Samstag, 11. Oktober 2014

Grand Budapest Hotel

Wes Andersons Filme muss man nicht mögen. Man muss ja ohnehin nichts ‚müssen’ im Kino, obwohl einige Filmtheoretiker da anderer Meinung sind. Aber wer Andersons Filme mag, der mag sie immer. Aber lustig sind sie nicht, das ist ein Irrtum. Auch wenn man viel lachen muss. „Grand Budapest Hotel“ ist wohl sein Masterpiece.

Andersons Film führt uns zurück in eine Epoche, die vor dem 1. Weltkrieg begann. Die adelige Kultur befindet sich sowohl auf dem Höhepunkt als auch kurz vor ihrem Ende. Die Zeit ist geprägt vom Festhalten an der Tradition, während Industrialisierung und beginnende Moderne die Klassenstruktur in den meisten europäischen Ländern ins Wanken bringt. Der Adel findet sich im Abstieg wieder, der alte Glanz ist dahin, aber die Hotels werden aber immer noch im verspielten luxuriösen Jugendstil gebaut.


Andersons Geschichte ist dabei so vielschichtig wie eine Babuschka. Sie spielt in der fiktiven Republik Zubrówka und beginnt in der Gegenwart: Ein junges Mädchen steht vor dem Denkmal eines berühmten Schriftstellers und beginnt in einem Kapitel zu lesen. Flashback: der zitierte Schriftsteller (Tom Wilkinson) erzählt dem Zuschauer etwas über seine Schreibblockade, während ihn ein ungezogener Junge mit einer Wasserpistole attackiert. Flashback: der Schriftsteller als junger Mann (Jude Law) – er ist im Grand Budapest Hotel abgestiegen und lernt dort einen älteren Gast kennen. Zéro Moustafa (F. Murray Abraham), der sich bald als Besitzer des Hotels entpuppt, erzählt von seiner Zeit als Lehrling im Grand Budapest Hotel und seiner Begegnung mit dem charismatischem Concierge Monsieur Gustave H. (Ralph Fiennes). Flashback ins Jahr 1932: die zentrale Geschichte beginnt und sie erzählt von der merkwürdigen Freundschaft zwischen dem polyglotten Monsieur H. und dem sehr schweigsamen Zéro (Tony Revolori) am Vorabend des Zweiten Weltkriegs.
H., der keinen Hehl daraus macht, auch mit Greisinnen sexuell zu verkehren, ist ein erstklassiger Charmeur, den eine extrovertierte und leicht zwanghaft-hyperaktive Aura umgibt. Als H. vom geheimnisvollen Tod seiner Liebhaberin Madame D. (Tilda Swinton) erfährt, reist er mit Zéro in deren Schloss, um bei der Testamentseröffnung zu erfahren, dass ihm ein sagenhaft wertvolles Gemälde von der Verstorbenen vermacht wurde: der „Jüngling mit Apfel“. Monsieur H. und Zéro, der sich zuvor unsterblich in das Zimmermädchen Agatha (Saoirse Ronan) verliebt hat, befinden sich plötzlich einer gewaltigen Erbschleicherintrige wieder, in der auch bald das wirklich letzte Testament der Madame D. eine entscheidende Rolle spielen wird. Verfolgungsjagden, finstere Killer, Gefängnishaft und Ausbruch: Anderson zieht alle Register, um das Chaos zu maximieren.


Bereits in „Moonrise Kingdom“ war das Starensenbleme beachtlich. In „Grand Budapest Hotel“ legt Wes Anderson noch eine Schippe drauf und gönnt seinen prominenten Akteuren nicht gerade selten nur wenige Minuten. Aber natürlich wollten alle (wieder einmal und trotzdem) dabei sein: Adrien Brody als schmieriger Erbe, Willem Dafoe als übel gelaunter Killer, Jeff Goldblum als Rechtsanwalt, Harvey Keitel als Ganove und Ausbruchsexperte, Edward Norton als höflicher Inspektor, Bill Murray, Owen Wilson, Jason Schwartzman und so weiter und so fort...

Und um was geht es dabei? Um das, was beständig ist im Chaos: zuallererst um gute Umgangsformen, zu denen offenbar auch gewagte sexuelle Präferenzen gehören, um Liebe und Freundschaft, worüber nicht lange geredet wird. Dann um Marotten der Figuren, die Kleinigkeiten aufbauschen und Lebensgefährliches als nebensächlich erscheinen lassen, um die Absurdität und den tiefen Ernst von Heroismus, der die Helden Unglaubliches überleben und große Dinge vollbringen lässt, während scheinbar Lächerliches sie das Leben kostet.


