibt es in England zu kaufen. Doch zunächst zu 6. Season: unumstritten ist sie nicht. Wie immer hat Dexter zwar abgefeimte Gegenspieler, aber stärker als je zuvor erhält die Backstory ein Leit-, oder besser gesagt: ein Leidthema. Es ist die Religion.
Dexter muss sich nicht nur mit einem männlichen Killerpärchen anlegen, das mit Ritualmorden die in der Offenbarung des Johannes beschworenen Siegel öffnen will. Damit soll endlich der Weltuntergang heraufbeschworen werden. Nein, Dexter muss auch noch zwischen den Morden (und es sind nicht wenige und alle sind sie etwas wahllos) nach einem passenden Kindergartenplatz für seinen Sohn Harrison suchen und landet dabei natürlich in einer konfessionellen Einrichtung, wo er mit lästigen Fragen nach seinem Glauben konfrontiert wird. Auch der farbige Ex-Knacki „Bruder Sam“, den Dexter ganz oben auf seiner Hitliste platziert hat, entpuppt sich als geläuterter und moralisch integrer Mensch, der in seiner Autowerkstatt einige schwarze Schafe auf den rechten Weg bringen will und auch Dexter fortan auf den richtigen Pfad führen will.
 

Leider wirkt dies alles recht konfus. Der religiöse Kern des Plots ist so dominant, dass er die Handlung bis in die feinste Verästelung durchdringt. Überzeugend wirkt das also nicht, im Gegenteil. Dexter steht zwar vielen Fragen nach seiner moralischen Identität gegenüber, da aber fast jede Wendung des Plots dem Thema ‚Dexter und die Religion‘ geschuldet ist, wirkt vieles schlicht und einfach überkonstruiert.
Es ist aber nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form, die in die Knie geht. Die Skripts schwächeln: eine konsistente Handlung will sich in den ersten 5-6 Episoden nicht aufbauen, dafür verlieren sich die ersten Episoden in einer fast wahllos wirkenden Mordserie, mit der Dexter seinen Bedürfnissen freien Lauf lässt. Das Timing der Storyline ist einfach schlecht. 

Des Guten zu viel sind auch Dexters imaginierte Gespräche mit seinem verstorbenen Adoptivvater Harry, die fast pausenlos stattfinden. Zu diesem Gesprächskreis gesellt sich auch noch Dexters Bruder Rudy, der „Kühllaster-Killer“. Dexter unterhält sich fast ununterbrochen mit Toten, aber nicht nur diese Gespräche, sondern auch Dexters innere Monologe waren in der Vergangenheit deutlich witziger. In Season 6 wird Bekanntes wiederholt und damit zum Kalauer. Lustlose Arbeit der Scriptwriter – da blieb nur Kopfschütteln und der verzweifelte Ruf: Calm down, das ist zu viel des Guten!

Es ist also nicht nur die Zwanghaftigkeit der Backstory von Dexter 6, sondern es ist auch die Lieblosigkeit vieler kleinerer Details, die zusammen dafür sorgen, dass alles erst in den letzten Episoden etwas auftaut und Fahrt aufnimmt. Der eine oder andere Plot-Twist gelingt, aber Spannung kommt letztendlich durch die Entwicklung von Dexters Schwester Debra (Jennifer Carpenter) auf, die überraschend zum Lieutenant befördert und von internen Intrigen des Departments so gebeutelt wird, dass sie auf der Couch einer Psychiaterin landet. Dort erfährt sie etwas, was sie gar nicht wissen wollte.

Töten macht Spaß: Wie macht man einen Psychopathen sympathisch?

Wichtig für den Serienerfolg von Dexter war nicht nur der Tabubruch, einen Psychopathen zum Helden einer TV-Serie zu machen. Man musste auch das Publikum dazu verführen, diese Figur zu lieben. Um den morbiden Serienkiller einigermaßen akzeptabel zu machen, ließ man Dexter im Off über sein Gefühlsleben erzählen. Das sorgte besonders in Season 1 für bemerkenswerte Pointen, aber auch für heftigen Widerstand in der Öffentlichkeit bis hin zum Verdacht, dass Dexter einen Copycat-Killer auf den Plan gerufen hatte (1).
Die Vielschichtigkeit der Figur wurde in den Backstorys gesteigert. Der Zuschauer erfuhr, dass es in Dexter doch wohl Reste eines moralischen Gewissens gibt: Und so erfährt Dexter einiges über seine traumatische Kindheit, Dexter heiratet, hat ein Family Life, am Ende gar einen Sohn etc. etc. Aber am wichtigsten: Dexter denkt über seinen Dark Passenger, den dunklen Begleiter nach, und wird immer skrupulöser. Der Serienheld, der – um es nicht zu vergessen – trotz seines Codex immer aus Lust tötete, wurde sympathisch. Im Monster steckte ein Mensch.
 

