Viele Kritiker halten Luc Guadagninos „After the Hunt“ für den schwierigsten Film des Jahres. Fast die Hälfte der Menschen, die ihn gesehen oder nur teilweise gesehen haben, hassen ihn mit Inbrunst. Bei Amazon sind es 44% und selbst die ansonsten friedfertige Leserschaft von epd-Film kotzte ihre Wut in die Kommentarspalte. Wenigstens das hat etwas mit dem Film zu tun, denn auch die Hauptdarstellerin Julia Roberts muss in dem Film regelmäßig kotzen. Was soll man mit so wütenden Filmfreunden anfangen?
Von mir gibt’s keine normale Kritik, sondern einen Brief an die „lieben Filmfreunde“, der garantiert niemanden erreichen wird, der Hate Speech für das ultimative Gesprächsniveau hält. Alle anderen werden einen Standpunkt kennenlernen, den sie vielleicht nicht teilen, aber aushalten können.
Liebe Filmfreunde,
Die gewollte Durchkreuzung von Erwartungen
Zunächst etwas Grundsätzliches. Auch wenn es uns die Filmindustrie suggeriert: Filmemacher sind keine Dienstleister, die gefälligst das abzuliefern haben, was man erwartet oder glaubt, erwarten zu dürfen. Romantik, lustige Unterhaltung, Spaß, Superhelden, Action, Thrill, tolle Mucke und am Ende siegt das Gute.
Das kann man sich anschauen, aber Kino ist auch etwas anderes: eine Herausforderung für die Zuschauer, die gewollte Durchkreuzung von Erwartungen, das Angebot, mit neuen Perspektiven auf das zu schauen, was uns umgibt – unsere eigene Welt, unsere täglichen Probleme. Das ist kein Plädoyer für permanenten Realismus und sozialkritische Themen. Ab und zu etwas Eskapismus ist o.k., sonst hätte ich nicht viermal „Game of Thrones“ gesehen. Aber man sollte nicht vergessen, dass Kino ohne unser reales Leben oder das reale Leben anderer nichts wäre. Und das bedeutet, dass unser Leben ohne Kino nichts wäre.
Wer also in Foren oder in den Social Media hasserfüllt losbrüllt, weil ihm ein Film nicht gefallen hat, macht zwar von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch, hat aber nicht verstanden, was Kino ist oder für ihn sein kann. Und damit steht er auf der Verliererseite, auch wenn Hunderte ebenfalls brüllen.
Dass mehr Medienkompetenz das Kommunikationsverhalten und das Bildungsgefälle kompensieren können, das halte ich offen gestanden für eine Illusion. Versucht werden muss es trotzdem. Ich werde am Ende dieses netten Briefs den Filmfreunden einige Optionen vorschlagen. Zunächst aber ein Kommentar zu den beliebtesten Meckereien, die sich im Internet breitmachten.
Musik und Geräusche
„Die Musik ist irritierend und das Ticken der Uhr eine Beleidigung für das Ohr.“ Ich war einigermaßen perplex, als ich lesen musste, wie abgenervt einige auf die Geräusche des Films reagierten, besonders auf das Tick-tick-tick zu Beginn des Films (am Ende hört man’s erneut!): „It’s a metronome, stupid!“, möchte ich am liebsten erwidern. Also keine Uhr. Oder doch?
Wer nicht weiß, was ein Metronom ist, der weiß auch nicht, dass es Musikern den Takt vorgibt, gleichzeitig aber auch die Eigenschaft besitzt, die Aufmerksamkeit zu steigern oder ein bestimmtes Zeitgefühl zu vermitteln. Auch Taylor Swift setzt ein ähnliches Gerät ein. So unerträglich und nervenzerfetzend kann das 30 Sekunden lange Ticken also nicht sein, oder?
Die Musik kam auch nicht ungestraft davon. „Die absolut nervige Filmmusik gibt dem Film den Rest.“ „Unerträglich!“, „Grauenhaft!“ Ganz ehrlich: Ich brauchte auch etwas Zeit, um mich an die Filmmusik zu gewöhnen. Mit fortschreitender Handlung wurde sie nicht nur nachvollziehbar, sondern richtig gut.
