Dienstag, 19. Februar 2008

There will be blood

USA 2007 - Regie: Paul Thomas Anderson - Darsteller: Daniel Day-Lewis, Paul Dano, Kevin J. O’Connor, Ciarán Hinds, Dillon Freasier, Mary Elizabeth Barrett, Christine Olejniczak, Barry Del Sherman - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 158 min.

Auf den Spuren von Welles, Ford und Kubrick: Paul Thomas Andersons „There will be blood“ wird Kinogeschichte schreiben.

Schon lange ist im Kino nicht mehr so beharrlich geschwiegen worden. Die ersten Bilder zeigen ein Fall von Exploitation. Ein Mann bohrt, schlägt und hämmert ins harte Gestein; er sprengt aus ihm heraus, wonach er sucht – Schätze, egal was, es ist harter Überlebenskampf, der sich die Natur unterwirft. Noch richtet sich die Ausbeutung auch gleichzeitig gegen den eigenen Körper. Der Mann wird dabei in seinen eigenen, tief in die Erde getriebenen Schacht stürzen und danach für den Rest seines Lebens humpeln.
Paul Thomas Anderson zeigt in „There will be blood“ anfangs schöne schmerzhafte Bilder, minutenlang wird nicht gesprochen und die Aufsehen erregende Musik von Jonny Greenwood verwandelt die sprachlose Eingangssequenz in etwas, das wir so nur aus den Filmen Stanley Kubricks kennen und zuletzt in „2001“ gesehen haben: Es geht ums Ganze, doch anders als bei Kubrick, der uns zeigte, wie ein Mythos funktioniert und diese Erkenntnis dann mit seinem Pessimismus zersetzte, führen uns die grandiosen Bildern, die uns Anderson vorsetzt, den Archetypus vor. Wir ahnen: Es geht um das, was den Menschen antreibt, wenn er bis an die Grenzen geht, um erst sich und dann die Natur auszubeuten. Und dann den anderen, die Gemeinschaft.

Homo oeconomicus
Die USA an der Grenze zum 20. Jahrhundert: Daniel Plainview (Daniel Day-Lewis) hat sich zwar sein Bein ruiniert, aber er hat der Härte der Steine etwas abgerungen, was ihn von den Torturen physischer Arbeit weitgehend befreien wird: Kapital. Zusammen mit seinem Sohn H.W. zieht er durch Kalifornien und kauft Förderrechte. Meistens für wenig Geld.
Plainview ist ein „Ölmann“ und überall dort, wo er auftaucht, um den Energiehunger einer Nation auf dem Wege zur Industrialisierung zu befriedigen, predigt er Werte: Es geht um Wohlstand, es geht um die Familie, die Menschen sollen von den Schätzen der Natur profitieren, um nicht länger einen Laib Brot als Luxus zu empfinden.
Doch Plainview, das steht schnell fest, ist kein Idealist. Es geht ihm um den eigenen Gewinn, mit fast allen Mitteln, und er weiß, dass er die hoffnungslos verarmten, aber gottesfürchtigen Menschen nur betrügen kann, wenn er sich geschmeidig an ihre Werte anpasst.
Als er von dem jungen Paul Sunday einen Hinweis auf ein riesiges Ölfeld erhält, das sich unter dem Boden der elterlichen Farm befindet, zieht er mit H.W. nach Little Boston, um den auf kargem Land vegetierenden Ziegenbauern ihren Reichtum für ein paar müde Dollar abzuschwindeln. Nur Eli, Pauls Zwillingsbruder und der Laienprediger der Gemeinde, durchschaut das Geschäft und fordert für sich, seine Familie und die Kirche eine größere Rendite. Seine „Kirche der 3. Offenbarung“ ist genau das, was der gnadenlose Materialist Plainview am meisten verachtet: Menschen, die ihre Werte und Ziele nicht selbst definieren, sind schwach. Plainview dagegen ist nicht nur Agnostiker, sondern durch und durch ein Nihilist – ein Machtmensch, wie ihn Nietzsche nicht besser hätte ersinnen können, ein Mensch, der mit seiner Skrupellosigkeit jede Moral zersetzt. Plainview wird Eli öffentlich demütigen, nicht weil es erforderlich wäre, sondern weil es ihm gefällt.

Ein Gegenentwurf zu John Fords MythenProvinzialität und Turbo-Kapitalismus, Lohnarbeit und Unterdrückung, christliche Moral und die Gesetze der Ökonomie – Paul Thomas Anderson („Magnolia“, 1999) hat mit „There will be blood“ einen auf den ersten Blick kaum zu bewältigenden Themenkatalog aufgefächert, der zudem noch durch eine Reihe von Subthemen ergänzt wird, denn es geht auch um die Kolonisierung eines Landes, um die ewige Geschichte von der Eroberung des Westens und die Frage, ob die Zivilisation die Barbarei verdrängt oder lediglich eine neue mit sich bringt.
Wenn Anderson dabei offenbar bewusst eine Ikonografie benutzt, die uns vertraut ist, und Daniel Day-Lewis auf seiner Veranda ins Land blicken lässt, dann wird diese Figur zum bösen Alter Ego von Henry Fonda, der in „My Darling Clementine“ in eben dieser Haltung auf einer Veranda sitzt. Diese visuelle Assoziation zeigt uns, dass wir uns Kino ohne ein Bewusstsein für seine Traditionsgeschichte nicht vollständig erschließen können.