Diese narrativen Tricks erzählen auch eine Menge über das Phänomen des Seriellen im TV, aber das ist ein anderes Thema. Festzuhalten ist, dass das Identifikationspotential der Serie erst durch die lustvolle Dekonstruktion der Figur Dexter möglich wurde.
Immer wieder wurde die Figur folglich auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Eine Konstante blieb dabei der Kodex von Dexters Adoptivvater Harry Morgan, der den ‚dunklen Begleiter‘ seines Ziehsohnes früh erkannte und den jungen Dexter so konditionierte, dass er zwecks Triebbefriedigung ausschließlich üble Bösewichter umbringen sollte: Killer, die der Justiz durch die Maschen gegangen waren, Killer, die noch schlimmer waren als Dexter. Nicht etwa, weil sie mordeten, sondern weil sie keinen Codex besaßen. Interessanterweise taucht Dexters toter Bruder in Season 6 auch deswegen auf, weil er Dexter mit der Vision eines völlig losgelösten Vision des Mordens konfrontieren soll – reiner Spaß, kein Codex mehr.
 

Nun, Dexter lässt sich nicht verführen. Ein Tabubruch reicht. Um die Figur weiterhin konsistent zu entwickeln, wurde daher von den Machern ein verborgenes, aber im US-Kino (weniger in der TV-Serien, obwohl das Motiv in The Shield und The Wire ansatzweise auftaucht) ständig virulentes Motiv eingeführt: der Vigilantismus. Der Avenger, der Rächer also, der die Lücken des Gesetzes schließt und das Recht in die Hand nimmt, drängt in den amerikanischen Medienprodukten immer wieder aus den Untiefen des gesellschaftlichen Rechtsbewusstseins nach oben und legt dessen Gespaltensein frei. Das ideologische Momentum des Ganzen liegt in einer fiktionaler Erzählung allerdings in der Abgrenzung zur Realität: während man im wirklichen Leben im Kleinklein der kriminaltechnischen und juristischen Beweisführung an Grenzen geraten kann und deshalb einen Täter schon mal laufen lassen muss, schert sich die Fiktion einen Dreck um solche Beschränkungen und zeigt dem Zuschauer, dass Dexters Opfer tatsächlich Monster sind, deren Beseitigung Dexters vornehmste Aufgabe ist.
Dererlei Sicherheiten gibt es in einer zivilen Gesellschaft nicht und die Diegese, in der sich die Figur Dexter bewegt, ist daher atavistisch und konstruiert. Und sie zieht diese Sollbruchstelle unseres zivilen Codex gnadenlos ins Kalkül ein. Und das ist dann das eigentliche, das laszive Thema in Dexter. Der moralische Konflikt des Zuschauers wird in der Apotheose des Vigilantismus aufgelöst und erträglich gemacht: der Held tötet aus moralischer Notwendigkeit und Lust die wirklich Bösen, deren Bestrafung der Gesellschaft nicht gelingt.
Übrig bleibt also als Leerstelle die Lust am Töten. Diese Lust wird in Dexters schizophrener Abspaltung einer moralisch wertenden Instanz (der Stiefvater als imaginiertes Über-Ich) immer wieder als Gefahr beschrieben, neu verhandelt und als notwendiges Übel geduldet, aber von Dexter natürlich maßvoll genossen. Wenn allerdings Rudy, der Dexter zur völligen Freiheit drängt, zu einem entgrenzten Nihilismus, der für das Töten keine Gründe mehr benötigt, totaler Spaß also, Hedonismus pur, dann kann Dexter dies nur kurz ausleben, um es dann aber zugunsten eines kontrollierbareren Treibmodells zurückzuweisen.

So zeigt Season 6, und das ist der eigentliche Kniff, dass der Serienmörder ein Wahnsinniger ist, der seinen Wahnsinn sozialisiert hat und in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Seine relative, also nicht uneingeschränkte Triebkontrolle ist die Verhandlungsmasse, die die Serie in die Rezeption einbringt. Es ist eine Meta-Erfahrung, die der Zuschauer teilt, auch wenn dessen Triebinteressen in der Regel entschieden angepasster sein dürften. Dexter Selbstbeherrschung, seine Professionalität und sein rationales Vorgehen entsprechen weitgehend den Regeln der modernen Arbeitsgesellschaft, in der der ungezügelte Rausch immer nur ein ferner Traum ist und bleiben soll.
 

Auch wenn kultur- und ideologiekritische Reflexionen in der Medientheorie nicht mehr sonderlich attraktiv sind, sollte man hier ein wenig innehalten und sich überlegen, was man da eigentlich guckt. Ein kleiner Bissen, der einem im Halse stecken bleiben kann, sei als Zwischenfazit serviert: Der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik outete sich in seinem 1500-seitigen Manifest als expliziter Dexter-Fan (2), was Andreas Mertin in einem lesenswerten Essay sehr düster auf den Punkt bringt (3).

