Mittwoch, 14. Dezember 2016

Der Absturz einer Erfolgsserie: „The Walking Dead“ im Sinkflug?

Die Ratings stürzen scheinbar ins Bodenlose, fast die Hälfte der Fans wendet sich ab und einige Journalisten folgen dem Trend und springen von dem Zug ab, der sich mit rasender Geschwindigkeit dem Abgrund nähert. „It’s done“, wüten nun ausgerechnet jene mit Häme, die noch vor einem Jahr gepflegt im komfortablen Zugabteil saßen und die postapokalyptische Aussicht genossen. Was ist passiert? Hat die 7. Staffel von „The Walking Dead“ eine unsichtbare Grenze überschritten?

Beim Staffelauftakt wurde ein Publikumsliebling mit ausgefeiltem Sadismus geschlachtet. Eine weitere, nicht ganz unwichtige Rolle, musste auch ihr Leben aushauchen. Es war wohl alles zu viel. Die Fans rebellierten, die Quoten fielen. Vielleicht gilt auch für TWD die alte Regel: Der Niedergang beginnt dann, wenn man den Höhepunkt erreicht hat. 


Die Zuschauerzahlen waren jahrelang gigantisch, der Zuspruch immens und die launigen Medien konnten sich nicht dem allgegenwärtigen Hype entziehen und feierten enthusiastisch „die beste Serie aller Zeiten“.
Doch dann geschieht etwas, was das fein ausbalancierte Verhältnis zwischen der Geschichte, den Figuren und ihren Fans abrupt beschädigt. Mit Glenn, dem liebenswerten Pizzaboten und kommenden Vater, wird eine Schlüsselfigur des TWD-Universums nicht einfach nur getötet, sondern bestialisch massakriert. Es war wie eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung.

Freitag, 2. Dezember 2016

Arrival

In Denis Villeneuves neuem Film sehen die Aliens wie Tintenfische aus. Außerdem machen sie ohrenbetäubende Geräusche. Das ist nicht gut, das macht Angst. Wenn im Kino Aliens mit Tentakeln auftauchen, gilt geshalb: Wegballern, danach auf dem Autopsie-Tisch nachschauen, wer das war. Auch die Fake-Aufnahmen aus Roswell zeigen schließlich keine lebenden, sondern tote Aliens. Mittlerweile glaubt ja auch Stephen Hawking, dass wir vorsichtig sein sollten. Denis Villeneuve zeigt uns eine völlig andere Begegnung der dritten Art. 

Es sind zwölf Schiffe. Sie hängen in der Luft wie nach oben weggeklappte Flyling Saucers. Weltraumzigarren, ganz schwarz, was auch gut zu den beinahe farblosen, grauen Bildern von Kameramann Bradford Young („A Most Violent Year“, „Pawn Sacrifice“) passt. Die sind trotz ihrer Tristesse sehr schön, wenn Nebel gezeigt wird, der wie weißes Wasser über die Bergkämme fließt und die schwarzen Zigarren einhüllt. Etwas strange, aber es ist unser Planet, nur hat er plötzlich Besuch bekommen.

Samstag, 19. November 2016

Show Me a Hero

In Yonkers nahe New York sollen 1987 insgesamt 200 Sozialwohnungen für zumeist farbige Bewohner aus dem berüchtigten Southwest gebaut werden. Ausgerechnet im Northeast, einem Stadtteil, in dem die Bewohner der weißen Mittelschicht angehören. Die Wutbürger gehen auf die Straße, es gibt Ausschreitungen. Die Politaffäre kostet den jungen Lokalpolitiker Nick Wasicsko nicht nur die Karriere als „jüngster Bürgermeister der USA“.

Er steht vor dem Spiegel und übt, was er sagen will: für die Medien, für den Stadtrat. Mal sachlich, mal teilnahmslos, dann enthusiastisch. Nick Wasicsko (Oscar Isaac) will als neuer Bürgermeister auch ein guter Politprofi sein. Dabei ist der junge Mann mit dem kurzen Schnauzbart eigentlich der nice guy von nebenan, der mit gerne mit seiner Freundin Nay (Carla Quevedo) knuddelt und sich ein altes Haus auf dem Berg wünscht. Von hier aus könne sie, sagt er, abends das Licht in seinem Büro sehen. Einige Wochen später wird er Todesdrohungen von besorgten Bürgern erhalten. Die schillernde Seifenblase ist geplatzt.

Montag, 14. November 2016

Dr. Strange

Wow, sagt man sich im Kino, das ist doch Magie, wenn die Häuser einer ganzen Straße um 90 Grad umgeklappt werden und die Superhelden plötzlich, statt zu klettern, auf den Hauswänden laufen, während sich die Fenster in irrwitzigem Tempo um die eigene Achse drehen. Und auch Benedict Cumberbatch hat bei seinem ersten Auftritt als Dr. Strange einige magische Momente. Leider fällt das Storytelling bei so viel Bombast dann doch etwas mager aus. „Dr. Strange“ ist kein schlechter Film geworden, aber eher Disney als Marvel.

Scott Derrickson ist bislang mit Horromätzchen wie „Deliver Us from Evil“ (Erlöse uns von dem Bösen, 2014), „Sinister“ (2012) oder misslungenen Remakes (
The Day the Earth stood still“, 2009) aufgefallen – Genreprodukten, deren Markenkern eine penetrante Unoriginalität war. Derrickson Qualitäten bestanden bislang darin, Bekanntes unerbittlich zu wiederholen und sich streng an den Kanon etablierter Genreregeln zu halten. Dass ausgerechnet einem Handwerker des Uninspirierten der 14. Film des Marvel Cinematic Universe (MCU) anvertraut wurde, verblüfft doch einigermaßen.

Dienstag, 8. November 2016

Eye in the Sky

„Eye in the Sky“ gehört zu den Filmen, die bemerkenswert sind und trotzdem nicht in den Kinos landen. In Deutschland kann der britische Militär-Thriller ab Oktober auf DVD und Bluray gesehen werden – eine Direct-to-DVD-Produktion, die facettenreicher ist als die heftig diskutierte TV-Adaption von Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Terror“. Gavin Hood verhandelt in seinem Film kein abstraktes  moralisches Dilemma, sondern handfeste Fakten: weltweit kommen beim militärischen Einsatz von Drohnen Tausende unbeteiligter Zivilisten um.

In „Terror“ ging es um die moralische No-Win-Situation eines Bundeswehr-Piloten, der ein von Terroristen entführtes Flugzeug voller Zivilisten abschoss, bevor es in ein mit 70.000 Zuschauern gefülltes Stadion gelenkt werden konnte. Was immer der Pilot tut: es sterben Menschen. Und er muss seine Entscheidung allein treffen.

In „Eye in the Sky“ jagt Colonel Katherine Powell (Hellen Mirren) eine Gruppe somalischer Al-Shabaab-Terroristen, die sich in einem Safe House in Nairobi getroffen hat. Als klar wird, dass die Gruppe unmittelbar vor der Ausführung eines Sprengstoff-Attentats steht, drängt Powell darauf, die Attentäter mit einer Reaper-Drohne auszuschalten. Auch in Hoods Film wissen alle, dass dabei unschuldige Menschen sterben werden. Doch anders als in „Terror“ wird dies von Software-Experten in Prozenten berechnet. Kollateralschaden von 65%: nicht gut. 45%: vertretbar. Am Ende entscheidet in Gavin Hoods Film der, der für die richtigen Zahlen sorgt.

Mittwoch, 2. November 2016

Experimenter – Die Stanley Milgram Story

Irgendwann hören die Schreie auf. Der „Lehrer“ blickt den Versuchsleiter an und bittet verzweifelt, man möge den Versuch abbrechen oder wenigstens nach dem gepeinigten „Schüler“ schauen. Der Versuchsleiter bleibt ruhig: “Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!“ Und die meisten machen weiter. Sie „bestrafen“ den Schüler weiterhin mit Stromstößen, auch wenn die Intensität bereits im bedrohlichen Bereich angekommen ist. Sie gehorchen. Befehl ist Befehl.

Das 1961 durchgeführte „Milgram-Experiment“ gehört zu den verstörendsten Experimenten der Sozialpsychologie. Michael Almereyda zeichnet den Laborversuch in seinem kaum weniger verstörenden und betont unkonventionellen Film nach. Geändert hat sich in den letzten Jahrzehnten nur wenig. Die Ergebnisse ließen auch unter veränderten Versuchsbedingungen immer den gleichen Schluss zu: Menschen sind bereit, einem unmoralischen Befehl zu gehorchen, wenn sie ihn von einer Autorität erhalten – erst recht, wenn Befehlshaber die volle Verantwortung für die möglichen Folgen übernehmen. 
Das Erschreckende: es waren keine Sadisten und Psychopathen, die lustvoll quälten, auch keine devoten Untertanen, sondern völlig normale Bürger aus allen sozialen Schichten, die sich gehorsam unterwarfen und bereit waren, andere Menschen zu bestrafen und notfalls zu töten, falls die Autorität dies verlangte. Nicht etwa wie willfährige Automaten, nein, viele der „Lehrer“ weinten, bettelten und schrien. Und sie flehten den Versuchsleiter an, das grausame Geschehen zu beenden – aber sie machten trotzdem weiter. Die meisten jedenfalls.

Dienstag, 25. Oktober 2016

The Walking Dead: Zu viel des Guten?

Knapp 24 Stunden nach dem Auftakt der 7. Staffel von „The Walking“ analysierte das Medienanalyse-Unternehmen „Canvs“ die emotionalen Reaktionen der Zuschauer auf die erste Episode „The Day Will Come When You Won't Be". Innerhalb kurzer Zeit hatten die Zuschauer ca. 1,7 Mio. Tweets generiert, in denen der brutale Auftakt der Zombie-Serie diskutiert wurde. Die Zahlen sprechen dafür, dass die quälend sadistischen Szenen nicht bei allen Fans der Serie gut angekommen sind. 

Insgesamt zwei Drittel der Twitter-Beiträge fielen negativ aus. Über 22% der Nutzer nannten die Show „crazy“, über 14% äußerten ihr Missfallen, 7% waren aufgebracht und empört. Der Rest empfand Trauer, Hass, nicht wenige mussten weinen, was keineswegs eine bei Canvs häufig verwendete Kategorie ist.
TWD Co-Executive Producer Greg Nicotero reagierte in einem Interview mit „The Hollywood Reporter“ nicht sonderlich überrascht. „If you kill a character and nobody cares, that means we haven't done something to connect our people to the characters. It's a tribute to every actor on our show that has perished“, kommentierte Nicotero die Ankündigung einiger Zuschauer, die Serie nicht länger sehen zu wollen.


Die Gründe liegen auf der Hand. „The Walking Dead“ hatte bereits in der Vergangenheit demonstriert, dass man die Tötung populärer Hauptfiguren als dramaturgische Waffe zu nutzen verstand: es war ein über die expliziten Splatter- und Gore-Effekte hinausgehendes Alleinstellungsmerkmal. Allerdings wich TWD diesmal nicht von
Robert Kirkmans Comic-Vorlage ab, sondern setzte seine Programmatik 1:1 um. In der postapokalyptischen Geschichte kann keine Figur sicher sein, den nächsten Tag zu überleben.

Donnerstag, 6. Oktober 2016

Brooklyn - Eine Liebe zwischen zwei Welten

Das Melodram ist per se das gefühlvollste Genre im Kino. Vermutlich auch das stilvollste. John Crowley erzählt in „Brooklyn“ die Geschichte einer jungen Irin, die in den 1950er Jahren aus Irland in die USA auswandert. Ein Film mit ausdrucksstarken Bildern, der konsequent auf jene Sentimentalität verzichtet, die aus einem emotionalen Film peinlichen Kitsch macht. Stattdessen beobachtet er seine Hauptfigur mit überwältigender Genauigkeit.

Saoirse Ronan ist Eilis Lacey. Immer wieder nähert sich die Kamera von Yves Bélanger („Dallas Buyers Club“) der jungen Frau, die an der Reling des Schiffes steht und der neuen Heimat entgegensieht. Eilis’ Mimik drückt nachdenkliche Neugier aus, aber auch eine Verletzlichkeit, die zeigt, dass da jemand ein Wagnis eingeht, der genau weiß, was zurückgeblieben ist. Das sind die Mutter und ihre Schwester Rose.
Für Ellis selbst gab es keine Zukunft mehr in dem kleinen Nest im Südosten Irlands. Also hat sie eingewilligt, als der katholische Priester Father Flood (Jim Broadbent) auf Bitten von Rose die Überfahrt nach New York arrangierte. Und wie bei allen Immigranten, die in mehreren Wellen aus Europa nach Amerika gekommen sind, kommt auch bei Eilis das Prinzip Hoffnung ohne jegliche Kenntnis von dem zurecht, was in der neuen Heimat zu erwarten ist. 