Anderson scheint dies zu wissen und er setzt seine Mittel virtuos ein. Er weiß, wie Kino funktioniert und wie es unsere Tragödien in eine eigene Sprache übersetzt, nicht nur, um uns diese Tragödien zu erklären, sondern auch, um daraus neue Mythen zu schaffen. Und diese Mythen können wie bei Ford nur funktionieren, wenn sie Bilder schaffen, die uns suggerieren, auch ohne sprachlichen Diskurs und Analyse bereits all das zu enthalten, was sonst langatmig erklärt werden muss. Bilder, die in unserem kollektiven Kinogedächtnis abgespeichert werden.
Aber auf der Veranda sitzt nicht Henry Fonda, sondern Daniel Day-Lewis. Und das macht den Unterschied aus.

Während John Ford in „My Darling Clementine“ einen ambivalente und mythopoetischen Western geschaffen hat und uns mit seiner mit seiner Wyatt Earp-Figur zeigte, dass es nicht nur um dem Einzug von Recht, Ordnung und Zivilisation in die Gesellschaft des Westens ging, sondern auch darum, die ländlich gewachsenen Werte der Pioniere an der Frontier als bewahrenswert darzustellen, quasi als konservativen Gegenentwurf, der uns vor den Zumutungen einer möglicherweise gemeinschaftsfeindlichen Zivilisation schützen soll, führt uns Anderson eine Figur vor, die uns der späte, deutlich pessimistischere Ford erspart hat: Ethan Edwards ist in „The Searchers“ durchaus noch zugänglich für eine Katharsis, Daniel Plainview ist es nicht – er ist eine Anti-Ford-Figur, er ist der gierige und brachiale homo oeconomicus, dessen kapitalistische Rationalität die sozialen Beziehungen der Menschen regeln wird. Und damit bietet uns Anderson eine deutlich skeptischere Variante der Zivilisationsbetrachtung an.
Wer auch ästhetisch diesen Spagat schafft, der spielt in einer anderen Liga und Anderson ist keineswegs so uneitel, dies in seinen Bildern zu verschweigen. Auch wenn er in seinen Interviews beharrlich seine stilistische Abstinenz verteidigt, weil er (fast phänomenologisch) zum Kern der Geschichte vorzustoßen gedenkt, sprechen seine Bilder eine andere Sprache: Der Mann will dorthin, wo Welles, Ford und Kubrick bereits gewesen sind. Und er schafft es weitgehend.

Psychologie erklärt nicht die GierGenauso wie Ford ist Anderson kein explizit psychologischer Regisseur, auch wenn er uns in „Magnolia“ scheinbar etwas anderes gezeigt hat. In „There will be blood“ geht es ebenfalls nicht um Psychologie, auch wenn der Film nicht ganz ohne sie auskommt, erst recht nicht, weil Anderson diesmal nicht im Altman-Stil in endlosen Nebenhandlungen herumspringt, sondern den Focus allein auf seine Hauptfigur richtet. Diese Tycoonfigur rückt jedoch noch weniger als bei Welles etwas über ihre üblen Traumata heraus: „Citizen“ Plainview hat eine Geschichte, er ist beschädigt und irgendwann outet er sich auch als asexueller empathiefreier Menschenhasser – sein Reichtum, so erklärt er, diene nur dazu, irgendwann allein und ohne Menschen leben zu können. Der Rest bleibt im Dunklen.

Aber Andersons Held ist keineswegs eindimensional: Wir erfahren zwar, dass H.W. nicht sein leiblicher Sohn ist, sondern dass er ihn als Accessoire mitgenommen hat, um sich besser einschmeicheln zu können, aber Plainview scheint zumindest noch reflexhaft über einige Gefühle zu verfügen, genauso wie John Hustons Figur Noah Cross in „Chinatown“, jenem anderen großen Film über die unbändige ökonomische Gier. Lädiert sind diese Gefühle aber in jeder Beziehung und es wird Plainview zum Verhängnis, dass er nach einer schweren Explosion, bei der H.W. sein Gehör verliert, seinen „Sohn“ in ein Internat abschiebt. Spätestens dann nämlich, als er überlebenswichtige Grundstücke, die er für den Bau einer Pipeline benötigt, nur kaufen kann, nachdem er sich öffentlich in Elis Gemeinde als „Sünder“ demütigen lässt.
Später wird in Plainviews Leben noch ein anderer Schwindler auftauchen: Henry, ein verlorener Bruder, der aber keiner ist. Plainview wird in diesem mickrigen, labilen Betrüger eine zeitlang einen loyalen Freund besitzen. Es gibt ein schönes Bild in „There will be blood“, das man auch übersehen kann: Plainview sitzt mit Henry am Strand, den Blick in die Ferne gerichtet. Es scheint ein Moment der Ruhe zu sein, aber Henry sinkt in sich zusammen, erkennbar verzweifelt, und Plainviews Blick verrät nicht nur seine Verachtung für das Schwache, sondern auch die Erkenntnis seiner Einsamkeit. Wenig später wird er Henry erschießen, nachdem er ihn als Betrüger entlarvt hat. There will be blood.