Persönlich mag ich keine Filmmusik, die die Emotionen der Figuren quasi verdoppelt. „Titanic“ ist ein schönes Beispiel für diesen musikalischen Mainstream. Häufig klimpert in romantischen Szenen auch ein Klavier. Und noch häufiger erzeugt bereits die Musik eine Stimmung, bevor die Figuren sie erleben. Filmmusik kann ganz schön manipulativ sein.
In „After the Hunt“ ist sie das nicht, sie ist kontrapunktisch. Und das ist gut so. Besonders dann, wenn sie die Hauptfigur interpretiert. Lange bevor die Yale-Professorin Alma Imhoff begreift, dass ihr Leben aus dem Ruder läuft, kündigt die Musik das Fiasko bereits an.
Ansonsten ist die Filmmusik in Luc Guadagninos Film abwechslungsreich. Es gibt Avantgarde-Stücke von György Ligeti, die garantiert nicht den Massengeschmack treffen, aber es gibt auch einen Song von David Bowie. Sanft-melodisch ist „It‘s gonna Rain“ von „Ambitious Lovers“, wie auch ein Jazzklassiker von Tony Bennett und Bill Evans. Der Song „Nothing Left to Lose“ ist der letzte Hit des Pop-Jazz-Duos „Everything but the Girl“ (das Musikvideo bei YouTube kann ich nur empfehlen).
Der Soundtrack von „After the Hunt“ ist also ein Streifzug durch Pop, Jazz und atonale Musik. Gut, Ligeti muss man nicht mögen, aber man kann durchaus verstehen, warum der Regisseur seine Stücke verwendet hat. Sicher, die Musik in „After the hunt“ steigert nicht immer das Wohlgefühl. Aber „grauenhaft“? Wer das hinausposaunt, der lügt oder ist ein Troll. Den Soundtrack gibt es hier.
Lange Einstellungen, Plansequenz
In einer Zeit, in der das Erzähltempo eines Films durch häufige Schnitte für mehr Action sorgen soll, sind lange Einstellungen scheinbar ermüdend und langweilig. Auch hier protestierten viele enttäuschte Kinogänger, nur um triumphierend festzustellen, dass sie gelangweilt das Kino verlassen oder den Stream nach einer Viertelstunde beendet hätten. Heldenhaft!
In der Filmtheorie nennt man diesen Stil „Plansequenz“. Der leider längst vergessene Filmkritiker André Bazin hat darüber vor ungefähr 75 Jahren viele Bücher geschrieben. Bei Bazin kam noch die Tiefenschärfe dazu. Zusammengenommen kann man mit diesen Stilmitteln eine innere Ruhe beim Zuschauer erreichen, der genug Zeit bekommt, um sich in den Bildern alles reflektierend anzuschauen. Abgesehen davon gibt es in vielen Filmen Plansequenzen, die für enorme Spannung sorgen können. Etwa bei Hitchcock oder in Wolfgang Petersens „Das Boot“. Wer diese Filme mag, wird nicht merken, dass er eine Plansequenz gesehen hat. Für alle anderen ist sie ein weiteres Haar in der Suppe.
Der Film ist nicht unverständlich
„Dieser Film ist so schlecht, so enttäuschend, weil er nichts aussagt, keinerlei Spannung in irgendeiner Hinsicht hat. Was ist denn eigentlich sein Thema?“
Man kann einiges kritisieren, aber Spannung fehlt in „After the Hunt“ garantiert nicht. Und die Themen? Für sie gibt es keine Gebrauchsanweisung, auch nicht eine Anleitung für das Verstehen einer Aussage. Es sei denn, man besorgt sich von der PR-Abteilung des Verleih das Presseheft. Oder man sucht im Internet solange Filmkritiken, bis man eine findet, die das eigene Bauchgefühl stilistisch gekonnt auf den Punkt bringt. Das ist aber kontra-produktiv.
In „After the hunt“ muss man bei der Themenfindung etwas Geduld haben. Der Film wird zwar linear erzählt, was die Rezeption erleichtert. Aber dass Luc Guadagnino und seine Drehbuchautorin Nora Garrett wichtige Details erst am Ende offenlegen, ist tatsächlich erschwerend für die Themensuche. Der von Maggie entdeckte Bericht über die jugendliche Missetat ihrer Professorin wird ein paar Sekunden gezeigt, dann kommt der Cut. Also zurückspulen und auf die Pausetaste drücken, um die wenigen Passagen lesen zu können, die nicht unscharf sind. Im Kino geht das nicht - ein No-Go.
