Sonntag, 11. März 2018

Malen mit Zahlen – wie US-TV-Quoten einseitig interpretiert werden

Zahlen erzählen uns nicht die Wahrheit. Sie vermitteln Fakten. Zahlen vergleichen sich aber nicht freiwillig mit anderen Zahlen – das tut der Mensch. Das ist nötig, aber die Ergebnisse sind nicht alternativlos. Man darf ruhig selbst hinschauen.

„Man kann es so sagen: Die Zombie-Serie «The Walking Dead» steckt knöcheltief im Quoten-Morast. Am Sonntagabend holte die zweite Folge der Staffel 8B die niedrigsten Reichweiten seit Staffel eins bei den 18- bis 49-Jährigen. Insgesamt lief es in Staffel zwei, am 4. März 2012, schlechter. Heißt: Die Zeiten, in denen die AMC-Serie Werte jenseits der 15-Millionen-Marke holte, sind in ganz weite Ferne gerückt“, schrieb das Rating-Portal QUOTENMETER am 6. März.

Andere deutsche Online-Medien zogen nach und zelebrierten genüsslich den Absturz der Erfolgsserie. Dabei stellte QUOTENMETER die Relationen klar: Live hatten 6,82 Millionen Zuschauer die aktuelle Episode gesehen. Das war ein deutlicher Schwund im Vergleich zu den 8,28 Millionen, die den Auftakt nach der Midseason-Pause gesehen hatten. Aber weiter unten in dem Text, gleich nach einer raumgreifenden Werbung, konnte man lesen, dass Showtime mit seiner neuen Folge von „Homeland“ 0,93 Millionen Neugierige gefunden hatte. Ob das noch jemand gelesen hat?



Was ist das Dilemma? Ein einfaches Beispiel: Man stelle sich vor, dass bei einer Landtagswahl in einer mittelgroßen Stadt die Stimmen einen Tag vor dem offiziellen Urnengang abgegeben werden dürfen. Ein Meinungsforschungsinstitut rechnet aus der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen alles heraus, was jünger als 55 Jahre ist. Das sind 80% der abgegebenen Stimmen. Die fallen unter den Tisch. Nur die restlichen 20% werden der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Das Ergebnis: die Älteren haben überwiegend eine rechtspopulistische Partei gewählt. Am nächsten Tag titeln die großen Blätter „Deutschland vor dem Rechtsruck!“ Eine Woche später werden dann die Ergebnisse der verschwundenen 80% publik gemacht. Und alles sieht ganz anders aus.


Wer vergleicht was mit wem?

So ähnlich funktioniert auch die Interpretation der TV-Quoten. Die Fokussierung auf die 18- bis 49-Jährigen besitzt nur für die Unternehmen eine hohe Relevanz, die Werbung in einer TV-Show schalten. Auch bei uns in Deutschland. Deshalb erscheinen sie am schnellsten in den Montagsmedien. Natürlich kann man die Zahlen der sogenannten werberelevanten Gruppe miteinander vergleichen. Aber was sagen sie uns? Sie zeigen uns Relationen, aber nicht das Gesamtbild.
In den USA sind die sogenannten Ratings viel komplizierter. Machen wir also die Referenzgruppe etwas größer: Wie viele Menschen haben am Sonntag die TWD-Episode „The Lost and the Plunderers“ live bei AMC gesehen? Es waren 6,82 Millionen – angesichts der starken Konkurrenz (OSCAR-Verleihung) nur bedingt eine Katastrophe. Aber halt deutlich weniger als eine Woche zuvor (8,28 Mio.). Ist das nicht ein weiterer Beweis für einen negativen Trend?
Der Vergleich der beiden Zahlen scheint darauf hinzudeuten. Nun ist aber so, dass sich in den USA besonders in den letzten Jahren das Zuschauerverhalten dramatisch geändert hat. Viele Stammzuschauer schauen ihre Lieblingsserien überhaupt nicht mehr live, sondern zeichnen sie auf und sehen sie zeitversetzt. Und nicht gerade wenige zeichnen alles auf, um nach der allerletzten Episode per Binge Viewing das nächste Wochenende etwas spannender zu gestalten.
Diese Zahlen werden in den USA in der Kategorie DVR (Digital Video Recording) erfasst. Dazu später mehr. Auch hier rechnen die amerikanischen Rating-Experten wieder die 18- bis 49-Jährigen heraus. Das sind bei TWD fast immer stabile 2 Millionen, die regelmäßig zeitversetzt schauen.
Aber wie gesagt: das ist nur für die Werbekunden interessant. Wie sieht es hier mit der Gesamtzahl aus?
Tatsächlich sehen immer mehr Zuschauer Serien wie „The Walking Dead“ zeitversetzt. Das war früher anders. In der achten Staffel von TWD (von zwei kleineren Abweichungen abgesehen) waren das regelmäßig mehr als 4 Millionen. 
Addiert man also zur Gesamtzahl der Live-Zuschauer die Gesamtzahl der DVR-Zuschauer hinzu, so kommt man plötzlich auf zweistellige Zahlen. Real haben 11,8 – 15,7 Millionen Zuschauer die bisherigen Episoden der 8. Staffel von TWD gesehen. Und das war auch der Grund, warum QUOTENMETER die Marke vorsichtigerweise und sachlich richtig bei 15 Millionen Zuschauern festgezurrt hat. Aber obwohl man also wusste, um welche Zahlen es tatsächlich gehen sollte, wurden ausschließlich die Live-Zahlen ins Schaufenster gestellt.



