Mittwoch, 26. Februar 2014

The Conjuring

James Wan zeigt in „The Conjuring“, dass er die Versatzstücke des Haunted House-Genres ordentlich zusammensetzen kann. Fans von trditionellem Horror werden begeistert sein – neue Ideen sucht man vergebens.
Der Film ist seit Januar auf DVD und Bluray erhältlich.


Im diegetischen Modell des Horrorfilms hat das Archaische seinen festen Platz: Zauberer, Hexen, Fabelgestalten wie Werwölfe, Vampire und lebende Mumien, Untote, natürlich auch das Böse schlechthin, also der Teufel und ein Heer von Dämonen. Sie alle existieren.
Was der rational denkende Mensch ansonsten nicht zu akzeptieren bereit ist, wird im Kino belustigt oder angststarr durchgespielt, meistens beides zugleich.
 Und dazu gehört auch die Beharrlichkeit, mit der in diesem Genre immer wieder die Vertreter der Naturwissenschaften mit ihren Mess- und Tonbandgeräten, Kameras und Detektoren beweisen wollen, dass wir das Unglaubliche glauben sollen.
Wie alle Genres, die zum Kernbestand filmischen Erzählens gehören, ist der Horrorfilm dabei in besonderem Maße abhängig von der Bewahrung der Konventionen, einem Regelwerk, das er aber mehr oder weniger maßvoll überschreiten muss, wenn er nicht im Bekannten verharren will. Der Horrorfilm weiß, dass der Zuschauer weiß, was gleich geschehen wird, und er muss dies sowohl befriedigen als auch durchkreuzen: ein Schock, den man kennt, ist keiner. Und er weiß, dass er sich erfolgreich in TV-Serien, Sequels und Prequels sowie saftige Persiflagen verwandeln kann, ohne dass ihm das gruselbedürftige Publikum abhanden kommen wird.

In „Conjuring – Die Heimsuchung“ (O.: „The Conjuring“, hier hat der deutsche Verleih der wörtlichen Übersetzung nicht getraut, nämlich „Die Beschwörung“) geht alles auf nur allzu vertraute Weise zu: 1971 ziehen Carolyn (Lili Taylor) und Roger Perron (Ron Livingston) mit ihren fünf Töchtern nach Rhodes Island. Ihr Hund weigert sich, die Schwelle des neuen Heims zu überschreiten. Aha. In dem alten Farmhaus, das nun ihr neues Zuhause ist, finden die Perrons als Erstes einen vernagelten Kellereingang. Dann beginnt der Terror: Carolyn wacht jeden Morgen mit neuen Blutergüssen auf, wenig später ist der Hund tot. Die Töchter werden von nächtlichen Geräuschen verängstigt, so geht es Nacht für Nacht weiter, dann greift ein Geist eines der Mädchen an. An sich verlässt man so ein Haus fluchtartig, die Perrons jedoch bleiben. Dann erfahren sie, dass dies auch nicht geholfen hätte, denn das Böse klebt an ihnen, sie würden es einfach mitnehmen. Aha.


Ein traditioneller Gruselfilm


So weit, so gut. Wir sind mitten drin im Subgenre der Haunted-House-Movies, die von Klassikern wie „House on Haunted Hill“ (William Castle, 1959), „The Haunting“ (Robert Wise, 1963), „The Innocents“ (Jack Clayton, 1961), „The Legend of Hell House“ (John Hough, 1973), „Amityville Horror“ (1979), „The Changeling“ (1980), „The Shining“ (Stanley Kubrick, 1980) und Tobe Hoopers und und Steven Spielbergs „Poltergeist“ (1982) definiert wurden, bevor die modernen Vertreter wie „The Others“ (2001), „The Grudge“ (2004), „Dark Water“ (2005), „Das Waisenhaus“ (2007), „The Innkeepers“ (Ti West, 2011) und „Die Frau in Schwarz“, (James Watkins, 2012) nach neuen Formeln suchten und sich dabei im Gegensatz zu den Altmeistern des Gruselgenres natürlich kräftig bei der CGI-Technologie bedienen konnten. Und diese macht natürlich die Verführung größer, das Grauen im eigenen Kopf durch explizite Gore-Effekte zu ersetzen. James Wan geht in „The Conjuring“ damit ziemlich maßvoll um und die eher traditionelle Inszenierung ist sicher nicht das Schlechteste an diesem Film. Die bekannten Settings (das alte Haus, der Keller, die unheimlichen Möbel) stimmen ebenso wie das Unheimliche, das hinter einer knarrzenden Tür wartet, hinter die man nicht zu schauen wagt. Hier gelingt es James Wan durchaus, mit viel Gespür die Zutaten eines Haunted House-Films zu reanimieren. Denn dieses Genre, dass in seiner Traditionalität der Gothic Novel verbunden bleibt, richtet mehr als andere den Blick in die Vergangenheit, in deren dunklen Geheimnisse und Flüche, und es lebt davon, seine Motive und narrativen Kernplots eher zu wiederholen als zu variieren.