Dexter 7: Das Ende kündigt sich an

Dexter 6 endet mit einem brutalen Cliffhanger. Mitten in der Handlung wird der Cut gesetzt und eine Figur, die eigentlich immer die ärmste Sau ins Dexters Kosmos gewesen ist, wird an die Grenzen ihrer moralischen Integrität getrieben: es ist Dexters Schwester Debra, deren Verhältnis zum Halbbruder auf den inzestuösen Kern zusteuert. Es gab immer wieder Figuren, die Dexters Identität kennenlernen durften. Nicht alle haben dies überlebt. Nun ist es Debra, die endgültig weiß, wen sie da in der Familie hat. Und sprunghaft legt die Serie zu: die Skripts sind besser, die Backstory wirkt logisch und nachvollziehbar, die Nebenfiguren sind fesselnd. Wer sich Season 7 ohne längere Pause unmittelbar nach der letzten Episode von Season 6 anschaut, wird mit einem Qualitätssprung überrascht, der sich so unmittelbar und dramatisch ereignet, dass man sich fragt, was denn um alles in der Welt die Macher vorher anders gemacht haben.

Ganz einfach: Dexter ist in der vorletzten Staffel nicht mehr der Fixstern, um den sich alles dreht. Er wird zu einer Figur, deren nahendes Ende sich durch die emotionalen Risse ankündigt, die sein Credo unweigerlich ausgelöst hat. Debras Verzweiflung über die wahre Natur ihres Bruders verwandelt sich in einem furiosen Prozess zur völligen Amalgamierung, die über Billigung, Unterstützung und Einsicht schließlich zum ersten Mordauftrag führt – den Dexter seiner Schwester abschlägt! Dass sich der inzestuöse Kern der Beziehung offen manifestiert, treibt das Ganze auf die Spitze und endet in einer Tat, die auch eingefleischte Dexter-Fans schockieren wird. No more Family Life?

Auch die Nebenfiguren gehören zum Besten, was die Serie bislang zu bieten hatte. Dexters großer Gegenspieler ist Isaak Sirko, der führender Kopf einer ukrainischen Mafia-Bande, der Dexter aus persönlichen Gründen erbarmungslos verfolgt und am Ende fast zu seinem Freund wird. Und Dexter findet auch seine große Liebe in Hannah McKay (Yvonne Strahovski), einer „Berufskollegin“, mit der Dexter auf seinem Hinrichtungstisch schläft, anstatt sie zu töten.
Das ist schon großes Kino, was da auf dem Bildschirm zu sehen ist. Der vertraute Themenpark wird in Dexter 7 durchgekaut, aber ziemlich pointiert und erschreckend clever und verführerisch: noch stärker als zuvor wird das Thema ‚Selbstjustiz’ dem Zuschauer angedient, während die Hauptfigur immer drängender den triebhaften Aspekt ihrer Obsession reflektiert. Alle Figuren werden an Rand ihrer existentiellen Selbstentwürfe getrieben, während Dexter wie ein schwarzes Loch fast alles anzieht, verschlingt und zerstört, was ihm zu nahe kommt.
 

Man darf gespannt sein, wie das alles ausgeht. Während der Zuschauer wissen will, ob es Dexter schlussendlich erwischt, wird das Serienphänomen Dexter noch für eine längere Zeit die Diskussion um das sogenannte Quality TV anheizen. Immerhin haben die Macher von Dexter die Kunst der horizontalen Erzählens mit jener narrativen Komplexität angereichert, die zu einer der wichtigsten Qualität des Seriellen führt: der Rewatchability. So zu erzählen, dass man das Produkt nicht nur im TV konsumiert, sondern auch in der Nachverwertungsschiene wahrnimmt, kauft und es zwei-, freimal anschauen möchte, ist mittlerweile ein entscheidendes Kriterium in der cross-medialen Landschaft geworden. Im Gegensatz zu Serien wie The Wire, die ihre Rewatchability auch aus den gesellschaftlichen Bezügen ableiten kann, ist Dexter Fiction pur – eine Kunstwelt, die den Spagat zwischen Tabubruch und suggestiver Vereinnahmung des Zuschauers weitgehend gemeistert hat und gleichzeitig den Paradigmenwechsel im seriellen TV anzeigt wie kaum eine andere Serie: Nicht mehr Vertrautes zu variieren, sondern den stillschweigend akzeptierten Codex der relativen Moralität eines Serienhelden zu versenken. Alles, was danach geschieht, spielt sich in den Köpfen der Zuschauer ab, und die eigentliche Moral der Serie ist, dass sie keine mehr gut lesbar vor sich herträgt.


Postscriptum

(1) "I appreciate that the show operates in a grey area and creates a sense of ambiguity in the viewer," Hall says, "I'd like to think that maybe the show takes a bit more responsibility than some do in terms of what it's portraying". The American pressure group, Parents Television Council, isn't so sure. Its president, Timothy Winter, articulated the misgivings of many when he declared: "The biggest problem with the series is something that no amount of editing can get around: the series compels viewers to empathise with a serial killer, to root for him to prevail, to hope he doesn't get discovered." Just last month Dexter's producers faced the nightmare of what appears to have been a copycat killing after a 29-year-old film-maker from Edmonton in Canada, Mark Twitchell, was arrested for a murder that suggested life was imitating Dexter. "I don't think the show in any way advocates being a serial murderer," Hall tells me. "If I did I would have a problem, but it's a meditation on the nature of morality rather than a celebration of the serial-killer lifestyle" (http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/tv/features/dexter-the-serial-killer-loses-his-mojo-1217792.html).
 

