Dienstag, 18. September 2018

Casting

Vermutlich ist „Casting“ wieder einer jener Filme, den niemand sehen wird. Es sei denn, das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen erbarmt sich und zeigt Nikolas Wackerbarths grandiosen Film über die Untiefen des Filmgewerbes. Womöglich kurz nach Mitternacht. Dort sieht ihn dann auch keiner.
In einer Kommentarspalte beklagte sich eine Filmfreundin, dass in „Casting“ die Männerrolle zu sehr im Vordergrund steht. Nun, verehrte Filmfreundin, die ist in Nikolas Wackerbarths Film nun mal die Hauptrolle. Andreas Lust spielt den Gerwin inmitten einer Riege unschlüssiger Filmfrauen so grandios, dass einem die Tränen kommen könnten. Tun sie aber nicht, denn das wäre wohl politisch nicht korrekt bei einem Film, in dem sich diese Frauen über die Besetzung einer weiblichen Hauptrolle zoffen und dabei alle Register der Gemeinheit, der Unterwerfung und des fiesen Intrigierens ziehen.



Die heimliche Hauptrolle ist die „Anspielwurst“


„Casting“ erzählt – nomen est omen – vom Casting für einen Fernsehfilm. Geplant ist das Remake von Rainer Werner Fassinders Film „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“. Ursprünglich ein Theaterstück Fassbinders, wird die Geschichte der lesbischen Modeschöpferin Petra von Kant erzählt, deren Beziehung zu einem jungen Model scheitert. Es geht in dem Film um Macht, auch um Liebe, aber man weiß nicht, ob dies bei Fassbinder vielleicht Synonyme waren. 1972 entstand der Film. Die „Süddeutsche“ rezensierte damals hin- und hergerissen und fand Ernst und Lächerlichkeit, Kunst und Kitsch eng beieinander.
Ernst und Lächerlichkeit herrschen auch in Wackerbarths Film. Nun, viele Jahre später, steht irgendein Fassbinder-Jubiläum an und einem TV-Sender fällt nichts Besseres ein, als ein Remake von Fassbinders Film zu produzieren. Und so sucht die Regisseurin Vera (Judith Engel) für das Remake nach der passenden Darstellerin für die Rolle der Petra von Kant. Nicht ganz einfach, soll sie doch gegen das große Vorbild Margit Carstensen anspielen. Ihren Produzenten Manfred (Stephan Grossmann) treibt Vera an den Rand des Nervenzusammenbruchs, denn fünf Tage vor Drehbeginn hat sie sich immer noch nicht für eine der Schauspielerinnen entschieden, die beim Casting erscheinen und kurze Szenen vorspielen sollen. Denn das Casting gerät zu einem Höllenritt. Vera erweist sich als völlig verkopfte Regisseurin, deren Hingabe zu ihrem Projekt mehr zu dessen Zerstörung beiträgt als sie ahnt.
Judith Engel spielt dies enorm stark. Ihre Vera, die vom Dokumentarfilm kommt, lässt Intellektualität und Hilflosigkeit, hehre Ansprüche und den fehlenden, aber erforderlichen Pragmatismus, so heftig aufeinanderprallen, bis alles vollends in Stocken gerät. Mit pointierter Mimik spielt sie eine Frau zwischen verbissener Wahrheitssuche und bösartigem Sarkasmus. Irgendwie auch ekelig, denn sie entblößt mit Psychospielchen ihre Kandidatinnen und traktiert auch deren Anspielpartner mit Diskussionen über dessen sexuelle Präferenzen.
Andreas Lust spielt Gerwin, den „Anspielpartner“, abschätzig auch „Anspielwurst“ genannt. Gerwin ist ein ehemaliger Schauspieler, er macht das öfter. Die Rolle des Models Karin soll im Fassbinder-Remake von einem Mann gespielt werden. Während des Castings mimt Gerwin den „Karl“ quasi aushilfsweise, denn der bereits fest eingeplante Hauptdarsteller ist verhindert. Doch Vera und ihre Maskenbildnerin Hanne (Nicole Marischka) und die für die Organisation des Castings verantwortliche Regieassistentin Ruth (Milena Dreißig) scheint komplett zu entgehen, dass Gerwin immer mehr zur Höchstform aufläuft.


Tragikomödie der Eitelkeiten

„Casting“ hat Nikolas Wackerbarth wie einen Dokumentarfilm gedreht. Das deuten schon die wackeligen Bilder der Openings Credits furchteinflößend an. Doch keine Sorge: Im Film wird dann nicht mehr so viel gewackelt. Dafür lässt Wackerbarth seine Miminnen kräftig improvisieren, damit die Mischung aus Fake Docu und Fiction möglichst naturalistisch aussieht. Tut sie auch, und bereits nach wenigen Minuten weiß man als Zuschauer daher, dass man auf keinen Fall in dieser Tragikomödie der Eitelkeiten mitmachen würde.