Der irische Regisseur Jim Sheridan hat die Konfrontation mit der Realität härter erzählt. „In America“ (2002) spielt im irischen Stadtteil „Hell’s Kitchen“ und erinnert an den sozialen Niedergang der irischen Einwanderer, die Gangkriminalität und die Gewalt. Sheridans Geschichte einer verzweifelten und illegal eingewanderten Familie ist realistisch. „Brooklyn“ ist auch eine Migrationsgeschichte, aber eine ohne politischen Subtext.


Dienstag, 27. September 2016

The Path

Für das Streaming-Portal Hulu ist „The Path“ nach der exzellenten Stephen King-Adaption „11/22/63“ das zweite eigene Drama-Produkt, das in diesem Jahr für erhebliche Schlagzeilen sorgte. Zu Recht. Die sorgfältig erzählte Serie über eine Sekte glänzt mit exzellenten Darstellern, vermeidet stereotype Erzählmuster und durchkreuzt damit wohl auch die Erwartungen der Zuschauer.

Es könnte Soap oder eine beliebige Telenovela sein: ein knapp 40-jähriger Angestellter verliert nach einer umfangreichen Schulung im Ausland den Glauben an die Corporate Identity seines Unternehmens – er entdeckt, dass der legendäre Firmengründer sterbend auf der Intensivstation liegt. 
Seiner Frau, die im mittleren Management des Unternehmens arbeitet, entgeht nicht, dass sich ihr Mann nach seiner Rückkehr regelmäßig mit einer Anderen trifft: ein Fall von Ehebruch? 
Ihr gemeinsamer Sohn soll nach der Schulausbildung ebenfalls in das expandierende Unternehmen eintreten – er lernt aber ein attraktives Mädchen kennen. Und die arbeitet für die Konkurrenz. 
Endgültig kompliziert wird die Sache dadurch, dass der charismatische Regionalchef des Unternehmens einen Machtkampf voller Intrigen anzettelt – er weiß, dass der große Boss bald abtritt und versucht nun, die Führungsrolle als CEO zu übernehmen. Schlimm nur, dass er auch in die Frau der Hauptfigur verliebt ist, dort aber nicht landen kann und auf ziemlich verklemmte Weise seine sexuellen Bedürfnisse bei einer jungen Angestellten befriedigt, die ihrerseits sexuell ziemlich manipulativ ist.
Muss man das sehen?

Montag, 12. September 2016

Stanislaw Lem und ‚seine‘ Filme

Essay und Annotationen zu „Solaris“

Vor 95 Jahren wurde der Philosoph und Schriftsteller Stanislaw Lem am 12. September im polnischen Lemberg geboren. Vielen ist Lem nur als Science Fiction-Autor bekannt, Lem sah sich in späteren Jahren nicht so, 1987 erschien sein letzter Roman. Allerdings nutzte er Fiction als Vehikel, um philosophische Fragen als Gegenstand empirischer Science zu diskutieren. „Solaris“ ist sein bekanntester SF-Roman. Welchen Nachhall dieses Buch hat, zeigen neben Hörspielen, Bühnenfassungen und sogar Opern auch die Verfilmungen: insgesamt dreimal wurde die Geschichte adaptiert, einmal für das russische Fernsehen, zweimal fürs Kino, und zwar von Andrej Tarkowski und Steven Soderbergh. Grund genug, um sich diese beiden Filme (die Lem übrigens verwarf) noch einmal gründlich anzusehen.
 

Solaris – das Buch

In seinen non-fiktionalen Büchern tauchten statt Kant und Hegel vielmehr Kybernetik, Informations- und Wahrscheinlichkeitstheorie auf. Auch als fiktionaler Autor blieb Lem Wissenschaftler. Auch in „Solaris“ ist das so, in anderen Büchern sogar noch prägnanter. Auf Steven Soderberghs gleichnamige Verfilmung reagierte er empört. Er schaute sich den Film nicht vollständig an.
 „Alles Interessante an meinem Roman bezog sich auf das Verhältnis der Menschen zu diesem Ozean als einer nicht-humanoiden Intelligenz – nicht auf irgendwelche zwischenmenschlichen Liebesgeschichten. Na, wenigstens haben sie mir ein anständiges Schmerzensgeld gezahlt.“

Da hatte er wohl Recht. Aber eben nicht ganz. Die Liebesgeschichte hat Lem in seiner Geschichte selbst platziert, für den Skeptiker und Pessimisten war sie wohl die beste Möglichkeit, die emotionalen, moralischen und wissenschaftlichen Grenzsituationen, in die seine Figuren geraten, plausibel vor Augen zu führen. Dass sich seine cineastischen Nachahmer keineswegs wie Adepten aufführten, sondern den Stoff für ihre Zwecke überwältigten, ist kaum eine Überraschung – die Textur von „Solaris“ war und ist bis heute einfach zu verführerisch, die epistemischen Fragestellungen sind so unsterblich wie der Planet Solaris. Was die Solaris-Verfilmungen anders gemacht haben, ist eines der Ziele dieser Untersuchung. Eine möglichst genaue Inhaltsangabe des Romans ist daher conditio sine qua non für einen kritischen Abgleich.


Der Psychologe Kris Kelvin fliegt zum Planeten „Solaris“, um einige Ungereimtheiten auf der wissenschaftlichen Raumstation zu überprüfen. Nach seinem Eintreffen erfährt er, dass sich sein Freund Gibarian unmittelbar vor seiner Ankunft das Leben genommen hat. Kelvin trifft nur noch den skurrilen Kybernetiker Snaut an, der abweisende Physiker Sartorius schließt sich meistens in seinem Labor ein. Nach kurzer Zeit stellt Kelvin fest, dass Gibarjan, Snaut und Sartorius Besuch von „Gästen“ bekommen haben. Der Gast des toten Gibarjan, eine fettleibige Schwarze, schlurft immer noch durch die Gänge. Über Snauts Nemesis erfährt man so gut wie nichts und Sartorius scheint ein Strohhut zu quälen. 

Dass alle Menschen auf der Station sich in der Begegnung mit den „Gästen“ mit Schuldgefühlen auseinandersetzen müssen, wie vielfach in der Lem-Rezeption behauptet wird und was auch bei der Analyse der Verfilmungen meist unwidersprochen unterstellt wird, ist im Text nicht zweifelsfrei zu erkennen. Lem hüllt sich in dieser Sache in Schweigen. 


Mittwoch, 24. August 2016

Trumbo

„Trumbo“ ist ein Film über den Ungeist einer Epoche, in der Menschen wegen ihrer politischen Gesinnung ihre Existenz verloren oder ins Gefängnis mussten. Regisseur Jay Roach erzählt mit dem Handwerkszeug der Komödie vom listenreichen Widerstand eines Mannes, den das System ausgespuckt hat und der sich durch die Hintertür wieder einschleicht. Es gibt bessere Filme über die McCarthy-Ära, aber „Trumbo“ ist keine Geschichtsklitterung und daher sehenswert.

Bryan Cranston für die Rolle des Dalton Trumbo zu casten, war ein gelungener Schachzug. Dem „Breaking Bad“-Star folgt die Aura des moralisch Ambivalenten quasi auf dem Fuße. In Jay Roachs Film wird dieses Versprechen aber nicht restlos eingelöst, denn Cranstons Darstellung des berühmten Drehbuchautors Dalton Trumbo (
Papillon“) ist weitgehend widerspruchsfrei und gradlinig. So will es das Script über den Scriptwriter. Das entspricht zwar nicht immer ganz den Fakten, ist aber politisch korrekt. Und zwar in dem Sinne, dass die Erinnerung an eine Ära der politischen Verfolgung durch Filme wie „Trumbo“ nicht verloren geht. Hängt man die Latte also so niedrig auf, dann ist „Trumbo“ eine ordentliche Einführungs-Lektion in die Geschichte der politischen Verfolgung in einem demokratisch verfassten Land. Das bedeutet aber nicht, dass „Trumbo“ ein politischer Film geworden ist.

Dienstag, 16. August 2016

The Eichmann Show (Der Fall Eichmann)

In Deutschland wurde die britische TV-Produktion „The Eichmann Show“ unter dem Verleihtitel „Der Fall Eichmann“ vertrieben. Erzählt wird allerdings die Entstehungsgeschichte einer TV-Dokumentation über den Prozess gegen Adolf Eichmann. Der Verleihtitel trifft also nicht den ganz den Kern, will wohl aber die semantischen Unschärfen vermeiden, die Begriff „Show“ auslöst. Und der kann sowohl eine ‚übertriebene Selbstdarstellung’ als auch eine Aufführung oder ein TV-Format meinen. Beides spielt in Paul Andrew Williams Film eine wichtige Rolle.

Am 11. April 1961 begann in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann. Angeklagt wurde der ehemaligen SS-Obersturmbannführer nach geltendem Völkerrecht wegen seiner „Verbrechen gegen die Menschheit“. Eichmann war als Referatsleiter im deutschen Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zuständig für die Deportation von ca. sechs Millionen Juden, aber auch Sinti und Roma, und damit auch mitverantwortlich für deren massenhafte Ermordung in den Vernichtungslagern. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs gelang es dem 1906 in Solingen geborenen Eichmann in Deutschland und Österreich unterzutauchen, ehe er sich mit Hilfe des Vatikans 1950 über die sogenannte „Rattenlinie“ nach Südamerika absetzen konnte. 1960 wurde Eichmann nach abenteuerlicher Vorgeschichte vom israelischen Mossad aus Argentinien entführt und nach Israel gebracht. Dort wurde er zum Tode verurteilt und am 1. Juni 1962 gehängt.


Dienstag, 9. August 2016

Die Schüler der Madame Anne

Was mit einem pädagogischen Experiment für prekäre Schüler beginnt, endet mit einem grandiosen Erfolg: Die Schüler eines französischen Gymnasiums, allesamt auf dem Weg zum Bildungsverlierer, gewinnen den 1. Preis in einem Schulwettbewerb. Das Thema: Holocaust. Und alle Kids, die glaubten, nichts dazu sagen zu können, stellen fest, dass sie eine Menge berichten können.

Engagierter Trainer übernimmt ein Sportteam voller Loser, impft den Widerspenstigen nach vielen Mühen endlich Courage ein und macht sie zu Siegern.
Das ist die Erfolgsformel vieler US-Sportfilme, zuletzt hat es Niki Caro in „City of McFarland“ (2015) mit ihrem Hauptdarsteller Kevin Costner erstaunlich überzeugend vorgeführt. Und genauso funktioniert auch „Die Schüler der Madame Anne“ über weite Strecken. In dem Film der Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar (
„Willkommen in der Bretagne“, 2012) steht die Lehrerin Anne Guegen (Arian Ascaride) an vorderster Front. Ihre neue 11. Klasse steht zwei Jahre vor dem Abitur, präsentiert sich aber überwiegend desinteressiert und gehört zu den schwächsten des Leon Blum-Gymnasiums. Zerfallen in disparate Gruppen, mit Schülern aus unterschiedlichen Ethnien und Religionen, sind die Lustlosen nicht ansprechbar, hören Musik oder spielen mit dem Smartphone. Ausgerechnet diesen Verlierern aus einem Pariser Vorort schlägt die neue Klassenlehrerin vor, sich an einem nationalen Schulwettbewerb zu beteiligen. Das Thema lautet: "Les enfants et les adolescents dans le système concentrationnaire nazi" (Kinder und Jugendliche in den Konzentrationslagern der Nazis). Wie soll das gehen?

Samstag, 6. August 2016

Das große Geheimnis (Secrets of War)

Viele Filme für Kinder und Jugendliche tun auch Erwachsenen ganz gut. Die luxemburgische Co-Produktion „Secrets of War“ (Das große Geheimnis) erzählt Kindern ab 10 Jahren eine Geschichte aus dem von Nazis besetzten Holland. Nicht aus der Perspektive der Erwachsenen, sondern aus jener der Kinder. Großes Kino. Auch für Erwachsene.