(2) „I am currently watching Dexter, the series about that forensic mass murderer. Quite hilarious“, A. B. Breivik: 2083: A European Declaration of Independence (2083: Eine Europäische Unabhängigkeitserklärung), zitiert aus Andreas Mertin in: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren, Tà katoptrizómena, Heft 72, 2011.
 

(3) „Vor allem aber ist der Verweis (in Breiviks Manifest, der Verf.) auf die Fernsehserie Dexter interessant. Die Handlungsfigur des Serienkillers Dexter Morgan, der nach seiner Ansicht schuldig gewordene Menschen tötet, könnte nicht zuletzt der Selbstlegitimation gedient haben. Unsinnig ist die Anmutung der rechten Szene, Dexter erkläre etwas von der Tat in Oslo und Utøya. Nein, das tut es nicht. Aber es könnte zeigen, dass der Täter sich über das grundsätzliche Unrecht, das auszuüben er im Begriff war, im Klaren war, dass er sich der Verwerflichkeit seiner Tat bewusst war. Die Ähnlichkeit einer bürgerlichen Doppelexistenz, die im alltäglichen Leben als normal erscheint und die im Verborgenen dem Verlangen nach tödlicher Bestrafung der vermeintlich Bösen nachgeht, ist jedenfalls auffällig. Das würde zugleich deutlich machen, dass er voll verantwortlich für seine Taten ist und kein Schlupfloch einer Geistesgestörtheit bleibt. Die Faszination, die er gegenüber der Fernsehserie artikuliert, ist seine Faszination des Bösen an sich. Zu wissen, dass das, was man tut, böse ist, dass es zugleich Folgen zeitigt, die noch katastrophaler sind, und dass man dennoch nicht davon ablässt. Er wollte nicht Böses tun, um noch Schlimmeres zu verhindern, wie er im Manifest behauptet. Er war fasziniert vom Bösen an sich, von den Killern und politischen Mördern des 20. Jahrhunderts, die religiöse, politische, rassistische Ideologien verwenden, um ihrer Mordlust nachzugehen. Das ist der ganz banale Kern. Darum herum hat er dann 1500 Seiten Ideologie gestrickt bzw. von anderen sich stricken lassen“ (Mertin, ebd, http://www.theomag.de/72/am362.htm).

Mittwoch, 5. Juni 2013

Oh Boy

D 2012, R: Jan Ole Gerster. Mit Tom Schilling, Marc Hosemann, Friederike Kempter, Ulrich Noethen, Justus von Dohnányi, Michael Gwisdek, Katharina Schüttler. Ab 12 Jahren, Laufzeit: 88 Minuten

Gleich zu Beginn lässt Jan-Ole Gersters Held Niko seinen One-Night-Stand abblitzen. Erst redet er um den heißen Brei herum, dann schweigt er vielsagend, bis die junge Dame versteht. Schweigen wird Niko, ein verkrachter Jurastudent Ende 20, sehr häufig in „Oh Boy“.
Er beobachtet lieber. Vielleicht hat er auch nicht viel zu sagen. Er ist ein Drifter, oder anders formuliert: er ist kein Flaneur.


Ursprünglich ist ein Flaneur eine literarische Konstruktion, eine Kunstfigur, die unauffällig die Straßen der Großstadtmetropolen durchstreift und mit ihren ästhetischen und intellektuellen Reflexionen die Schnittstellen des Lebens widerspiegelt. Walter Benjamin hat sehr viel Schönes über den Flaneur geschrieben. Jan-Ole Gersters Hauptfigur Niko (Tom Schilling) ist dagegen ein junger Mann, der sich nur treiben lässt. Von flüchtigen Begegnungen, von Zufällen, ohne Ziel. Von irgendeiner Art Reflexion kann bei dieser post-modernen Kunstfigur auch keine Rede sein.
Stattdessen reden pausenlos alle anderen in „Oh Boy“: zum Beispiel der Amtsspsychologe, der Niko wegen 0,7 Promille als fahruntauglich einstuft, der Nachbar seiner neuen Wohnung, der Niko mit selbstgemachten Fleischbällchen überwältigt und unter Tränen von seiner Frau spricht, deren Brüste amputiert worden sind, sein Freund Matze (Marc Hosemann), der mit ihm zum Set einer allem Augenschein nach strunzdämlichen Nazi-Klamotte fährt. Und irgendwann landen Matze und Niko dann, es ist bereits Nacht, in einer alternativen Theatervorstellung, wo Niko einer ehemaligen Mitschülerin (toll gespielt: Friederike Kempter) begegnet, die er einst in der Schule zusammen mit Mitschülern wegen ihrer Fettleibigkeit gemobbt hat.