Auch andere Schlüsselszenen sind zunächst unverständlich, aber der Film ist auch ein Psychothriller und in diesem Genre ist vieles zunächst rätselhaft. Noir-Filme sind da weit schlimmer. Trotzdem ist das Drehbuch des Films nicht immer ausreichend kohärent, also nicht immer nachvollziehbar, was Abzüge bei der Note gab. In der folgenden Zusammenfassung des Inhalts werde ich die Fragmente daher in der richtigen Reihenfolge platzieren. Schlüsseldetails, die später entschlüsselt werden, sind kursiv.
Inhalt
Der Film beginnt mit einer Party in der Wohnung Philosophie-Professorin Alma Imhoff (Julia Roberts) und ihres Mannes Frederik Mendelssohn (Michael Stuhlberg), zu der auch einige Studenten eingeladen wurden. Als die afro-amerikanische Studentin Maggie Resnick (Ayo Edebiri) auf der Toilette nach Toilettenpapier sucht, entdeckt sie einen Umschlag, in dem sich Fotos und ein Zeitungsbericht befinden. In dem Bericht erfährt Maggie, dass die 15-jährige Alma eine Affäre mit Matthias Wolff, einem von ihr vergötterten Mann hatte. Als dieser die Beziehung beendete, rächte sich Alma an ihm: sie beschuldigte ihn, sie sexuell missbraucht zu haben. Der Beschuldigte brachte sich um. Das öffentliche Geständnis Almas, dass sie gelogen hatte, kam zu spät.
Kurze Zeit später verlassen Maggie und der Philosophie-Professor Hank Gibson (Andrew Garfield) die Party. Am nächsten Tag sucht eine völlig verstörte Maggie, die Alma vergöttert und möglicherweise auch erotische Ambitionen hat, ihre Professorin auf und erzählt ihr, dass sie von Hank vergewaltigt wurde. Hank erzählt dagegen eine andere Version. Er habe Maggie nach einer Party in Almas Wohnung nach Hause begleitet. Dort habe man einen „Absacker“ trinken wollen. Dann aber habe ihn Maggie sexuell bedrängt. In Hanks Version lehnte er Maggies Offerte ab und erklärte der Studentin, dass ihre noch nicht fertiggestellte Dissertation in weiten Teilen ein Plagiat sei: sie habe hemmungslos lange Passagen aus anderen Quellen abgeschrieben. Maggies Anschuldigung sei eine sorgfältig geplante Racheattacke.
Hank wird umgehend gefeuert, obwohl es keine Beweise für Maggies Anschuldigung gibt. Maggies Eltern sind wohlhabend und gehören zu den Förderern der Yale-Universität. Später wird Maggie, die nicht den Eindruck hat, dass Alma sie bedingungslos unterstützt, den Einfluss ihrer Eltern nutzen, um im Magazin Rolling Stone die Universität als patriarchalisches System zu attackieren, das schwarzen Wissenschaftlerinnen den Weg verbaut. Ob sie tatsächlich plagiiert hat, wird in Guadagninos Film nicht aufgeklärt.
Es kommt später zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Maggie und Alma, die der Studentin nun Plagiieren und das Fehlen einer wissenschaftlichen Arbeitsethik vorwirft. Sie wird von Maggie geohrfeigt und später auf dem Campus von einer Gruppe Studenten umkreist, die von ihr verlangen, sich für Maggie einzusetzen. Alma kollabiert und muss im Krankenhaus wegen akuter Magengeschwüre behandelt werden. Dort gesteht sie ihrem Mann, dass sie ihn belogen hat, als sie ihm erzählte, dass sie als 15-Jährige sexuell missbraucht wurde. Das sie später gestand, gelogen zu haben, hatte sie verschwiegen. Frederick tröstet sie trotzdem – und zwar mit der Feststellung, dass ein sexuelles Verhältnis zwischen Erwachsenen und Jugendlichen auf jeden Fall eine Vergewaltigung sei – auch im rechtlichen Sinn. Dann sagt er Alma, dass er sie liebt. Alma schweigt und wendet den Kopf ab.