An sich ist es ein idyllischer Sommer. Wir sind im Jahre 1943, in Holland. Der freche und abenteuerlustige Tuur (Maas Bronkhuyzen) und sein Freund Lambert (Joes Brauers) sind meistens draußen im Wald
unterwegs. Es gibt die üblichen Rangeleien mit älteren Jungs und Lambert greift zur Zwille. Der Schuss sitzt, die beiden Jungen können fliehen und suchen in einer weitläufigen Höhle Schutz. Dort kennen sie jeden Winkel.
Komisch sind in diesem Sommer nur die Männer in den grauen Uniformen, die ihnen gelegentlich den Weg versperren:
„Sperrgebiet!. Und Tuur kann auch nicht so richtig verstehen, warum ihm seine Eltern das Spielen in der Höhle verbieten. Und das ohne Erklärung. Sogar Tuurs Bruder scheint mehr zu wissen, sagt aber kein Wort. Und dann werden auch noch Erwachsene von den Männern in Grau in Autos gezerrt, sogar ein Priester ist darunter. Und während der Sonntagspredigt erinnert der Pfarrer an all die verschwundenen Menschen des Dorfes, die nicht vergessen werden dürfen. „Sie gehören zu uns!“ Tuur entgeht nicht, dass der Vater seines besten Freundes Lambert angewidert das Gesicht verzieht. Dabei ist der doch als Bürgermeister der Boss des Dorfes und müsste doch dagegen etwas unternehmen können.

Freitag, 22. Juli 2016

Serien für feuchte Sommertage - Teil 5

Platz 1: 11.22.63 (Der Anschlag) – Serie mit Kinolook


Kein Zweifel: Nicht nur der US-Markt wird mit Serien geflutet, die meisten Produkte landen meist ohne Verspätung auch im deutschen Pay TV und bei Video-on-Demand-Vermarktern. Im dem großen Gedränge die Perlen zu finden, ist nicht einfach. Mit der Adaption von Stephen Kings „11/22/63“ (dts. Der Anschlag) scheint Hulu aber der große Wurf gelungen zu sein: die 8-teilige Mini-Serie bietet neben einer gut erzählten Geschichte auch einen überwältigend tollen Look: „11.22.23“ sieht aus wie opulentes Kino und landet daher auch auf Platz 1 meiner fünfteiligen Rezension "Serien für feuchte Sommertage".

Wie lange der Serien-Boom anhält, kann niemand so richtig einschätzen, aber die US-Networks, das Cable TV oder VoD-Anbieter wie Hulu, die den Durchbruch noch nicht geschafft haben, suchen eigentlich immer händeringend nach Stoffen mit Alleinstellungssmerkmal. Da greift man gerne zum Bewährten und es darf auch ein Remake dabei sein. Mehr als zwei Dutzend Stephen King-Verfilmungen für Kino und TV sind derzeit in Arbeit. Unter anderem plant Cary Fukunaga („True Detective“, Season 1) eine Neuverfilmung des King-Klassikers „Es“.
Produziert wurde „11.22.23“ u.a. von J.J. Abrams Produktionsfirma Bad Robot Productions. Abrams, der auch als Executive Producer an der Umsetzung beteiligt war, holte mit Bridget Carpenter einen Partner für die Scriptentwicklung mit ins Boot. Carpenter ist im Wesentlichen auch Showrunner der Serie, die in Deutschland bei FOX und SKY zu sehen war.


Erzählt wird die Geschichte des High-School-Lehrers Jake Epping (James Franco, u.a. „The Interview“), der im Diner seines Freund Al Templeton (Chris Cooper) eine verblüffenden Entdeckung macht: der Burger-Bruzzler verbirgt in seinem Abstellraum ein Zeitportal und versucht Jake davon zu überzeugen, zurück in die Vergangenheit zu reisen, um dort am 22. November 1963 in Dallas das Attentat auf John F. Kennedy zu verhindern. 


Montag, 18. Juli 2016

Serien für feuchte Sommertage - Teil 4

Platz 2: Wayward Pines – atmosphärisch dicht und geheimnisvoll


Wer in Wayward Pines lebt, muss sich an drei Regeln halten: „Sprechen Sie nie über die Vergangenheit. Beantworten Sie stets das Telefon. Arbeiten Sie hart und seien Sie glücklich.“ Das verheißt nichts Gutes, besonders wegen der Sache mit dem Telefon.

„Wayward Pines“ ist die TV-Adaption der „Wayward Pines Trilogy“ von Blake Crouch, der in den Jahren 2012-2014 mit „Pines“, „Wayward“ und „The Last Town“ einen beachtlichen Erfolg im Mystery-Genre verbuchen konnte. Mit FOX sicherte sich ein großes Network die Rechte, und das bedeutete aufgrund der Zensurbestimmungen in den Staaten eine eher familien-kompatible Adaption (1).
Entwickelt wurde die TV-Serie von Chad Hodge und M. Night Shyamalan, dessen temporärer Karriereknick nicht nur durch „The Visit“ (2015), sondern eben auch durch „Wayward Pines“ beendet wurde. Neben Hodge und Shyamalan gehörte u.a. auch Blake Crouch zu den Exekutive Producern der Serie.

„Wayward Pines“ ist ein Genremix: Mystery, Science-Fiction, Dystopie. Also etwas „Twilight Zone“, eine Prise „Twin Peaks“, ein Schuss „Akte X“ und – wie bei den meisten dystopischen Stoffen – deutliche Referenzen zu Aldous Huxleys „Brave New World“, einem Buch, das mittlerweile in jeder Kino-Teenie-Dystopie kräftig ausgeweidet wird.

Samstag, 16. Juli 2016

Toni Erdmann

In Cannes jubelten die Kritiker, große Preise gab es zwar nicht, nur den FIPRESCI-Preis der Filmkritiker, aber die Verleihrechte an „Toni Erdmann“ wurden bereits in 55 Länder verkauft. Ist Maren Ades Film die Wiedergeburt eines „Neuen Deutschen Kinos“ oder eine Kostümklamotte, in der Fremdschämen zur Methode erklärt wird?

Die ersten Lacher im Kino gibt es bereits am Anfang. Winfried Conradi (Peter Simonischek) öffnet einem Paketzusteller die Tür und verwickelt den Ärmsten in ein umständliches Gespräch. Der wird, natürlich unter Zeitdruck stehend, immer nervöser. Aber sein Kunde ruft ins Haus hinein nach seinem Bruder, der sei der Empfänger, dann verschwindet er kurz und dann steht tatsächlich ein zotteliger Typ mit Überbiss vor dem ungeduldigen Zusteller und quittiert den Empfang mitsamt einem fetten Trinkgeld.
Natürlich gibt es den Bruder nicht. Winfried, der pensionierte Musiklehrer hat sich mit ein paar Requisiten passend verwandelt und hat einen Heidenspaß an der Sache. Das Gebiss, das ihn zum trotteligen Kauz macht, trägt Conradi in der Brusttasche seines Hemdes herum. Er schiebt es sich immer in den Mund, wenn es notwendig ist. Und das wird oft der Fall sein.


Donnerstag, 14. Juli 2016

Serien für feuchte Sommertage - Teil 3

Platz 3: „The Night Manager“ – Gut und Böse in elegantem Ambiente


Wie in einer Lieschen Müller-Phantasie verwandelt sich ein Nachtportier in einen gewieften Undercover-Agenten, um dem mächtigsten Waffenhändler der Welt das Handwerk zu legen. Wenn man als Night Manager aber so elegant aussieht wie Tom Hiddleston und der Gegenspieler Hugh Laurie wie in House ein ätzender, zynischer und unglaublich faszinierender Kotzbrocken ist, dann glaubt man dem Plot und taucht nur zu gerne ab in die Welt John le Carrés.

John le Carrés 1993 erschienenes Buch „The Night Manager“ gehört zum Spätwerk des Autors. Der Kalte Krieg als zentraler Erzähltopos in le Carrés Post-Cold-War-Büchern hat keine große Bedeutung mehr. Le Carrés Agenten müssen sich stattdessen um andere Feindbilder kümmern. Gefahr droht von Terroristen und Waffenhändler. Geblieben sind die korrupten und amoralischen Bürokraten, die in der britischen Regierung und beim Auslandsgeheimdienst MI6 längst mit den Schurken dieser Welt unter einer Decke stecken und ihre Agenten im Außeneinsatz skrupellos verraten, wenn es sein muss.

In der britisch-amerikanischen Miniserie (BBC, AMC) sind wir schnell mittendrin in der dunklen Welt John le Carrés. 2011, während des Arabischen Frühlings, werden dem Night Manager Jonathan Pine (Tom Hiddleston) in einem Hotel in Kairo Dokumente in die Hände gespielt, die auf eine Verbindung zwischen dem berüchtigten ägyptischen Hamid-Clan und Richard Onslow Roper (Hugh Laurie) hinweisen. Es geht um brisante Waffengeschäfte, und Roper, der sich öffentlich als Philanthrop gibt, ist global die Nr. 1 im dreckigen Geschäft. Pine leitet die Dokumente weiter, aber weder die britische Botschaft noch der MI6 haben Interesse an den Fakten. Stattdessen wird Roper gewarnt und wenig später ist Pines Quelle Sophie Alekan (Aure Atika), die Geliebte eines Clan-Mitglieds, tot. Pine, der eine kurze Affäre mit Sophie hatte, sinnt auf Rache, kann aber nur seine eigenen Spuren erfolgreich verwischen.


Mittwoch, 13. Juli 2016

Serien für feuchte Sommertage - Teil 2

Platz 4: „12 Monkeys“ – auf Dauer ermüdend


Die von Syfy produzierte Geschichte über die Paradoxien von Zeitreisen gehört zu den Serien, die man nur bedingt braucht. Das liegt aber weniger daran, dass die Showrunner Terry Matalas und Travis Fickett die Theoretische Physik über den Haufen rennen, sondern an der Hektik und der fehlenden Übersichtlichkeit des Narrativs. Besonders im letzten Drittel ermüden die Zeitsprünge, die Flashbacks und Erinnerungsfetzen nicht nur die Hauptfigur.

„12 Monkeys“ erzählt die Geschichte von James Cole (Aaron Stanford), der aus dem fernen 2043 von der Wissenschaftlerin Katarina Jones (Barbara Sukowa) mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit geschickt wird, um dort die fast völlige Auslöschung der Menschheit durch ein tödliches Virus zu verhindern. Die hat bereits stattgefunden und James Cole gehört zu den 7%, die sich als immun erwiesen haben. Die Korrektur der Zeitlinie ist allerdings komplizierter als es nach den ersten Erfolgen erscheint, denn die für Pandemie verantwortlichen Übeltäter sind Cole oft einen Schritt voraus. Der pendelt ergebnislos zwischen der postapokalyptischen Gesellschaft des Jahres 2043 und verschiedenen Dekaden des 20. Jh. hin und her. Er ist der Einzige, der als Jumper die Prozedur des Zeitsprungs überlebt. Zusammen mit der Virologin „Cassie“ Railly (Amanda Schull, u.a. „Suits“) muss Cole nicht nur das Geheimnis der „Armee der 12 Monkeys“ aufklären, sondern auch mit den persönlichen und emotionalen Verwerfungen klar kommen, die Zeitreisen offenbar mit sich bringen.

Serien für feuchte Sommertage - Teil 1

Unlängst schrieb ein Fan (offenbar unter Tränen), dass nur derjenige über seine Lieblingsserie XYZ schreiben dürfe, der sie so innig liebe wie er dies tue. Ich will nicht über kulturellen Paradigmenwandel schwafeln, möchte aber auch nicht, dass ein ganzer Berufsstand in den Mülleimer wandert. Also: Kritik ist eine auf nachvollziehbaren Argumenten basierende Beurteilung einer Sache, die auch Meinung sein darf. Der Literatur- und Filmkritiker ist von Natur aus also kein Spaßvernichter und erst recht kein Troll, und auch wenn ich nicht alle der nachfolgend rezensierten Serien liebe, so mag ich dennoch die eine oder andere. Ich begebe mich daher gerne auf eine abschüssige Bahn und kritisiere fünf Serien, die man abseits der großen Hits wie „Game of Thrones“ oder „House of Cards“ sehen muss – oder auch nicht.

Platz 5: „Fear The Walking Dead“ – ein flaues Spektakel


Vor einem Jahr stopfte das sechsteilige Spin-off mit erträglichen US-Quoten und durchwachsenen Kritiken nur mäßig das Sommerloch. Zu durchschnittlich waren die Figuren und auch der Plot konnte nur mit viel Geduld die TWD-Junkies bei Laune halten. Das Gute daran: man konnte sehen, was man am Original hat.
 

Für den Sommer 2016 spendierte AMC der Serie weitere 15 Episoden, die in zwei Hälften inklusive Midseason-Pause gezeigt werden. Eine dritte Staffel mit 16 Episoden wurde bereits in Auftrag gegeben. AMAZON streamte die zweite Season „Fear The Walking Dead“ in deutsch synchronisierter Fassung (und als Original) bereits 24 Stunden nach der US-Ausstrahlung. Im August geht es weiter.

