Freitag, 24. April 2009

Knowing

USA 2009 - Regie: Alex Proyas - Darsteller: Nicolas Cage, Rose Byrne, Chandler Canterbury, Lara Robinson, Nadia Townsend, Ben Mendelsohn, Alan Hopgood, Danielle Carter, Adrienne Pickering, Terry Camilleri - FSK: ab 12 - Länge: 122 min.

Wenn man fast fünfzig Jahre Kino auf dem Buckel hat, dann hat man jede Menge Käse gesehen und zudem die Erfahrung gemacht, dass das Meiste, was über die Leinwand läuft, Käse ist. Das Spannende an der Sache ist, dass man aktuelle Filme sehr häufig unterschätzt und ihre wahre Bedeutung erst dann erkennt, wenn sie 10 oder 20 Jahre älter geworden sind. Der Käse von gestern ist dann plötzlich ein Klassiker geworden und man träumt sich zurück und ahnt, dass damals nicht alles Käse gewesen ist. Und langsam dämmert die schreckliche Vision in einem hoch, dass möglicherweise der Käse von heute in zehn Jahren vielleicht schon wieder goutierbar geworden ist.

Zurück in die Zukunft
„Knowing“ ist ein Katastrophenfilm. Dieses Genre der späten 60er und frühen 70er Jahre („Airport“, „Flammendes Inferno“) hat bis in die 90er Jahre und unser Jahrhundert („Armageddon“, „Independence Day“, „The Day After Tomorrow“) seine Vitalität immer wieder unter Beweis gestellt, musste aber zahlreiche Cross-Over-Plots entwickeln, um an der Kasse zu überleben. Flugzeugabstürze und Hotelbrände, in denen die Protagonisten das Hohelied von Mut und Tapferkeit, Feigheit und Versagen anstimmen, entlocken uns nur noch ein mildes Staunen – heute muss die Erde brennen, vereisen oder der Vernichtung durch Meteoriten entgegenblicken, um den heroischen Einsatz seiner Helden zu rechtfertigen. Dabei ist das Genre, um es salopp zu formulieren, auf Schauwerte angewiesen, auf Tricks, verblüffende Effekte und überraschende Wendungen. Also auf alles, was das digitalisierte Kino herausrücken kann. Und das ist, wie wir wissen, eine Menge. Roland Emmerich weiß es auch.

Genrefilmen wird dabei unterstellt, dass sie eine versteckte Botschaft besitzen, sozusagen das Ohr am Puls der Zeit haben: von der Angst vor der Atombombe bis zur Vision einer ökologischen Selbstvernichtung spielt das Kino alle Szenarien durch, die uns in Schrecken versetzen. Nun, vielleicht ist Oliver Stones „Wall Street“ ja auch diesem Genre zuzuordnen?
Ein Blick zurück: „The Day The Earth stood still“ – primitives B-Movie oder ein Stück Zeitgeist? Reden wir erst gar nicht vom Remake und der unersättlichen Gier der Kinoindustrie, alles endlos wiederzukäuen. „Close Encounters Of The Third Kind“ – Trivial-SF oder ein Genre-Meilenstein, der alles erzählte, was es zu diesem Thema zu erzählen gibt? Oder die "X-Files" mit ihrer post-modernen Mixtur aus Sci-Fi, Mystery, Gothic Novel und Paranoiafilm – alles irgendwann bahnbrechend und nach dem x-ten Neuaufguss nur noch müde belächelt.
In unserem Kopf geht es zu wie in einem LEGO-Baukasten. Wir können kaum noch folgen und haben große Mühe damit, überhaupt noch zu erkennen, aus welchen Puzzle-Teilchen der jeweils neueste Blockbuster zusammengesetzt ist. Jüngeren geht es im Kino besser. Sie sehen einiges zum ersten Mal und da Kinogeschichte in den Köpfen meistens nur Patchwork ist, kann man ihnen dankenswerterweise alles zum x-ten Mal erzählen.

Mit dem „Reader´s Digest“ durch die Galaxis
Alex Proyas (The Crow; Dark City; I, Robot) hat mehr Musikvideos und Werbefilme als Kinofilme gemacht. Sicher weiß er, wie man Texturen für Filme entwickelt. In „Knowing“ erzählt er ruhig, konventionell und langsam eine Geschichte, die mit einer Reise in der Vergangenheit beginnt.
Lexington, Massachusetts, 1959: ein Schulfest steht bevor. Die Schüler einer Grundschule befüllen einen Metallbehälter mit Selbstgemaltem über die Zukunft – die Zeitkapsel soll im Boden versenkt und 50 Jahre später wieder ans Tageslicht befördert werden. Nur das Mädchen, das diese Idee vorgeschlagen hat, schreibt endlose Zahlenketten auf ihr Blatt Papier.
Fünf Jahrzehnte später wird die Zeitkapsel tatsächlich feierlich geöffnet, die Briefchen von damals werden an die Kinder verteilt. Der junge Caleb Koestler (Chandler Canterbury) enthält allerdings kein Bild, sondern die geheimnisvollen Zahlenreihen von Lucinda Embry (Lara Robinson). Bald findet Calebs Vater, der Astrophysiker John Koestler (Nicolas Page), heraus, dass die kabbalistischen Zahlenfolgen bedeutungsgeladen sind: Es sind die genauen Daten aller großen Katastrophen, die seit dem Versenken der Kapsel vor fünfzig Jahren weltweit geschehen sind. Noch drei weitere Unglücke kündigt der Brief an. Und tatsächlich erfüllen sich die Prophezeiungen, obwohl John verzweifelt versucht, sie zu verhindern. Bis er erfährt, dass der Final Countdown für den Weltuntergang bereits läuft.
Natürlich läuft auch der Plot in vertrauten Bahnen: John und Caleb lernen eine alleinstehende Mutter und ihre Tochter kennen. Die bitter-süße Love-Story. Bald hören die Kinder Stimmen, es sind die „Flüstermänner“, die immer wieder schweigend auftauchen und auf mysteriöse Weise verschwinden. Kennen wir alles: Ein Schuss „The Mothman Prophecies“ und M. Night Shyamalan („Signs“, „The Happening“) ist nicht zu übersehen. Und auch die psychologischen Muster der Figuren überfordern uns nicht sonderlich : John ist kein strahlender Superheld, sondern der ewig verzweifelt dreinschauende Nicolas Cage spielt ihn als dräuend-skeptischen Wissenschaftler, der mit der Religion auf Kriegsfuss steht und in bester „Shit happens“-Manier alles für Zufall hält, was sich so auf diesem Planeten abspielt. Gleich zu Anfang darf er in einer extra dafür zusammengezimmerten Szene gerade soviel über Determinismus erzählen, dass es die „Reader´s Digest“-Version moderner physikalischer Erkenntnisse nicht überstrapaziert. Leider dürften nur wenige Zuschauer wissen, dass es keine hinreichende Verbindung zwischen deterministischen Konzepten und der Frage nach der schicksalhaften Vorbestimmung aller Ereignisse gibt, so dass gnädig im Verborgenen bleibt, welcher Schwachsinn uns da im Kino zugemutet wird.

Ich will nicht unfair sein und daher werde ich auch nicht den Final Twist des Films verraten. Nur eins: Sollte ein Inferno biblischen Ausmaßes dereinst unseren Planeten in die ewigen Jagdgründe des unergründlichen Kosmos schicken, dann dürfte es uns trösten, dass wir es dank digitaler Animationstechnik bereits im Kino bestaunen durften. Ob allerdings sprachlose Götter aus ihren Raumschiffen steigen, um den Arsch einiger Auserwählter zu retten, wage ich ganz vorsichtig zu bezweifeln. Für mich ist „Knowing“ folglich das, was Katastrophenfilme immer schon waren – Hokuspokus für schnelles Fast-Food-Kino, das ohne eine Funken Ironie leider das ist, was Kino zum meinem Leidwesen ab und zu halt ist: eine gigantische Verblödungsmaschine.