„Fünf Jahre später“, so heißt der Epilog, den Luc Guadagnino dann serviert. Gelungen ist er meiner Meinung nach nicht, denn er wirkt konstruiert. Allen Figuren geht es glänzend. Alma ist Dekanin der Yale-Universität. Hank geht es blendend, er macht als Politikberater richtig Kohle und auch Maggie scheint ihr Auskommen gefunden zu haben. Die beiden Frauen treffen sich und trinken ein Glas Wein. Maggie bewundert ihr altes Vorbild, weil sie ihre eigenen Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch öffentlich gemacht hat: ein zynischer, aber cleverer Schachfigur, so Maggie. Dann hört man Guadagnino im Off. Der sagt nur ein Wort: „Cut!“
Themen, Perspektiven und Deutungen
Fiktive Erzählungen bilden die Realität nicht 1:1 ab, sondern bieten Perspektiven an, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Klare Botschaften und moralische Wahrheiten, wie sie einige Kinogänger erwarten, sind möglich, aber nicht erforderlich. Das hat einen Grund: Deutungen werden den Zuschauern (oder Lesern) überlassen, können unterschiedlich ausfallen, dürfen aber nicht willkürlich sein. Zuschauer müssen sich daher mit der Handlungslogik auseinandersetzen. Ein wahr/unwahr-Schema ist dabei nicht hilfreich. Mit diesen Aspekten setzt sich übrigens die sogenannte Rezeptionsästhetik auseinander. Unterschiedliche Deutungen sind also legitim, sie verändern sich aber im Lauf der Zeit. Das führt dazu, dass man in älteren Filmen und Büchern neue Aspekte entdecken kann. Nun aber zu den Themen in „After the hunt“.
Erstens: Es geht um die Unentschlossenheit und das moralische Versagen der Philosophie-Professorin Alma Imhoff, die sich zu zaudernd verhält, als ihr Kollege (und wohl auch ihr Ex-Lover) Hank Gibson von der Studentin Maggie Resnick beschuldigt wird, sie vergewaltigt zu haben. Beide waren an der Uni Kandidaten für eine feste Anstellung, in den USA „Tenure“ genannt. Die gibt den Lehrenden die Möglichkeit, auch unpopuläre wissenschaftliche Hypothesen in ihren Veranstaltungen anzubieten, ohne einen Jobverlust fürchten zu müssen. Alma Imhoff stand daher unter dem Druck, eine Position zu finden, die ihre Karrierepläne nicht gefährdet. Abgesehen davon ruiniert Alma beinahe ihre beruflichen Pläne, als sie der Uni-Psychiaterin Blanko-Rezepte entwendet, um sich illegal Schmerztabletten zu besorgen. (Aus meiner Sicht eine überflüssige Szene).
Gleichzeitig steckte Alma in dem Dilemma, Maggies Version objektiv zu beurteilen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Maggie durch den Zeitungsbericht über die Wolff-Affäre inspiriert wurde, liegt allerdings auf der Hand. Folgt man der Handlungslogik, dann hängt die Lektüre des Berichts sehr wahrscheinlich mit Maggies Anschuldigung zusammen.
Für mich ist die Vergewaltigungsgeschichte daher frei erfunden und Alma hätte sich dafür engagieren müssen, dass konkrete Beweise vorgelegt werden. Dazu hätte sie aber eine Konfrontation mit der Uni riskieren müssen. Beweise kann auch Maggie nicht liefern. Im Gegenteil: als sie von Alma gefragt wird, warum sie nicht in einer Klinik war, um für Gen-Proben zu sorgen, findet sie nur eine fadenscheinige Ausrede. Alles Teile der Handlungslogik.
In Luc Guadagninos Film ist die Hauptfigur eine unsympathische Person. Bis auf den etwas skurrilen Frederick gilt dies auch für alle anderen Figuren. Julia Roberts spielt das allerdings Oscar-reif. Als Lehrende ist Alma nämlich eine Katastrophe. Das wird deutlich, als sie eine Studentin zusammenfaltet, mit der sie sich über ein Zitat des deutschen Philosophen Theodor W. Adorno streitet: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“
Als Vertreter der Kritischen Theorie meinte Adorno, dass die kapitalistische Gesellschaft zu einer Verdinglichung der Menschen führt, die „Sachen“ oder „Dinge“ werden. Eine Entfremdung, die auch im Privatleben jeden Versuch, richtig zu leben, zur Illusion macht.