Mehr ist oft weniger. Die Überlebenden der ersten Staffel befinden sich auf der „Abigail“, dem Schiff von Viktor Strand (Colman Domingo). Ziel ist das mexikanische Baja, wo Strand auf dem Anwesen seines Geliebten Thomas (Dougray Scott) einen sicheren Unterschlupf erhofft. Auf dem Weg in mexikanische Gefilde müssen sich die Überlebenden mit Piraten auseinandersetzen und an Land warten triste Begegnungen auf sie. In Baja werden die Familien um Travis Manawa (Cliff Curtis) und Daniel Salazar (Rubén Blades) dann mit einer unangenehme Überraschung konfrontiert. Und die ist keine.

Mittwoch, 8. Juni 2016

Mr. Holmes

Inmitten der super-virilen Sherlock Holmes-Adaptionen, die TV und Kino bevölkern, kommt Bill Condons Version wie eine Anti-These daher. In „Mr. Holmes spielt Ian McKellen den Meisterdetektivs als alten, dementen Mann. Allerdings ist Holmes noch nicht am Ende. Es gibt noch einen letzten Fall.

Ist ein Film vorstellbar, in dem James Bond als alterschwacher Mann gezeigt wird, der ohne Sessellift keine Treppe mehr bewältigen kann? Das wäre mit Sicherheit in vier Jahrzehnten eine schöne Altersrolle für Daniel Craig, der bereits in jungen Jahren die Nase voll hat von den physischen Belastungen des Agenten-Daseins vor der Kamera. In „Mr. Holmes“ vollzieht Bill Condon diesen Zeitsprung. Er zeigt den berühmten Sherlock Holmes als Tattergreis, hart am Rande der völligen Demenz. 

Mittwoch, 1. Juni 2016

Das brandneue Testament

Die für den Europäischen Filmpreis 2015 nominierte Komödie des belgischen Regisseurs Jaco Van Dormael lässt garantiert keine gotteslästerliche Pointe aus und ist doch ein spiritueller Film. Er hat nur eine Macke: Er nimmt die von den etablierten Kirchen realitätsverträglich entschärfte Bergpredigt ernst. Und siehe da: am Himmel tauchen Blümchenmuster auf und alle Menschen sind glücklich.

Gelegentlich befördert der Griff in den Filmfundus große Überraschungen ans Tageslicht. Und plötzlich hat man nach einem Kinoabend eine neue Nr. 1 in den persönlichen Charts des Jahres 2016. Das hat einen Grund: „Das brandneue Testament“ ist ein mitreißender Film.

Dienstag, 24. Mai 2016

Der Staat gegen Fritz Bauer

Die Geschichte Fitz Bauers ist mittlerweile ergiebig aufgearbeitet worden. In Giulio Ricciarellis „Im Labyrinth des Schweigens“ (2014) spielt Gerd Voss den Generalstaatsanwalt und Wegbereiter der Frankfurter Auschwitzprozesse als begleitende Nebenfigur. Sehenswert ist auch Ulrich Noethens Interpretation in „Die Akte General“ (Fernsehfilm, ARD 2016). In Lars Kraumes „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015) spielt Burghart Klaußner den kämpferischen Juristen. Klaußner gelingt es, jene Mischung aus Ruppigkeit und Ohnmacht zu verkörpern, die entsteht, wenn jemand gegen einen übermächtigen Apparat antritt. Der Filmtitel ist programmatisch zu verstehen.
Der Film liegt seit März auf DVD und Bluray vor.


Gleich zu Anfang liegt Fritz Bauer besinnungslos in einer überlaufenden Badewanne. Sein Leben verdankt er dem Zufall. Bauers Chauffeur sieht Wasser im Flur und zieht den Betäubten aus der Wanne. Auf dem Beckenrand: ein Glas Rotwein und eine Packung Schlaftabletten.
Lars Kraume wählt in seinem Film ein beklemmendes Bild, denn auf ähnliche Weise ist der reale Fritz Bauer 1968 tatsächlich zu Tode gekommen. Die einleitenden Bilder von „Der Staat gegen Fritz Bauer“ zeigen einen Mann am Rande seiner Kräfte. Das trifft den Kern.

Dienstag, 10. Mai 2016

Taxi Teheran

Iranische Filmemacher sind gefährlich. Besonders dann, wenn sie ihre Kamera auf die Wirklichkeit richten. Wirklichkeitstreue wollen die Herrschenden allerdings auch, nur meinen sie halt etwas ganz anderes damit: die ‚wirkliche’ Wirklichkeit, ihre Realität – und da muss alles positiv sein. ‚Zeigbare’ Filme sollen die Künstler drehen, keine Schwarz-Weiß-Malerei. Damit dies klappt, stellt man den Künstlern den passenden Wertekanon zur Verfügung.

Der iranische Regisseurs Jafa Panahi konnte bislang nichts mit einer Kino-Leitkultur anfangen. 2010 wurde er verhaftet. Sechs Jahre Gefängnis verhängte das Regime, 20 Jahre Berufsverbot gab es als Nachschlag. Filme dreht er weiter, heimlich. Er schmuggelt sie ins Ausland und wartet gleichzeitig auf das Urteil der Berufungsinstanz. Mit „Taxi Teheran“ gewann er 2015 in Berlin den Goldenen Bären.


Abstruses und Alltägliches

Ein grandioses Spektakel darf man nicht erwarten. „Taxi Teheran“ kommt nur langsam in Fahrt. Jafar Panahi spielt einen Taxifahrer, gleichzeitig aber auch sich selbst. Im Inneren des Fahrzeugs wurden Videokameras installiert, die mal die Fahrersicht auf die Straßen der iranischen Hauptstadt zeigen, meistens aber das Innere und damit die Fahrgäste, die Panahi befördert. Einer erkennt auch prompt den ‚Berufskollegen’ – es ist Omid, ein illegaler Videohändler, der seine Kunden nicht nur mit der brandneuen Staffel von „The Walking Dead“, sondern auch mit Komödien von Woody Allen beliefert. In einem repressiven System offenbar ein lukratives Geschäft.
In Panahis Auto können sich die Kunden ihre Mitfahrer nicht aussuchen, es wird diskutiert, geschritten und verhandelt. Eine Lehrerin lehnt die drakonische Strafverfolgung von Kleinkriminellen ab, ihr Gesprächspartner ist dagegen ein begeisterter Anhänger der Scharia, natürlich für die Todesstrafe und überhaupt generell für „Law and Order“, besonders dann, wenn Autoreifen geklaut werden. Er outet sich am Ende als Taschendieb. Das sei natürlich etwas völlig Anderes.

Sonntag, 1. Mai 2016

The First Avenger: Civil War - Superhelden im Clinch

Es gibt Arthouse-sozialisierte Filmkritiker, die gutes Geschichtenerzählen und Blockbuster in etwa so unvereinbar halten wie Materie und Antimaterie. Jeder Versuch der Koexistenz endet mit einer fürchterlichen Zerstörung. Im ersten Film der sogenannten Phase 3 des Marvel Cinematic Universe (MCU) kommt es zwar zu epochalen Entladungen, aber die Geschichte erweist sich als sehr belastbar: „The First Avenger: Civil War“ ist ein richtig guter Film geworden.

Das sehen einige natürlich anders. Wie der bekannte Filmkritiker Jan K., der in „Civil War“ nur eine große Dreschflegelei beobachtete. Warum die Superhelden sich da gegenseitig hauen? Keine Ahnung, dazu müsse man wohl einen Doktor in „Marvel“ haben. Man liest und versteht: der Mann hat sich nicht angestrengt.

Andere Kritiker, die (wie der Verfasser dieser Zeilen) zwei Dekaden lang die schäbige Erfahrung gemacht haben, dass man für Kritiken über Arthouse-Filme nicht einmal die Wochenmiete zusammenschreiben kann, genießen die Freiheit des Bloggens, weil ihnen kein Redakteur im Nacken sitzt, der gefühlt vor dreißig Jahren mahnend Beiträge ablehnt, weil ‚man über Comic-Verfilmungen nicht seriös schreiben kann.’
Wie schön! Da sitzt man nun unbelastet im Kino, darf schreiben was man will und fremdelt trotzdem mit den Szenen, in denen Iron Man den armen Captain America in einen Scyscraper wirft, der schwungvoll zusammenkracht, während der geschundene Freiheitskämpfer – natürlich unbeschadet – aus den Trümmer steigt, um seinerseits den ehemaligen Teamkollegen Mores zu lehren. Etwas langweilig ist das schon.


Pawn Sacrifice (Bauernopfer)

Der Anfang von Edward Zwicks „Pawn Sacrifice“ packt das ganze Drama in ein bekanntes Bild. Robert James Fischer, von seinen Fans auch salopp „Bobby“ genannt, nestelt an einem Telefonhörer herum. Wir schreiben das Jahr 1972, wir sind in Reykjavik, genauer gesagt am Anfang des legendären „Match of the Century“ zwischen dem russischen Schachweltmeister Boris Spassky und seinem amerikanischen Herausforderer „Bobby“ Fischer. Und der sucht Wanzen in seinem Telefon, fest davon überzeugt, dass ihn der KGB abhört. Oder vielleicht auch die CIA?

Cineasten kennen das Szenario aus „The Conversation“ (1974) und anderen Paranoia Movies der 1970er Jahre. Filme, in denen geschnüffelt, abgehört und belauscht wurde – oft mit tödlichen Folgen. In Francis Ford Coppolas Film ist es Gene Hackman, der am Ende auf der Suche nach Spyware seine Wohnung komplett demontiert. Der beängstigende Wahnsinn dieser Szene gehört zu den berühmtesten Bildmetaphern des Genrekinos. Auch Fischer scheint seine Gründe zu haben, aber sie sind von ähnlich ungesunder Natur. „Pawn Sacrifice“ findet dafür starke, lange nachhallende Bilder.

Für den nerdigen Teil der Kinogänger ist „Pawn Sacrifice“ eine rasante Tour de Force, die für
Schachenthusiasten einen Mythos zum Leben erweckt. Robert James Fischer gelang als Dreizehnjährigem die „Partie des Jahrhunderts" gegen Donald Byrne und wurde 1958 mit 14 Jahren zum ersten Mal US-Champion - der jüngste der Geschichte. Bis heute gilt er bei vielen passionierten Schachspielern als bester Spieler aller Zeiten. Und tatsächlich fegte „Bobby“ Fischer 1971 in den Kandidatenmatches (der Sieger wird legitimer Herausforderer des Weltmeisters) einen Gegner nach dem anderen aus dem Ring, egal, ob es der schwer zu schlagende Tigran Petrosjan war oder Bent Larsen, der unorthodoxe Däne. Der zart besaitete Mark Taimanov erholte sich nie wirklich von seiner vernichtenden 0-6-Niederlage gegen Fischer. Und dann das große Match gegen Spassky: Fischer verliert die erste Partie, tritt zu zweiten erst gar nicht an und sucht stattdessen nach Wanzen. 

Sonntag, 24. April 2016

Better Call Saul: Staffel 2 – ein Serien-Highlight!

„Better Call Saul“ ist nicht das Prequel von „Breaking Bad“. Irgendwie aber doch. In der zweiten Season ist dies noch klarer zu erkennen. Die erste Staffel war bereits brillant, nun folgte sogar ein Qualitätssprung. Dies konnte nur gelingen, weil beide Erzählungen wunderbar miteinander verbunden wurden: ein wenig „bad“, aber doch ganz neu. Die Showrunner Vince Gilligan und Peter Gould haben dabei ein autonomes Figurenuniversum geschaffen, das auch ohne Walter White klarkommt.

„Better Call Saul“ hat eine eigene, aber keine neue Handschrift. Erzähltechnisch knüpft die Serie an das große Vorbild an, einige Kunstgriffe wurden sogar verfeinert. Dass es diesen gemeinsamen Grundton gibt, ist gut, denn die beiden Showrunner gehören zum Besten, was der US-Serienmarkt zu bieten hat.

Synopsis für Einsteiger: In „Breaking Bad Bad“ wird der Aufstieg des krebskranken Chemielehrers Walter White (Bryan Cranston) vom harmlosen Familienvater zum mordenden Drogenbaron erzählt. Zusammen mit seinem Partner Jesse Pinkman (Aaron Paul) beliefert Walter White den Markt mit absolut reinem Crystal Meth. Bei der Geldwäsche und in kritischen Situationen helfen ihnen der gewiefte, halbkriminelle Anwalt Saul Goodman (Bob Odenkirk) und der Mann fürs Grobe, Mike Ehrmantraut (Jonathan Banks). Sauls und Mikes Vorgeschichten werden nun in „Better Call Saul“ erzählt. Goodman trägt dort noch seinen richtigen Namen: James Morgan
Jimmy McGill. Er hat sich vom Kleinganoven und Kanzleigehilfen zum Anwalt hochgearbeitet. Eine unerwartete Entwicklung, die von seinem zwangskranken Bruder Chuck (Michael McKean), einem Staranwalt, mit allergrößtem Misstrauen verfolgt wird. Battle of Brothers.