Vergleich: Die schwächsten Episoden aus Staffel 7 und 8

Hier habe ich aus Staffel 7 die Episode „Say Yes" und aus Staffel 8 die Episode „Time for After" verglichen. Beide Episoden erreichen in der Gesamtsumme zweistellige Millionenwerte.



Der Zuschauerverlust ist dennoch erkennbar: im Vergleich der schwächsten Episoden hat TWD ca. 2 Millionen Zuschauer eingebüßt. Aufschlussreich: „Time for After" hatte mehr zeitversetzte Zuschauer als solche, die live gesehen haben. Ein Trend, der möglicherweise zunehmen wird. Es ist daher nur eingeschränkt sinnvoll, wenn deutsche Medien sich ausschließlich auf das Rating/Share (R/S) einer definierten Altersgruppe konzentrieren. Also auf jene Zuschauer, von denen am ehesten zu erwarten ist, dass sie DVR nachhaltig nutzen.



Vergleich: Die stärksten Episoden aus Staffel 7 und 8

 

 

Die Auftaktepisode der 7. Staffel „The Day Will Come When You Won’t Be“ war aufgrund des extremen Cliffhangers am Ende der 6. Staffel und des enormen Medienhypes die zweiterfolgreichste Einzelepisode von TWD (Live gesamt). Sie wurde nur knapp von der Auftaktepisode der 5. Staffel übertroffen. „Mercy“ konnte zum Auftakt der 8. Staffel daher nicht einmal ansatzweise mithalten.
Fazit: Egal, welche Zahlen man auswertet – „The Walking Dead“ hat Zuschauer eingebüßt. Bei genauerem Hinsehen sind die Zahlen nicht so dramatisch, wie es uns einige Medien weismachen wollen. Prognosen sind möglich, aber angesichts der vielfältigen Variablen, die bei Medienereignissen zu beachten sind, ist das die „Kunst des Ratens“, elaboriert nennt man dies Stochastik. Raten wir trotzdem ein wenig: im folgenden Diagramm sieht man deutlich, dass die Verteilung der Durchschnittswerte zu einer Glockenkurve führt, deren Trend sich langsam nach unten bewegt.




Zu viele Alternativen

Rating-Agenturen werden in den USA intensiver diskutiert als hierzulande. In den USA heißt der Ratingriese seit den 1950er Jahren NIELSEN. Ausgewertet werden über 116 Mio. TV-Haushalte (die „Nielsen Families“) mit fast 300 Millionen Zuschauern (Stand: 2015).

NIELSEN hat sich allerdings an die Veränderung der Zuschauerpräferenzen angepasst und wertet daher auch DVR-Zahlen aus. Beispiel: schaut jemand nicht live, sondern per Festplattenrecorder o.ä. die aufgezeichnete Show innerhalb der nächsten drei Tage, so gehen diese Zahlen in die sogenannte „Live+3“-Wertung. Zudem gibt es auch noch eine „Live+7“-Wertung. Und auch noch „Live+SD“ („Same Day“). Gehen nicht alle Zahlen in die Gesamtstatistik ein, kann schnell ein schiefes Bild entstehen.