Dramaturgischer FehlgriffDas Einzige, was in Andersons Film für Unbehagen sorgt, ist Plainviews Antagonist: Der von Paul Dano gespielte fundamentalistische Laienprediger Eli taugt nicht als Gegenpart. Nicht nur, weil er ein skurriler Exorzist ist und bestenfalls als Comicfigur taugt, die den europäischen Zuschauer nur allzu leicht über den amerikanischen Fundamentalismus der Bush-Ära spötteln lässt, sondern auch weil damit in Andersons Script eine überzeugende Gegenfigur fehlt, die fähig wäre, die Morbidität von Plainviews Turbo-Kapitalismus zu denunzieren.
Im Gegenteil: Ein simples Arrangement mit Eli Sunday hätte Plainview einen Konflikt erspart, denn zuletzt erfahren wir, dass Sunday von der gleichen Gier befallen ist wie sein Gegenspieler. Im Grunde genommen kämpfen zwei Brüder im Geiste gegeneinander und spätestens im letzten Drittel rutscht Andersons Film in ein monströses Rachedrama ab, das einen faden Beigeschmack hinterlässt. Als Sunday, der zwischenzeitlich sogar zum erfolgreichen Radioprediger aufgestiegen ist, Ende der Zwanziger Jahre durch den Börsencrash ruiniert wird und in Plainviews luxuriösen Haus auftaucht, um ihn um Hilfe zu bitten, dient dies (und ein ziemlich überflüssiger Twist) nur der Stilisierung Plainviews zum dämonischen Mega-Bösewicht. Das ist am Ende nur noch Schauspieler-Kino, mit Grandezza vorgetragen, aber eben auch nicht mehr. Man spürt, dass Anderson das „Große Finale“ fest im Blick hatte und dazu passt dann auch, dass Plainview seinen unterklassigen Gegner mit den Worten „I’m finished“ auf der Kegelbahn seines Hauses erschlägt.
Klar, das mag als großes Kino erscheinen, aber so kommt man nicht überzeugend aus einem Film heraus, der uns in seinen klarsten Momenten vor Augen geführt hat, dass das Ökonomische das Soziale regelt. Und nicht umgekehrt. Jedenfalls nicht, solange wir es nicht ändern.

„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ (Theodor W. Adorno).

Persönlich bin ich davon überzeugt, dass Paul Andersons Film in einigen Jahren von den Filmhistorikern als „Citizen Kane“ des 21. Jahrhunderts gefeiert werden wird. Ob dieser zutiefst humorlose und unironische Film einen Oskar gewinnen wird, bleibt nur noch für wenige Tage eine spannende Frage. Daniel Day-Lewis wird ihn vermutlich erhalten. An den Kassen wird dieser Film wahrscheinlich kläglich scheitern – er ist zu spröde, zu komplex codiert.
Im Filmclub sorgte „There will be blood“ auf jeden Fall für einen Eklat: Er fiel zwar nicht durch, aber mit einer Durchschnittsnote von 3 wurde nach del Toros „Pans Labyrinth“ ein weiteres cineastisches Meisterwerk in die Tonne gehauen.


Noten: Mr. Mendez = 4, Klawer = 3,5, Melonie = 3, BigDoc = 1,5
Pressespiegel:

„Mit diesem Film gelingt Paul Thomas Anderson … ein weiteres Meisterwerk, ein epochemachendes Stück Kino und einer der wichtigsten Filme des - zugegeben noch sehr jungen - neuen Jahrhunderts“ (Rüdiger Suchsland in: TELEPOLIS).

„Und wie ließe sich dieser andauernde Wertestreit besser inszenieren als im Gewand eines Westerns? Amerikas mythologischer, ganz und gar eigener Form der Selbstbespiegelung, die den Stolz einer Nation mutiger Pioniere ebenso reflektiert wie ihr Schuldbewusstsein angesichts blutiger Landnahmen. So sollte auch nicht von einer Renaissance des Genres gesprochen werden, war es doch nie gänzlich verschwunden“ (David Kleingers in: SPIEGEL ONLINE).

„Regisseure wie Anderson begreifen das Medium Film nicht aus dem Gedanken heraus, Vorhandenes zu nehmen und neu anzuordnen, sondern es so sehr in einen anderen Kontext zu denken, dass es das Antlitz seiner Ursprungsquelle verliert, um eine eigene Gestalt anzunehmen. Eine Qualität, die Anderson mit jenen Regisseuren eint, die einst das Kino verändert haben. Eine Qualität, der sich Anderson mit seinem neuen Werk nur wieder würdig erweisen konnte“ (Martin Thomson in: SCHNITT).
„… man könnte an Orson Welles als Citizen Kane denken oder Rock Hudsons Ölbaron in Giganten. Und es spricht für den Regisseur, dass diese Assoziationen nicht prätentiös wirken. Vielleicht sollte man von einem 37-Jährigen nicht sagen, er habe einen reifen Film gemacht. Hier ist es aber mal angebracht“ (Sabine Horst in: epd-film).
„… so ist Andersons Film doch auf wunderbare Weise amerikanisch. Er fuchtelt nicht mit dunklen Mächten, er droht nicht mit anschwellenden Untergangsgesängen, mit apokalyptischer Naherwartung und reaktionärem Tamtam. Er sagt nur: Wie es ist, so darf es nicht bleiben. Macht, wie ihr’s wollt, aber macht es anders. Die Menschen haben ihre Wirtschaft immer nur verschieden interpretiert. Nun ist es Zeit, sie zu ändern“ (Thomas Assheuer in: DIE ZEIT).

Donnerstag, 14. Februar 2008

Der Krieg des Charlie Wilson

USA 2007 - Originaltitel: Charlie Wilson's War - Regie: Mike Nichols - Darsteller: Tom Hanks, Julia Roberts, Philip Seymour Hoffman, Amy Adams, Ned Beatty, Emily Blunt, Rachel Nichols - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 102 min.