Tiefseetaucher und phantastische Füchse

Andersons Helden sind immer ein wenig depressiv. Mehr oder weniger. Wer nicht depressiv ist, der ist wenigstens obsessiv. In „Rushmore“ (1998) bemüht sich der 15-jährige Max mit geradezu absurder Konsequenz darum, die Liebe seiner deutlich älteren Lehrerin zu gewinnen, die sich aber für den ständig deprimierten Bill Murray entscheidet. „The Royal Tenenbaums“ (2001) erzählt die Geschichte einer Familie, in der beinahe jeder zwanghaft oder neurotisch ist. Der Film wurde als witzig und traurig beschrieben, was Andersons Filmographie messerscharf auf den Punkt bringt, obwohl es sprachlich ein dämlicher Gemeinplatz ist.

Honoriert wurden Andersons Filme von der Kritik zunächst nicht. Heute jubeln die meisten, die vor zehn Jahren noch Verrisse schrieben. An Wes Anderson muss man sich gewöhnen, das kann schon mal dauern. „The Life Aquatic with Steve Zissou“ (Der Tiefseetaucher, 2004) wurde vereinzelt als Klamauk aufgenommen, „Darjeeling Limited“ (2007) erntete bereits mehr Anerkennung als spirituelle Reise in eine absurde und skurrile Welt. Sie sei „vom typischen Wes Anderson-Stil“ geprägt, schrieb man. Den Animationsfilm „Fantastic Mr. Fox“ (2009) nannte Kritikerzar Roger Ebert dann sogar „excellent“, obwohl sich der titelgebende Fuchs in einer veritablen existenziellen Krise als Familienvater und Hühnerdieb befand und zunächst einmal herausfinden musste, was seine Natur ist. 

Abgesehen davon, dass der schlaue Fuchs dafür sorgte, dass fortan alle Wes Anderson-Filme bei uns im Club zu einem Riesenerfolg wurden, schien sich auch die schreibende Zunft für den tollen Ensemblefilm „Moonrise Kingdom“ (2012) zu erwärmen, der von sehr erwachsenen Kindern und sehr infantilen Erwachsenen erzählte, zumindest eine der schönsten Liebesszenen aller Zeiten enthielt und dazu noch mit einem tollen Score punktete. Und wenn man dann 94% bei Rotten Tomatoes erhält und es auch an der Kasse klingeln lässt, ist man wohl endlich im Kino angekommen.
Nun also „Grand Budapest Hotel“, mit dem Anderson bei einem Budget von $ 31 Mio. sage und schreibe über 172 Mio. US-Dollar einspielte.

Das überrascht. Es geht in „Grand Budapest Hotel“ eigentlich die meiste Zeit um Traurigkeit, obwohl man in Andersons Films ständig lachen muss. Und es geht am Ende um den Faschismus, der Europa verfinstert, und die Erbarmungslosigkeit der Geschichte, die über alles hinwegwalzt, was für die Ewigkeit gedacht war. Das ist eine Menge Traurigkeit für eine Komödie. Und wenn der Film am Ende wieder in die Gegenwart zurückkehrt, dann wird es das alte Hotel noch geben und seine Geschichten, aber gäbe es die Geschichtenerzähler nicht, dann wären auch die Geschichten vergessen.
Das ist alles. Der Rest ist Stil.


Der Stil

Es ist völlig unverständlich, dass einem Wes Andersons Filme Spaß machen können, ohne dass man seinen Stil analysiert. An sich müsste man während des Zusehens ununterbrochen nachdenken, vielleicht sogar auf die Pause-Taste drücken oder zurückspulen, um herauszufinden, wie er das gemacht hat und warum er in "Grand Budapest Hotel" immer wieder das Seitenverhältnis (aspect ratio) ändert und teilweise sogar im klassischen 4:3 landet. Vielleicht sollte man auch einen langen Spaziergang machen, dann zurückkehren und sich die nächste Viertelstunde anschauen. Und so weiter.
So funktioniert das aber nicht. Als wir gemeinsam „Grand Budapest Hotel“ anschauten, waren alle begeistert und niemand hat sich die Frage gestellt, warum dies eigentlich der Fall ist. An der Geschichte allein kann es nicht liegen, soviel war klar. 