„Oh Boy“ will eine Komödie sein, doch die Episoden des Films listen lediglich eine Palette von Situationen auf, die fast zwanghaft auf kauzig getrimmt worden sind. Und so erlebt Niko an einem Tag und der darauffolgenden Nacht mehr, als andere Menschen in einem ganzen Jahr. Es geht atemlos zu in Berlin. Und lediglich die Episode mit der Großmutter eines Kleindealers und eine traurige Kneipenbekanntschaft am Ende geben dem Held eine empathische Kontur. Zumindest ein wenig. Dazwischen ist Niko nicht einmal Stichwortgeber und schon gar nicht ein Flaneur, dem man zutraut, etwas über das Biotop zu wissen, in dem er sich treiben lässt. Das diegetische Berlin schrumpft innerhalb von 24 Stunden zu einer nicht enden wollenden Galerie der schrägen Typen, in die sich auch Nikos Vaters einreiht, der seinem Filius das Konto sperrt.
Über allem hängt eine gewisse Tristesse. Und Jan-Ole Gerster gelingen in seinem schwarz-weiß gedrehten Berlin-Portrait auch viele stimmungsvolle Bilder. Vielleicht schwebte Gerster ein Schuss John Cassavetes oder „La Dolce Vita“ vor, doch Fellini hat seine bissige Gesellschaftssatire in sieben Tagen und Nächten erzählt. Am Ende wirkt „Oh Boy“ dagegen, als habe man einen Film von Til Schweiger sorgfältig von allen Peinlichkeiten entkernt und das Übriggebliebene ins Tragikomische gewendet. Und über allem schwebt eine deplatziert wirkende Jazzmusik, die wohl ein wenig an Louis Malles Ascenseur pour l’échafaud erinnern soll.


„Was ist das Leben? Reden, reden, reden!“

Dieses Zitat stammt aus einer Filmkritik, in der auch Folgendes steht: „Immer wieder wirkt der Dissens gesucht, weil dem Film Pointe und Pose wichtiger sind als die Vertiefung der Charaktere.“ Gemeint ist nicht „Oh Boy“, sondern „Before Midnight“ von Richard Linklater, aber der Kollege, der übrigens sehr begeistert von Jan-Ole Gersters Film gewesen ist, hat Formulierungen gefunden, die komischerweise ziemlich gut zum großen Gewinner des Deutschen Filmpreises 2013 passen. Insgesamt sechsmal räumte „Oh Boy“ ab: Bester deutscher Spielfilm, beste Regie, bestes Drehbuch, beste männliche Haupt- (Tom Schilling) und Nebendarsteller (Michael Gwisdek), beste Filmmusik (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2013/04/oh-boy-sahnt-beim-deutschen-filmpreis-ab.html).

„Oh Boy“ hat vorher und nachher eine irritierende und etwas distanzlose Zustimmung innerhalb der deutsche Filmkritik ausgelöst. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass der Film – auch in Konkurrenz zu dem Co-Favoriten „Cloud Atlas“ -zum Politikum gemacht wurde: Gersters Film soll(te) wohl – quot erat demonstrandum – dafür herhalten, dass die deutsche Filmförderung imstande ist, deutsche Filme mit deutschen Themen hervorzubringen (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2013/03/cloud-atlas-fur-deutschen-filmpreis.html).
Als Wirtschaftsförderung hat der Deutsche Filmpreis indes funktioniert: die Produktionskosten hat „Oh Boy“, den leider nur 250.000 Zuschauer sehen wollten, damit wieder eingespielt.
Und „leider“ soll auch andeuten, dass diese Kritik keineswegs ein Verriss sein will. „Oh Boy“, der in der Tradition der „Berliner Schule“ steht, hat durchaus das Zeug zu einem guten Film. Ein wenig mehr Tiefe in der Figurenzeichnung, etwas weniger Comic Relief und mehr Feinschliff beim Skript und etwas Ansehnliches wäre denkbar gewesen. Auch wenn es nicht zu einem Startschuss für eine neue Deutsche Nouvelle Vague gereicht hätte.
So aber hinterließ der Film im Filmclub eine spürbare Ratlosigkeit. Schade.

Noten: Klawer = 3, Mr. Mendez, BigDoc = 3,5

Samstag, 1. Juni 2013

Klein, aber fein: „Die Verschwörung“ und „God Bless America“

Die Verschwörung

GB 2011, Originaltitel: Page Eight, R,: David Hare, D.: Bill Nighy, Rachel Weisz, Ralph Fiennes, Michael Gambon, Laufzeit: 99 Minuten, Altersfreigabe: ab 16 Jahren.

Ein Film, in dem die Protagonisten die ganze Zeit in irgendwelchen Zimmern herumsitzen und kaum etwas anderes tun, als miteinander zu reden, ist natürlich Kassengift. Es war daher eine kluge Entscheidung, die bei den 2011 Satellite Awards mehrfach nominierte BBC-Produktion „Page Eight“ gleich in die Direct-to-DVD-Vermarktung abzuschieben. Dort werden nichtsahnende Konsumenten den Film vermutlich nach einer Viertelstunde entsetzt aus ihrem DVD-Player reißen, denn mit James Bond hat er, wie das Cover andeutet, nun wirklich nichts zu tun. Über 90 Minuten wird lang nur geredet, aber wie!