Noten: BigDoc = 4

Mittwoch, 15. April 2009

Knowing - Der Pressespiegel

Das Bayerische Fernsehen schreibt: "...Wem schon Nicolas Roegs Klassiker "Wenn die Gondeln Trauer tragen" Alpträume beschert haben, in dem zwei alte Damen unheimliche Dinge voraussagen, der wird nach "Knowing" erst recht kaum schlafen können... Auch wenn "Knowing" mit aufwendig inszenierten Actionszenen weitgehend dem Mainstram verhaftet ist, so ist es doch ein sehr bemerkenswerter Film, der entgegen Hollywood-Konventionen einmal kein Happy End vom Zaun bricht."

Critic.de bleibt skeptisch: "Zwischen Zufall und Determinismus bietet der Film keine Variationsmöglichkeiten an; dass ihm dabei die Möglichkeit, freien Willen zu denken, stillschweigend abhanden kommt, merkt er nicht einmal selbst. Stattdessen sucht Alex Proyas sein Heil am Schluss in kitschig aufgeblasenen Bildern von unschuldiger Natur und unschuldigen Kindern – so viel fauler Zauber lässt selbst jene positiven Eindrücke verblassen, die der Film zuvor hinterlassen hatte."

epd-Film macht neugierig: "Die Verknüpfung der Fifties, einer Hochzeit des Kalten Krieges, mit unserer Gegenwart ist unheimlich. Die Schreckensvisionen von damals scheinen sich jetzt, am »Ende der Geschichte« zu verwirklichen. Knowing ist ein morbider, furchterregender Film...".

Schnitt.de bleibt distanziert: "Als man sich schon fast daran gewöhnt und sich unter den Zuschauern gewähnt hatte, die jetzt nichts mehr überraschen kann, packt Proyas die Keule aus: In einer absolut indiskutablen, an Schmäh nicht zu überbietenden, unter der Last der eigenen Farbsättigung zusammenbrechenden letzten Einstellung nimmt er der bemüht wohlwollenden Rezensentin das letzte bißchen Verständnis."

Ungehalten reagiert der SPIEGEL: "Alex Proyas, Spezialist für Zukunftsvisionäres und Schöpfer düsterer Klassiker wie "The Crow" und "Dark City", liefert mit "Knowing" eine ambitionierte Desaster-Allegorie mit einem Stich Action und schafft beides: Einerseits fesselt er mit einem atmosphärischen Endzeitthriller um Zukunftsangst, Ausgeliefertsein und Hoffnung, mit philosophischen Fragen nach Vorbestimmtheit oder Zufälligkeit allen Geschehens. Doch er manövriert seinen Film auch als konfuses, zunehmend absurdes Mystery-Drama mit ordentlichen Spezialeffekten und dröhnendem Soundtrack in eine verkitschte Schlussapotheose: Zum bildkräftigen Finale treffen sich die Hauptpersonen und einige seit Filmbeginn meist ominös herumstehende bleiche Fremdlinge - eine messianische, leider auch alberne Begegnung."

Zuversichtlich stimmt Heise.de: "Proyas ist aber weise genug, seine Geschichte universell anzulegen, also ebenfalls Bezüge zu Philosophie, Szientismus und einem strikt rationalen Atheismus herzustellen. Damit reduziert er die Religion auf ein beliebiges soziales Phänomen unter vielen, die alle die gleichen Funktionen zu erfüllen haben. Ideologiekritische Vorwürfe müssen an Proyas' Film daher spätestens dann abprallen, wenn sie auf konkrete Normen zielen. Sonst bleibt nur die Kritik am positiven Ausweg aus einem gesellschaftlichen Nihilismus, den "Knowing" vorschlägt. Um den Film aber als Vertreter seines Mediums als gescheitert verstehen zu können, ist er in der Vielfalt seiner Mittel viel zu konsequent, klug und komplex."

Merke: Wenn es im Blätterwald so kräftig rauscht, dann kündigt sich in der Regel ein sehenswerter Film an!

Mittwoch, 8. April 2009

Quick Review: GRAN TORINO

Darsteller: Clint Eastwood, Bee Vang, Ahney Her - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 116 min.

„So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab.“
(Arthur Schopenhauer)

Synopsis: Walt Kowalski (Clint Eastwood) verbringt seinen Ruhestand biertrinkend auf der Veranda. Was er dabei sieht, gefällt ihm nicht: In seinem Viertel wohnen überwiegend Migranten. Die meisten gehören zum Hmong-Volk, das für die Amerikaner in Vietnam kämpfte. Als der Nachbarsjunge Thao versucht, Walts 72er Gran Torino im Auftrag einer Hmong-Gang zu stehlen, wird er beinahe von dem Korea-Kriegsveteranen erschossen. Als die Gang versucht, Thao zu verprügeln, verscheucht Kowalski sie mit geladener Flinte vom Grundstück. Widerwillig nimmt er zur Kenntnis, dass er für die Hmong zu einem Helden geworden ist, lernt dabei aber auch Sitten und Gebräuche seiner Nachbarn kennen. Für Thao wird der grantelnde und fluchende Kowalski zu einem Ersatzvater. Doch beide befinden sich schon längst in einer Spirale der Gewalt und der rüstige Rentner muss sich schließlich entscheiden, ob er zu den Waffen greift, um seine Nachbarn und sich vor der schießwütigen Gang zu schützen.

Rating: In seiner vorerst letzten Regiearbeit spielt Eastwood noch einmal die Frage nach der Rolle der Gewalt in der Gesellschaft durch. Dies hat er bereits in „Unforgiven“ meisterhaft getan und deshalb stellt sich die Frage, ob „Gran Torino“ dem Thema etwas Neues hinzufügt. Dies ist zu bejahen und ich kann mich sehr gut mit dieser Variation anfreunden.
Nachdem ich „Changeling“ (Der fremde Sohn) gesehen hatte, schrieb ich, dass Eastwoods Figuren „häufig …störrische Sonderlinge (sind), die dem gesellschaftlichen Konsens misstrauen und ihre eigenen Gesetze über die öffentliche Moral stellen.“ Kowalski ist so ein Sonderling, der sich kaum an die Political Correctness hält und über Menschen aus einem anderen Kulturkreis unflätig herzieht. Hört man genauer hin, dann erkennt man, das der Alte kein Rassist, sondern ein Misanthrop ist. Es ist nicht auszuschließen, dass er auch dann granteln würde, wenn sein Nachbarn White Trash wären.
Aber Kowalski ist nicht unverbesserlich: seine bockige Freundschaft zu Thao und Sue, den Kindern der benachbarten Hmong-Familie, hilft ihm dabei, neue Erfahrungen zu machen, die vielleicht nicht sein Weltbild, dafür aber sein Verhalten ändern.
Eastwood zeigt diesen Lernprozess in den ersten zwei Dritteln des Films als ruppige Komödie. Dies führt zu einer Reihe gelungener Szenen, die überwiegend vom Charisma Eastwoods getragen werden und weniger von ihrer Qualität, da einiges holzschnittartig bleibt und Nebenfiguren wie der junge Priester der Gemeinde didaktisch instrumentalisiert werden und damit blass bleiben. Auch Eastwood hätte der Figur des Kowalski etwas mehr Tiefe geben können, wenn sein Spiel nicht gelegentlich auf ärgerliche Weise outriert gewesen wäre.