Richtig überzeugen konnten mich unter den Vertretern des modernen Haunted Hill Movies allerdings nur der von Guillermo del Toro produzierte „Das Waisenhaus“ (Regie: J.A. Bayona) und Alejandro Amenábars „The Others“. „The Conjuring“ von James Wan (u.a. „Saw 1-6“ als Regisseur und Executive Producer, „Insidious“) bleibt jedoch über weite Strecken ein blasser Film, der trotz guter Ansätze wie eine filmische Bestandsaufnahme wirkt: Wan zeigt mit viel Routine noch einmal, was in diesem Subgenre bislang präsentiert wurde. Er arrangiert das Bekannte handwerklich geschickt, aber eher als Katalog der Bausteine, in dem dann auch einige Zitate daran erinnern sollen, dass der Regisseur sich auskennt. Nicht immer kann dabei ein Feeling für morbide Stimmungen oder unerwartete Plot-Twists erkannt werden. 

Dass liegt auch daran, dass der Film recht lieblos die Geisterjäger Ed (Patrick Wilson, „Insidious“) und Lorraine Warren (Vera Farmiga) in die Story einbaut. Als nichts mehr helfen will, nehmen die Perrons Kontakt zu den beiden auf. Die Geisterjäger sagen zu und nehmen mit viel mitgebrachter Ghostbuster-Technologie ihre Arbeit auf. Kritische Fragen der Perrons bleiben aus, alles wirkt so, als hätte man ganz normal einen Kammerjäger bestellt. Beziehungen zwischen den Protagonisten sind nicht in Sicht, alles wirkt sehr prosaisch und offen gestanden etwas hölzern, auch wenn die Darstellerriege couragiert gegen die zahlreichen Baustellen des Scripts ankämpft.



Die realen Vorbilder der beiden Experten für Paranormales wurden durch ihre Aktivitäten im Amityville-Fall bekannt. Auch im Perron-Fall, der Vorbild für „The Conjuring“ ist, reklamierten die beiden Ghostbuster, dass die Geschehnisse real sind und im Haus der Familie in Rhodes Island die Hexe Bathsheba Sheran ihr Unwesen treibt. Die Warrens haben auch „The Conjuring“ bereits bei der Scriptentwicklung kräftig angeschoben und Lorraine Warren stand schließlich der Crew als Beraterin zur Seite.
James Wan unterstreicht in seinem Film die wissenschaftliche Authentizität des Ganzen, in dem er Ed Warren als Dozenten präsentiert, der im Hörsaal mit Hilfe von Found Footage-Filmen beweisen will, dass die Dämonologie ihren festen Platz in den exakten Wissenschaften verdient.