Dienstag, 5. April 2016

The Walking Dead – Season 6

Ruhige Zeiten? Gemüse anbauen? Musik hören? In Alexandria haben Rick Grimes und seine Gruppe das Heft in die Hand genommen, aber eine Schöne Neue Welt ist immer noch nicht in Sicht. Gut, das ist ironisch und es liegt auch nicht an den Figuren, sondern an den Machern. In der 6. Staffel der Zombie-Serie haben sie alles eine Spur sadistischer und zynischer gemacht, aber auch raffinierter und doppelbödiger. Und sie treiben gelegentlich Spielchen mit den Zuschauern. Doch die sind mittlerweile ziemlich sauer.

Am langen Arm verhungert

In der letzten Oktoberwoche 2015 schlug die Bombe ein: Über 13 Millionen Fans sahen in „Thank You“ (Ep 3, dts. Danke), wie sich der bei den Fans nicht gerade beliebte Nicholas eine Kugel durch den Kopf schoss und zusammen mit Glenn (Steven Yeun) von einem Müllcontainer in eine Herde hungriger Beißer fiel. Zu getragener Trauermusik floss das Blut eimerweise, Gedärme wurde herausgerissen und kurz danach spuckte das Netz haufenweise „Reaction Compilations“ aus, Videos, mit denen die Zuschauer ihre emotionale Reaktion dokumentierten.

In den folgenden Wochen ließen die Macher die aufgeregten Zuschauer am langen Arm verhungern. War Glenn tot? Und wenn nicht, wie konnte er sich retten? Die Wogen schlugen hoch, alle wollten wissen, was wirklich passiert ist. 
Und was hatten Showrunner Scott M. Gimple und Co-Producer Robert Kirkman eine Woche später im Köcher? Ein metaphysisches Zwei Mann-Theaterstück, in dem es um die Ethik des Überlebens ging und wie asiatischer Kampfsport dabei hilft!
Episode 4 „Here’s Not Here“ war eines jener Filetstücke der Serie, deren Konsequenzen für die Storyline nicht auf Anhieb zu erkennen sind, sich dann aber mit großer Wucht entfalten. Morgan (Lennie James) erzählt in einer Rückblende einem „Wolf“, wie er vom Saulus zum Paulus geworden ist, vom psychopathischen Killer zum Menschfreund. Wieder einmal prallten Moralfragen auf die brachiale Survival-Philosophie der Überlebenden.


Freitag, 11. März 2016

Am grünen Rand der Welt

Wahre Liebe ist das, was der Zuschauer im Kino auf den ersten Blick entdeckt: Bathsheba Everdene, die selbstbewusste Gutsbesitzerin, und der gut aussehende und charakterfeste Schafbauer Gabriel Oaks – das passt vom ersten Moment an. Doch weit gefehlt: die junge Frau sträubt sich gegen das Offensichtliche und entscheidet sich für einen saufenden Hurenbock, der beinahe ihr gesamtes Vermögen verprasst und sie wie Dreck behandelt. „Am grünen Rand der Welt“ wäre keine zwei Zeilen wert, hieße der Regisseur nicht Thomas Vinterberg. Und der hat von 18 Jahren einen der ersten Dogma-Filme gemacht: „Das Fest“.

Ein großer Freund der Dogma-Bewegung bin ich nie gewesen. Thomas Vinterberg und Lars von Trier („Idioten“) waren 1995 die geistigen Ziehväter einer Idee, die das Kino immer wieder in regelmäßigen Abständen anfällt: der Wirklichkeitswahn.
 Bloß weg vom Hollywood-Kino mit seinen Illusionsfabriken, gefilmt wird nur noch mit der Handkamera, ohne Kunstlicht, ohne künstliche Settings und Musik hört man nur, wenn sie in der Handlung vorkommt. Morde und Gewalt dürfen im Kino nicht mehr gezeigt werden, die Handlungen haben im Hier und Jetzt zu spielen, Genrefilme sind verboten. Und hält man sich konsequent an das „Keuschheitsgelübde“ (
Vow of Chastity“), so bekommt man zur Belohnung wieder ein unverfälschtes wirklichkeitsnahes Kino, authentisch und der Wahrheit verpflichtet.

Da ich generell sehr skeptisch auf den Begriff „Wahrheit“ reagiere – besonders dann, wenn er im Kino an formale Kriterien gekettet wird – waren meiner Erwartungen an Dogma 95 sehr begrenzt. Auch Thomas Vinterbergs „Das Fest“ war für mich eher ein anti-bürgerlicher Reflex ohne Beweiskraft. 
Die Gründer der Bewegung müssen geahnt haben, dass man der Wahrheit nicht allein durch wackelige Bilder nähert kommt: Die Filmemacher, die sich Vinterberg und von Trier anschlossen, setzten nie 1:1 das rigide Programm um. Nach einer Handvoll Filmen war es vorbei und die Dogma 95-Bewegung wurde zwar mit einigen Preisen gewürdigt, erreichte aber nie die Bedeutung der französischen Nouvelle Vague. Dogma 95 – das erinnert heute in seiner Programmatik an jene Form der bürgerlichen Gesellschaftskritik, die das Symptom kurieren will, dabei aber die Krankheit nicht begreift. Statt die ökonomischen Gesetze der global agierenden Filmindustrie zu verstehen, gab es ästhetische Schelte – und ein Manifest, das es beinahe jedem ermöglichte, einen Dogma-Film zu machen.

Lars von Trier beendete rasch sein Dogma-Intermezzo, Thomas Vinterberg zeigte in dem mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichneten Film „Die Jagd“, dass man auch mit konventionellen Mitteln großes Kino machen kann. Auch die anderen Dogma-Mitglieder drifteten ab: Kristian Levring drehte 2014 mit „The Salvation“ einen Edel-Italowestern und in Susanne Biers Filmographie lassen sich Dogma-Paradigmen längst nicht mehr entdecken. 2011 erhielt sie für „In einer besseren Welt“ den Oscar für den Besten Fremdsprachigen Film und zeigte mit „Love Is All You Need“, dass man ausgelutschten Genres wie der romantischen Komödie mit genauem Hinschauen und einer klischeefreien Betrachtung menschlicher Beziehungsabgründe wieder Leben einhauchen kann.


Taumelnde Libido

Nun also die Verfilmung eines Romans des großen Thomas Hardy (1840 – 1928), dessen romantische Sujets bekanntlich mit einem handfesten Realismus unterfüttert wurden. Thomas Vinterberg geht mit der Adaption von Hardys Erfolgsroman „Am grünen Rand der Welt“ (Far from the Maddding Crowd) dieses Genre ganz und gar anders an, Realismus ist nicht das Ziel, aber immerhin sieht alles prächtig aus. Die Bilder der Kamerafrau Charlotte Bruus Christensen zeigen Süd-England und die Landschaften um Oxfordshire in erlesener Güte. Das war schon immer der Mehrwert von Filmen, die im viktorianischen England spielen. Taugen die Filme nichts, so hatte man wenigstens gut anzuschauende idealisierte Landschaften gesehen.

Das Personal aus Hardys Roman ist schnell arrangiert: Bathsheba Everdene (Carey Mulligan) lernt den Schafbauern Gabriel Oak (Matthias Schoenaerts) kennen. Mit den Worten „Ich will kein Besitz sein. Ich bin unabhängig“ lehnt die junge Frau den wohl etwas zu hastig und ungelenk vorgetragenen Heiratsantrag des Verliebten ab. Oaks, das wird schnell klar, ist ein kompetenter Tausendsassa. So einen könnte Bathsheba  erst recht gebrauchen, nachdem sie das Gut ihres Onkels geerbt hat. Doch Pustekuchen, Bathsheba will sich allein durchsetzen. Das gelingt und sie profitiert dabei auch von Gabriels Können, den sie flugs einstellt, nachdem dieser auf obskure Weise seine Schafherde verloren hat. 

Natürlich gibt es auch andere Männer, die ein Auge auf die hübsche Großgrundbesitzerin geworfen haben. Etwa William Boldwood (Michael Sheen), der etwas älter ist und zwar keine romantischen Gefühle bei Bathsheba auslösen kann, dafür scheinbar unbegrenzt reich ist und seine Angebetete daher von allen Risiken der einheimischen Agrarwirtschaft befreien kann: Landwirtschaft als Hobby sozusagen.
Aber erst als Sergeant Frank Troy (Tim Sturridge) mit schönem Schnurrbart auftaucht und Bathsheba mit einer martialischen Fechteinlage nächstens im Wald beeindruckt, ist es erotisch um sie geschehen. Man heiratet schnell, doch wie von Gabriel prophetisch angekündigt, erweist sich Troy als chauvinistischer Tunichtgut, der immer noch seiner wahren großen Liebe nachtrauert, nun aber wenigstens jemanden gefunden hat, der für seine immensen Spielschulden bürgt.

Im Taumel der Gefühle machen Carey Mulligan und Matthias Schoenaerts eine gute Figur. Eindrucksvoll und kraftvoll ist Carey Mulligan von Beginn an, etwa wenn sie in gestrecktem Galopp auf dem Pferderücken eine Freiheit findet, die Frauen im viktorianischen England nicht ohne Weiteres zugestanden wurde. Auch Tim Sturridge gibt den Womanizer richtig fies, während
Schoenaerts so ruhig, überlegt und warmherzig spielt, als gäbe es ohne ihn kein Morgen. Warum dann aber ausgerechnet ein banaler Filou wie Troy es schafft, in einer intelligenten und souveränen Frau eine animalische Sexualität mit masochistischer Gemengelage freizusetzen, ist nicht nachvollziehbar. Es sei denn, man bedient sich uralter frauenfeindlicher Klischees über das Verhältnis von weiblicher Libido und Verstand.

Emanzipation und Unterwerfung

Vinterbergs Rückkehr zu den Klischees, die er vor fast 20 Jahren beseitigen wollte, hat viel Lustvolles: nämlich eine Geschichte mit einer vorhersehbaren Dramaturgie zu erzählen, mit Hilfe einer oberflächlichen Handlung bewegende Emotionen zu evozieren und nahezu ironiefrei falsches Pathos und die Illusion von Liebe heraufzubeschwören. Also all das, was die Dogma-Gruppe entlarven wollte.

Erstaunlich: „Am grünen Rand der Welt“ ist nicht einmal schlecht geraten. Die Selbständigkeit einer Frau, die sich zuallererst ökonomisch begründet und im Sozialen ihren Status immer wieder neu erobern muss, passt auch gut in die Agenda der aktuellen Jane Austen-Adaptionen für die große Leinwand. Wenn die fiktiven Frauen dieser Epoche frei sein wollten, mussten sie sich an den Konventionen abarbeiten, die Autoren und Autorinnen halt zuvor an den literarischen. Aber diese wurden dabei auf den Prüfstand gestellt und nicht etwas affirmativ abgebildet.
„Am grünen Rand der Welt“ bewegt sich in diese Richtung. Dass der Film kein Flop ist, liegt daran, dass Vinterberg das Melodram mit einem tiefen Ernst und gnadenloser Konsequenz beim Wort nimmt. In die Geschichte einer der ersten Emanzen der viktorianischen Literatur baut er etwas Eckiges, Kantiges und Widerborstiges ein: Die Unberechenbarkeit der weiblichen Sexualität.

Das hätte spannend sein können, nämlich eine Thomas Hardy-Verfilmung zu infiltrieren und das Eckige und Kantige genauer zu betrachten. Das geschieht nicht.
„Frau“ verliert ihren Verstand, „Mann“ muss fürsorglich aufpassen, dass sie dabei nicht zugrunde geht. Aber nur in der Welt von Hedwig Courths-Mahler und Rosemunde Pilcher darf der weibliche Verstand so sehr entgleisen, dass „falsche Liebe“ in die Zerstörung führt und nur „wahre Liebe“ das Verhängnis im allerletzten Moment aufhalten kann. Vinterberg gelingt keine Distanz zu diesem Stereotyp. So ist das Happyend in „Am grünen Rand der Welt“ daher eine weitere verspielte Form von Unterwerfung – aber diesmal finden wenigstens Neigung und ökonomische Nützlichkeit zusammen und jene, die endlich zueinander gefunden haben, unterwerfen sich sozusagen gegenseitig. Immerhin hat Letzteres etwas Witz. Trotz dieser Volte ist „Am grünen Rand der Welt“ artifiziell und ein Statement. Thomas Vinterbergs hübsch illustrierte Literaturverfilmung ist nämlich ein anti-feministischer Film.