Im letzten Teil verwandelt sich die sardonische Komödie in ein echtes Drama und der finale Twist serviert die Botschaft unübersehbar auf dem Silbertablett: Gewalt ist nicht die ultimative Lösung. Allerdings sollte man dabei nicht übersehen, dass die Kowalski-Figur vielleicht nicht ganz aus innerer Überzeugung, sondern durchweg pragmatisch handelt: Thao war bereit, die Waffe in die Hand zu nehmen und Kowalski erkennt, dass dies kein Lösungsmodell für den Jungen ist.
Ob Eastwood damit auch einen Kommentar zu seinen früheren Rollen abgeliefert hat, ist durchaus denkbar. Auf jeden Fall spielt er kokett mit Wünschen und Erwartungen eines Teils des Publikums, aber ein Hard-boiled-Finale mit einem Killergreis würde nicht zu dem sorgfältigen Realisten Eastwood passen, der übrigens die Dirty-Harry-Figur nie als schießwütige Rächerfigur verstand, sondern als jemand, der gegen eine lendenlahme Bürokratie kämpft, die ihren Job nicht mehr erledigen kann. Aber dies ist nicht das eigentliche Thema von „Gran Torino“, sondern die Art und Weise, wie Kowalski/Eastwood den zweiten Teil des eingangs zitierten Satz eines anderen großen Grantlers in die ewigen Jagdgründe schickt. Und so wird Walt Kowalski zu einer der erinnerungswerten Eastwood-Figuren, denen es gelegentlich schwer fällt, die eigenen Lebenserfahrungen zu überdenken und eine pessimistische Sicht der Dinge aufzugeben.

Noten: Melonie = 2, Mr. Mendez = 3, BigDoc = 2, Klawer = 2

Dienstag, 7. April 2009

Tropic Thunder

USA 2008 - Regie: Ben Stiller - Darsteller: Ben Stiller, Jack Black, Robert Downey Jr., Steve Coogan, Jay Baruchel, Danny McBride, Brandon T. Jackson, Bill Hader, Nick Nolte, Brandon Soo Hoo, Reggie Lee - FSK: ab 16 - Länge: 107 min.

Um es gleich klar zu machen: Der Film ist kompletter Fake. Ich meine jetzt nicht explizit „Tropic Thunder“, sondern den Film im Allgemeinen. Also die ganze Palette: Phänomenologisch oder rezeptionspsychologisch betrachtet, meinetwegen auch als phänomenale Erlebnisrealität und so weiter und so fort.
Mal abgesehen von dem bekloppten Aufwand, den es kostet, so viel theoretischen Überbau auf so etwas Simples wie einen Kinofilm zu kippen, kann man das alles auch einfacher haben, indem man sich noch einmal Bunuels „Das obskure Objekt der Begierde“ anschaut. Dabei erfährt man recht unmittelbar, wie und warum Kino im Kopf entsteht.
Wechseln wir aber nicht das Thema. Bevor wir uns „Tropic Thunder“ zuwenden, möchte ich an Folgendes erinnern: Mühelos kann jedermann im Kino gleichzeitig zwei Dinge realisieren, die ihm normalerweise eine Einweisung in die Nervenklinik in Aussicht stellen würden. Erstens erlebt man in einer Art von Erste-Person-Perspektive die fiktive ‚Welt’ des Films als temporären Präsens und nimmt gleichzeitig das Ganze als Konstruktion wahr, als handmade oder gar als Zeichensystem, das eine Reihe intertextueller Beziehungen bereithält. Da der Kinogänger letzteres mühelos mit ersterem in Übereinstimmung bringen kann, ohne jemals eine Zeile über die Ideen der Strukturalisten, Konstruktivisten und Dekonstruktivisten gelesen zu haben, bleibt ihm die Rolle eines Delinquenten erspart, die er in einer öffentlichen Einrichtung zwangsläufig einnehmen müsste, wenn es irgend jemand daran gelegen wäre, seine kirre gewordenen Nerven einigermaßen zu rehabilitieren.
Vor diesem Hintergrund ist es mir zeitweilig unverständlich, wie jemand überhaupt einen Film sehen kann, ohne komplett verrückt zu werden.

Hat man sich aber die Sichtweise Jacques Derridas angeeignet und betrachtet sowieso erst mal alles als ‚Text’ und den Film erst recht, dann eröffnet dieser Klassiker des Dekonstruktivismus dem Zuschauer eine neue Perspektive, die insofern zu ungemütlichen Konsequenzen führen kann, als der ‚Text’ (und damit auch der konkrete Film, den man eben gesehen hat), geradezu eine überwältigende Vielzahl von (Deutungs-)Perspektiven bereithält, die gleichzeitig vorhanden sind und häufig in Konflikt zueinander stehen. Und da man bei der Suche nach den diesen Perspektiven zugrunde liegenden Begriffen immer nur ungesichertes Terrain betritt und niemals den Schluss vertreten kann, dass dieses oder jenes gesicherte Bedeutung besitzt, wird alles in einen kontingenten Nebel gehüllt.

Komisch: den meisten Leuten schmeckt diese Erkenntnis im Kino nicht, obwohl sie im wirklichen Leben ständig das Gefühl haben, ihnen würde der Boden unter den Füßen weggezogen, weil es fast nichts mehr gibt, was man als gesichert annehmen darf. Auch deswegen, weil es immer wieder einen Blödhammel gibt, der besserwisserisch alles umdeutet. Richtig: aber dies erlaubt mir, „Tropic Thunder“ einerseits als ‚einfache Kinokost’ zu goutieren, andererseits darf ich diesen Film mit einem Begriffsapparat überziehen, der mich dem Verdacht aussetzt, dass ich rhetorisch Amok laufe. Tja, so ist das mit den post-modernen Philosophien: Everything goes.

Stranger than Fiction
Normalerweise fängt eine Filmkritik mit einem blendenden Gedanken an, der den Leser stimulieren soll weiterzulesen, in Wirklichkeit aber nur die Aufgabe hat, ihn soweit zu manipulieren, dass er die folgende Synopsis nicht mehr vorurteilsfrei lesen kann. Kleiner Witz. Gut, diesmal keine Tricks. Kommen wir zum Inhalt.
Der gar nicht einfach zu beschreiben ist, da man am Anfang nicht weiß, ob man im Hauptfilm oder in der Werbung ist, aber man müsste schon ganz schön belämmert sein, wenn man die Trailershow am Anfang nicht als das identifiziert, was sie in Anlehnung an die Grindhouse-Persiflage von Tarantino/Rodriguez in „Death Proof/Planet Terror“ ist – nämlich ein grandioser Fake, in dem Filme wie „Starship Troopers“ und „Brokeback Mountain“ kräftig durch den Kakao gezogen werden (übrigens mit einem schönen Cameo-Auftritt von Toby Maguire) und wir auch mitkregen, wes Geistes Kinde unsere späteren Helden sind.

Nun aber wirklich zum Inhalt: Produzent Ben Stiller und seine Koproduzenten beschließen (nachdem sie das erforderliche Geld aufgetrieben haben) auf Hawaii und in Los Angeles den Film „Tropic Thunder“ zu drehen, dessen Drehbuch Ben Stiller geschrieben hat. Regisseur Ben Stiller erzeugt alle Elemente eines Textes, der uns in dem Film „Tropic Thunder“ gleich zu Anfang zeigt, dass ein Team von US-Infanteristen in einem südostasiatischen Dschungel von Feinden umzingelt ist und um sein Leben kämpft. Da aber eine bestimmte Einstellung so konnotiert ist, dass sich – entsprechendes Wissen vorausgesetzt – die Erinnerung an eine Szene aus dem Film „Platoon“ über die als Action denotierte Einstellung legt, wird innerhalb der intertextuellen Beziehungen diese Einstellung mit der Bedeutungsperspektive „Persiflage“ decodiert. Dass dies richtig zu sein scheint, wird deutlich, als ein Gegenschuss auf ein Team um den Regisseur Damien Cockburn zeigt, dass wir einen Film im Film sehen: In „Tropic Thunder“ wird ein Film namens „Tropic Thunder“ gedreht.
Da wir uns bei diesem Kunstgriff auf Tradiertes verlassen können („Last Action Hero“, „Stranger than Fiction“ u.a.), können wir diese Erzählebene als das denotieren, was ich weiter oben als temporären Präsens bezeichnet habe. Vorsicht, nicht vergessen: dazu müssen wir uns, wie schon ausgeführt, ein wenig beschummeln, was wir aber ziemlich gut im Kino gelernt haben, und mal ganz ehrlich – Spaß macht das ja auch ein wenig.