Keine Abrechnung, keine Botschaft, oder?
Auch wenn der Großteil des Publikums vielleicht nur dunkel ahnt, was mit wem überhaupt in Afghanistan passiert ist, so ist Mike Nichols Screwball-Polit-Satire doch ein Film der Perspektiven und der ideologischen Verankerung all derer, die im dunklen Kinosaal sitzen und sich 102 Minuten schlapp lachen.
Und Tom Hanks ist in diesem Spielchen ein ideale Projektionsfläche für das, was dem Zuschauer dabei so alles durch den Kopf geht: Graust es ihm unbehaglich, wenn er um die Folgen des US-amerikanischen Engagements für die Mujaheddin weiß, so ist es recht einfach in Hanks den politischen Volltrottel, den „Bad Guy“ zu sehen, ohne dass dieser zu böse und zu hinterhältig wirkt.
Ist man angesichts des sowjetischen Treibens in diesem Land nachhaltig vom Interventionismus überzeugt, dann funktioniert es auch andersrum prächtig: Hanks ist der pragmatische Prachtbursche, der einem das mörderische Treiben am Hindukusch  wie ein harmloses Videospiel andient. Kaum anders sieht es aus, wenn die bärtigen Muslime zum ersten Mal einen russischen Hubschrauber vom Himmel holen. Und am Ende, als alles vorbei ist und die Geschichte erst richtig losgeht, fällt nicht einmal das Wort „Taliban“.
„Charlie Wilson's War“ ist keine politische Abrechnung, sondern eine Groteske, mit der Nichols ein formidables Kunststück fertig bringt: Er zeigt, dass Weltpolitik von intellektuell bestenfalls mittelmäßig ausgestatteten Polit-Profis zusammengewürfelt wird und sich wie ein Patchwork aus den absurdesten Motiv speist, aber er bleibt irgendwie Patriot genug, um die Verantwortlichen nicht vollends in die Pfanne zu hauen. Beruhigend wirkt dies nicht.

Im Whirlpool streift ihn der Zeitgeist
Charlie Wilson gab’s wirklich: Er war der texanische Kongress-Abgeordnete, der Mitte der 80er Jahre an wichtigen Schnittschnellen diverser Unterausschüsse saß und zusammen mit einer skurrilen Mitstreiterschar aus bärbeißigen Anti-Kommunisten über eine Milliarde Dollar locker machte, um die afghanischen Mujaheddin auf den letzten Stand der Waffen-technik zu bringen.
Was im entlegenen Land der Afghanen so alles passiert, sieht Wilson TV guckend zum ersten Mal in einem Whirlpool, in dem er nackt mit einigen zweifelhaften Freunden und zweifellos sehr nackten Stripperinnen genüsslich Champagner schlürft. Das hat bei Nichols doch alles einen sehr naiven Look. Wenn dann aber die Multi-Millionärin Joanne Herring (Julia Roberts) Wilson per Beischlaf endgültig auf die Seite der „Cold War Warrior“ zieht, kriegt man doch das Gruseln angesichts der fast zufälligen Verkettung kleiner Ursachen und großer Folgen.
Der intelligent-verschlagene CIA-Agent Gust Avrakatos (Philipp Seymour Hoffman) ver-vollständigt das Duo. Gemeinsam schafft es das absonderliche Trio aus Pakistanis, Ägyptern, Israelis, Politikern und Waffenhändlern eine Allianz zu schmieden, die zu einem folgenschweren Wendepunkt der amerikanischen Geschichte wurde. Und wer es vergessen hat: Die schweineteuren Hi-Tec-Waffen, mit denen die bärtigen Widerstandskämpfer in Afghanistan viele böse Russen vom Himmel holten, sind noch immer im Umlauf, während die sowjetische Niederlage der Russen ein von amerikanischem Desinteresse begleitetes Machtvakuum erzeugte, dass den Siegeszug der Taliban erst ermöglichte.

Das Lachen bleibt irgendwo stecken...aber vorher hat man Spaß!
Musste der leutselige Charlie das wissen? Eher nicht. Am Ende ahnt er es aber, als er dabei scheitert, einen Bruchteil der bisher akquirierten Summen wieder den Wiederaufbau des danieder liegenden Landes zu sammeln. „Wir haben das Endspiel versaut“, immerhin das erfährt der Zuschauer als Textinsert und verdammt noch mal: Es klingt so vertraut. Der Rest bis hin zu 9/11 bleibt ihm erspart.

Über die tatsächliche Rolle Wilsons sollte man in einschlägig bekannten Archiven nachlesen, ein wenig streitet man sich schon darüber, ob er der große „Macher“ war. Egal. Und dass die Geschichte der amerikanischen Außenpolitik in einer Komödie ernsthaft verhandelt wird, sollte man angesichts der in den USA gecrashten „ernsthaften“ Politdramen am besten gleich vergessen. Was bleibt, das ist allerdings nicht schlecht: eine blitzschnelle, dialogintensive Screwball-Comedy, bei der man nie weiß, ob man lachen oder weinen soll. Meistens lacht man, bis man sich klar macht, dass hier Politik als irrwitziges Spektakel unglaublicher Zufälle gezeigt wird, inszeniert von abgezockten Strippenziehern und zynischen Geheimdienstlern, die nicht einmal ansatzweise ahnen, was sie da verhackstücken. Aber was sie machen, ist ziemlich effektiv. Und das ist nur solange lustig, bis einem selbst einmal die Bomben dieser Leute auf den Kopf fallen.

