Dienstag, 26. Januar 2016

Akte X ist zurück

Von 1993 bis 2002 gehörten die „X-Files“ (Akte X) zu den beliebtesten Sci-Fi-Serien im amerikanischen TV. Paranormale Phänomene mussten aufgeklärt werden, Monster und Aliens wurden Woche für Woche von den FBI-Agenten Dana Scully (Gillian Anderson) und Fox Mulder (David Duchovny) aufgespürt. Und die Welt musste vor Verschwörern gerettet werden, die mit aggressiven Aliens kollaborierten. Nach Duchovnys Ausstieg sanken die Ratings und nach der 9. Staffel wurden die Figuren in eine ungewisse Zukunft entlassen, denn nicht alle Rätsel konnten in der finalen Episode gelöst werden. Nach wie vor wartete die Wahrheit irgendwo da draußen. Nun sind die X-Files wieder zurück. FOX hat von Chris Carter eine sechsteilige Mini-Serie produzieren lassen, die das alte Team in eine neue Zeit katapultiert. Möglicherweise das spektakulärste Serien-Revival des Jahres. Eine vollständige Besprechung aller Episoden gibt es hier.
 

Was ist aus Scully und Mulder geworden? Mulder ist in Episode 1 „My Struggle“ sichtbar angeschlagen. Unrasiert taucht er auf, offenbar hat er die letzten Jahre im Untergrund gelebt. Nur Scully scheint gelegentlich zu wissen, wie er zu erreichen ist. Seine Schlagfertigkeit hat er nicht eingebüsst, schnell schlagen die Dialoge der beiden die alten Screwball-Funken. Scully ist nach wie vor nicht mundfaul und wenn Mulder sie fragt, auf welche Weise sie etwas herausgefunden hat, antwortet sie „I’m old-school, Mulder. Prä-Google!“
So war es schon damals. Mulder, der geniale Ermittler mit dem Riecher für die Fakten, die sich hinter den Fakten verbergen. Scully, die Rationale und Scharfsinnige, die schnell kontern konnte, blitzgescheit ironisch wurde und Mulders Ideen stets mit dem Empirischen und den strengen Methoden der Naturwissenschaften konfrontierte.
Daran hat sich nichts geändert: Scully seziert wie immer Leichen für Mulder oder blickt durch ein Mikroskop. In
„My Struggle“ zeigt sich, dass diese Arbeitsbeziehung immer noch effektiv ist, nur traut ausgerechnet sie diesmal den Ergebnissen nicht, prüft alles noch einmal und findet heraus, dass die überprüfte Person tatsächlich Alien-DNA besitzt. Dass Scully sich bei dieser Gelegenheit selbst untersucht (warum nicht schon früher?), ergibt dann natürlich einen hübschen Cliffhanger – man ahnt, wie das Ergebnis ausgefallen ist.

Verändert hat sie sich allerdings schon, mehr als Mulder, der nach einem müden Auftakt schnell wieder der Alte ist. Scully arbeitet in Episode 1 als Ärztin, hat mit den X-Files angeschlossen und scheint am Vergangenen mehr zu laborieren als ihr Ex-Partner. Gillian Anderson flüstert eher in ihrer Rolle als dass sie kraftvoll spricht, sie gibt Scully nicht mehr als Energiebündel, sondern als depressive Frau mit einer riesigen Lebenslücke. Warum das so ist, erfährt man häppchenweise in den beiden ersten Episoden: Scully und Mulder haben einen gemeinsamen Sohn, William (Season 7 & 8), der aus Sicherheitsgründen anonymisiert zur Adoption freigegeben wurde. Mulder hat darüber eine endogene Depression entwickelt, die die Beziehung der beiden ruiniert hat. Und beide werden von Visionen heimgesucht, in denen sie Vater und Mutter sein dürfen. 


Natürlich Verschwörer!

Geplant sind zwei Mythologie-Folgen und vier „Monster of the Week“-Episoden.
 Chris Carter hat die erste Episode geschrieben und auch selbst Regie geführt. „My Struggle“ führt auch gleich in die X-Files Mythologie ein. Das ist konsequent, da der Erzählrahmen auf sechs Folgen begrenzt ist. Raum für eine langsame Entwicklung der Erzählung gibt es kaum.

Die Mythologie-Folgen der alten Serie, in denen Scully und Mulder eine weltweite Alien-Verschwörung aufdecken wollten und teilweise auch konnten, wurden bei den Fans der Serie zur Legende und damit zur Blaupause unzähliger Fantasy-Serien. Wer sich fragt, warum in US-Filmen so häufig die Bösen in der Regierung und den Geheimdiensten gefunden werden, findet eine Antwort auch in den X-Files. Carters Original-Serie ist zudem der legitime Nachfolger der Paranoia Movies aus den 1970er Jahren und knüpfte mit dem schwarzen Öl, den Gestaltwandlern und Super-Soldaten an Traditionen an, die bis zum Genreklassiker
Invasion of the Body Snatchers" zurückreichen.
 