Also: Cockburn dreht mit den Schauspielern Tugg Speedman, Kirk Lazarus und Jeff Portnoy einen Actionfilm, der bereits nach fünf Tagen den Drehplan um einen Monat überschritten hat. Unter anderem auch deswegen, weil sich die Stars über banale szenische Details unterhalten, während im Hintergrund bei einem pyrotechnischen Effekt 2 Mio. Dollar in die Lust geblasen werden, während keine einzige Kamera läuft (F.F. Coppola, der heute 70 Jahre alt geworden ist, wird sich freuen). Dies bringt den Produzenten Lee Grossman (nicht erkennbar: Tom Cruise) derart auf die Palme, dass er auf Anraten des martialischen Kriegsveteranen Four Leaf Tayback (Nick Nolte) den gesamten Sauhaufen in den tiefsten Dschungel verbannt, wo unter semi-dokumentarischen Bedingungen der Film zu Ende gedreht werden soll. Dort tritt allerdings Cockburn ziemlich kopflos auf eine Landmine, was dazu führt, dass sich seine Haltung in einen physischen Zustand verwandelt. Allein auf sich gestellt, versuchen die Schauspieler sich so zu verhalten, wie es die Fiktion von ihnen verlangt. Allein Lazarus ist skeptisch. Als das Team dann auf einen Drogenclan stoßen, der mit echter Munition auf sie schießt und bald darauf Speedman in ihr Lager entführt, wird aus der ‚echten’ Fiktion ein falscher Fuffziger.

Futter für die Cinephilen: Was uns der Dekonstruktivismus zu sagen hat
Wenn sich Figuren ihrer Fiktionalität bewusst sind, so nennt man dies eine narrative Metalepse. Im vorliegenden Fall muss man den Spieß wohl umdrehen, weil die (hoffentlich) realen Schauspieler Ben Stiller (Tugg Speedman), Robert Downey junior (Kirk Lazarus) und Jack Black (Jeff Portnoy) andere Schauspieler spielen, die wiederum bestimmte Rollen spielen und alles tun, um die Realität ganz im Sinne der vom Drehbuch entwickelten Fiktion wahrzunehmen. Dabei schleppen sie, semiotisch gesprochen, einen Rucksack voller Konnotationen mit sich herum.

Oupps, oupps, oupps. Jetzt wird’s haarig. Ich denke, wenn wir jetzt nicht eine Portion Humor entwickeln, dann könnte die ganze Sache ziemlich schnell eskalieren. Zum Glück ist das einfach, denn Jack Black („High Fidelity“, „School of Rock“ und nicht zu vergessen mein Lieblingsfilm „Nacho Libre“, der hier im Blog bereits besprochen wurde) verkörpert jenen gelinde gesagt rustikalen Humor, der sich in der Figur des Jeff Portnoy als durchaus angemessene Hyperbel wiederfindet. Querverweis: die Hyperbel ist an sich eine rhetorische Figur, die durch Übertreibung ihre Bedeutung unübersehbar vorführt. Wohl an: hier ist sie schamlos trashig, die Hyperbel, denn Portnoy ist der heroinanhängige Star von Filmen, deren Publikum sich an den schier unbegrenzten Furz-Fähigkeiten seines Helden erfreut, was uns – entsprechendes Wissen vorausgesetzt – wieder einen kleinen Querverweis aufs Schwachmaten-Kino à la Eddie Murphy in The Nutty Professor gestattet, aber auch auf Close Encounters of the Third Kind, spätestens dann nämlich, wenn der vom Entzug gepeinigte Portnoy in einem Drogencamp einen aus Heroin geformten Berg findet, der uns allen ziemlich vertraut sein sollte.

Robert Downey junior gibt dagegen den Cinephilen das ihnen gebührende Futter: er ist Kirk Lazarus, ein australischer Filmstar, der sich für seine Rolle in „Tropic Thunder“, also jenen Film, der in „Tropic Thunder“ gedreht wird, eine komplette Hautneupigmentierung verpassen ließ, damit er überzeugend einen Farbigen spielen kann. Ha, hier wird – entsprechendes Wissen vorausgesetzt – cool das Method Acting durch den Kakao gezogen, aber so raffiniert, dass man nur über die Namensgebung und ein gutes Gedächtnis die Querverbindung zur Figur des Dr. Lazarus (Alan Rickman) in „Galaxy Quest“ erkennen kann. Schöner Witz, da Alan Rickman in der Rolle des Alexander Dane die fiktive Rolle des Dr. Lazarus zutiefst verachtet und erst durch die Not der Stunde gezwungen wird, sie als wahren Ausdruck seines Wesens vollständig anzunehmen, was erstens wieder eine umgekehrte narrative Metalepse ist und zweitens dafür gesorgt hat, dass „Galaxy Quest“ im Blog in meiner Liste der Top Fifty auftaucht und drittens so viel Spaß macht, dass ich mir diesen Film schon fünfmal angeschaut habe. Abgesehen davon verarscht Robert Downey junior auch kräftig Russell Crowe, was auch sehr viel Spaß macht, da Crowe für seine Rolle in „Der Mann, der niemals lebte“ über 30 Kilo zunahm, wobei ich nicht weiß, ob er damit Robert de Niro in "Raging Bull" getoppt hat.

Ben Stiller als Produzent, Drehbuchautor, Regisseur und Darsteller hat in dem Film durchaus das Sahnehäubchen an Land gezogen, denn die Figur des Tugg Speedman erlaubt ihm eine Reihe deftiger Scherze, die jene tiefe Sehnsucht aller heruntergekommenen B-Movie-Stars ins Bild setzt, nämlich davon träumen, einmal genauso wie William Dafoe erschossen zu werden, um dafür einen OSCAR zu erhalten (den Dafoe übrigens nicht bekam). Stattdessen muss Speedman in einem Melodrama wie „Simple Jack“ agieren, in dem er einen Volltrottel mimt, der so vertrottelt ist, dass man dafür garantiert keinen OSCAR erhält. Denn, so erklärt, Downey/Lazarus dem verblüfften Stiller/Speedman, um wie Dustin Hoffman in „Rain Man“ ausgezeichnet zu werden, müsse man schon einen Behinderten spielen, der etwas kann. Ein schöner Dialog, denn dies zeigt einerseits, dass Political Correctness deshalb Schwachsinn ist, weil sich sowieso keiner daran hält, dass aus diesem Grund einige Filme gemacht werden, die auch gelegentlich einen OSCAR bekommen, und dass man sich im wirklichen Leben für diesen Querschläger die barsche Kritik der amerikanischen Down-Syndrome-Group abholt, die (und das ist wahr) dem Film Hasstiraden gegen Behinderte vorwarf. Wer uns soviel zu sagen hat, der hat wirklich die Paraderolle an Land gezogen.