Im Film kriegt die Drehbuchautorin Nora Garrett das fachliche Geplänkel nicht sonderlich gut hin. Der Dialog ist schlecht geschrieben. Aber die Szene spiegelt perfekt wider, was Almas Leben aus ihrer Sicht bestimmt: sie ist im falschen Leben, sucht aber das richtige. Und das richtige Leben ist die Karriere in einer akademischen Männerwelt. Alles erschwert durch die Scham über ihre Vergangenheit und die Angst, dass all dies sich nun wie ein Fluch wiederholt. Vielleicht ist das richtige Leben aber das falsche?!
Philosophie spielt in „After the hunt“ ansonsten keine große Rolle (schade eigentlich), auch wenn in den Foren sehr häufig über „Pseudo-Philosophie“ und „wissenschaftliches Gelaber“ geschrieben wurde. Gut, in der Partyszene am Anfang des Films wird eitel gequatscht, aber das ist im Elfenbeinturm nichts Neues. Ansonsten zeigen die entwertenden Urteile in den Foren, dass die Verfasser entweder keine Ahnung haben oder ganz einfach boshaft sind.
Die Wissenschaftsfeindlichkeit ist halt auf dem Vormarsch. Und so war es keine Überraschung, dass jemand Folgendes absonderte: Der Film zeigt, dass nicht nur in den USA Pseudo-Wissenschaftler und elitär-arrogante Studenten das akademische Leben prägen. Selbstverständlich gelte dies auch für alle Unis weltweit. Leider ist die Generalisierung das Ende einer vernünftigen Debatte, sie ist einfach nur Blödsinn. Vorurteile entstehen halt durch Unwissenheit, Ignoranz, Gehässigkeit und Dummheit. Die Medien- und Kommunikationswissenschaften haben dafür einen netten Begriff eingeführt: Inzivilität.
Abgesehen von trolligen Attacken ist unschwer erkennen, dass die Hauptfigur sich von den selbstverschuldeten Traumata ihre Jugend nicht befreien konnte und stattdessen empathielos geworden ist. Der Kampf um die Karriere ist also ein Surrogat, das das richtige Leben nicht ersetzen kann. Nur scheint Alma das nicht zu begreifen. Das könnte ein Thema sein, oder?
Zweitens: Man muss blind sein, um zu leugnen, dass Luc Guadagnino und seine Autorin mit dem Film erneut eine MeToo-Debatte angestoßen haben. Ob sie das wollten oder nicht, ist dabei völlig unerheblich. Die Handlungslogik spricht auch hier eine eindeutige Sprache.
Ich selbst bin gespalten. Einerseits ist MeToo eine sozial und politisch unentbehrliche Bewegung, die seit 2006 für Frauenrechte und gegen sexuelle Übergriffe kämpft und 2017 durch die Weinstein- und später durch die Epstein-Affäre ihre Notwendigkeit auch dem letzten Zweifler klarmachte. Andererseits ist die dunkle Seite der Medaille ihr Missbrauch. Selbst die taz, die garantiert nicht den Ruf hat, misogyne Positionen zu vertreten, räumte bereits vor sieben Jahren ein, dass es Fake-Beschuldigungen gab, die zum Selbstmord unschuldiger Männer führten. So nahm sich der walisische Politiker Carl Sargeant das Leben, nachdem ihn drei Frauen beschuldigten, dass er sexuell übergriffig geworden war.
Das ist aber nicht der Skandal. Der eigentliche Skandal war, dass man den Politiker aus seiner Fraktion schmiss, ohne dass es auch nur den geringsten Beweis für die Vorwürfe gab. Die bloße Anschuldigung reichte und der Bezug zu Guadagninos Film ist offenkundig. Mittlerweile, und das ist statistisch belegbar, haben Männer Angst davor, sich mit Frauen in einem Raum aufzuhalten. Das kenne ich sogar aus meinem sozialen Umfeld: Dienstgespräche mit Frauen nur in Anwesenheit eines Dritten. Und in einer Studie der Universität Houston erklärte ein Viertel der befragten Männer, dass sie aus Furcht vor falschen Anschuldigungen keine Frauen mehr einstellen würden. In dieser Welt suchen Alma und Maggie ihren Platz.