Noten: Melonie = 4, BigDoc = 3,5

Am grünen Rand der Welt (Far from the Madding Crowd) – GB 2015 – Regie: Thomas Vinterberg – Laufzeit: 119 Minuten – FSK: ab 6 Jahren – D.: Carey Mulligan, Matthias Schoenaerts, Michael Sheen, Tom Sturridge, Fanny Robin

Donnerstag, 3. März 2016

Spotlight

Immer weniger Menschen lesen Zeitung. Und einige von denen, die es tun, glauben den Journalisten nicht mehr. Es überrascht nicht, dass nach dem Triumph des investigativen Thrillers „Spotlight“ bei der Oscar-Verleihung 2016 die schreibende Zunft dies als Eloge auf ihre Arbeit feiert. Das ist verständlich: Reporter enthüllen ein pädophiles Netzwerk in der katholischen Kirche von Boston und erhalten dafür den Pulitzer-Preis. Aber auch ohne diesen kollegialen Zuspruch hätte der Film die Oscars verdient.

Andreas Kilb schrieb am 21. Februar in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Das ist er, der Film, der in diesem Jahr die Oscars verdient hat. Für die beste Regie, das beste Drehbuch, die beste Kamera, den besten Schnitt. Und als bester Film.“

So etwas schreibt man, wenn man erwartet, dass es nicht geschehen wird. Aber es passierte eine Woche später und ich gebe zu, dass ich mit dem Kinobesuch bis zum Tag der Academy Awards gewartet habe. Man schaut sich natürlich erst einmal die ‚heißen’ Oscar-Kandidaten an. Ein kleinteiliger Dialogfilm über investigativen Journalismus rutscht da schnell auf den letzten Platz der Liste. Als ich dann das Kino verließ, wusste ich, dass Andreas Kilb Recht hat.

Gut, über Kamera und Schnitt lässt sich streiten, aber auch die handwerklichen Awards wären kein Fehlgriff gewesen. „Spotlight“ ist nämlich eine Geschichte über das Handwerk. Maurer sind Handwerker, Journalisten auch. Beide müssen so arbeiten, dass ihr Bauwerk später nicht zusammenbricht. Der Maurer verwendet Steine und Ziegel, Mörtel und Maurerkelle, der Journalist sammelt Fakten, Quellen und Zeugenaussagen, benutzt Notizbuch, Computer und Archiv. Am Ende muss seine Story allen Anfechtungen Strand halten können, wie das Haus dem nächsten Sturm. Und ein Sturm kommt immer.

Horror in Zahlen

2001: Wieder einmal machen im 1872 gegründete „Boston Globe“ Gerüchte über Finanzprobleme die Runde. Der neue Executive Editor Marty Baron (Liev Schreiber) stellt das Traditionsblatt auf den Prüfstand, auch das berühmte Spotlight-Team um Walter Robinson (Michael Keaton), das oft einige Monate braucht, um eine Enthüllungsstory zu recherchieren. Baron lenkt den Fokus des Teams auf ein neues Thema. Angeblich soll der Erzbischof von Boston, Kardinal Law (Len Cariou), seit Jahren Kenntnis davon haben, dass der Priester John Geoghan regelmäßig Kinder sexuell missbraucht. 
Robinson und seine Mitarbeiter Michael Rezendes (Mark Ruffalo), Sacha Pfeiffer (Rachel McAdams) und Matt Carroll (Brian d’Arcy James) finden bei ihren Recherchen heraus, dass auffallend viele Priester aus unterschiedlichen Gründen in andere Gemeinden versetzt werden. Die Aussagen einiger Zeugen und Opfer schärfen den Blick des Spotlight-Teams für den möglichen Umfang des Skandals. Wenig später stehen bereits 87 Namen von verdächtigen Geistlichen auf der Liste des Investigations-Teams. Und das entspricht einer bekannten Statistik, die den Journalisten vorgelegt wird. So sieht der Horror der Zahlen aus.

Ausgerechnet Boston! Boston ist eine der reichsten Städte der Vereinigten Staaten. Die Stadt versteht sich als intellektuelles, kulturelles und technologisches Zentrum, in dem auch die katholische Kirche eine wichtige Rolle spielt. Tom McCarthy zeigt auf hintergründige und unspektakuläre Weise, wie die wohlhabenden Bürger ihre Identifikation mit der Stadt durch Mäzenatentum und karitative Leistungen ausdrücken. Eine geschlossene Gesellschaft, die keineswegs bigott ist, aber auch kein Interesse daran hat, dass der Ruf der Stadt beschädigt wird. Sichtbar wird dies in dem Film an der Figur des Assistant Managing Editors
Ben Bradlee Jr. (John Slattery, Mad Men), der zum Bostoner Establishment gehört und voller Zweifel ist, den Recherchen aber keinen Stein in den Weg legt. Für Verschwörungstheorien ist in „Spotlight“ nämlich kein Platz, die Mächtigen der Stadt vertreten weder einen verschworenen Clan noch verbergen sie hinter ihren Fassaden mafiöse Abgründe – sie wollen nur unter sich bleiben und schützen sich. Da wird schon mal der Zugang zu Dokumenten erschwert, die eigentlich jedermann öffentlich zugänglich sein sollten.

Gott kann sich nicht irren

Männer wie der jüdische Journalist Marty Baron gehören nicht zum inneren Zirkel der Stadt. Liev Schreiber spielt den neuen Chef im Bostoner Renommierblatt nicht als charismatischen Rhetoriker, der alle mitreißt, sondern als sachlich kalkulierenden Mann, der jeden Satz zweimal umdreht, bevor er ihn ausspricht. Das fasziniert. Und überhaupt: „Spotlight“ ist ein großartiger Ensemblefilm, der ohne Ruffalo, Keaton, McAdams und all die anderen trotz des hohen moralischen Anspruchs möglicherweise gar nicht funktionieren würde oder als dröges Faktenkino daherkommen würde. Bebilderter Schulfunk ist McCarthys Film aber nicht, denn jenseits der unglaublich akribischen Arbeit der Journalisten zeichnen ihre Gesichter zunehmend das Grauen nach, dass ihnen während der Treffen mit den Opfern begegnet. Gott könne sich nicht irren, beantwortet einer der als Kind Missbrauchten die Frage, warum dies alles so lange und ohne Widerstand geschehen konnte.

Zum Glück verzichtet McCarthy weitgehend auf Privates und irgendwelche Backstorys. Man sieht Journalisten bei der Arbeit, mehr nicht. Und das ist viel, denn jeder Beweis und alle Quelle müssen doppelt und dreifach abgesichert sein, sonst würde die Story platzen. Nun einmal, als Matt Carroll erfährt, dass sich ausgerechnet in der Straße, in der wohnt und in der seine Kinder spielen, eine diskrete Therapieeinrichtung für pädophile Priester befindet, erreicht der Skandal einen der Spotlight-Journalisten ganz privat in seinem Alltag. Wenn der „Globe“ schließlich die Story veröffentlicht, wird Caroll schweigend einen großen Stapel Zeitungen auf die Türschwelle des Hauses legen.

Eigentlicher Held der Story ist aber Stanley Tucci als Mitchell Garabedian, ein Rechtsanwalt, der bis heute zahllose Missbrauchsopfer vertritt und enorme Summen für die Opfer erstritten hat. Garabedian steht täglich mit beiden Füßen im Sumpf -  ein verhärteter, leicht aufbrausender Mann, dessen anfänglich begrenztes Vertrauen sich Michael Rezendes erst verdienen muss. Am Ende ist es dieser Anwalt, der die Story endgültig mit beweiskräftigen Dokumenten untermauern hilft. Die Bilanz ist verheerend: Jahrelang war der Kirche der massenhafte Missbrauch von Kindern bekannt, doch mit Versetzungen und therapeutische Maßnahmen wurde ein Mantel des Schweigens über dem Skandal ausgebreitet. Noch heute vertritt Mitchell Garabedian die Auffassung, dass die Kirche die Übergriffe wissend toleriert hat. Die Wogen sind also längst nicht geglättet.

Die Filmkritikerin einer Frankfurter Tageszeitung freute sich über die Diskretion, die Tom McCarthy bewies, als er es vermied, im Film den Missbrauch abzubilden. Dass das Verständnis von Diskretion in der Kritik eilfertig auch auf die Unantastbarkeit des Glaubens ausgeweitet wurde, der von dem Film angeblich nicht in Frage gestellt wird, ist mehr als grenzwertig. 
Unter die Haut gehen die Erlebnisberichte der Opfer besonders dann, wenn ihre ganze Wehrlosigkeit spürbar wird. Denn wehrlos sind die Kinder nicht, weil sie von Einzeltäter genötigt wurden, sondern weil sie die Omnipotenz des Systems spürten, dass die Täter vermeintlich repräsentierten. So quält in „Spotlight“ einen Mann immer noch die Frage, die er sich als Kind stellte, wenn der Priester zugriff: Ist dies nicht etwa von Gott so gewollt?

Die Spotlight-Redaktion vollzieht auf Drängen Barons den Schritt von der Aufsummierung der Einzelfälle hin zu einer systemischen Fragestellung recht schnell. Wenn die schändlichen Taten von McCarthy nicht en detail gezeigt werden, dann ist dies Respekt vor dem Leid der überlebenden Opfer, es liegt sicher auch daran, dass er sich das journalistische Credo der Journalisten zueigen gemacht hat: Man schreibt nicht, wenn man es nicht genau belegen kann. Und man zeigt angesichts der Thematik nichts auf der Leinwand, wenn es im Detail nicht hieb- und stichfest stimmt.
Wenn der Film im Abspann die vielen Diözesen zeigt – dies geht weltweit in die Hunderte -, in denen von Priestern systematisch und nicht etwa vereinzelt Kindesmissbrauch begangen wurde, dann stellt sich sehr wohl die Frage nach dem Glauben und den Bedingungen seiner Entgleisung. Es dürfte kein Zufall sein, dass in der Woche nach der Oscar-Verleihung die Öffentlich-Rechtlichen den deutschen Fernsehfilm „Und alle haben geschwiegen“ aus dem Jahre 2012 wiederholte, der von einer ganz anderen Art von Missbrauch erzählt, nämlich von der Gewalt gegen Kinder in katholischen Kinderheimen.

Natürlich ist „Spotlight“ kein Enthüllungsfilm, denn der Bostoner Skandal ist bekannt und unzweifelhaft belegt. Erfreulich ist aber, dass die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Spotlight-Journalisten keine Halbgötter der schreibenden Zunft sind. Sehr oft werden die Journalisten mit der Aussage konfrontiert, dass sie doch bereits alle erforderlichen Unterlagen haben. Eine Verschwörung innerhalb des „Globe“? Nein, am Ende erinnert sich ausgerechnet Walter Robinson daran, dass er dem Quellmaterial nicht die erforderliche Beachtung geschenkt hatte. Michael Keaton spielt diese Szene bewegend gut. Es zeigt, dass der Weg zur Wahrheit steinig und voller Fehler ist. Das ist so ehrlich wie der ganze Film.

Spotlight - USA 2015 – Regie Tom McCarthy – Buch: Tom McCarthy, Josh Singer - D.: Marty Baron (Liev Schreiber), Executive Editor, Herausgeber - Walter Robinson (Michael Keaton), Chefredakteur des Spotlight-Teams - Michael Rezendes (Mark Ruffalo), Sacha Pfeiffer (Rachel Mc Adams), Matt Carroll (Brian d’Arcy James), Journalisten und Mitglieder des Spotlight-Teams - Ben Bradlee Jr. (John Slattery), Assistant Managing Editor, Projektleiter - Mitchell Garabedian (Stanley Tucci) – Laufzeit: 128 Minuten – Academy Awards 2016: Bester Film, Bestes Originaldrehbuch – FSK: ab 0 Jahren.


  • „Spotlight – Corruption, Scandal & Accountability – Three shining investigative stories from the The Boston Globe Spotlight Team“ ist als e-book erschienen und wird kostenfrei als Download auf der Seite des „Boston Globe“ zur Verfügung gestellt.

Noten: BigDoc = 1,5, Melonie = 2

Montag, 29. Februar 2016

Weder gut noch schlecht: Akte X - Season 10

Mit einer haarsträubenden finalen Episode hat sich die Miniserie, die mittlerweile hochoffiziell als 10. Staffel bezeichnet wird, verabschiedet. Ob es weitergeht, steht in der Sternen. Die Vorzeichen sind gut und so hat Showrunner Chris Carter die Fans der X-Files mit einem gewaltigen Cliffhanger verabschiedet, der eigentlich nur ein Zitat ist. Wie so vieles in dem Revival.