Verschenktes Potential


Tatsächlich finden Ed und Lorraine in "The Conjuring" heraus, dass besagte Hexe im alten Farmhaus der Perrons seit über 150 Jahren ihre Schandtaten verübt und zahllose Vorbewohnerinnen ihre Kinder umbringen ließ. Aber irgendwann haben dann die Dämonologen ihr Pulver verschossen und Ed sieht nur noch im Exorzismus die letzte ultimative Waffe. Als Carolyn dann von der Hexe okkupiert und besessen wird, verlassen die Perrons das Haus und  Ed Warren
beschließt, nicht länger auf einen Priester zu warten und das katholische Ritual selbst durchzuführen. Erst recht, als Carolyn mit zwei Töchtern in das verlassene Haus zurückkehrt und sie dort offenbar umbringen will.
Warrens Wahl des katholischen Rituals hätte als dramaturgischer Kniff der Story durchaus Potential für eine interessante Debatte werden können. Dazu muss man sich an William Friedkins „The Exorcist“ (1973) erinnern, dessen filmisch gelegentlich unrund montierter Horrorklassiker es immerhin schaffte, die Glaubenskrise eines katholischen Priesters clever für eine ziemlich reaktionäre Botschaft zu nutzen: der zum Psychiater ausgebildete Pater Damien Karras verliert seinen Glauben, so suggeriert der Film, auch durch seine Hinwendung zur vernunftbasierten Analyse absonderlicher Phänomene (überhaupt scheitern alle Vertreter der logischen Ratio in dem Film) und er erfährt in der Konfrontation mit dem Dämon Pazuzu, dass sein wissenschaftliches Weltbild ein einziger Irrtum ist. 

Ed Warren macht in „The Conjuring“ offenbar eine ähnliche Erfahrung, obwohl er seit jeher an Dämonen glaubte. Aber die Hinwendung zu einem achaischen Ritual und weg von seinen Kameras und sonstigen Gerätschaften hätte erzählerisches Potential gehabt, was James Wan aber nicht sonderlich zu interessieren scheint. So bleibt auch dieses Momentum an der Oberfläche wie andere mysteriöse Andeutungen, etwa die Rolle der geheimnisvollen Puppe Annabelle. Aber wir wissen ja: in diesem Genre muss man aufs Sequel warten und das ist im Falle von „The Conjuring“ offenbar schon in Arbeit.

Fazit: „The Conjuring“ ist kein verkorkster Film, als Vertreter des New Gothic Horrror vielmehr ein solides Gruselvergnügen für Nerds, denen es Spaß macht, wenn genussvoll Hitchcocks „Die Vögel“ oder andere Requisiten aus dem Fundus des allzu Vertrauten zitiert werden. Man muss ja nicht immer à la carte essen, guter Eintopf tut’s gelegentlich auch.

The Conjuring – Die Heimsuchung – Länge: 111 Minuten – FSK: ab 16 – Regie: James Wan – Kinostart: August 2013 – DVD/Bluray-Release: Januar 2014.

Noten: BigDoc, Mr. Mendez, Klawer = 3,5

Samstag, 22. Februar 2014

Haftbefehl – Im Zweifel gegen den Angeklagten

Der Pädophilie-Skandal in Outreau erschütterte Frankreich zweimal: zunächst 2001, als das Verfahren in die Hände des inkompetenten Untersuchungsrichters Fabrice Burgaud gelangte, dann Anfang 2006, als es sich als wohl schrecklichster Justizskandal in der jüngeren Geschichte Frankreichs entpuppte. Vincent Garenq hat die  Geschichte 2011 in einen hochemotionalen Film gepackt: „Haftbefehl – Im Zweifel gegen den Angeklagten“ (Présumé coupable) ist ein lange nachwirkendes Protokoll von Rechtsbrüchen und -beugungen und die Geschichte des kollektiven Versagens eines Justizsystems, das selbst dann noch Unschuldige hinter Gittern schickte, nachdem diese von den wahren Täter entlastet wurden. Der bemerkenswerte Film ist (endlich) auf DVD und Bluray erschienen.

In Hannover präsentiert eine Staatsanwaltschaft trotz strafrechtlich irrelevanter Ausgangslage einen Menschen, der moralisch allerdings nicht mit viel Sympathie rechnen darf, ungeniert der Öffentlichkeit und ergänzt alles mit haltlosen Spekulationen über weitere unbewiesene Delikte. Im Korruptionsprozess gegen einen ehemaligen Bundespräsidenten geht es nach mächtigem Getöse zuletzt nur noch um Summen, die ein erfolgreicher Broker nach Erhalt seiner Boni womöglich einem Taxifahrer als Trinkgeld geben würde. In beiden Fällen reagierte die Öffentlichkeit und Teile der Medien gereizt: Vermutungen ersetzten die Ermittlung und das Gerichtsverfahren, Beschuldigungen reichten als Beweise.
Der echte Fabrice Burgaud, den eine französische Zeitung „Le Petit Juge“ (Der kleine Richter) genannt hatte, schrumpfte dagegen im Februar 2006 vor dem Untersuchungsausschuss der Pariser Nationalversammlung zu einem zitternden Häuflein Elend zusammen. Der Untersuchungsrichter, der sich zur Speerspitze der öffentlichen Meinung gemacht hatte, blieb trotzdem uneinsichtig. Kurz zuvor waren die letzten seiner Justizopfer freigesprochen worden.