In Luc Guadagninos Film mäandern die Figuren nicht ziellos durch das Chaos von Schuld und Sühne, Wahrheit und Lüge, sondern wissen genau, was sie wollen. Das gilt für Maggie, das gilt auch für Alma, die moralisch versagte. Und erst recht für das bigotte Führungspersonal der Universität. Wer glaubt, dass „After the hunt“ kein kritischer MeToo-Film ist, der war im falschen Film. Das waren also meine Themen und meine Deutungen. Alles ohne Gewähr…
Man darf sich irren
Ich kann mich irren. Aber ich habe mein Bestes gegeben, um meine Deutung argumentativ zu untermauern. Jetzt aber zu den alternativen Optionen, die ein zorniger Kinogänger hat. Wenn er will.
- Erstens: gute Filmkritiken lesen. Man erkennt sie daran, dass sie Pro und Contra abwägen und nachvollziehbare Verbindungen zwischen Fiktion und Realität beschreiben. Filmästhetisches Know-how und sehr gute Kenntnisse der Filmgeschichte sind unentbehrlich. Ansonsten fragt man ChatGPT: „Die ‚guten‘ Kritiker hängen oft von Ihrem Geschmack ab. Suchen Sie nach Stimmen, die Ihre Perspektive teilen – ob analytisch-kritisch (Schmitt), unterhaltsam (Hofmann) oder klassisch-feuilletonistisch (Seeßlen).“ Nein, liebe Filmfreunde, tut das nicht. Lebt nicht in einer Blase. Lest Kritiker, die eine andere Meinung vertreten als ihr.
- Zweitens: In Deutschland ist die Filmkritik auf einem absteigenden Ast, aber das ist ein anderes Thema. Aber aus diesem Grund empfehle ich US-Film- und Medien-Magazine. Hierzulande sieht sich ein Kritiker die ersten beiden Episoden einer Serie an und beurteilt danach apodiktisch das "Produkt" (1). Nachbesprechungen? Nein, gibt es nicht. In den USA analysieren kompetente Journalisten jeder einzelne Folge. Wer sich nicht traut, weil sein Englisch zu schlecht ist, lässt sich halt alles von ChatGPT übersetzen – das kann die KI perfekt.
- Drittens: Sucht nach Interviews mit den Regisseuren und/oder Drehbuchautoren. Anschließend weiß man mehr. Versprochen.
Abschließend ein passendes Beispiel. Es handelt sich um ein Interview, das das Magazin creative screenwriting mit der Autorin Noah Garrett geführt hat. Garrett erklärt Ihre Themen ziemlich gut – und sorry – es könnte sein, dass ich mich in wesentlichen Punkten völlig geirrt habe. Ich fasse das kurz zusammen und zitiere Wichtiges (ins Deutsche übersetzt).
Garretts Thema ist laut creative screenwriting der Konflikt zwischen einer öffentlichen Person und der privaten Scham, die nicht nur für die Hauptfigur charakteristisch ist. creative screenwriting schreibt: „Dabei stellte sie sich immer wieder die Frage: ‚Verdienen wir es, für die schlimmste Tat, die wir je begangen haben, den Rest unseres Lebens bestraft zu werden?‘ Sollten wir unsere Stimme erheben – oder einfach mit unserer Schuld leben?“
Garrett selbst beschreibt das Hauptthema genauer, nämlich als Dichotomie (bedeutet entweder ‚zwei Aspekte eines Sachverhalts‘ oder eine Beschreibung von absoluten Gegensätzen). Für die Drehbuchautorin ist der Zweispalt von Oberfläche (die Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit) und Tiefe (das, was uns tatsächlich antreibt oder quält) ein Meta-Thema, dessen Folgen Julia Roberts als karriere-orientierte Professorin bewusst oder vielleicht auch unbewusst so umtriebig machen. Dabei ist die Universität „als Kastensystem“ der perfekte Ort für so eine Geschichte, weil der Kampf um die Vollzeitstelle („Tenure“) der fruchtbare Boden für eine schwammige Moral ist, die im Konkurrenzkampf die Oberhand gewinnt. Denn alle Figuren, so Garrett, kämpfen mit der Lücke zwischen dem, wovon sie moralisch überzeugt sind, und dem, was sie tatsächlich tun.
Formal war es für Noah Garrett wichtig, die Geschichte in zerstreute Puzzleteile zu zerlegen, um das Gesamtbild erst am Ende zu zeigen – also genau das, was ich als inkohärent empfand. Insgesamt weist Garrett stärker auf psychologische und erst danach auf gesellschaftspolitische Probleme hin, gibt die Verbindung zwischen beiden Aspekten aber nicht auf.
