Sonntag, 1. November 2009

Schwarze Pädagogik

Nachtrag zu Michael Hanekes Film "Das weiße Band"
Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hat zu dem Film ein nahezu perfektes Materialheft vorgelegt. Leider wurden die ergänzenden Anmerkungen zur Schwarzen Pädagogik schlecht recherchiert. Die bpb nennt in diesem Zusammenhang (S.9) besonders ein Buch: „Im ‚Methodenbuch für Väter und Mütter der Familie und Völker’ von 1880 (Rutschky, 1977) beispielsweise wird detailliert beschrieben, wie man diese Erziehungsmethoden gezielt verwendet, um Kindern ihre völlige Abhängigkeit von der Willkür der Eltern vor Augen zu führen und ihren Willen zu brechen.“
Der Quellenhinweis zielt auf die Soziologin Katharina Rutschky ab, die mit Untersuchungen über die Pädagogik des 18. und 19. Jh. bekannt wurde (Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, 1977). Zum einen wird von der bpb unterschlagen, dass dieses Buch von dem bekannten Reformpädagogen Johann Bernhard Basedow stammt, zum anderen ist es bereits 1770 erschienen. Nun kann Basedow kaum als Vorreiter der Schwarzen Pädagogik genannt werden. Basedows Bemühungen hatten eine kreative Reform der überkommenen Schulpädagogik zum Ziel: die Schüler sollten frei und mit großer Selbstständigkeit forschen und lernen. Das Prinzip des selbst ernannten Philanthropen lautete „Nicht viel, aber mit Lust“ und kündigt nicht gerade eine sadistische Quälpädagogik an. Ich verweise gerne auf eine Quelle.
Aufschlussreich sind aus meiner Sicht die Postulate des schweizerischen Philosophen Johann Georg Sulzer (1720 – 1779), dessen ästhetisches Kompendium „Allgemeine Theorie der schönen Künste“ (1753) als Paradebeispiel der deutschsprachigen Hochaufklärung gilt. Sulzer versuchte sich auch als Pädagoge und merkte zur frühkindlichen Erziehung an: „Diese ersten Jahre haben unter anderem auch den Vorteil, dass man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen nehmen, so erinnern sie sich hiernach niemals mehr, dass sie einen Willen gehabt haben.“ (J. Sulzer: Versuch einiger vernünftiger Gedanken von der Auferziehung und Unterweisung der Kinder (1745)).
Sulzer war nun nicht etwa ein pathologischer Sadist, sondern hatte nicht weniger als die „Glückseligkeit“ der Anempfohlenen im Sinne. Man kann mit Schaum vor dem Mund auf die Pädagogen des 18. Jh. eindreschen oder das Scheitern der Aufklärung beklagen, sollte aber wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass sich die frühe Pädagogik auf einem noch nicht ganz umgepflügten Acker befand. Theoretiker wie Sulzer standen in der Tradition eines brachialen Christentums, das dem Kind per se die Neigung zum Bösen unterstellte. Dessen Eigensinn musste nicht nur deshalb gebrochen werden, damit es unterworfen wird, sondern weil der frühkindliche Eigensinn aus dem angeborenen Bösen herrührt. So gerät Pädagogik natürlich zum Exorzismus, aber den geschichtlichen Kontext habe ich in der Filmkritik mit Verweisen auf den Calvinismus und den protestantischen Codex und einem Zitat von Max Weber hoffentlich etwas aufgehellt.
Natürlich war diese Pädagogik leib- und sexualfeindlich und repressiv, aber in ihrem Begründungszusammenhang bleibt sie ein Kind der Aufklärung und des Idealismus, ging es doch darum, das Kind zum sittlichen Vernunftwesen zu formen, was auch im Kantschen Sinne letztlich die Freiheit des Individuums in vollendeter Form darstellte. Die im Nachhinein so genannte Schwarze Pädagogik beschreibt nichts anders als den Weg des Kindes vom Tier zum sittlichen Vernunftwesen, das aus Einsicht seine Autonomie gewinnt.
All diese aus heutiger Sicht obskuren Ansichten hielten sich wacker – und zwar über das 19. Jh. hinaus. Geprügelt wurde aus Überzeugung und wie der Pfarrer in „Das weiße Band“ salbadernd an seiner Härte leidet, könnte auch der deutsche Pädagoge K.A. Schmid gelitten haben: „,Du hauest ihn (den Knaben) mit der Rute; aber du errettest seine Seele von der Hölle.‘ In diesem Wort malt Salomo das Hartseinkönnen der wahren Liebe. Es ist nicht die harte stoische oder einseitig gesetzliche Strenge, die Gefallen an sich selber hat und lieber den Zögling opfert, als dass sie einmal von ihrer Satzung wiche; nein, sie lässt ihr herzliches Wohlmeinen bei allem Ernst doch immer wieder in Freundlichkeit, Erbarmen, hoffender Geduld, wie die Sonne durch Wolken, hindurchleuchten. Sie ist bei aller Festigkeit doch frei und weiß immer, was sie tut und warum sie es tut.“ (Aus: K. A. Schmid [Hrsg.]: Enzyklopädie des gesamten Erziehungs und Unterrichtswesens, 1887, zit. n. [Rutschky 1977]). Wer sich gründlicher informieren will, dem sei Material der TU Darmstadt ans Herz gelegt.

Die Fortschreibung dieser unseligen Geschichte sind die Exzesse katholischer Heimerziehung, die bis in die 1970er Jahre fortgesetzt wurden und als verlängerter Arm der Schwarzen Pädagogik gelten. Auch hier empfehle ich eine leicht zugängliche Quelle, die ihrerseits eine Reihe aufschlussreicher Links anbietet.

Man kann an diese Thematik aus psychoanalytischer oder soziologischer Sicht herantreten, am Ende steht das Pathologische, das längst seine Herkunft aus der Aufklärung abgeworfen hat: das Kind ist der Feind. Auch heute geraten die Pädagogen mit ihren liberalen Entwürfen erneut in einen Erklärungsnotstand, wenn sie Mobbing und Aggression an Schulen entgegentreten sollen. Denn erneut treten jene auf den Plan, die nach strenger Härte rufen. Sie sollten sich umschauen, um herauszufinden, in welcher Tradition sie stehen.