Ach ja, die Oskars: Leider habe ich die anderen wichtigen Filme nicht gesehen, aber Hanks ist klug besetzt, ein Erfolg wäre aber das falsche Zeichen; Julia Roberts ist glatt fehlbesetzt, weil die Rolle so simpel ist, dass sie nichts von „Roberts-Appeal“ zeigen kann. Dafür ist Philipp Seymour Hoffman der unglaubliche Höhepunkt des Films: ein bauernschlauer Prolet, ein Virtuose der Intrige, ein Gossen-Rhetoriker der feinsten Sorte – jener Typ, der den Zuschauer schaudernd ahnen lässt, dass die wahnhaften Auswüchse der Geschichte häufig sehr intelligenten Politgangstern zu verdanken sind, die dabei so eindimensional sind, das man jedwede Hoffnung auf der Stelle fahren lassen kann. Wir sind alle in einem großen Tollhaus, bloß die einen liegen im Whirlpool, die anderen eben nicht.

Note: BigDoc = 3

Donnerstag, 7. Februar 2008

Der Nebel

USA 2007 - Originaltitel: The Mist - Regie: Frank Darabont - Darsteller: Thomas Jane, Laurie Holden, Nathan Gamble, Marcia Gay Harden, Andre Braugher, William Sadler, Gregg Brazzel, Alexa Davalos, Jack Hurst, Susan Malerstein - FSK: ab 16 - Länge: 124 min.

Schon lange nicht mehr gab es im Filmclub eine so herbe Abfuhr für einen Film wie für Frank Darabonts „Der Nebel“, wobei nicht sonderlich höfliche Gemüter dem Originaltitel unterstellten, dass er – nomen est omen – deutlich signalisiere, wessen Geistes Kind er sei: „The Mist“.
„Was für ein Mist!“, entfuhr es also spontan einem an sich geschulten Filmclub-Mitglied und in der Folge hagelte es zwei Sechsen und eine Fünf. Der Chronist wurde in den Sog der Häme gezogen, beließ es aber bei einer 4,5, weil er der allegorischen Funktion und den guten Darstellern trotz einer etwas drögen Dramaturgie etwas abgewinnen konnte.
Selten so geirrt: der Film verdient eigentlich Bestnoten, aber in aufgeheizter Atmosphäre war nichts mehr zu retten.

Dabei könnte man sich einige Gedanken über den Film des Machers von „Die Verurteilten“ und „The Green Mile“ machen, aber dazu müsste man sich erst einmal grundsätzlich damit auseinandersetzen, was eine Allegorie ist und wie sie funktioniert. Alles sehr kompliziert, aber grundsätzlich kann man sagen, dass die Allegorie einem Text eine Bedeutung unterlegt, die erst durch Auslegung und Interpretation gewonnen werden kann.
Und wenn die Auslegung nicht stimmt? Nun, da sind wir mittendrin in einer schönen Sache, die man gemeinhin "Diskurs" nennt.
Eins steht auf jeden Fall fest: Der Allegorie wurde schon immer vorgeworfen, sei kalt und intellektuell, andererseits erkannten Kunsttheoretiker wie Walter Benjamin im vergangenen Jahrhundert in der Allegorie die bevorzugte Ausdrucksform der Moderne.

Zurück zum "Nebel": Was ist dort der „Text“? Der Text ist zunächst die vordergründige Schilderung der Ereignisse. Wir sehen eine Gruppe von Menschen, die in einem Supermarkt eingeschlossen ist und durch einen mysteriösen Nebel bedroht wird, der über der amerikanischen Kleinstadt liegt und in dem ganz offensichtlich tödliche Gefahren lauern.
Da jeder Filmplot einen rational-kausalen Kern benötigt, wird uns irgendwann erklärt, dass die Militärs schlimme Experimente mit dem Raum-Zeit-Kontinuum angestellt haben und durch die Öffnung einer Raumspalte schreckliche Monster in unser Universum gelassen haben. An sich kann uns dies egal sein, denn dieser Plotkern funktioniert so wie einer der berühmten McGuffins von Altmeister Hitchcock – sie sind notwendig, um die Handlung auszulösen und zu entwickeln.

Und was zeigt uns die Handlung weiter? Nun, wir sehen, wie sich die eingeschlossene Gruppe unter der Angst aufspaltet: Ein Teil der Gruppe leugnet „rational“ die Gefahr, andere verhalten sich völlig pragmatisch und der letzte, der dritte Teil verfällt einer religiös-paranoiden Person, die am Ende vorsintflutliche archaische Verhaltensmuster etabliert. Menschen sollen geopfert werden. Wir sind nicht im Mittelalter, sondern noch einen Schritt weiter zurück im Niemandsland vor-zivilisatorischer Rituale gelandet.

Hört sich spannend an, aber wo ist der allegorische Kern? In der „Auslegung“ beharren einige Kritiker darauf, dass „The Mist“ ein sarkastischer Kommentar ist: Gemeint sei der religiöse Fundamentalismus der Bush-Ära. Andere verorten den Film genre-immanent und zitieren Beispiele wie Romeros „Dawn of the Dead“ und stecken dabei die bekannten Topoi „Supermarkt – eingeschlossene Gruppe – äußere Bedrohung“ ab, die zwangsläufig eine gesellschaftskritische Bedeutung haben, da sie exemplarisch den Zusammenbruch der sozialen Spielregeln unter bestimmten Bedingungen vorführen. Klingt plausibel, kennt man aber.

Wir merken, worauf es hinausläuft: Hat die „Auslegung“ wenig mit dem „Text“ zu tun, ist sie also lediglich eine Projektion bereits erprobter Deutungsmuster, dann ist sie – und dies ist das geringste Übel – einfach langweilig. Enthält der „Text“ jedoch unverbrauchte, neue Informationen, dann wird das Exemplarische, das Beispielhafte der Allegorie wieder mit Bedeutung aufgelanden.