So, ich habe mit bescheidenen Mitteln und etwas verblichenen Restkenntnissen des Dekonstruktivismus das gemacht, was Derrida und Konsorten „eine sinnkritische Einklammerung der Sinn- und Verweisungsbeziehungen der Elemente eines Textes“ genannt haben. Wenn man beschließt, ein Dekonstruktivist zu werden, dann wird alles noch schwieriger, wenn man sich gründlich eingearbeitet hat. Aber gottlob ist dies ein anderes Thema. Festzuhalten bleibt, dass das Aufdröseln der intertextuellen Beziehungen nicht immer zu einem gesicherten Erkenntnisgewinn führt, aber immerhin zeigt, dass man eine Menge Filme gesehen hat. Das ist doch was, oder?
Wenn man dann noch am Ende dieser Kritik in der Lage ist, sich an den Anfang zu erinnern und damit an die Ambivalenz bei der Wahrnehmung von Fiktionen, dann sollte man auch den letzten Brocken schlucken und zur Kenntnis nehmen, das all die Filme-im-Film und all die Metalepsen und umgekehrten Metalepsen den Rezipienten wahrlich ent-täuschen, und zwar in dem Doppelsinn, dass erstens das, was er verstanden zu haben meinte, eine Täuschung war und zweitens das Ganze als Täuschung sichtbar wurde, was zu der gewiss nicht neuen Erkenntnis führt, dass Texte (Filme) nicht nur in ihren inneren, ideengeschichtlichen Struktur, sondern auch in ihrem Bezug auf andere Texte (Filme) zu verstehen sind.

Bringt uns das wirklich weiter? Ich weiß nicht so recht. Allerdings hat mir etwas wirklich Spaß gemacht: ich weiß zwar nicht, ob sich Ben Stiller jemals mit diesem ganzen Kram auseinandergesetzt hat, aber auch so ist es ihm gelungen, die Dekonstruktivisten auf die Schippe zu nehmen. Am Ende zeigt er nämlich, dass man alle Kinoillusionen zwar wirkungsvoll entzaubern kann, dass die Ent-Täuschung aber dann ein Ende hat, wenn’s 'wirklich' um das Eingemachte geht: Drücken wir nicht Tugg Speedman die Daumen, wenn er über eine Brücke rennt, die gleich gesprengt wird? Und wünschen wir uns nicht, dass er heroisch von Kirk Lazarus gerettet wird?

Und jetzt, da wir wissen, wie unsere Reflexe funktionieren, wissen wir endlich auch, wie Kino in unseren Köpfen funktioniert und dass wir dort auch in Zukunft jede Menge Spaß haben werden.

Noten: Klawer = 2,5, Mr. Mendez = 3,5, BigDoc = 2, Melonie = 2,5

Damit ist "Tropic Thunder" vorläufig auf Platz 5 der Bestenliste gelandet. Im übrigen möchte ich Francis Ford Coppola zum Geburtstag gratulieren: Der Macher des "Paten" und "Apocalypse Now" wird heute 70.  Wie der Wahnsinn des Colonel Kurtz von Stiller persifliert wird, ist schon köstlich - ob das als Hommage verstanden werden soll, bleibt jedem selbst überlassen. Noch eine Anmerkung: aus vielen und nicht nur den oben genannten Gründen halte ich Stillers Mediensatire für eine der besten Komödien der letzten Jahre. Gelegentlich wandelt Stiller am Rande der Klamotte, aber das ist Geschmackssache. Wenn ich ehrlich bin: "Stranger than Fiction" spielt in einer etwas höheren Liga und der ziemlich unterschätzte und fast schon vergessene "Last Action Hero" bleibt für mich die Number One im Reich der Metalepsen.

Montag, 6. April 2009

Charts April 2009

Was ist angesagt? Gute Frage: schauen wir mal in die deutschen Kinos.
Hier rangieren folgende Filme auf den Top 1-3-Plätzen (nach Gesamtzahl):

1. Der Vorleser (1,65 Mio)
2. Männersache (1,28 Mio)
3. Marley & Ich (0,9 Mio)

Das bedeutet, dass Mario Barths soziologische Kommentare zur Gender-Problematik genauso spannend zu sein scheinen wie die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte. Frage: Gibt es hier ein Cross-Over-Phänomen? Ist es vorstellbar, dass Barth-Fans sich in der "Vorleser" verirren? Da ich völlig ratlos bin, werfe ich lieber einen Blick auf die US-Charts. Mal sehen, was auf uns zukommt.

1. Monsters vs. Aliens
2. The Haunting in Connecticut
3. Knowing

Das Anim-3 D-Spektakel ist bereits in Deutschland angelaufen, wobei ich -sorry- persönlich kein Kino kenne, dass 3 D-fähig ist. Auch den Plätzen 2 und 3 befinden sich ein Horrorfilm und ein Thriller, wobei "Knowing" angeblich alles verwurstet, "was sich nicht wehrt" (Eva Tüttelmann in SCHNITT) und für die Schweizer Kinoseite LUZART eine "herbe Entäuschung" ist. Nicholas Cage soll allerdings zurückhaltend spielen, was allemal einen Kinobesuch ab 9.4. herausfordert.

Samstag, 4. April 2009

Der Mann, der niemals lebte (Body of lies)

USA 2008 - Originaltitel: Body of Lies - Regie: Ridley Scott - Darsteller: Leonardo DiCaprio, Russell Crowe, Mark Strong, Golshifteh Farahani - Prädikat: besonders wertvoll – FSK: ab 16 - Länge: 128 min.

„Body of Lies“ wirkt wie ein Menetekel: Bush ist weg, aber der Apparat ist geblieben und er funktioniert wie eine gut geölte Maschine. In diesem Fall ist es (wieder einmal) die CIA, die allein durch die Beständigkeit ihres ideologischen Horizonts für eine stabile, irreversible Sicht auf die Dinge sorgt und im Anti-Terror-Kampf billigend die Verletzung der Menschenrechte in Kauf nimmt. Wie ist neue Politik in Zeiten Obamas möglich, wenn jene Pragmatiker an den Schrauben drehen, die achselzuckend darauf verweisen, dass man nichts säubern kann, wenn man nicht bereit ist, sich schmutzig zu machen? Oder sind ganz einfach all jene naiv, die allein von einem Wechsel der politischen Führung einen Paradigmenwechsel in der Bewertung weltpolitischer Ereignisse sehen?

Ambivalente Hauptfiguren
Ganz schön starker Tobak für die Betrachtung eines Genrefilms, der sich auf den ersten Blick kaum von den tradierten Wahrnehmungsmustern entfernt, die von zahllosen Vorgängern durchgehechelt wurden. Allerdings spielt „Body of Lies“ nicht in der Welt von James Bond, sondern in der von Ridley Scott (u.a. „Alien“, „Blade Runner“, „Thelma & Louise“, „Gladiator“, „Black Hawk Down“, „American Gangster“) und da schaut man gerne etwas genauer hin.

Roger Ferris (Leonardo DiCaprio) vertritt die Agency im Nahen Osten als Mann fürs Grobe. Der Agent soll Al-Salim, den Anführer eines globalen Terroristenring, aufspüren. Al-Salim ist für verheerende Anschläge in London und Amsterdam verantwortlich. Ferris’ Job ist dabei durchaus physisch zu verstehen und bedeutet nicht nur reden, genau hinschauen und auswerten, sondern rennen, schießen, töten und gelegentlich auch foltern. Ferris ist kein sauberer Held und Ridley Scott zeigt dies sehr früh mit einigen schnellen Flashbacks.
Der eigentliche Analyst sitzt zeitgleich in den Staaten und koordiniert die Einsätze. Ed Hoffman (Russell Crowe) erinnert dabei nicht nur funktional an die Jack Ryan-Figur, sondern passt als erzkonservativer, gelegentlich zynischer Stratege auch ideologisch in die patriotische Romanwelt des Tom Clancy, die durch ihre Verfilmungen idealistisch gegen den Strich gebürstet wurde. Für Hoffman sind die USA nicht nur von Feinden umstellt, sondern auch von fremden, unverständlichen Kulturen, und jede Form von Vertrauen gegenüber muslimischen Verbündeten oder das Befolgen essentieller moralischer Werte bedeuten einen Verlust an Effizienz und sind im Kern lediglich pure Sentimentalität. Man weiß nie, ob Hoffman verschlagen oder lediglich dumm ist. Ferris dagegen ist zu nah an den Menschen, insbesondere an seinen Informanten, um unberührt zu bleiben, wenn er seine Zuträger aus taktischen Gründen verheizen oder eigenhändig liquidieren muss. Auch ihm traut man nie den richtigen Durchblick zu. Sympathieträger sind beide nicht.