Agenten-Thriller als moralisches Kammerspiel

Der kammerspielartige Geheimdienst-Thriller beginnt entsprechend verhalten. Johnny Worricker (Bill Nighy), ein MI5-Routinier im Pensionsalter, erfährt von seinem Chef Benedict Baron (Michael Gambon) von der Existenz eines brisanten Dossiers, das genug Stoff bietet, um die nationale Sicherheit zu gefährden. Während einer Konferenz mit der Innenministerin (Saskia Reeves) präsentiert MI5-Director Gambon das Paper genüsslich seiner Vorgesetzten, dann liefert Worricker den eigentlichen Clou: auf der ominösen Seite Acht des Dossiers verrät eine Randnotiz, dass der britische Premierminister (Ralph Fiennes) Kenntnis davon hat, an welchen Orten US-Dienste heimlich Terrorverdächtige festhalten und foltern. Von den gewonnenen Kenntnissen und damit auch den Namen der Terroristen, die auf englischen Boden operieren, wurde das MI5 allerdings nicht informiert: ein schwerer Schlag für die inländische Anti-Terror-Abwehr und die politische Moral. Denn so etwas ist nur peinlich, „wenn die Öffentlichkeit davon erfährt“, erfahren Gambon und Worricker.

Dass Page Eight ein politischer Thriller ist, aber ein moralischer dazu, muss nicht betont werden. Die Bezüge zur jüngeren Geschichte sind offenkundig. Aber im Gegensatz zu klassischen Paranoia-Filmen, die ihre Probleme in der Regel gewalttätig lösen, wird in David Hares Filme nicht gerannt und geschossen, sondern mit der rhetorischen Klinge gefochten. Es ist ziemlich vergnüglich, den Damen und Herren der gebildeten britischen Oberschicht dabei zuzuhören, wie sie mit Understatement und Noblesse ihre sprachlichen Klingen in die Gegner treiben und dabei schwere Verletzungen hinterlassen.

Überragend: Bill Nighy, ein möglicherweise nicht allen bekannter, aber ausgesprochen exzellenter Mime (The Best Exotic Marigold Hotel). Als Johnny Worricker ist er ein Anti-Bond par excellence, cool dank guter Manieren, professionell und verschwiegen. Ein Analyst mit Erfahrung, der bald weiß, was die Stunde geschlagen hat. Gleich zu Beginn lernt Worricker seine Nachbarin Nancy Pierpan (Rachel Weisz, The Bourne Legacy) kennen, eine politische Aktivistin, deren Bruder während einer politischen Demonstration von der israelischen Armee getötet wurde – ein Mord, wie sich herausstellt, der auch mithilfe der Briten vertuscht wurde. Worricker fühlt sich hingezogen, lässt Nancy aber trotzdem abhören – eine gewöhnungsbedürftige Grundlage für eine charmante, platonische Romanze. 
Es ist einer der stärksten Momente des Film, wenn der Jazzfan Worricker mit exquisitem Einfühlungsvermögen Nancy ein altes Video mit Billie Holiday und Lester Young vorführt und erklärt, warum Holidays Mimik verrät, dass sie auf den Saxofonisten scharf ist, aber deshalb noch lange nicht ihren Einsatz verpasst. 
So kann man sich auch mitteilen. Das ist sophisticated, und zwar in Vollendung. Man muss so etwas schon mögen, um an diesem kleinen, feinen Film Freude zu haben.

Die Nebenhandlung in „Page Eight“ ist aber trotz des Einblicks in Worrickers diskrete Gefühlswelt und in die komplizierte Beziehung zu seiner Tochter kein überflüssiges Beiwerk, sondern wird bald zu einem Teil der clever arrangierten Verschwörung. Der Film hält nämlich, was der Titel verspricht: „Page Eight“ ist ein Thriller in bester John le Carrè-Tradition.
Die Themen werden von David Hare (Wetherby), der auch das Buch geschrieben hat, finessenreich durchdekliniert: Loyalität und Patriotismus, die zynische Anpassungsfähigkeit einer neuen Generation von Politikern. Vater-Tochter-Konflikte. Ein wenig Altersliebe. Die Politiker arbeiten gegen die Dienste, es gibt Verschwörungen und eine Schattenwelt innerhalb des MI5, kalt arrangierte Karriere-Interessen und eine tiefe Amoralität unter den Intriganten, die vor allen Dingen die Geheimdienst-Fossile Gambon und Worricker angeekelt und fast hilflos zur Kenntnis nehmen müssen. Während private Beziehungen ein wenig „susceptible“, also anfällig bleiben, sind sie in der Politik völlig ruiniert.

