Samstag, 22. Februar 2014

Haftbefehl – Im Zweifel gegen den Angeklagten

Der Pädophilie-Skandal in Outreau erschütterte Frankreich zweimal: zunächst 2001, als das Verfahren in die Hände des inkompetenten Untersuchungsrichters Fabrice Burgaud gelangte, dann Anfang 2006, als es sich als wohl schrecklichster Justizskandal in der jüngeren Geschichte Frankreichs entpuppte. Vincent Garenq hat die  Geschichte 2011 in einen hochemotionalen Film gepackt: „Haftbefehl – Im Zweifel gegen den Angeklagten“ (Présumé coupable) ist ein lange nachwirkendes Protokoll von Rechtsbrüchen und -beugungen und die Geschichte des kollektiven Versagens eines Justizsystems, das selbst dann noch Unschuldige hinter Gittern schickte, nachdem diese von den wahren Täter entlastet wurden. Der bemerkenswerte Film ist (endlich) auf DVD und Bluray erschienen.

In Hannover präsentiert eine Staatsanwaltschaft trotz strafrechtlich irrelevanter Ausgangslage einen Menschen, der moralisch allerdings nicht mit viel Sympathie rechnen darf, ungeniert der Öffentlichkeit und ergänzt alles mit haltlosen Spekulationen über weitere unbewiesene Delikte. Im Korruptionsprozess gegen einen ehemaligen Bundespräsidenten geht es nach mächtigem Getöse zuletzt nur noch um Summen, die ein erfolgreicher Broker nach Erhalt seiner Boni womöglich einem Taxifahrer als Trinkgeld geben würde. In beiden Fällen reagierte die Öffentlichkeit und Teile der Medien gereizt: Vermutungen ersetzten die Ermittlung und das Gerichtsverfahren, Beschuldigungen reichten als Beweise.
Der echte Fabrice Burgaud, den eine französische Zeitung „Le Petit Juge“ (Der kleine Richter) genannt hatte, schrumpfte dagegen im Februar 2006 vor dem Untersuchungsausschuss der Pariser Nationalversammlung zu einem zitternden Häuflein Elend zusammen. Der Untersuchungsrichter, der sich zur Speerspitze der öffentlichen Meinung gemacht hatte, blieb trotzdem uneinsichtig. Kurz zuvor waren die letzten seiner Justizopfer freigesprochen worden.

Im Mittelpunkt von Vincent Garenqs Justizdrama „Haftbefehl“ steht jedoch nicht die Geschichte des relativ unerfahrenen Untersuchungsrichters, sondern exemplarisch der „Présumé coupable“, der mutmaßlich Schuldige: es ist der Gerichtsvollzieher Alain Marecaux (Philippe Torreto), der mitten in der Nacht von einem Einsatzkommando der Polizei aus dem Bett geholt wird. Marecaux und seine Frau (Noémie Lvovsky) werden als Kinderschänder festgenommen, die Kinder der beiden werden in Pflegefamilien untergebracht, während der biedere Marecaux vergeblich seine Unschuld beteuert. Eine mehrjährige Odyssee durch das französische Justiz- und Gefängnissystem beginnt.
Was war geschehen? Ein achtjähriger Schüler hatte seinen Schulkameraden von brutalen sexuellen Übergriffen seiner Eltern Thierry und Myriam Delay berichtet. Von den Geschwistern des Jungen wurden die Beschuldigungen gegenüber den Behörden bestätigt. Nun aber bezichtigten die beiden Delays, allen voran die Mutter, zusätzlich auch zahlreiche Nachbarn, an den Vergewaltigungen beteiligt gewesen zu sein. Den Ermittlern schien sich ein monströser Kinderschänder-Ring zu offenbaren. 

Der Verdacht erhärtet sich, als bei einigen der ins Fadenkreuz geratenen Nachbarn einige Porno-Magazine gefunden werden. Im Fokus stehen danach endgültig bislang ungescholtene Bürger des kleinen Ortes Outreau: Bäcker, Hausmeister, Taxifahrer – und Alain Marecaux, der Gerichtsvollzieher, und seine Frau. Nur vier der 17 Beschuldigten, Myriam Delay und eine Freundin sowie die Lebensgefährten der beiden Frauen, gestehen, der Rest wehrt sich vehement gegen die Anklage.


Das ganze Justizsystem steht auf dem Prüfstand


„Haftbefehl“ erzählt diese Geschichte, die in ein Frankreich ein enormes Medienecho auslöste, nicht aus der Perspektive der Ermittler, sondern stellt pars pro toto Alain Marecaux in den Mittelpunkt. Mit Suspense hat „Haftbefehl“ also nichts zu tun, denn von Anfang an ist klar, dass die Hauptfigur des Films völlig unschuldig ist. Nur Zuschauern, die sich nicht an den Fall erinnern können, dürfte der Ausgang des Ganzen nicht klar sein.