Der Wahn der Technik
Scott zeigt den Konflikt zwischen diesen Männern als Ergebnis einer technikzentrierten Kommunikation. Der Zuschauer sieht immer wieder die Bilder der AWACS-Aufklärer, die jeden gefährlichen Einsatz des Field Agents minuziös mit hochauflösenden Bildern dokumentieren, die Hoffmann live auf einem metergroßen Leinwand zugespielt werden. Man kennt derartige Satellitenbilder auch aus anderen Filmen, aber nun sind sie so rattenscharf, dass Hoffmann ohne weiteres den Schweiß in den Gesichtern der Sterbenden sehen kann. Scott zeigt clever, dass dieser Zuwachs an visueller Information keine Steigerung der Empathie nach sich zieht.
Auch sonst hält sich Hoffman den Human Touch sehr effektiv vom Leibe. Er läuft permanent mit einem Headset durch die Gegend und gibt cool seine Befehle, die nicht selten tödlich enden, während er sich gleichzeitig um seine Kinder kümmert. Scott gelingen hier Bilder einer grandios irrwitzigen medialen Präsenz, zumal Hoffmans dichtes Netzwerk aus simultan ablaufenden Aktionen seinem Untergebenen Ferris unverständlich bleibt - der Informationsfluss ist einseitig und geplante Einsätze scheitern, weil Hoffman ohne Erklärung zugunsten neuer taktischer Einsichten umdisponiert, ohne Ferris ins Bild zu setzen. Kein Wunder, dass es sehr schnell handgreiflich zugeht, wenn Hoffman und Ferris sich ausnahmsweise leibhaftig gegenüber stehen.

Die Fremdheit der Anderen
„Body of lies“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von David Ignatius, einem Journalisten der „Washington Post“. Wir erinnern uns: Journalisten der „Post“ waren maßgeblich an der Enthüllung der Watergate-Skandals beteiligt. Inwieweit Ignatius, an dessen Roman sich das Drehbuch von William Monahan zumindest orientierte, gut recherchiert hat, wird dem Kinogänger wohl verborgen bleiben. Das dürfte aber nicht ganz so bedeutend sein. Viel wichtiger ist bei einem Genrefilm die Frage, inwieweit ein Regisseur bereit ist, konventionelle Sichtweisen hinter sich zu lassen und tradierte Plots zugunsten einer unverbrauchten Sichtweise aufzugeben.
„Body of lies“ zeigt dies, indem er die Effizienz der Agency konterkariert. Dies geschieht, als Ferris den jordanischen Geheimdienstchef Hani (Mark Strong) kennen lernt. Hani ist die Verkörperung klassischer Tugenden: statt auf technische Netzwerke setzt er auf persönliche Kontakte, perfekt kontrollierte Schläfer, aber auch auf Vertrauen und Geduld. Eigenschaften, die einem latent paranoiden Zyniker wie Hoffman per se als verdächtig vorkommen müssen. Zudem tritt Hani elegant auf, umgibt sich mit ebenso eleganten Frauen und unterscheidet sich auch durch seine messerscharfe Intelligenz von seinen technologisch überlegenen Partnern.
Als Ferris und Hoffman bei der Suche nach Al-Salim nicht weiterkommen, entschließen sich beide zu einem riskanten Coup: sie erfinden eine fiktive Terrororganisation, lassen einen getürkten Anschlag durchführen und lenken durch geschickt gefakte Informationen die Aufmerksamkeit Al-Salims auf einen unschuldigen Architekten (der nicht mehr als ein ‚Body of lies' ist), um den Terrorchef aus der Reserve zu locken. Doch statt Al-Salim dingfest zu machen, fliegt die Aktion auf, was auch die Beziehung zu Hani massiv beschädigt. Der erfolgreiche coup de grâce gelingt am Ende dem Jordanier, der mit einer raffinierten Aktion beweist, dass er mit seinen altbackenen Methoden der Technologie der Amerikaner überlegen ist. Deren Verachtung für eine ihnen unverständliche Kultur und deren Menschen lässt sie am Ende verblüffend scheitern. Eine witzige Pointe, die besonders dann zündet, wenn man etwas über Samuel Huntingtons Analyse des Clash of Civilizations gelesen hat. Dieser Zusammenstoß findet tatsächlich in den Köpfen von Ferris und Hoffman statt, misslingt aber, weil die Möglichkeit einer differenzierten und respektvollen Wahrnehmung andersartiger Kulturen nicht als überlebenswichtige Option erkannt wird.

Ridley Scott gelingt es nicht immer, diese Aspekte dramaturgisch und dialogisch adäquat umzusetzen. Der genretypische Mix aus Action und undurchsichtigen Verschwörungen verschleiert mehr als er aufdeckt, zudem hetzt Scott seine Figuren in einen schnellen Szenenwechsel, der erstaunlich flach bleibt, weil erst spät erkennbar wird, wohin der Film steuert. Über weite Strecken erinnert „Body of lies“ an „Syriana“, den aus meiner Sicht allerdings deutlich besseren Film von Stephen Gaghan. „Syriana“ ist zwar schwieriger zu sehen, zeigt aber präziser bis in die soziokulturellen Verästelungen den Zusammenhang zwischen Globalisierung und dem Clash of Civilizations auf.

In der Besetzung der Hauptrollen hat Scott ins Schwarze getroffen: Russell Crowe spielt den kaltschnäuzigen Analysten gekonnt als intelligenten Buchhalter ohne Moral und ohne ihn zu dämonisieren. Mark Strong als jordanischer Geheimdienstchef agiert überraschend auf Augenhöhe, während di Caprio zwar kein Fehlgriff ist, aber nicht ganz an die Glaubwürdigkeit der ähnlich gelagerten Figur George Clooneys in „Syriana“ heranreicht.
„Body of lies“ gehört insgesamt zwar nicht zu den besten Filmen Ridley Scotts, ist aber intelligent genug, um einige genretypische Erwartungen zu durchkreuzen. "Those to whom evil is done/ do evil in return" – dieser ambivalente Satz von H.W. Auden leitet den Film ein und man sollte ruhig darüber nachdenken, welche Konnotationen er enthält.

Technik
Der Film lag dem Filmclub auf einer sehr gut gemasterten bluray vor. Die Vorzüge der exzellenten Bildqualität kamen besonders dort adäquat zum Zuge, wo die hohe Auflösung der Satellitenkameras sichtbar gemacht werden musste. Dies sieht perfekt aus und zeigt, dass die Bluray bei der Umsetzung bestimmter Stilmittel ihre Qualitäten ausspielen kann.
Das Bonusmaterial kann durchweg überzeugen. Ein Beispiel: Etwas aufgesetzt wirkt in der Kinofassung die Liebesgeschichte zwischen Ferris und einer iranischen Krankenschwester. Dies liegt allerdings am finalen Schnitt von „Body of lies“, der fatalerweise auf eine Reihe wichtiger Szenen verzichtet, die man auf der Bluray im Bonusmaterial findet. Erst dort erkennt man die dramaturgische Bedeutung dieser Beziehung, die Ferris endgültig als ewig fremden Wanderer zwischen den Kulturen outet. Da auch alle anderen „Deleted Scenes“ meiner Meinung nach in den Film gehören, wäre ein Director’s Cut in diesem Fall die angemessene Lösung gewesen.

Bemerkenswert gut ist auch das restliche Bonusmaterial auf der Bluray, das sich nicht auf Tricks und Technik beschränkt, sondern auch darüber Auskunft gibt, dass „Body of lies“ zumindest in einer Hinsicht bemerkenswert authentisch ist: die Erfolge des jordanischen Geheimdienstes im Anti-Terror-Kampf sind tatsächlich legendär und keiner weiß so recht, warum die Haschemiten so gut sind!