Ein deutlicher Unterschied zu meiner Deutung ist etwas anderes: Hanks Figur wurde in der ersten Drehbuchversion als „clear-cut villain“ entwickelt, also als eindeutiger Schurke, wurde in den folgenden Fassungen aber komplexer und undurchsichtiger gestaltet.
Noch krasser fiel dann die Deutung der Beziehung zwischen Alma und Maggie aus: „Diese Weigerung, eindeutige Antworten zu liefern, erstreckt sich auch auf Almas Charakterentwicklung. Als Pragmatikerin und Realistin hat Alma in einem von Männern dominierten Berufsfeld gelernt, zu überleben, indem sie Teile ihrer selbst vernachlässigt und sogar unterdrückt. Maggie, die eine jüngere, idealistischere Generation verkörpert, stellt diesen Ansatz infrage und besteht darauf, mit Integrität und Authentizität zu leben – selbst, wenn dies persönliche Opfer erfordert“ (creative screenwriting).
Das macht Maggie zum Opfer und daher zur moralischen Heldin des Films. Ob diese redaktionelle Deutung mit der von Garrett übereinstimmt, bleibt allerdings unklar. Bei dem Interview handelt es sich nicht um ein transkribiertes Frage-/Antwort-Interview, sondern um einen redaktionellen Text, in dem Passagen des Interviews zitiert wurden. Auf jeden Fall ist das Ergebnis das uneingeschränkte Gegenteil meiner Interpretation.
Ich denke, dass mein leider wieder sehr langer Text zeigt, wie kompliziert es ist, Filme zu deuten. Beinahe jeder Kritiker hat seine eigene Sicht, vielleicht auch beeinflusst durch eigene Moralvorstellungen und politische Überzeugungen. Damit muss man leben, aber als Zuschauer sollte man sich wenigsten ansatzweise darum bemühen, an dieser Debatte argumentativ teilzunehmen, auch wenn es im stillen Kämmerlein stattfindet. Wer dies nicht will, sollte sich komplexe und „schwierige“ Filme nicht anschauen. Diese Freiheit hat er.
Den Lesern wünsche ich Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch!
Schaut euch auch Filme an, von denen ihr glaubt, dass es sich nicht lohnt. Tut es meistens doch.
Postskriptum
(1) Das liegt auch daran, dass Redaktionen sehr häufig nur die ersten beiden Folgen einer Serie vorab sehen können. Sie schreiben trotzdem. Weil es alle so machen. Professionelle Kritiker (also solche, die mit ihrer Arbeit Geld verdienen) tun dies, obwohl sie wissen, dass in einer acht- oder zehnteiligen Serie die ersten zwei Episoden lediglich die Schlüsselidee (Hook) und einige ästhetische Parameter der Serie erkennen lassen, aber nicht die Story Arc (die Entwicklung der Handlung mit ihren Plot Points) und die Figurenentwicklung mitsamt ihrer dramatischen Konflikte.
Da das Interesse an einer neuen Serie anfänglich sehr groß sein kann, will man es nicht der Konkurrenz überlassen, die Leser "abzuholen". Oft ist Clickbaiting die Folge, also reißerische Überschriften und andere Methoden der Aufmerksamkeitslenkung.
Traurig ist, dass nach dem Staffelende eine Rezension ausbleibt. Das ist das Gleiche, als würde ein Kritiker die ersten 20 Minuten eines Kinofilms anschauen und dann das Kino verlassen, um einen Artikel zu schreiben.
In US-Kino-Magazinen gibt es dagegen "Reviews", also eine Rezension nach jeder einzelnen Episode. In Deutschland machen das nur wenige Profis, dafür aber Podcaster oder Blogger, die dann als "Nerds" belächelt werden, nicht selten aber über mehr Know-how verfügen als die Profis.
Ich schreibe immer nach dem Ende einer Staffel eine Rezension. In wenigen Fällen (etwa bei einer Star Trek-Serie) Reviews im 3er- oder 4er-Pack. Bei Kinofilmen warte ich den Stream ab, um Notizen machen zu können. Ja, die Pause-Taste ist wichtiger als man denkt. Aber Sorgfalt ist man seinen Lesern schuldig.