Garenq schildert in einer beinahe naturalistischen Erzählsprache von der Verzweifelung und Resignation des ins Räderwerk der Justiz geratenen Familienvaters, der seinen Beruf und dann auch seine Frau verliert und schließlich mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen (was einem der Verdächtigten übrigens gelingt). Langsam, aber unausweichlich findet die Zerrüttung einer kleinbürgerlichen Existenz statt. Das allgemeine Klima der Vorverurteilungen und Verdächtigungen wird durch die Presse angeheizt und über den Verantwortlichen schwebt die Angst, nur wenige Jahre nach der erschütternden Dutroux-Affäre im benachbarten Belgien möglicherweise nicht entschlossen genug zu handeln. Alles in allem eine tödliche Melange, der nur Marecauxs entschlossener Anwalt trotz der Einschüchterungsversuche der Ermittler couragiert entgegentritt.

Ein wenig erinnert dies Vinterbergs „Die Jagd“, noch mehr an Hitchcocks „The Wrong Man“, der ebenfalls auf einem authentischen Fall basierte. Auch in diesen Filmen ist von Anfang klar, dass die Hauptfiguren unschuldig sind. Doch während Henry Fonda lediglich das Opfer einer Verwechselung und fragwürdiger Zeugen ist, steht in „Haftbefehl“ das gesamte System auf dem Prüfstand. Verkörpert wird es durch den Ermittlungsrichter Burgaud, der von Anfang an spüren lässt, dass er das Wort „mutmaßlich“ aus seinem Wortschatz gestrichen hat. Statt ergebnisoffen zu ermitteln, setzt Burgaud nicht nur Marecaux, sondern auch dessen Anwalt unter Druck. Beweise, die die Aussagen der Kinder erhärten, gibt es nicht. Entlastendes Material wird ignoriert, Widersprüche in den Aussagen von Belastungszeugen werden nicht weiterverfolgt oder erst gar nicht in die Ermittlungsakten aufgenommen. Selbst dann, als die misshandelten Kinder ihre Peiniger auf Fotos nicht oder sogar falsch identifizieren, lässt sich der kühle, beinahe unbarmherzige Untersuchungsrichter nicht beirren. Dabei, und das gehört zu wenigen Schwächen der von Vincent Garenq gewählten Binnenperspektive, waren über 60 Richterkollegen und eine Heerschar von Ermittlern an der Verfahrensvorbereitung beteiligt.

Das Skandalon, und spätestens hier bekommt „Haftbefehl“ auch die Qualität eines Justizthrillers, erreicht seinen Höhepunkt in der Gerichtsverhandlung. Myriam Delay bricht in einer dramatischen Szene zusammen und beteuert, dass alle von ihr denunzierten Nachbarn unschuldig sind: „Ich bin krank und eine Lügnerin!“ 

Sieben Angeklagte werden 2004 dennoch verurteilt, ihr Martyrium geht weiter. 
Zum Teil wurde in den realen Prozessen den Aussagen der Kinder mehr geglaubt als dem Dementi der Täterin und ein Sachverständiger kommentiert das Ganze mit dem Hinweis, dass er wie eine Putzfrau bezahlt wird und daher auch nur das Gutachten einer Putzfrau liefern könne.

Erst Ende 2005 werden die letzten der unschuldig Verurteilten aus dem Gefängnis entlassen und das Pendel schlägt in die andere Richtung aus: das Parlament richtet einen Untersuchungsausschuss ein und bald wird klar, dass alle Urteile einem Geflecht aus Lügen und Vorverurteilungen, aber auch gezielten Rechtsbeugungen des Apparates zu verdanken waren.
 

„Haftbefehl“ ist ein Gebrauchsfilm. Und das ist positiv gemeint, denn seinen Nutzwert zieht der Zuschauer aus dem Faktischen, dass der Film präsentiert und an das er erinnern will. Ob sich die Unschuldsvermutung als ziviles Rechtsgut in allen Zuschauerköpfen niederschlagen wird, darf dennoch bezweifelt werden, denn die gut geölte Maschinerie aus Vorverurteilungen und medialer Hetzjagd haben wir hierzulande mitsamt der unweigerlich eintretenden Konsequenzen bereits mehrfach erleben dürfen.

Vincent Garenq hätte sicher auch einen Thriller aus dem Stoff machen können, was auch recht gut in die cineastische Tradition des französischen Kinos gepasst hätte. Dass er eine subjektive Perspektive gewählt hat und mit Philippe Torreton einen ausgezeichneten Darsteller besaß, dessen Spiel auf bedrückende Weise unter die Haut geht, gehört zu den nachhaltigen Eindrücken des Films. Genauso wie die nüchternen, beinahe dokumentarischen Bilder, die dennoch enorm emotionalisieren.
„Haftbefehl“ berührt nicht nur die Angst vor dem Schicksal Marecauxs, sondern mehr noch die noch tiefer sitzende Angst vor der sozialen Ächtung und der völligen Auslöschung der bürgerlichen Existenz. Dass der Film am Ende davon berichtet, dass sein Held doch noch einigermaßen ins zivile Leben zurückgefunden hat, ist nur ein schwaches Sedativum.

Noten: Mr. Mendez, Klawer, BigDoc = 2,5

FR 2011, O.: Présumé coupable, R.: Vincent Garenq, D.: Philippe Torreton, Noémie Lvovsky, Raphaël Ferret