Aber im Prinzip funktioniert die Frage nach dem Stil ähnlich wie die Rolle der Philosophie im alltäglichen Leben. Man braucht sie nicht, auch wenn es nicht schaden kann, sich gelegentlich geordnete Gedanken über einige Sachen zu machen. 99% Prozent der Menschen werden vermutlich nie eine Zeile von Heidegger gelesen haben, obwohl der eine Menge über Sein, Zeit, Existenz und den allgegenwärtigen Tod in Erfahrung gebracht hat.
Wes Anderson macht dies auf seine Weise. „Grand Budapest Hotel“ zeigt sehr viel komisches Sein, die Bilder des Films haben eine verschachtelte Zeitstruktur, ohne die der Film nur halb soviel wert wäre. Was der Kern ihrer Existenz ist, fragen sich Andersons Figuren sowieso pausenlos und gestorben wird in seinen Filmen oft, in „Grand Budapest Hotel“ überleben nur die wenigsten. Aber was ist denn nun so komisch in Andersons Filmen, die in der Regel in der Rubrik Tragikomödie landen? Wenn es Elemente gibt, die zum typischen Anderson-Stil gehören, dann sind folgende hervorzuheben: Kadrierung, Geometrie, Pathos und Heroismus.

Da ist zunächst die Gestaltung der filmischen Einstellungen, deren strenge Geometrie oft an ein tableau vivant erinnern. Früher, im 18. Und 19. Jh., posierten Darsteller bewegungslos und wie eingefroren, um berühmte Szenen nachzustellen, zum Beispiel Figurenensembles aus berühmten Gemälden. Heute machen dies nur noch Straßenkünstler, die sich als Denkmal ausstaffieren und bewegungslos in der Gegend herumstehen. Nun wird im Film nichts ‚eingefroren’, jedenfalls nicht auf den ersten Blick, aber Anderson arrangiert häufig seine Figuren auf eine erkennbar stilisierte Art und Weise, die sehr an tableaux vivants erinnern. Drückt man daheim auf die Pausetaste seines Players, kann man diese Arrangements genau anschauen.

Das Artifizielle in Andersons Bildsprache wird auch durch geometrische Stilmittel charakterisiert, zum Beispiel durch die Kameraposition. Hier lässt Anderson seine Figuren in der Regel exakt im rechten Winkel zum Hintergrund aufnehmen. Wer als Hobbyfotograf mal etwas über den berühmten Goldenen Schnitt gelesen hat, wird merken, dass Anderson dieses Gestaltungsprinzip einfach ignoriert, indem er seine Figuren in der Bildmitte positioniert.

Wer mehr darüber erfahren möchte, sollte David Bordwells Aufsatz „Wes Anderson takes the 4:3 challenge“ lesen. Bordwell analysiert den „planimetric style“ Andersons mit sehr vielen Bildern, darunter auch Beispiele anderer Regisseure. Da ich aus urheberrechtlichen Gründen keine Bilder veröffentliche, sind meine Mittel eingeschränkt und ich habe auch keine Lust, Bordwells akribische Arbeit zusammenzufassen, die man unbedingt im Original lesen sollte.
Nur eins: Bordwell erklärt zum einen, dass die Figuren in Andersons Filmen aus der Kadrage heraus oft den Zuschauer anschauen (erst recht, wenn Gegenschüsse im 180 Grad-Winkel genau auf der Handlungs- und Blickachse liegen), zum anderen erkennt er darin häufig eine Ästhetik, die an Kinderbücher oder auch Kindheitsträume erinnert.

Natürlich wirkt die Geometrie in Andersons Films häufig auch dann sehr komisch, wenn in einer unbewegten Totale die Figuren von links nach rechts durchs Bild rennen und anschließend erneut auf der linken Seite auftauchen. Anderson hat hier sehr viel aus den klassischen Stummfilmen Buster Keatons übernommen, zitiert aber auch gerne Slapstick-Gags wie man sie von den chaotischen Keystone Cops kennt.

Wichtig erscheint mir, dass Anderson die Wahl der Einstellungsgröße und das Arrangieren von Objekten und Personen im gewählten Bildausschnitt nicht nur mit seinen tableaux vivants ganz bewusst hervorhebt. Damit ‚verstößt’ er gegen ein Stilprinzip des klassischen Hollywood-Films, nämlich die Continuity. Das Erhalten der bruchlosen Filmillusion war im klassischen Hollywood der 1930er – 1940er Jahre immer darauf bedacht, die eigenen formalen Mittel unsichtbar zu machen. Anderson macht sie sichtbar und man fragt sich deshalb immer wieder, was eigentlich im Raum jenseits dieser sorgfältigen Bildkompositionen passiert.