Nun kann jeder für sich selbst entscheiden, ob dies in „Der Nebel“ der Fall ist.
Das eigentliche Problem scheint ein anderes zu sein: Viele Filmkenner sind „abgefüllt“ mit allegorisch aufgeladenen Genrefilmen – ihnen hängt schlicht und einfach dieser formale Kniff zum Halse heraus. Und sie haben nicht Unrecht: Auch mir hängen schäbige, unoriginelle C-Movies, in denen irgendetwas Allegorisches wie ein Qualitätsstempel drangepappt wird, mittlerweile zum Halse heraus. Im Falle von „Der Nebel“ bin ich mir aber sicher, dass der Film einen zweiten, unaufgeregten Blick verdient. Deshalb werte ich ihn gegen meine Gewohnheiten kräftig auf: 2,5! Punkt!

Pressespiegel:
„Die filmische Nacherzählung dieser Geschichte durch den Regisseur Frank Darabont ist eine veritable Neuinterpretation vor dem Hintergrund der aktuellen Verfasstheit der USA…. Im Gegensatz zu Kings hoffnungslosem Abbruch hat Darabont einen wirklich furchtbaren Ausdruck hoffnungsloser Hoffnung gefunden - einen Schluss, dessen emotionale Grausamkeit unvergesslich ist… Wäre Darabont nur ein originellerer Regisseur!“ (Peter Uehling, Berliner Zeitung).

„Das Ende – mit dem Darabont deutlich von Kings Vorlage abweicht – dürfte eines der überraschendsten und verstörendsten sein, die man seit langem im Mainstreamkino zu sehen bekam. In seiner Radikalität ist es mutiger und wahrscheinlich stärker als alle vorherigen Versuche des Films, sich dem Menschen als soziales Wesen zu nähern.“ (Rochus Wolff, critic.de)

„Doch anders als 'Erdbeben', 'Die Höllenfahrt der Poseidon' oder 'Flammendes Inferno' ist die Katastrophe in Der Nebel nicht auf Versagen der Technik oder die Rache der Natur zurückzuführen, sie ist der Einbruch der Irrationalität selbst. Die Protagonisten stehen nicht vor der Aufgabe, zu handeln, Wege zu finden, sich zu retten, sondern vor allem zu verstehen.“ (Oliver Nöding, Schnitt).

„(Die) Angst vor dem, was da draußen ist…ist das eigentliche Übel, dem Frank Darabont in seinen klaren, an George A. Romeros Filme der Siebziger gemahnenden Bildern Ausdruck verleiht. Die Furcht geht einher mit dem Schlaf der Vernunft, und der gebiert, das wissen wir seit Goya, die schrecklichsten aller Monster. Was die von der wahrhaft Furcht einflößenden Mrs. Carmody aufgestachelten Gläubigen anrichten, stellt alles in den Schatten, was man in den letzten Jahren in einem Horrorfilm gesehen hat.“ (Sachsa Westphal, Welt Online).


Noten: Mr. Mendenz = 6, Melonie = 6, Klawer = 5, BigDoc = 2,5

Freitag, 1. Februar 2008

Drachenläufer

Drachenläufer (The Kite Runner), USA 2007, 122 min., Regie: Marc Forster, Darsteller: Khalid Abdalla, Ahmad Khan Mahmoodzada, Shaun Toub, Sait Taghmaoui, Atossa Leoni.

In Marc Forsters Verfilmung des gleichnamigen Erfolgsromans von Khaled Hosseini kreisen papierne Drachen über Kabul. Im friedlichen Wettkampf. Die Kamera ist auf Augenhöhe und beobachtet das filigrane Spiel wie in einem Actionfilm, spannungsgeladen und elegant. Es sind schöne Aufnahmen und wenn Foster auf die zwei Jungen schneidet, die sich im Wettstreit der Drachenflieger gegen ihre Altergenossen behaupten wollen, entsteht dennoch eine ambivalente Stimmung, denn das Ganze ist ein Flashback und der Zuschauer weiß sehr genau, dass die zivile afghanische Gesellschaft, die hier bei ihren harmlosen Vergnügungen gezeigt, bereits tot ist. Historisch gesehen.

Marc Forster hat einige der wichtigsten Filme des neuen amerikanischen Kinos gemacht. „Monster’s Ball“ (2001) verschaffte Halle Berry einen Oskar, in „Finding Neverland“ zeigte Forster 2004 mit seiner Geschichte über den Peter-Pan-Autoren J. M. Barrie (Johnny Depp) sein Gespür für die gepflegte Tragikomödie, während er das intellektuelle Publikum zwei Jahre später mit „Stranger Than Fiction“ (wurde in BigDoc’s Filmclub ausführlich besprochen) begeisterte, einem jener Filme, von denen man annimmt, ja weiß, dass sie weit davon entfernt sind jemals zum Massenpublikum vorzudringen. Aber egal: der Deutsch-Schweizer hat eine Bilderbuchkarriere hingelegt und darf seit 2005 als Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences darüber entscheiden, wem ein Oskar in die Hand gedrückt wird. Da wird der eigene bald zur Pflicht. Es fehlt nur ein Film, der massentauglich ist.
„Drachenläufer“ könnte so ein Film sein. Seine Geschichte ist exotisch und doch sehr eng mit der amerikanischen Geschichte verknüpft. Der Film besitzt exzellente, unverbrauchte Darsteller, er provoziert nicht aufdringlich, sondern ist sensibel und differenziert, ohne das historische Wissen des Kinogängers zu überfordern – und dieses kann man ja durchaus in „Der Krieg des Charlie Wilson“ ergänzen, wo erzählt wird, aus welchen Quellen die Taliban das Geld für ihre Waffen erhielten. Aber das ist eine andere Geschichte. Jene, die in „Drachenläufer“ erzählt wird, stürzt am Ende kläglich ab und warum es dazu kommt, ist überraschend einfach zu erklären. Mich überrascht es jedenfalls nicht, das The Kite Runner nicht einmal für Kategorie Bestes Adaptiertes Drehbuch nominiert wurde, sondern nur in der Sparte Musik. Auf seinen ersten „richtigen“ Oscar wird Forster noch etwas warten müssen.