Noten: Mr. Mendez = 3, Melonie = 3, BigDoc=3

Freitag, 3. April 2009

Noch mehr Aktuelles

Charts

Nach dem ersten Vierteljahr soll endlich mal der Quartalssieger geoutet werden. Mal schauen, ob die aktuelle Nr. 1 auch die nächsten drei Monate überlebt.
Also: unangefochtene Nr. 1 ist Slumdog millionaire, den 2.-3. Platz teilen sich punktgleich Gran Torino und The Lemon Tree, während auf 4-5 Max Payne und Things we lost in the fire gute Kandidaten für ein Abrutschen in die hinteren Ränge sind.

Hoffentlich fragt jetzt niemand, warum keiner (!) der Top Five hier besprochen wurde!
Oupps, etwas peinlich!

In der Kategorie "Close but no cigar", die dadurch ausgezeichnet wird, dass weniger als drei, aber mindestens zwei Mitglieder den Film gesehen haben, ist ziemlich edele Ware zu bestaunen:

1.-2. The Wrestler, Der Vorleser
2. Changeling (Der fremde Sohn)
3. Frost/Nixon
4. Australia
5. The International

Bleibt nur zu hoffen, dass alle anderen das Versäumte nachholen, damit diese guten Stücke auch in den Top Rankings für 2009 landen!

Aktuelles

Top Fourty plus...

Es lohnt sich, einen Blick in die gründlich überarbeiteten Top Fourty zu werfen, die kräftig auf die Top Fifty zumarschieren. Mich verblüfft immer wieder die Dominanz des US-Kinos, aber nun hat als Neuzugang wenigstens Tom Tykwer den Sprung in die Annalen geschafft.
Wie immer bleiben bei solchen Listen die üblichen Fragen nach Hitchcock, nach Eisenstein, vielleicht auch Bunuel oder den großen Franzosen. Eigentlich müsste Eric Rohmer dabei sein...und, und, und.
Nicht verzagen: Das Ganze macht halt nur als 'work in progress' Spaß.

The Oxford Murders

Spanien / Frankreich 2008, R.: Álex de la Iglesia, B: Álex de la Iglesia, Guillermo Martínez (Roman), D: Elijah Wood (Martin), John Hurt (Arthur Seldom).

Der spanische Regisseur Álex de la Iglesia dürfte in Deutschland nur einem Insider-Publikum bekannt sein. In seinem Heimatland ist er seit 1995 Kult: Mit El día de la bestia legte er einen in Deutschland auf DVD erhältlichen Horrorfilm vor, der in der Tat durch eine eminente Dichte und originelle Erzählweise überrascht. Ich habe ihn als sehr eindrucksvolle Erfahrung im Gedächtnis. Kultig ist auch das 1997 produzierte Road-Movie „Perdita Durango“ mit Javier Bardem, ein Film, der das Image eines Splatter-Movies à la Tarantino hat und entsprechend auf DVD vermarktet wird, häufig in Kombination mit anderen kongenialen Streifen. Kurz gesagt: de la Iglesia wird in Spanien mit Preisen zugeschüttet, besitzt aber hierzulande lediglich den Bekanntheitsgrad eines akademischen Fachartikels.
Mit „The Oxford Murders“ verfilmte der Spanier nun einen ebenfalls preisgekrönten Roman, nämlich die Pythagoras-Morde von Guillermo Martínez. Der Roman wurde 2003 mit dem Planeta-Preis für Argentinien ausgezeichnet. In den Kinos landete „The Oxford Murders“ nicht – es handelt sich um eine der Direct-to-DVD-Produktionen, über die man gelegentlich nur als Geheimtipp etwas erfährt. Dies zu bedauern, wäre allerdings ziemlich töricht, da eine Vermarktung jenseits des Kinos schon längst nicht mehr ein Hinweis auf fehlende Qualität ist.

Der on location in Oxford gedrehte Film ist ein klassischer Whodonit-Krimi mit einem kräftigen Schuss Agatha Christi: Der junge Mathematikstudent Martin (Elijah Wood) will in Oxford seine Doktorarbeit zu schreiben. Am liebsten bei seinem wissenschaftlichen Vorbild Arthur Seldom (John Hurt), der sich allerdings in die Forschung zurückgezogen hat. Nicht ohne Hintergedanken mietet sich der Doktorand bei Mrs. Eagleton und deren Tochter ein, wohl wissend, dass Seldom eine besondere Beziehung zu den beiden Damen hat, die tief in die Vergangenheit der Familie zurückführt. Als bald darauf Mrs. Eagleton von Seldom und Martin tot aufgefunden wird, verrät nur eine kleine Nuance, dass der Todesfall ein Mord war. Immerhin erlangt Martin auf diese Weise die Aufmerksamkeit des berühmten Mathematikers und Philosophen, mit dem zusammen er nun das Rätsel lösen will, denn weitere Morde folgen und der Killer kündigt den Hobby-Detektiven seinen nächsten Mord jeweils mit geheimnisvollen Symbolen an. Ein kryptisches Katz- und Mausspiel, das nicht ohne Witz ist, hat sich der junge Wittgenstein doch sehr mit Krytographie beschäftigt.
Wittgenstein? Who the hell ist Wittgenstein?
Wait and see...

Als Krimi funktioniert das Ganze auf ordentlichem Niveau: nicht immer packend, aber auch nicht völlig daneben. Dafür hat der Film andere Qualitäten, die ihn als komödiantischen Philosophie-Diskurs outen. Seldom, der sich als Wittgenstein-Anhänger darauf beruft, dass es keine in letzter Schlüssigkeit beweisbare Wahrheit gibt, sieht sich mit einem jungen Enthusiasten konfrontiert, der seinerseits der Logik der Mathematik den Vorzug einräumt und alle Rätsel für grundsätzlich lösbar hält. Und so wird in dem Film nicht nur über Wittgenstein lässig verhandelt, sondern auch Gödel und Heisenberg kommen ins Spiel, was unter normalen Umständen jeden Produzenten in den Wahnsinn treiben würde, denn Pointen, die sich nur einem einigermaßen an der Wittgensteinschen Sprachlogik, den Unvorsehbarkeiten der Quantenphysik und den bizarren Kausalitäten der Chaostheorie geschulten Publikum erschließen, sind Kassengift pur. Wenn man aber weiß, dass de la Iglesia es einfach nicht übers Herz bringt, einfach nur Mainstream abzuliefern, hat an den Dialogen zwischen dem zerknittert-pessimistischen Mathematik- und Philosophiegenie und seinem jungen Novizen durchaus Spaß, zumal „The Oxford Murders“ ziemlich witzig zeigt, dass alles Räsonieren über die Verfasstheit der Welt auch die klügsten Köpfe nicht davon befreit, in dieser zu leben. Das kann ein Dilemma sein, erst recht, wenn das profane Leben nicht immer erkennen läßt, dass man mit philosophischem Know-How elementare Überlebensfragen besser meistern kann. Am Ende zählen nur die Tatsachen, und dies hat uns eben jener Ludwig Wittgenstein mitzuteilen versucht: „Die Welt ist die Summe aller Tatsachen.“

Von der deutschsprachigen Kritik ist der Film hierzulande kaum zur Kenntnis genommen worden. Und die wenigen, die etwas schrieben, mokierten sich meistens über die mageren Schauspielkünste von Elijah Wood, dem man nicht so recht eine Affäre mit einer prallen Krankenschwester zutrauen mag. Aber auch hier hilft Wittgenstein: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