Pathos und Heroismus

Ich denke, dass Andersons Stil zwei Ziele verfolgt: zum einen haben seine Filme einen unverwechselbaren Touch, man erkennt sofort, dass man in einem Anderson-Film ist. Zum anderen lösen die ästhetischen Mittel einen Verfremdungseffekt aus, der allerdings nicht wie bei Brecht dem Erkenntnisgewinn dienen soll, sondern für einen absurden Grundton sorgt. 
Andersons Filme haben keine realistische Intention, sie sind trotz der Neurotizismen in seinem Personenpark auch nicht psychologisch. Sie stellen vielmehr die Figuren in eine Kunstwelt, in der ihre Marotten und Beschädigungen gleichzeitig ihre unveräußerlichen Stärken sind. In dieser Welt, in der dank der Ästhetik Andersons visuell alles seine Ordnung hat, sind die ‚ordentlich’ fotografierten Bilder allerdings nicht stabil genug, um nicht von den Zwängen und Obsessionen der Figuren ständig hintergangen zu werden. Für Andersons Helden sind die Marotten halt oft das einzige Mittel, um die eigene Identität zusammenzuhalten und dabei einigermaßen über die Runden zu kommen.

Beobachten lässt sich dies sehr gut an folgendem Erzählkniff Andersons: Seine Figuren kämpfen häufig sehr emotional um vermeintliche Nebensächlichkeiten, etwa wenn in „Grand Budapest Hotel“ Monsieur Gustave H. seinen neuen „Lobby Boy“ dadurch initiiert, dass er mit ihm durch das Hotel marschiert und pausenlos auf ihn einredet. In einem langen Monolog macht er dem Kandidaten klar , dass ihn so gut wie nichts für diese außergewöhnlich anspruchsvolle Aufgabe qualifiziert. Null Ahnung, klar dass er fortan „Zéro“ heißt. Das ist alles sehr pathetisch, in seiner Rigidität schon ziemlich absurd. Natürlich behält „Zero“ seinen Job.

Wenn später Gustave H. und Zéro auf einem Schlitten dem Bösewicht Jopling (Willem Dafor) in einer an den „Tanz der Vampire“ erinnernden rasenden Talfahrt hinterher jagen, sieht man unbewegte Gesichter. Beinahe immer, wenn der Gefahr oder Tod ante portas sind, fahren Andersons Helden die Emotionen herunter (kein Wunder, dass Bill Murray so häufig in seinen Filmen mitspielt), man zeigt „Haltung“. Beckett meets Buster Keaton. 
Pathos und Heroismus werden bei Anderson quasi auf den Kopf gestellt, das Marginale wird pathetisch aufgeblasen, im banalen Detail liegt anscheinend die wahre Bedeutung, während das Heldenhafte mit beinahe unbeteiligtem Gleichmut irgendwie und nebenbei erledigt wird. So werden die Macken von Andersons Figuren überlebensgroß und die Heldentaten zum Ausdruck eines beinahe gelangweilten Stoizismus. Und meistens sind die jeweiligen Aktionen fehl am Platze, sie sind grotesk, das Ergebnis absurder Zufälle und irgendwie schräg. 

Andersons Kosmos ist voller Nebenfiguren, die sich tiefernst und depressiv strengste Regeln auferlegen und oft bis zur Neurose einpflegen, während seine liebenswerten Helden sich kaum davon unterscheiden, aber mit ihren Handlungen unterstreichen, dass sie wenigstens Spaß dabei haben. Auch wenn die Welt um sie herum untergeht.

Das Publikum scheint Andersons Filme mittlerweile zu lieben. Das ist auch gut so, denn in einer Kinowelt, in der Remakes und Retro-Remakes angesagt sind und in der die meisten Filme vor grünen Hintergründen gedreht werden, weil man damit angeblich unglaubliche Dinge zeigen kann, die man aber tatsächlich schon x-mal gesehen hat, ist der strenge Stilist Wes Anderson ein Solitär: Er erzählt Geschichten, die man noch nie gesehen hat. Garantiert.


Noten: BigDoc, Klawer, Mr. Mendez, Melonie = 1