Scully und Mulder können es noch immer. Es gibt in der sechsteiligen Miniserie nicht wenige Szenen, in denen die Funken nur so sprühen. Man freut sich, wenn man den alten Sprachwitz wieder erleben darf und sich die nun offiziell zum FBI zurückgekehrten Agenten wie in einer gut geölten Screwball-Comedy liebevoll fetzen. Reicht das aber für eine gute Endnote?
Eher mit Abstrichen, denn Chris Carter und sein Autorenteam verzettelten sich zu oft in dem Bemühen, zwischen Altfans und neuer Zielgruppe zu vermitteln. Nicht zum ersten Mal. Aber diesem Dilemma war kaum zu entkommen. Gemessen am Grad der Herausforderung hat sich Akte X aber ordentlich behauptet. In der Schule würde man die Note „Befriedigend“ vergeben. Gut sieht aber anders aus.



Die Mythologie: Nichts Halbes und nicht Ganzes

2008 kam der zweite Akte X-Film in die Kinos. In „The X-Files: I Want to Believe“ (Jenseits der Wahrheit) gab es keine Alien-Verschwörung mehr, sondern eine x-beliebige Story zwischen Fantasy, Religion und Thriller. Carter baute zwar FBI-Direktor Skinner in den Film ein (Wiedererkennungsfaktor!), es gab auch vertraute Musikmotive zu hören, aber die meisten Drähte zu den alten X-Files wurden durchtrennt. Chris Carter glaubte zu wissen, dass sechs Jahre nach dem Ende der TV-Serie das jüngere Publikum nicht mehr wissen könne, was relativ kurz zuvor im Fernsehen gelaufen ist. Der Film floppte.

„Who believes this crap anymore?“, konstatierte Mulder in „I Want to Belive“, angesprochen auf die alte Mythologie. Das wird er auch in der aktuellen Mini-Serie in ähnlicher Form sagen. Season 10 kämpft nun erneut mit dem alten Dilemma. Was wissen die Fans überhaupt noch? Was müssen die Newbies wissen?

Ein kompletter Reboot war nicht möglich, die Geschichte an der Stelle weiterzuerzählen, wo sie aufgehört hat, wohl auch nicht. Leider, denn das wäre wirklich eine echte Herausforderung gewesen. Carter löste das bekannte Problem auf seine Weise: er baute um den harten Kern von vier „Monster of the Week“-Episoden einen Erzählrahmen, der die Alien-Mythologie weitererzählte. Er wollte es damit allen recht machen. Leider zeigte er in den Folgen 1 und 6 aber erneut wenig Interesse an einer erzählerischen Konsistenz. Darunter hatten schon die alten X-Files zu leiden.

Damit Newbies nicht ganz auf dem Schlauch stehen, ließ er Mulder (Ep 1) und Scully (Ep 6) gleich zu Anfang im Off erzählen, was denn so alles in der alten Serie passiert ist. Das macht zwar Sinn und ist besser als ein „Previously on...“-Teaser (der aber lustig gewesen wäre!), scheitert aber daran, dass das knapp Zusammengefasste schon vor zwei Jahrzehnten so hyper-komplex war, dass selbst eingefleischte Fans Probleme damit hatten, den Regierungskomplott, das Syndikat, das Schwarze Öl und die Wiedereroberung des Planeten durch Aliens völlig zu durchschauen. Noch heute plagen sich Fan-Wiki damit ab, Licht ins Dunkle zu bringen.

Gelöst wurden diese Probleme durch die neuen Mythologie-Folgen nicht. Im Gegenteil. War die erste Folge „My Struggle“ (absurderweise von einigen Rezensenten mit Hitlers „Mein Kampf“ verglichen, obwohl es 'innerer Kampf' bedeutet) noch einigermaßen zugänglich, so endete in „My Struggle II“ die Mini-Serie mit einer abstrusen Apokalypse, in der die ganze Menschheit durch die virologisch ausgelöste Ausschaltung des Immunsystems von der Erdoberfläche getilgt werden soll. Klar, dass das Massensterben in letzter Sekunde durch Scully quasi im Alleingang verhindert wird.

Während Scully die Welt rettet, legt sich Mulder in einem Nonsens-Dialog mit dem „Smoking-Man“ (William B. Davis) an. Hatte der „geheimnisvolle Raucher“ bereits in „My Struggle I“ einen Kurzauftritt, so taucht er im Finale als Mega-Schurke auf, der die ganze Menschheit, abgesehen von einigen handverlesenen Exemplaren, komplett ausrotten will. 
Warum eigentlich? Nun, hier hat sich Carter offenbar bei der wirren Ideologie des Super-Schurken Valentine in „Kingsman: The Secret Service“ bedient, der ja auch der missratenen Spezies Mensch das Überlebenspotential absprach.
Aber was zum Teufel hat das mit der alten Mythologie zu tun? Wieso hat der greise CMS, der in Season 9 von Freund und Feind gehasst und mit einer Rakete buchstäblich atomisiert wurde, überlebt und warum hat er als Tattergreis plötzlich diese Macht? Geht es ihm immer noch um die Alien-Invasion? Wo sind die Alien-Rebellen geblieben? Warum lässt Carter in „My Struggle I“ Mulder zunächst von einer Regierungsverschwörung berichten, die Alien-Technologie einsetzt, um ein faschistisches Regime zu errichten, während am Ende eine ganz andere Verschwörung die Menschen ausrotten will, damit der Planet ökologisch seinen Frieden findet.
Fragen, auf die Carter nonchalant eine Antwort schuldig bleibt. Und immer wieder wird man mit dem alten Amnesie-Problem konfrontiert: Warum haben die Figuren das Meiste von dem, was sie erlebt haben, schlicht und einfach vergessen?

Gut, an solche Fragen und Nöte hat sich der X-Files-Nerd längst gewöhnt. Man ahnt, dass die Story nicht zu Ende erzählt werden darf, weil ja dann alles aus und vorbei wäre. So weit, so gut. Man könnte damit leben, wenn die Geschichte in „My Struggle I und II“ einigermaßen plausibel wäre. Ist sie aber nicht. Die Geschichte ist Bullshit.

Lästig ist auch die Zwanghaftigkeit, mit der Carter, der selbst am Script mitgearbeitet hat, alte Figuren wiederauferstehen lässt
(bis hin zu einem merkwürdigen 2 sec-Auftritt der „Lone Gunmen“ als Teil des Drogentrip Mulders in „Babylon“) und neue – koste es, was es wolle – in die Handlung einbaut. Da taucht Special in „My Struggle II“ aus dem Altpersonal Agent Monica Reyes (Annabeth Gish) mit einer abstrusen Backstory auf, während zuvor in die Serie eingebaute Side-Kicks wie Agent Einstein (ein skeptisches Alter Ego von Scully) und Agent Miller (eher ein Alter Ego von Mulder) erneut einen Auftritt haben. Letzteres gelingt sogar manierlich, aber warum auch Mitch Pileggi seinen Kommentar abgeben darf, misslingt, scheint dieser doch vergessen zu haben, dass er in der Rolle des FBI-Direktors Walter Skinner eigentlich mit Scully und Mulder befreundet ist.

Das Sujet wird auch in „My Struggle II“ auf modern getrimmt, aber die Doppelfolge enthält zu viele Akteure, zu viele Logikbrüche und zu viele ins Leere laufende Dialoge. Gleichzeitig soll alles, was gerade aktuell ist auf dem Markt der Verschwörungen, in die Story gepresst werden: es wird über Chemtrails geredet (klar, dass es sie gibt, die Verschwörer sind schuld, bloß welche?) und am Ende erfahren die Zuschauer, dass alle Menschen irgendwie Aliens sind oder auch nicht – und dass es letztlich Alien-DNA ist, die den Genozid aufhalten kann. Sicher sind nur jene, die diese Gene bereits besitzen. 
Aber inmitten der heillosen Überfrachtung des Plots fühlt sich die Geschichte an wie ein großer Zutaten-Mix, bei dem die Köche glaubten, dass die Suppe nur dann schmecken kann, wenn man alles, was man so im Kühlschrank hat, in einen großen Topf wirft und umrührt. „Someone need to save The X-Files from itself“, schrieb der US-Kritiker Todd VanDerWerff auf Vox Culture – und er hat Recht.



„Monster of The Week“ - der harte Kern ist sehenswert

Glaubt man den Quellen, so hatte Chris Carter bei allen sechs Drehbüchern die Hände im Spiel. Nur in den Episoden 2, 3 und 4 kamen James Wong (10x02 „Founders Mutation“), Darin Morgan (10x03 „Mulder and Scully Meet the Were-Monster“) und Glen Morgan (10x04 „Home Again“) hinzu. Für „Babylon“ (10x04) war dann Chris Carter allein verantwortlich (Buch, Regie).
Einer fehlte: Vince Gilligan, der Schöpfer von „Breaking Bad“ und dem im Moment extrem erfolgreichen Prequel „Better Call Saul“. Gilligan war von 1995 – 2002 an über 140 Episoden der X-Files beteiligt. In unterschiedlichen Funktionen, also sowohl als Drehbuchautor als auch als Executive Producer. US-Gazetten machen nun das fehlende Kreativproblem der Miniserie ausgerechnet am Fehlen Gilligans fest und wärmen damit auch die nicht gerade neue Kritik an Chris Carters Schwächen auf. Viel halten Carter für einen exzellenten Visionär, den Mann fürs ‚Große Ganze’, der aber besser die Finger von Scripts lassen sollte. Wenn man aktuell sieht, was Gilligan aus dem anfänglich argwöhnisch beäugten Prequel zu „Breaking Bad“ herausholt, ist das nachvollziehbar.


„Founders Mutation“

Schauen wir uns die „MotW“-Episoden an. Über „Founders Mutation“ hatte ich bereits geschrieben. Nachhaltig beeindruckt hat mich die Episode nicht. Ein Flop war sie auch nicht. Man konnte sehen, dass Carter seine beiden Hauptfiguren nicht aus dem großen Erzählrahmen herausfallen ließ. Früher war die „MotW“-Folgen stärker vom Meta-Plot abgegrenzt, nun dürfen Scully und Mulder ihren tristen Gedanken über ihren verlorenen Sohn nachhängen und in ganz persönlichen Visionen sogar etwas Freizeit mit ihm verbringen. Ansonsten ist „Founders Mutation“ eine gorige Episode, in der – nicht zum ersten Mal in den X-Files – paranormal begabte Geschwister eine Spur des Schreckens hinterlassen und ein Mad Scientist an der DNA von Ungeborenen herumwerkelt, was den unschönen Verdacht erzeugt, dass dies durchaus mit Alien-DNA zu haben könne. Note = 3.

„Mulder and Scully Meet the Were-Monster“

Die Episode wurde in den Staaten bereits im Vorfeld mit Lobeshymnen überschüttet. Die Plot-Idee ist auch sehr charmant, denn der von Rhys Darby gespielte Eidechsen-Mann sieht zwar wie ein Monster aus, ist aber keins, wenn man ihn in Ruhe lässt. Leider wird er von einem Serienkiller gebissen (!) und mutiert zu einem Menschen (!). Wie ein Formwandler muss er nun mit beiden Rollen leben. Der Witz an der Sache: Als Mensch wird unsere liebeswerte Echse nun keineswegs zum Monster, sondern sie stürzt sich in eine fadenscheinige berufliche Tätigkeit, die sie urplötzlich mit all den Ängsten einer kleinbürgerlichen Existenz konfrontiert, die man halt erlebt, wenn man am Monatsende seine Rechnungen bezahlen muss.
Charmant ist auch, dass Scully und Mulder einige pointierte Dialoge abliefern. Mulder befindet sich wieder einmal in einer Sinnkrise und bombardiert sein „I want to believe“-Poster mit Bleistiften: Diese selbstrefentiellen Motive wirken durchaus witzig wie auch einige andere skurille Einfälle, die Darin Morgan und Christ Carter in dem Script untergebracht haben, etwa wenn das Were-Monster ausgerechnet Mulder als Monster bezeichnet und ihm Emile Zolas berühmtes „J’accuse“ entgegenschleudert.
Obwohl die Formkurve der Miniserie in dieser Folge deutlich nach oben schnellte, wurde mir im direkten Vergleich mit der 9. Season der X-Files schnell klar, dass in dieser von den Fans nicht sonderlich geliebten Staffel einige Episoden zu sehen waren, die an Originalität und Kreativität die Geschichte des Were-Monsters mühelos ausstachen, etwa „Daemonicus“ (09x03, Regie und Buch: Frank Spotnitz) oder „The Lord of the Flies“ (9x06, Regie: Kim Manners, Buch: Thomas Schnauz, der aktuell mit Vince Gilligan an „Better Call Saul“ arbeitet), übrigens eine Folge, in der Aaron Paul („Breaking Bad“) einen bemerkenswerten Auftritt hat, oder etwa „Scary Monsters“ (9x12, Regie: Dwight H. Little, Buch: Thomas Schnauz). Auch Vince Gilligans „Sunshine Days“ (9x18, Buch und Regie) ist ein Beispiel dafür, dass die 9. Season der X-Files zu Unrecht unterschätzt wird und mit etlichen Episoden die besten Folgen der Miniserie mühelos in den Schatten stellt. Spätestens wenn sich Duchovny und Darby in einem langen, mit Rückblenden unterfütterten Dialog, die Story des Were-Monsters erklären, wird erkennbar, wie unelegant die Miniserie ab und an vorgeht. Note = 2,5.