Eine Frage der Moral

Amir und Hassan sind die Jungs, die 1979 über Kabul den Drachen steigen lassen. Amir ist Sohn eines reichen Paschtunen, Hassan ist der Sohn des Hausdieners und Angehöriger des Hazara, die als niedriger Stand schlechte Karten in der säkularen Gesellschaft Afghanistans haben (der sunnitisch-schiitische Konflikt, der dafür verantwortlich ist, wird im Film nicht erwähnt). Trotzdem verbindet eine tiefe Freundschaft beide Kinder, obwohl die Aufgabenteilung beim Drachenfliegen deren sozialen Status widerspiegelt: Amir ist der Lenker, Hassan der „Drachenläufer“, der das Fluggerät nach dessen Landung in den engen Straßen Kabuls wiederfinden muss. Das erledigt er mit sicherem Gespür und einer fast unglaublichen Intuition.
Diese Intuition besitzt der Analphabet offenbar auch in moralischen Fragen, denn als Amir und sein Freund von dem etwas älteren Assef und seiner Paschtunengang wegen der nicht standesgemäßen Freundschaft bedroht werden, ist es Hassan, der mit seiner Schleuder tapfer und loyal seinen Freund vor einer Tracht Prügel bewahrt.

Forster erzählt die Geschichte dieser Freundschaft sehr genau und unaufdringlich. Hier stimmt jeder Ton, besonders dann, wenn sich Hassan von Amir dessen erste literarische Gehversuche vorlesen lässt, kleine Geschichten, die für Hassan die Tür in eine ihm unbekannte Welt öffnen. Das sich nun anbahnende Drama wird überzeugend aus der psychologischen Konstellation beider Kinder abgeleitet, deren Freundschaft auch von einer erkennbaren gegenseitigen Abhängigkeit geprägt ist: Amir ist weich und, wie sein Vater erkennen lässt, unmännlich, Hassan ist tapfer und damit auch latent eine Herausforderung für Amirs Selbstwertgefühl.
Nach einem Drachenwettkampf, den Amir gewinnt, wird Hassan von Assef und seinen Schlägern überfallen, zusammengeschlagen und vergewaltigt. Amir, der alles heimlich aus einem Versteck beobachtet, ist vor Angst gelähmt und kommt seinem Freund nicht zu Hilfe. Ein moralisches Drama, das nicht zuletzt auch deswegen berührt, weil es im wahrsten Sinne des Wortes allzumenschlich ist. Zivilcourage ist offenbar nicht ursächlich mit Bildung und Stand verbunden. An sich eine banale Einsicht, aber Forster bebildert diesen moralischen Konflikt so präzise, dass er fast shakespearesche Dimensionen erhält.
Und genau an das erinnert auch alles Weitere: Amir wird von Scham und Schuld gequält und kann sich scheinbar nur durch Hass und Wut dieser Gefühle entledigen. Und so erniedrigt und quält er Hassan, bis dieser nach einem von Amir fingierten Diebstahl zusammen mit seinem Vater das Haus verlässt.

In der Enklave

Nach der sowjetischen Invasion fliehen Amir und sein Vater via Pakistan in die Vereinigten Staaten. Amir besucht ein College und wird gegen den Willen seines Vaters, der sein Vermögen verloren hat und sein Geld in einer Tankstelle verdient, Schriftsteller. Bald darauf verliebt sich Amir in die ebenfalls aus Afghanistan geflohene Soraya. Das Mädchen ist Tochter eines angesehenen afghanischen Generals.
Dieses Intermezzo ist das Bindeglied zwischen dem ersten und dem letzten Teil des Films, durchaus von Sinn, denn die afghanische Migrantenkultur beharrt auch in den USA auf ihrem religiösen und ethnischen Standesdünkel . Die Assimilierung findet nur ökonomisch statt, die eigene Kultur wird in der Enklave nicht befragt. Amir heiratet Soraya und kurz nach der Hochzeit verstirbt Amirs Vater an Krebs.