Im Mittelpunkt von Vincent Garenqs Justizdrama „Haftbefehl“ steht jedoch nicht die Geschichte des relativ unerfahrenen Untersuchungsrichters, sondern exemplarisch der „Présumé coupable“, der mutmaßlich Schuldige: es ist der Gerichtsvollzieher Alain Marecaux (Philippe Torreto), der mitten in der Nacht von einem Einsatzkommando der Polizei aus dem Bett geholt wird. Marecaux und seine Frau (Noémie Lvovsky) werden als Kinderschänder festgenommen, die Kinder der beiden werden in Pflegefamilien untergebracht, während der biedere Marecaux vergeblich seine Unschuld beteuert. Eine mehrjährige Odyssee durch das französische Justiz- und Gefängnissystem beginnt.
Was war geschehen? Ein achtjähriger Schüler hatte seinen Schulkameraden von brutalen sexuellen Übergriffen seiner Eltern Thierry und Myriam Delay berichtet. Von den Geschwistern des Jungen wurden die Beschuldigungen gegenüber den Behörden bestätigt. Nun aber bezichtigten die beiden Delays, allen voran die Mutter, zusätzlich auch zahlreiche Nachbarn, an den Vergewaltigungen beteiligt gewesen zu sein. Den Ermittlern schien sich ein monströser Kinderschänder-Ring zu offenbaren. 

Der Verdacht erhärtet sich, als bei einigen der ins Fadenkreuz geratenen Nachbarn einige Porno-Magazine gefunden werden. Im Fokus stehen danach endgültig bislang ungescholtene Bürger des kleinen Ortes Outreau: Bäcker, Hausmeister, Taxifahrer – und Alain Marecaux, der Gerichtsvollzieher, und seine Frau. Nur vier der 17 Beschuldigten, Myriam Delay und eine Freundin sowie die Lebensgefährten der beiden Frauen, gestehen, der Rest wehrt sich vehement gegen die Anklage.


Das ganze Justizsystem steht auf dem Prüfstand


„Haftbefehl“ erzählt diese Geschichte, die in ein Frankreich ein enormes Medienecho auslöste, nicht aus der Perspektive der Ermittler, sondern stellt pars pro toto Alain Marecaux in den Mittelpunkt. Mit Suspense hat „Haftbefehl“ also nichts zu tun, denn von Anfang an ist klar, dass die Hauptfigur des Films völlig unschuldig ist. Nur Zuschauern, die sich nicht an den Fall erinnern können, dürfte der Ausgang des Ganzen nicht klar sein.

Garenq schildert in einer beinahe naturalistischen Erzählsprache von der Verzweifelung und Resignation des ins Räderwerk der Justiz geratenen Familienvaters, der seinen Beruf und dann auch seine Frau verliert und schließlich mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen (was einem der Verdächtigten übrigens gelingt). Langsam, aber unausweichlich findet die Zerrüttung einer kleinbürgerlichen Existenz statt. Das allgemeine Klima der Vorverurteilungen und Verdächtigungen wird durch die Presse angeheizt und über den Verantwortlichen schwebt die Angst, nur wenige Jahre nach der erschütternden Dutroux-Affäre im benachbarten Belgien möglicherweise nicht entschlossen genug zu handeln. Alles in allem eine tödliche Melange, der nur Marecauxs entschlossener Anwalt trotz der Einschüchterungsversuche der Ermittler couragiert entgegentritt.