„Home Again“

Nach dem lustigen Intermezzo schlug diese Episode wieder einen ernsten Ton an. Scully und Mulder müssen sich mit einem geheimnisvollen Rächer auseinandersetzen, dem das bedauernswerte Schicksal der Obdachlosen zu Herzen geht und der deshalb ein paar zynische Vertreter der Stadtverwaltung aus dem Weg räumt. Dass hier Empathie möglicherweise nicht der Auslöser ist, wird spätestens dann klar, wenn man sieht, dass ausgerechnet ein Kunstwerk die Kreatur ins Leben katapultiert.

„Home Again“ nimmt sich auch diesmal viel Zeit, um das Seelenleben seiner Hauptfiguren zu durchleuchten. Dabei steht Scully im Mittelpunkt, die den plötzlichen Tod ihrer Mutter zu verkraften hat und erneut mit dem Schicksal ihres Sohnes konfrontiert wird. Man hat schon den Eindruck, dass Chris Carter wie in den alten X-Files damit beschäftigt ist, das Leben Scullys in ein nicht enden wollendes Martyrium zu verwandeln. Trotz einiger Unstimmigkeiten hält diese „MotW“-Episode aber die Handlungsfäden zusammen und hinterlässt einen stimmigen Eindruck. Note = 2.


„Babylon“

Unübersehbar stand Tarsim Singhs „The Cell“ Pate, denn Scully und Mulder sollen nach einem verheerenden Anschlag in das Bewusstsein des einzigen überlebenden islamistischen Attentäters eindringen, der nun komatös auf dem Krankenlager liegt. Es gilt, den Rest der gefährlichen Terrorzelle ausfindig zu machen.
Wechselten die bisherigen Episoden zwischen überkandidelt und bierernst, so versuchte Carter nun, beide Tonarten in einer Folge unterzubringen. Der Auftakt erinnert eher an „24“, der Rest an den durchgeknallten Psychotrip von Johhny Depp und Benicio Del Toro in „Fear and Loathing in Las Vegas“. Kein Wunder, schlägt doch Mulder vor, sich einen psychotropen Pilz einzuwerfen, um Kontakt zum Bewusstsein des maladen Terroristen aufzunehmen. 

„Babylon“ spaltet. Stimmen wurden laut, die der Folge Islamophobie vorwarfen. Das ist nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen, weil das Thema Terrorismus keine bedeutende Rolle in der Episode spielt. Zudem karikiert Carter am Beispiel einer übel gesinnten Krankenschwester jedwede fremdenfeindliche Gesinnung, was durchaus als Kommentar zu Douglas Trump gelesen werden kann.
Im Mittelpunkt stand wohl eher Carters Idee, David Duchovny auf einen monströsen Drogentrip zu schicken, obwohl später erklärt wird, dass ihm nur ein Placebo verabreicht wurde. 
Origineller ist Carters Einfall, Scully und Mulder zwei Side-Kicks an die Seite zu stellen: Agent Einstein (Lauren Ambrose) und Agent Miller (Robbie Amell), die quasi Spiegelbilder der beiden Helden sind. Einstein ist die rationalere der beiden, Miller gehört dagegen ins Lager von Mulder und ist bereit, auch scheinbar abwegige Erklärungen in Erwägung zu ziehen. Carter lässt die Vier überkreuz zusammenarbeiten, was besonders in der Teamarbeit von Mulder und Einstein für einige sehr witzige Pointen sorgt. Abgesehen von einem überflüssigen, weil zu kurzem Cameo-Auftritt der Lone Gunmen ist „Babylon“ kein Flop, zumal es Carter gelang, zwei neue Charaktere in die X-Files einzubauen, ohne die Handlung heillos zu überfrachten. Note = 2,5.

Die vier „Monster of the Week“-Folgen erwiesen sich insgesamt als belastbarer als die beiden Mythologie-Folgen. Anders als in den alten X-Files wurde auch stärker die Kontinuität der Figurenentwicklung beachtet. Dies führte dazu, dass die Beziehung zwischen Scully und Mulder in den Folgen, die sich nicht an selbstreferentiellen Parodien versuchten, mit einem seriösen Grundton verhandelt wurde. In den alten X-Files mussten die so gegensätzlichen Helden den Streit zwischen Rationalität und Empirie (Scully) und Irrationalität, Spiritualität und Intuition (Mulder) ausfechten. Beide Positionen wurden einer Aussöhnung entgegengetrieben, die natürlich auch zu einer emotionalen Nähe führte. Scully respektierte nicht nur Mulders Ansichten, sondern übernahm sie auch zusehends, ohne allerdings ihre wissenschaftlich begründete Skepsis abzulegen. Und Mulder erkannte, dass es nicht reicht, nur zu glauben, sondern dass das Credo „I want to believe“ unbedingt an ein „I want to know“ im Sinne von echten Beweisen angebunden werden musste.
Was weniger bekannt ist: Carter hat als Showrunner im Verlauf der Staffeln (was besonders im Kinofilm „I Want to Believe“ sichtbar wurde) dem Plot einige religiöse Konnotationen übergestülpt. Sie machten besonders in der 9. Staffel aus Scully eine Frau, die mit zunehmender Gewissheit über die Existenz von Aliens und Verschwörern offenbar auch ihre Spiritualität wiederentdeckte. In der Diegese der X-Files nahmen die religiösen Querverbindungen dann so weit zu, dass Scully in Staffel 9 beinahe zu einer „Mutter Gottes“ umgedeutet wurde. Ihr Sohn William besaß nicht nur übersinnliche Kräfte, sondern wurde von Alien-Mystikern auch als gottähnlicher Erlöser verehrt. Mit seiner Hilfe sollte eine neue Weltordnung etabliert werden. Der kleine Haken: Natürlich muss zuvor Mulder umgebracht werden.

Es überrascht nicht, dass auch in den „Monster of the Week“-Folgen dieser erzählerische Überbau einen Weg in die Handlung gefunden hat. Er spiegelt sich in der dräuenden Schuldfrage wider, die Scully anhaltend quält. War sie es doch, die ihren Sohn aus ganz pragmatischen Gründen durch eine anonymisierte Adaption vor Freund und Feind schützen musste. Dass sie diese Fragen nur vor dem Hintergrund einer neu entdeckten Spiritualität verhandeln kann, zeigt, dass Carters Serie sich im Zweifelsfall auf die Seite des Mystizismus schlägt. 
Die cartesianische Einsicht, dass das Denken die Existenz beweist wurde abgelöst durch die Behauptung, dass es vielmehr der Glaube ist, der beweist, dass man ist. Beweise macht das in gewisser Weise entbehrlich, die Wahrheit allerdings auch, weil die Suche nach ihr ihrer Natur nach unendlich ist.
Dass ausgerechnet Mulder gar nicht mehr so fest glaubt, passt konsequent in diesen Rahmen und wird auch in der Miniserie voller Ironie durchgespielt. Aber die beiden Hauptfiguren haben sich ja schon immer angenähert und voneinander entfernt. Wenn man schon Christ Carter für etliche Script-Mängel verantwortlich macht, dann muss eingeräumt werden, dass Carter die MotW-Episoden nicht als Standalone-Vehikel geplant hat, sondern der Geschichte der beiden Helden mit diesem Überbau mehr Tiefe gab.



Die Quoten sprechen für die X-Files

Geht es weiter? Nach der ersten Episode halbierten die X-Files ihre Quote, pendelten sich aber bei Zuschauerzahlen um die 8 Mio. ein. Das ist ein Absturz von einem extrem hohen auf ein sehr hohes Niveau. 
Vergleichen wir: das aus meiner Sicht qualitativ deutlich bessere Spin-Off „Better Call Saul“ erreichte bislang in der werberelevante Zielgruppe durchschnittlich ein Nielsen-Rating von 1.6 bei absoluten Zahlen um ca. 2,5 Mio. Zuschauern. Auch Vince Gilligan hatte zunächst einen sensationellen Start und halbierte danach die Quote. Die zweite Season konnte dieses Niveau nicht anheben, obwohl „Better Call Saul“ qualitativ einen spektakulären Sprung nach vorne machte und – um es bildhaft zu machen – qualitativ in der 1. Bundesliga spielt, während Chris Carters Show im oberen Mittelfeld der 2. Liga herumdümpelt. Um beim Fußball zu bleiben: Die X-Files sind ein Traditionsverein, der nostalgisch reizvoll ist und viele Zuschauer bindet, „Better Call Saul“ ist eher wie RB Leipzig – etwas elitär und aufwändig gemacht, aber mit einem soliden Fanstamm.
Quotentechnisch liegen die X-Files also gut im Rennen. Carters Serie ist nämlich das Schalke 04 im Haifischbecken der US-Serien, geliebt von den Altfans - und das sorgt dafür, dass „die Hütte immer fast voll ist“, auch wenn die Mannschaft mal richtig mies gespielt hat. Folglich wird es mit den X-Files weitergehen, auch wenn David Duchovny sich nur weitere Mini-Serien vorstellen kann, aber bitte nicht mehr den Stress einer langen Staffel mit mehr als 20 Episoden.



Fazit

Chris Carters Serie war in den ersten neun Staffeln ein heller Stern am Medienhimmel, weil trotz aller Höhen und Tiefen der Spaßfaktor enorm hoch war. Dass die X-Files den Serienkosmos mit einer Mischung aus vertikaler und horizontaler Erzählweise revolutioniert haben, dürfte die Fans weniger interessieren als die Frage, ob sie gut unterhalten wurden. Das wurden sie in neun Staffeln und in einem Kinofilm. Dies lag auch daran, dass Mulders Credo „I want to believe“ wohl auch das Credo von Chris Carter war und er es wie einen Staffelstab an die Fans weiterreichte.
Ausgerechnet der gleichnamige Film aus dem Jahr 2008 zeigte, dass dies aber kein Selbstgänger ist. Die Fans gaben ihren Glauben auf und folgten Carter nicht mehr in blindem Glauben. Und acht Jahre später stießen Scully und Mulder auf ein kritisches Publikum, dass inzwischen mit jenen epigonalen Produkten gefüttert worden war, die es ohne die X-Files vermutlich nie gegeben hätte. Das schärft die Aufmerksamkeit.
 

Aus meiner Sicht ist das Revival der X-Files weder überflüssig noch gelungen. Es liegt mittendrin, irgendwo zwischen zwei Stühlen. Vieles ist witzig und schlagfertig, auch die Absicht, das X-Files-Serien-Universum zu updaten war angemessen und keineswegs ein Fehlschlag. Durchgehend gelungen war das Comeback nicht, aber das lag daran, dass die Scripts von Chris Carter im Vergleich zu denen der anderen Autoren deutlich abfielen. Sie waren weder durchdacht noch sparsam. Und dort, wo geklotzt werden musste, fehlten offenbar die Mittel und die Phantasie, um mehr aus dem Plot herauszuholen. Schwächen, die in der letzten Episode kaum noch wegzudiskutieren waren und dort erst recht nicht durch die banalen Dialoge kompensiert werden konnten. Überraschenderweise sahen die Zuschauer dies anders. Nicht nur Altfans, sondern auch Newbies reagierten in einigen Foren mit großer Zustimmung auf die Serie. Oft aus Gründen, mit denen man nicht rechnen konnte.

Persönlich habe ich mich über vieles amüsiert, aber ich bin ja auch ein Altfan. Da gibt es schon den einen oder anderen Bonuspunkt. Dass die neuen X-Files streckenweise ihren Witz aus der Selbstbespöttelung zogen und sich damit haarscharf an einer Parodie vorbeilavierten, war wohl unvermeidlich. Dass die Miniserie aber substantiell sehr viel verschenkt hat, was man hätte besser machen können, war schon schwerer zu schlucken.
Hoffen wir also, dass es besser wird. Ich will schließlich wissen, warum am Ende der letzten Episode plötzlich und wie aus dem Nichts ... ach ja, das ist ein Spoiler. Und das muss ja nicht sein. Ausnahmsweise.