Für seinen Film über’s Filmbiz konnte Wackerbarth eine ganze Riege prominenter Darstellerinnen gewinnen, von denen wohl keine große Mühe damit hätte, einer Hauptrolle ihre ganz eigene Tonalität einzuhauchen. Almut Dehlen (als Ursina Lardi), Marie-Lou Sellem (als Mila Ury) und Corinna Kirchhoff (als Luise Maderer) fallen im fiktiven Film über einen fiktiven Film jedoch genauso bei der kritischen Regisseurin durch wie Andrea Sawatzki (als Annika Strassmann), die vom Sender längst für die Hauptrolle auserkoren wurde.
Als Letzte spricht die von Gerwin vorgeschlagene Victoria Trauttmansdorff (als Tamara Lentzke) vor – und die macht ihren Anspielpartner Gerwin so bissig an, dass beide die Szene so grandios spielen, dass man ahnt, was für ein toller Film mit den beiden eigentlich entstehen könnte. Aber daraus wird nichts.


Andreas Lust spielt die „Anspielwurst“ hinreißend gut. Auch weil er zu professionell ist für diese Helferfunktion. Warum Gerwin nicht mehr als richtiger Schauspieler sein Geld verdient, bleibt etwas rätselhaft, aber Gerwin macht deutlich, dass er dank seiner Anpassungsfähigkeit und seiner Fähigkeit, den „Karl“ immer wieder neu anzubieten und dabei weiterzuentwickeln, längst eine Rolle in der Produktion verdient hätte. Er spielt immer brillanter, doch es bekommt keiner wirklich mit.

Ob „Casting“ tatsächlich das Geschehen hinter deutschen Filmkulissen realistisch widerspiegelt? Von einigen Granden des Regiefachs hat man Schlimmeres gehört, auch von den permanenten Querelen zwischen Redaktion und Filmemachern, wenn es um TV-Produktionen geht. Aber das ist eigentlich nicht das Problem, denn Nikolas Wackerbarth Film ging es wohl darum, einen Mikrokosmos zu entwerfen, in dem sich hinter der lockeren Kollegialität der Beteiligten ein schonungsloser Machtkampf entwickelt. Beim Buhlen um die Rollen geht es um Deutungshoheit und Unterwerfung, um Prestige und Respekt. Und um die latente Angst, aus Altersgründen womöglich keine attraktive Rolle mehr zu bekommen. 



Die Mimikry der vorsprechenden Darstellerinnen zeigt das ganze Elend: in der Maske wird über die kitschigen Dialoge abgelästert, nach dem Casting wird dann um die Rolle gebettelt. Rainer Werner Fassbinder hat 1971 bereits einen schönen Film über dieses Elend gedreht: „Warnung vor einer heiligen Nutte.“ Auch Nikolas Wackerbarth gelingt ein überraschend guter Film. Überraschend, weil man aufgrund des Sujets zwar einiges erhoffen konnte, dann aber doch sehr verblüfft ist, wie sich die Handlung zu einem enorm spannenden Charakterdrama entwickelt, dem man hingerissen zuschaut. Wohl auch, weil die Suche nach dem Schönen und Wahren sich immer mehr als unprofessionelles Possenspiel entpuppt.

Nikolas Wackerbarth hat dies wohl auch deshalb geschafft, weil er beim Casting besser war als seine fiktive Regisseurin. Und so sieht man bei der in den Studios des SWR gedrehten Tragikomödie gerne zu, wie Wackerbarths Ensemble die Geschichte improvisierend entwickelt. 
Sie endet als Treppenwitz. Denn Vera, die Unschlüssige, verspricht ihrer „Anspielwurst“ irgendwann die Rolle des Karl - der dafür vorgesehene Darsteller hat abgesagt. Dann taucht der Schauspieler doch noch am Set auf, wirkt aber alles andere als geeignet. Doch der Druck des Senders wird auch für Vera zu groß.
Für Gerwin, die „Anspielwurst“, bleibt nur noch eine winzige Nebenrolle als Postbote, die nach einem Take abgedreht ist. Gerwin bettelt um einen zweiten Take. Er bekommt ihn. Und wieder kriegt keiner mit, welche Chance man vertan hat. „Casting“ hat seine Chance jedenfalls nicht vertan.


Noten: BigDoc = 1,5, Melonie = 2,5, Klawer =3


Casting – Deutschland 2017 – Regie: Nikolas Wackerbarth – Buch: Nikolas Wackerbarth und Hannes Held – Laufzeit: 91 Minuten – Andreas Lust, Judith Engel, Ursina Lardi, Corinna Kirchhoff, Andrea Sawatzki, Marie-Lou Sellen, Victoria Trauttmansdorff, Milena Dreißig, Nicole Marischka, Andreas Lust, Stephan Grossmann u.a.