Das ist aber wohl schon der Fall. Unabhängig von der Entwicklung, die „The Walking Dead“ im Moment erfährt, muss beachtet werden, dass immer häufiger Zuschauer ‚ihre‘ Serie on demand anschauen – also dann, wenn es ihnen passt: bei Amazon, Netflix und Co. Streaminganbieter geben aber ihre Abrufzahlen nicht so gerne heraus. Überlegungen, die den Wert der NIELSEN-Zahlen nach Ansicht vieler Medienwissenschaftler schmälern.

Und überhaupt: Was ist mit jenen, die auf ihrem Laptop TV schauen? So stellte die Medienkritikerin Laurie L. Dove zu Recht fest, dass eine Netflix-Show mit 1,5 Mio. Live Views und 15 Mio. Abrufen in der Folgefolge nicht besser anschneidet als eine Show, die einmal live gezeigt wurde und ebenfalls 1,5 Mio. Zuschauer fand.

Zum Glück liegen in Deutschland nun auch Streaming-Quoten vor. GOLDMEDIA hat sogenannte VOD-Charts (Last 30 Days) veröffentlicht. Die VOD-Ratings werden mithilfe einer technischen Messung der Anbieterbibliotheken (Netflix, Amazon, Sky u.v.a.) und durch Interviews (Day-After-Recall-Prinzip) ermittelt.
Dort zeigten die Werte für den Zeitraum 2.–6. Marz 2018 anbieterübergreifend folgende Ergebnisse: mit gewaltigem Vorsprung führt „The Big Bang Theory“ (37%) vor „The Walking Dead“ (14%). Danach wird es für „Grey’s Anatomy“, „Pretty Little Liars“ und Co. schnell einstellig. „Game of Thrones“ liegt abgeschlagen bei 5,4%.

Das wird Fans und Hater einer Serie nicht sonderlich interessieren, sie verlassen sich auf ihre ‚gefühlten‘ Zahlen. Gerade deshalb sollte man methodisch sorgfältig vorgehen, wenn man Ratings und Quoten mit einer inhaltlichen Diskussion verknüpft. Wenn dabei nicht alle relevanten Zahlen auf den Tisch gelegt werden, ist das Sensationshascherei und läuft bei einigen Online-Magazinen auf simples Clickbaiting hinaus (1). Deshalb ist auch die Meldung von „RollingStone“ mit Vorsicht zu genießen: „The Walking Dead interessiert in Amerika so wenige Leute wie zuletzt zum Start der Serie 2010.“ Bereits damals waren die ‚wenigen Leute‘ eine Quotensensation. Und letztlich ist nur die Gesamtzahl der Zuschauer spannend, egal, wo sie etwas gesehen haben: live, on demand, auf dem Laptop oder iPad, zeitversetzt oder erst dann, wenn alle Folgen on air waren.

(1) Wie mit falschen Fakten gearbeitet wird, konnte man am 14.3. bei Filmstarts nachlesen. Dort wurde der Quotenrückgang mit der Meldung garniert
Die finale Folge der achten Staffel mit dem Namen The Key läuft am kommenden Sonntag in den USA."
Bekannt ist jedoch, dass die aktuelle Staffel nicht nach 12 Folgen endet, sondern 16 Folgen hat und der Titel der übernächsten Episode online nachzulesen ist:
Do Not Send Us Astray". Dass nun einige Zuschauer über das Staffelfinale lästern werden, ist vorprogrammiert.

Quellen: 

  • Quotenmeter: http://www.quotenmeter.de/n/99480/tiefpunkt-the-walking-dead-verliert-in-den-staaten-immer-mehr-zuschauer
  • Herman, John. "Why Nielsen Ratings Are Inaccurate, and Why They'll Stay That Way." Splitsider. Jan. 31, 2011. (Dec. 8, 2014) http://splitsider.com/2011/01/why-nielsen-ratings-are-inaccurate-and-why-theyll-stay-that-way/
  • https://entertainment.howstuffworks.com/how-does-live-3-in-television-metrics1.htm
  • Goldmedia: https://vod-ratings.de/