Der Absturz

2000: Amir wird von Ramir Khan, einem alten Freund seines Vaters, aufgefordert nach Pakistan zu kommen. Dort erfährt er, dass Hassan der illegitime Sohn seines Vaters und einer Dienerin und somit sein Halbbruder ist. Hassan jedoch wurde mittlerweile ein Opfer seiner Zivilcourage: Er und seine Frau wurden von den Taliban getötet. Nur ihr Sohn Sohrab hat überlebt. Ramir Khan bittet Amir, nach Kabul zurückzukehren und Sohrab aus einem afghanischen Waisenhaus zu retten.
Als Amir mit falschem Bart und gekleidet wie ein Taliban die Grenze nach Afghanistan überquert, wird aus dem moralischen Drama, in dessen Kern immerhin auch die politische, religiöse und ökonomische Tragödie der Afghanen ein Platz hat, eine chancenreiche Allegorie: Amir wird in Kabul Zeuge einer rituellen Steinigung, die von den Taliban in der Halbzeitpause eines Fußballspiels mit grausamer Härte inszeniert wird. Spätestens an dieser Stelle konnte sich Forster dafür entscheiden, das Private mit dem Gesellschaftlichen zu verknüpfen, sichtbar zu machen, dass die Schuldgeschichte einen historischen Kern besitzt, der Amir möglicherweise keine Seelenfrieden verschaffen kann, aber ihn zu der Erkenntnis führen könnte, dass seine Schuld nicht in den unauslotbaren Tiefen eines Charakterdefizits angesiedelt ist, sondern von Anfang an den sozialen Determinanten seines Milieus geschuldet war.
Stattdessen kippt der Film: Forster entscheidet sich für ein sentimentales Actiondrama und reizt jedes Klischee hemmungslos auf eine Weiseaus, dass den Film in den sicheren und oscar-verdächtigen Hafen des Melodrams überführt. Lächerlich ist nicht nur, dass Sohrab von Taliban verschleppt wurde, die offenbar die islamische Revolution nutzen, um ihre pädophilen Neigungen auszuleben, lächerlich ist auch, dass es ausgerechnet Assef ist, der sich zum talibanistischen Oberbösewicht aufgeschwungen hat und mit Sohrab (Ahmad Khan Mahmidzada in einer denkwürdigen Doppelrolle, mit er als Best Young Actor bei den Broadcact Film Critics Assoziation Awards gewann) nach dem Vater nun auch den Sohn schändet, der (natürlich) in der entscheidende Szene Amir (natürlich) mit einem gezielten Schuss seiner Schleuder rettet. Beiden gelingt die Flucht und nach der gemeinsamen Rückkehr in die Vereinigten Staaten nimmt Amir den Sohn seines toten Freundes in seine Familie auf.

In den aus meiner Sicht trostlosen Schussszenen schlägt Forster einen rührseligen, versöhnlichen Ton an, der sich gemessen an der Sensibilität der einleitenden Sequenz hart an der Grenze des kalkulierten Kitsches bewegt. Damit ist weniger die unvermeidliche Szene gemeint, in der Amir mit dem in sich gekehrten Sohrab erneut den Drachen steigen lässt, sondern die weitgehend von der Kritik unbeachtet gebliebene Szene, in der Amir am familiären Mittagstisch seinen arroganten Schwiegervater zurechtweist, als dieser Sohrab als Hazara herabwürdigt. Man lerne: Ist der Feigling erfolgreich aus dem Kampf zurückgekehrt, so ist Zivilcourage kein Problem mehr.
Bringen wir es auf den Punkt: Diese Zuckergussvariante ist aus meiner Sicht ein ziemlich unsäglicher Kompromiss mit dem Gebot der Kasse. Dabei ist mir persönlich herzlich egal, ob es sich um ein Adaptionsproblem handelt oder nicht. Es scheint so, als wäre im zurückliegenden Kinojahr das komplette Scheitern der politisch intendierten Filme an den amerikanischen Kinokassen der entscheidende Warnschuss für einige Regisseure gewesen.
An Kino, das aussöhnen will, sind wir gewöhnt – als Kritiker muss man da nicht unbedingt mit dem Hammer zuschlagen. Bei einem Film, der ungewöhnlich gut und intelligent beginnt und dann so kläglich endet, allerdings schon.

Pressespiegel
„Der Film ist berührend, aber er verweigert sich mit seiner Sentimentalität der vollen Härte der Realität“ (Christoph Schneider, Tages-Anzeiger, Schweiz).
"Drachenläufer ist … ein symbolischer Sieg über das einstige Bilderverbot der Taliban. Und auch wir können uns jetzt ein vielschichtigeres Bild von jenem zerrissenen Land machen. Das ganz große Epos freilich ist nicht daraus geworden“ (Peter Zander, Berliner Morgenpost).
„Was der Kinoadaption fehlt, ist die psychologische Tiefe der Persönlichkeitsdarstellungen sowie die Deutlichkeit und Schärfe, mit der im Roman Rassismus und Fanatismus angeprangert werden… Auch anderes erscheint geschönt auf der Leinwand, so dass der Film im Vergleich zum Buch insgesamt doch etwas weichgespült wirkt“ (Ralph Umard, epd-Film).
„Woran Drachenläufer neben der Tendenz zum exotischen Melodram aber am meisten krankt, ist das Unvermögen, zu berühren…Was Drachenläufer fehlt, ist das Gefühl, Anteil zu nehmen, und so wirken viele Szenen, die das Grauen der Flucht oder den Horror der Fremdherrschaft durch die Taliban versinnbildlichen sollen, nur wie eine Aneinanderreihung von Alptraumbildern, die in den schwächsten Momenten des Films sogar zur Peinlichkeit verkommen“ (Marieke Steinhoff, SCHNITT).
„Die rührselige Geschichte geht ans Herz, und ganz nebenbei bekommen die bildungsbeflissenen und politisch interessierten Bürger des westlichen Kulturkreises eine garantiert leichte Dosis Afghanistan-Konflikt, die das Bewusstsein für die Krise am Hindukusch schafft, ohne allzu sehr mit Realismus zu verstören. Mehr kann Hollywood nicht, mehr will es meistens nicht“ (
Andreas Borcholte, SPIEGEL).

Noten: Mr. Mendez = 3, Melonie = 3, BigDoc = 2,5 (wegen des starken Beginns)