Wunderbarer Schauspielerfilm

Als Worrickers Freund Gambon plötzlich einem Herzinfarkt erliegt, taucht Worricker mit dem Dossier unter. Der Besitz des Dossiers ist lebensgefährlich und die Kenntnisse, die der alternde Agent nun besitzt, können innerhalb des Apparats nicht mehr gegen die Mächtigen eingesetzt werden. Worricker wird dies während seiner ersten und letzten Begegnung mit dem Premierminister klar: in England ist er nicht mehr sicher. Dass es Worricker am Ende dennoch gelingt, einen cleveren Deal auszuhandeln, bei dem auch der Mord an Nancys Bruder öffentlich gemacht wird, ist allerdings nicht die Schlusspointe. Die hat etwas mit einem Abfalleimer zu tun.
Page Eight ist abgesehen von seinen beißenden politischen Kommentaren ein wunderbarer Schauspielerfilm: Bill Nighy hat einfach Klasse, Rachel Weisz spielt beeindruckend eine Frau mit undurchsichtigen Geheimnissen und dem Herz am rechten Fleck, Ralph Fiennes brilliert in einem Kurzauftritt als moralisch durch und durch verkommener ‚Landesvater’: Vertrauen ist verdächtig im Mutterland der Demokratie und ein repressiver Überwachungsstaat, der Folter für legitim hält, ist im Zweifelsfall wichtiger als die Freiheitsrechte, die er doch angeblich verteidigen will.
Dass all dies in „Page Eight“ nicht schwer und geschwätzig vorgetragen wird, sondern sich als moralisches Dilemma in den Hauptfiguren bis ins Private sehr authentisch widerspiegelt, macht den Film zu einem intelligenten, eleganten und überdies vorzüglich fotografierten Vergnügen. Ein Dialogfilm, in dem die Finessen des Plots sich mit unaufdringlicher, aber konsequenter Folgerichtigkeit entwickeln. Dass das Happy-End am Ende ebenfalls ganz subtil angedeutet wird, überrascht auch nicht wirklich. Page Eight ist einer der unterhaltsamsten Filme, die ich in diesem Jahr gesehen habe.

Noten: BigDoc = 1, Klawer = 2, Melonie, Mr. Mendez = 3


God Bless America

USA 2011, Originaltitel: God Bless America, R,: Bobcat Goldthwait , D.: Joel Murray, Tara Lynne Bar, Laufzeit: 105 Minuten, FSK: ab 16 Jahren.
 

God bless America, Land that I love.
Stand beside her, and guide her
Through the night with a light from above.

Dass Frank Murdoch (Joel Murray) das nicht mehr hören mag, hat seine Gründe. Der Versicherungsangestellte in den mittleren Jahren lebt allein, seine Frau hat ihn verlassen, die achtjährige Tochter ist eine skrupellose Nervensäge und Franks Nachbarn sind der reine Trash. Während Frank mit Migräne im Bett liegt, lärmen sie rücksichtslos in ihren vier Wänden und ihr Säugling kreischt wie eine schlecht geölte Kettensäge. Da träumt man schon mal davon, einfach sein Pumpgun zu nehmen, nach nebenan zu marschieren, den Familienvater mit Schrot abzufüllen und anschließend den plärrenden Nachwuchs der Mutter zu Mus zu schießen.Natürlich zeigt die 2011 produzierte und nun auf dem deutschen Videomarkt angekommene Splatter-Satire God Bless America mit naturalistischer Konsequenz sogleich die Umsetzung von Franks Traum.

Ein Mann am Rande des Nervenzusammenbruchs

Regisseur Bobcat Goldthwait ist in der 1980er Jahren als Stand-up-Comedian bekannt geworden. In seiner ellenlangen Filmografie befinden sich eigentlich keine Perlen der amerikanischen Filmgeschichte, aber in God Bless America schafft er es, den geschmacklich fragwürdigen Fantasien eines genervten Mannes einen kulturkritischen Impetus zu verleihen. Denn bei der Fantasie bleibt es nicht lange. Zuvor müssen sich die Zuschauer zusammen mit dem Helden am Rande Nervenzusammenbruchs auf einen Höllentrip durch eine wahnwitzige Medienkultur begeben, die weißgott kein Privileg von God’s own country, sondern bereits auch in Europa angekommen ist: in Italien strippten im TV vor Dekaden die Hausfrauen, andere zivilisierte Länder haben ihr Dschungelcamp und eklige Reality Shows, Frank dagegen zappt sich durch Shows wie Tuff Gurlz, wo sich intelligenzfreie Zicken ihre Tampons ins Gesicht werfen, oder Lächerlichkeiten wie American Superstarz, wo ein vermeintlich grenzdebiler und grantiert talentfreier Jugendlicher erst zum Clown gemacht und dann zum Star aufgebaut wird. Auch Talk- und Politshows, die Barack Obama als jüdisch-muslimischen Nazi mit Hitlerbärtchen verkaufen, können Franks Laune nicht aufbessern. Dieses Land ist eine einzige Horror-Show und er hasst es aus ganzem Herzen. Als er zudem erfährt, dass ein Hirntumor sein Ende naherücken lässt, beschließt er, die Irren da draußen einfach abzuknallen: weg mit Tea-Party-Anhängern, die in aller Öffentlichkeit hilflose Parkinson-Erkrankte verprügeln, weg mit den religiösen Narren, die Plakate hochhalten, auf denen „Gott hasst Juden“ und „Gott liebt tote Soldaten“ steht.
Mit anderen Worten: in God Bless America lässt das Blutbad nicht lange auf sich warten.