Ein wenig erinnert dies Vinterbergs „Die Jagd“, noch mehr an Hitchcocks „The Wrong Man“, der ebenfalls auf einem authentischen Fall basierte. Auch in diesen Filmen ist von Anfang klar, dass die Hauptfiguren unschuldig sind. Doch während Henry Fonda lediglich das Opfer einer Verwechselung und fragwürdiger Zeugen ist, steht in „Haftbefehl“ das gesamte System auf dem Prüfstand. Verkörpert wird es durch den Ermittlungsrichter Burgaud, der von Anfang an spüren lässt, dass er das Wort „mutmaßlich“ aus seinem Wortschatz gestrichen hat. Statt ergebnisoffen zu ermitteln, setzt Burgaud nicht nur Marecaux, sondern auch dessen Anwalt unter Druck. Beweise, die die Aussagen der Kinder erhärten, gibt es nicht. Entlastendes Material wird ignoriert, Widersprüche in den Aussagen von Belastungszeugen werden nicht weiterverfolgt oder erst gar nicht in die Ermittlungsakten aufgenommen. Selbst dann, als die misshandelten Kinder ihre Peiniger auf Fotos nicht oder sogar falsch identifizieren, lässt sich der kühle, beinahe unbarmherzige Untersuchungsrichter nicht beirren. Dabei, und das gehört zu wenigen Schwächen der von Vincent Garenq gewählten Binnenperspektive, waren über 60 Richterkollegen und eine Heerschar von Ermittlern an der Verfahrensvorbereitung beteiligt.

Das Skandalon, und spätestens hier bekommt „Haftbefehl“ auch die Qualität eines Justizthrillers, erreicht seinen Höhepunkt in der Gerichtsverhandlung. Myriam Delay bricht in einer dramatischen Szene zusammen und beteuert, dass alle von ihr denunzierten Nachbarn unschuldig sind: „Ich bin krank und eine Lügnerin!“ 

Sieben Angeklagte werden 2004 dennoch verurteilt, ihr Martyrium geht weiter. 
Zum Teil wurde in den realen Prozessen den Aussagen der Kinder mehr geglaubt als dem Dementi der Täterin und ein Sachverständiger kommentiert das Ganze mit dem Hinweis, dass er wie eine Putzfrau bezahlt wird und daher auch nur das Gutachten einer Putzfrau liefern könne.

Erst Ende 2005 werden die letzten der unschuldig Verurteilten aus dem Gefängnis entlassen und das Pendel schlägt in die andere Richtung aus: das Parlament richtet einen Untersuchungsausschuss ein und bald wird klar, dass alle Urteile einem Geflecht aus Lügen und Vorverurteilungen, aber auch gezielten Rechtsbeugungen des Apparates zu verdanken waren.
 

„Haftbefehl“ ist ein Gebrauchsfilm. Und das ist positiv gemeint, denn seinen Nutzwert zieht der Zuschauer aus dem Faktischen, dass der Film präsentiert und an das er erinnern will. Ob sich die Unschuldsvermutung als ziviles Rechtsgut in allen Zuschauerköpfen niederschlagen wird, darf dennoch bezweifelt werden, denn die gut geölte Maschinerie aus Vorverurteilungen und medialer Hetzjagd haben wir hierzulande mitsamt der unweigerlich eintretenden Konsequenzen bereits mehrfach erleben dürfen.

Vincent Garenq hätte sicher auch einen Thriller aus dem Stoff machen können, was auch recht gut in die cineastische Tradition des französischen Kinos gepasst hätte. Dass er eine subjektive Perspektive gewählt hat und mit Philippe Torreton einen ausgezeichneten Darsteller besaß, dessen Spiel auf bedrückende Weise unter die Haut geht, gehört zu den nachhaltigen Eindrücken des Films. Genauso wie die nüchternen, beinahe dokumentarischen Bilder, die dennoch enorm emotionalisieren.
„Haftbefehl“ berührt nicht nur die Angst vor dem Schicksal Marecauxs, sondern mehr noch die noch tiefer sitzende Angst vor der sozialen Ächtung und der völligen Auslöschung der bürgerlichen Existenz. Dass der Film am Ende davon berichtet, dass sein Held doch noch einigermaßen ins zivile Leben zurückgefunden hat, ist nur ein schwaches Sedativum.

Noten: Mr. Mendez, Klawer, BigDoc = 2,5

FR 2011, O.: Présumé coupable, R.: Vincent Garenq, D.: Philippe Torreton, Noémie Lvovsky, Raphaël Ferret