Noten: BigDoc = 1,5, Klawer = 2,5, Mr. Mendez = 2,5, Melonie = 3

Donnerstag, 2. April 2009

Aktuelles

Oscar 2009 – die Nachlese

(fett = im Filmclub besprochen)
In Abwandlung eines altes Sprichwortes fiel mir auch in diesem Jahr zu dem Verleihungsspektakel nur Folgendes ein: „Es gibt nichts Gutes, außer man findet es selbst!“
Das ist schon seit Jahren so und man hat sich daran gewöhnt, dass die Kriterien der AMPAS garantiert nicht den Geschmack eines exaltierten europäischen Cineasten treffen. Lustig ist es allemal und in diesem Jahr war auch die Show, die Hugh Jackman bot, allen Anforderungen an ein schlagfertiges Rahmenprogramm gewachsen. Sich auf die Schippe nehmen, das können sie…

Auf die Schippe wurde man genommen, als man mit halboffenem Mund zusehen durfte, wie „Slumdog Millionaire“ einen Preis nach dem anderen abräumte. Nicht, dass der Film ein Flop wäre, aber offen gestanden ist er für mich auch nicht mehr gewesen als ein kongenialer Mix aus abgespecktem Bollywood (kein Gesang, keine Tanzeinlagen), etwas Charles Dickens für Hardcore-Fans und einer spannenden Märchenstunde mit einem Schuss Sozialkritik. Formal sehr gelungen und mit einem packenden Drive, der einen mitzog, aber maulend muss ich dennoch daran erinnern, welche Filme aus meiner Sicht besser waren: „The Dark Knight“ wurde in dieser Kategorie erst gar nicht nominiert (was ein Witz ist) und mit „Frost/Nixon“ landete ein durchaus beachtlicher Polit-Thriller unter ferner liefen. Alles weißgott nicht zum ersten Mal…

Erinnern wir uns…
2008: „No Country for Old Men“ schlägt „Michael Clayton“ und „There will be Blood”, wobei ich P.W. Andersons Film für einen der besten aller Zeiten halte…
2007: mit “Departed” wird Scorsese für den falschen Film geadelt. Auf der Strecke bleiben „Letters for Iwo Jima“ und „Babel“…
2006: „L.A. Crash“ war angesichts der schlappen Konkurrenz durchaus o.K….
2005: „Million Dollar Baby“ besiegt nicht ganz zu Unrecht das Obsessions-Drama „Aviator“…
2004: „Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs“ pulverisiert Eastwoods Meisterwerk „Mystic River“ (wofür Clint ein Jahr später entschädigt wird)…
2003: der absolute Witz – „Chikago“ (wer erinnert sich noch?) schickt u.a. „Gangs of New York“ ins Nirwana (wofür Scorcese nach einer erneuten Schlappe in 2005 letztendlich mit „Departed“ zu spät entschädigt wird)…

Das soll nun nicht heißen, dass seit Anbeginn aller (Kino)-zeiten die Luschen die Preise abräumen, aber eins sollte man sich vielleicht doch merken: Filme, die sich mit der inneren Verfassung der amerikanischen Gesellschaft (auch im historischen Rückblick) beschäftigen, werden nominiert, aber selten ausgezeichnet! Und da den Oscar für den besten Film die Produzenten erhalten, ist ein Teil der von mir oben angeführten Verknüpfungen natürlich Blödsinn – oder ich habe weise erkannt, dass dies eine Mahnung an die mächtigen Männer hinter den Kulissen sein könnte.

Schauen wir uns lieber an, wer denn nun für sein filmisches Handwerk geadelt wurde: Danny Boyle für …na, wer ist jetzt überrascht? Klar: „Slumdog Millionaire“! Was durchaus Freude bei mir auslöste, war doch wenigstens der merkwürdige „Benjamin Button“ in einer Raumzeit-Spalte verschwunden, die sich in der Nähe des Kodak Theatre geöffnet hatte.
Mein persönlicher Favorit war allerdings Ron Howards „Frost/Nixon“, ein sorgfältig recherchierter Dialog-Thriller, der ungemein spannend Nixons spätes Eingeständnis, nämlich als Präsident moralisch versagt zu haben, durchaus als Mahnung an Mr. Bush richtete – aber gut, vielleicht war dies zuviel des Guten und die Amis wollten endlich ihre Ruhe haben, jetzt, wo sie wieder einen Strahlemann an die Spitze beordert haben.
Dass der aus meiner Sicht gelungene Film „Der Vorleser“ von Stephen Daldry den Sprung schaffen würde, hatte ich natürlich nicht ernsthaft erwartet. Zum Ausgleich ersparte uns die AMPAS eine Nominierung von „Stauffenberg“. Das ist doch was…

Immerhin gelang es Kate Winslet den Oscar für die beste Hauptrolle in diesem Drama aus Deutschland zu ergattern, was auch aus meiner Sicht recht angemessen war, obwohl ich keine der Mitkonkurrentinnen aus eigener Sicht würdigen kann: Ich war zufrieden, dass mit dem "Vorleser" ein Film angeschoben wurde, der nicht nur eine passable Literaturverfilmung ist, sondern auch ungewöhnlich stimulierend ein Kapitel unserer Geschichte aufarbeitet. Dass dies einer internationalen Produktion gelingt, ist schon spannend genug, aber dass dieser Film ohne allzu große Zugeständnisse an Kinokonventionen zeigt, dass das Böse oder (wer’s nicht so metaphysisch mag) der Faschismus in Gestalt einer Legasthenikerin sein Unheil verrichtet, beweist, dass Hannah Arendt mit ihren Einsichten zur „Banalität des Bösen“ möglicherweise nicht ganz schief lag. Und das sieht man nicht jeden Tag im Kino...

Sean Penns Dankesrede war sicher ein Highlight. Viele hatte gehofft oder erwartet, dass Mickey Rourke den Oscar für „The Wrestler“ erhält, aber die Auszeichnung für den besten Hauptdarsteller ging an einer der besten Darsteller der letzten zwei Jahrzehnte und war somit kein Schuss in den Ofen. Mich selbst konnte „Milk“ mit seiner Schulfunk-Didaktik nicht überzeugen – formal ein durchschnittlicher Film, bei dem die ehrenwerte Absicht der gelungenen Umsetzung irgendwie im Wege stand. Allerdings gehört es zu den schwierigsten Aufgaben im Kino, mehrere Jahrzehnte persönlicher und politischer Entwicklung elegant und geistreich in ein biopic zu packen, ohne eine Situation an die nächste zu heften. Na ja, vielleicht war nach dem Scheitern von „Brokeback Mountain“ so oder so irgendwann ein Schwulendrama fällig. Die Amis lieben ja ihre Political Correctness.

In der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ gewann der mir – und wohl auch anderen – völlig unbekannte japanische Film "Okuribito". Nicht einmal in der Wikipedia erfährt man etwas über den Gewinner. Na gut, dass Uli Edels RAF-Collage „Der Baader-Meinhof-Komplex“ es genauso wenig schaffen würde wie Götz Spielmanns asketisches Zuhälterdrama „Revanche“ (den ich wieder einmal als Einziger im Filmclub gesehen habe - Leute, strengt euch mehr an!), war klar, aber mit „Waltz with Bashir“ und dem französischen „Entres les murs“ blieben hochpotente Kandidaten auf der Strecke.
In die Nominierungsränge hatte es Tom Tykwer mit „The International“ erst gar nicht geschafft. Ich habe an dieser Stelle auf eine Kritik verzichtet, weil Tykwers Action-Thriller mir nicht recht einleuchten wollte, obwohl der bereits im „Paten III“ aufgearbeitete Calvi-Skandal erneut wohl als Vorbild herhalten musste. Da wir uns aber alle davon überzeugen konnten, dass das Finanzkapital bei seinen Geschäften in der Regel auf schießwütige Killer verzichten kann, war „The International“ für mich gut gemachter Thriller-Mainstream, der nur vermeintlich den altehrwürdigen Paranoia-Filmen der 70er Jahre einen realistischen Mantel überstülpte.