Der Film funktioniert sogar ...

Über das Verhältnis von Satire und Gewalt lässt sich streiten. Über die globale Kulturindustrie schon weniger. Mit seriösem Realismus scheint aber schon längst kein Blumentopf mehr zu gewinnen sein, denn wir sind seit den 1990er Jahren von Quentin Tarantino und etlichen seiner Epigonen geduldig darin trainiert worden, dass man nur einem grellen Genre-Mix, cleveren Filmzitaten, endlosen Nonsense-Dialogen und cleveren Pulp-Allegorien die wahren Dimensionen des globalen Irrseins aufzeigen kann. Das ist nun mal die Post- und Pop-Moderne im Kino und da herrscht die Regel, dass Gewalt o.K. ist, wenn sie saukomisch zelebriert wird.
In God Bless America gibt es von diesen Zutaten etliche und offen gestanden: der Film funktioniert sogar. Goldthwait verzichtet clever darauf, die Story in einem ‚Hit and Run’ versanden zu lassen, Franks Rache wird vielmehr kalt serviert. Großen Anteil daran hat Joel Murray (The Artist, Mad Men, Two and a Half Men). Murray ist ein fantastischer Komiker, der nicht nur Franks Wut glaubhaft verkörpert, sondern auch in langen ideologiekritischen Monologen über den Verfall der Medienkultur und der gesellschaftlichen Moral seinen intellektuellen Mann steht. Natürlich versteht ihn im Büro keiner und dass er zu einer schüchternen Kollegin höflich gewesen ist, wird im Land der Political Correctness sofort mit der Kündigung wegen sexueller Belästigung quittiert.
Aber es sind die fast monotonen, unaufdringlichen Analysen der kulturellen Verfasstheit seines Landes, die aus Frank mehr als nur einen schießwütigen Vigilanten machen.
Sie stimmen leider.
Um Frank also möglichst ausführlich dozieren zu lassen, bekommt er einen Sidekick. Roxanne “Roxy“ Harmon (Tara Lynne Bar, The Bold and the Beautiful) ist ein Girl mit deutlich manisch-depressiven Zügen, das von Frank völlig begeistert ist, nachdem dieser einer zickigen Klassenkameradin den Garaus bereitet hat. Sozusagen als Stand-alone-Groupie hält sie Frank vom Selbstmord ab und überzeugt ihn davon, dass er zum Leitwolf einer landesweiten Bewegung werde könne, wenn er nur weiterhin alle nervigen Quälgeister abknallt. Und so ziehen Frank und Roxy wie Bonnie und Clyde fortan durchs Land und räumen auf, während Frank sorgsam darauf achtet, dass sich zwischen ihnen in den Pausen zwischen den endlosen Morden keine erotischen Avancen entwickeln können. Frank ist schließlich kein Pädophiler!

...zielt aber eher auf den Bauch!

Bobcat Goldthwait ist kein intellektueller Filmemacher. Anders als in Andrew Dominiks Killing Them Softly, der das Amerika in der Endphase der Bush-Administration als schmutzige Industriebrache zeigt, in der Killer in ebenfalls endlosen, aber auch banalen Dialogen ihr Tagesgeschäft organisieren, ist Goldthwait nicht analytisch. Während bei Dominik im Hintergrund ständig das TV läuft und das endlose Gerede von Bush, McCain und Obama dem Zuschauer klarmachen sollen, dass man das Salbadern der Krisenmanager nach dem Beginn der Finanzkrise ziemlich gut mit der Verfasstheit der lokalen Mafia vergleichen kann, will Goldthwait einfach nur die Sau rauslassen. Sein Held ist ein gebildeter Vigilant, dessen rabenschwarzer Nihilismus nicht einmal unsympathisch wirkt, wenn er in einem Kino einen Haufen Teenager abschlachtet, die während eines Dokumentarfilms über My Lai feixen und pöbeln. Hat man sich so was nicht auch schon einmal heimlich gewünscht? Immerhin bedankt Frank sich ja bei der einzigen Überlebenden dafür, dass sie ruhig war und während der Vorführung ihr Handy ausgeschaltet hat.
 

Am Ende ist alles wie in „Bonnie and Clyde“ oder „Butch Cassidy and the Sundance Kid“. Bobcat Goldthwait hat seine Schlüsselidee - zugegeben mit viel Raffinesse - umgesetzt, aber doch wohl nur auf den Bauch und die Instinkte der Zuschauer abgezielt. In Wirklichkeit ist Frank nur ein Spießer mit Kopfschmerzen, der glaubt, ein Serienkiller mit moralischen Ambitionen zu sein. Wenn wir mit Frank gehässig lachen, dann sind wir schon ein Teil des Irrsinns geworden. Warum hat man dann aber verdammt noch mal ständig das Gefühl, das God Bless America trotzdem den Nerv trifft?

Noten: Mr. Mendez, Melonie = 1, BigDoc, Klawer = 2