Zum festen Bestand des narrativen Konstrukts gehörten aber auch die klassischen „Monster of the Week“-Episoden, abgeschlossene Geschichten, die in Sachen Originalität und Witz der Alien-Mythologie nicht nachstanden, gelegentlich sogar besser waren. Chris Carter und seine Mitstreiter spielten in den MotW-Episoden nicht nur hart am Rande der Ekelgrenze, sondern überschritten sie lustvoll. Wenn Scully und Mulder etwa den Bandwurmmann finden wollten, mussten sie buchstäblich durch Fäkalien waten. Ohne Witz und Ironie ging dies nicht. Noch heute wirken die Dialoge der alten X-Files frisch und unverbraucht. Im Kern waren die X-Files eine „Monster of the Week“-Serie mit einem Main Plot, der nicht nur aus dem Storyelement der Verschwörung bestand, sondern der Serie auch einen zeitlichen Rahmen gab, der von Roswell bis in die Erzählgegenwart reichte. Der Wechsel zwischen beiden Elementen war innovativ - als der Begriff „horizontales Erzählen“ noch nicht en vogue war, haben Showrunner Chris Carter und sein Autorenteam bereits horizontal und vertikal erzählt (1).
 

Nun galt es, an das Alte anzuknüpfen, aber alles auch so zu erzählen, dass Neueinsteiger eine Chance haben.
„My Struggle“ versucht den Spagat und schneidet dabei insgesamt gut ab. Chris Carter hat sich als Autor allerdings weit aus dem Fenster gelehnt. Der Plot der ersten Episode hat nämlich eine Botschaft – und so etwas mögen nicht alle Fans. Erste Andeutungen tauchen gleich zu Beginn auf: Im einleitenden Teaser zeigt Carter, wie 1947 ein UFO in New Mexico eine Bruchlandung macht und die anrückende Militäreinheit den außerirdischen Piloten tötet. Dabei wird von den Militärs offenbar auch Alien-Technologie erobert.
Die Gegenwart: 14 Jahre Jahre nach ihrem letzten Kontakt will FBI Assistant Director Walter Skinner (Mitch Pileggi ist in seiner alten Rolle wieder dabei) , dass Mulder sich Tad O’Malley, den Anchorman einer Online-TV-Show, etwas genauer anschaut. Skinner äußert sich in einem Gespräch mit Mulder düster über den Wandel der Zeiten, alles habe sich seit Nine-Eleven verändert. Bald erfährt man, warum dies so ist. O’Malley ist nämlich nicht nur ein rechtsgerichteter Verteidiger der Waffenindustrie, sondern auch ein Anhänger von Mulders Theorien. Allerdings gibt er dem Ganzen eine überraschende Wendung: er präsentiert Scully und Mulder beim ersten Treffen eine junge Frau, Sveta, die ein Entführungsopfer sein soll. Sveta berichtet, dass sie mehrmals schwanger war, die Föten aber kurz vor der Geburt entfernt wurden. Allerdings waren nicht Aliens dafür verantwortlich, sondern die Regierung der USA.

Als O’Malley in einem geheimen Hangar Mulder ein mit Alien-Technologie gebautes UFO mit Tarnkappentechnik demonstriert, läuft der zuvor skeptische Mulder zum Entsetzen Scullys mit fliegenden Fahnen zu dem Verschwörungstheoretiker über und fühlt sich (was in der alten Serie bereits schon einmal als fundamentaler Glaubensverlust durchdekliniert worden war) wieder einmal um die Wahrheit betrogen. Ein Informant (à la „Deep Throat“ aus der 1. Season des X-Files) scheint Mulders Weltbild endgültig zum Einsturz zu bringen. In einem langen Monolog erklärt der desillusionierte Mulder danach seine neue Sicht auf die Welt: Nicht Aliens hätten mithilfe des
Syndikatsjahrzehntelang Frauen für Gen-Experimente entführt und versucht, einen Alien-Mensch-Hybriden zu erschaffen, sondern es seien von Beginn an Verschwörer in der US-Regierung gewesen, die nach dem New Mexico-Zwischenfall heimlich Alien-Technologie eingesetzt haben, um die Herrschaft an sich zu reißen. Natürlich weltweit.

Carter unterlegt diese Suada mit einem Teaser, der so aussieht, als hätte ihn Michael Moore montiert, um den militärisch-industriellen Komplex, vor dem bereits Eisenhower warnte, mit einem Anti-Werbefilm anzuklagen. Und
Mulder (unterlegt mit den passenden Bildern) erzählt: Weltweit heizen die USA militärische Konflikte an, spionieren ihre Bürger aus, manipulieren Wirtschaft und Banken. Die Demokratie wird methodisch durch den Patriot Act und den National Defense Authorization Act geschwächt, die US-Bürger werden zu willenlosen Konsumenten umerzogen und durch falsche Ernährung und Drogen in tumbe, fette Idioten verwandelt.
Natürlich sind auch Bilder von Edward Snowden und Julian Assange zu sehen. Getoppt wird alles mit einem Einspieler, in dem George W. Bush den Amerikaner rät: „Und ich empfehle Ihnen allen, mehr shoppen zu gehen!“ Alles scheint nun für Mulder klar zu sein: eine ultra-faschistische Elite will erst die amerikanischen Bürger versklaven und dann die Weltherrschaft an sich reißen. Aliens haben mit der Verschwörung nichts zu tun. Sie seien durch Wurmlöcher in friedlicher Absicht zu uns gereist.


Brave New World

Klar, diese Sequenz wird polarisieren. Und tatsächlich weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Chris Carter hatte schon in der alten Serie nicht immer ein glückliches Händchen bei der Continuity der Mythologie-Folgen. Manchmal gewann man den Eindruck, dass einige Episoden nur deswegen funktionieren konnten, weil besonders Scully, aber auch Mulder, sicher geglaubte Erkenntnisse irgendwie über Nacht vergessen hatten (2). In „My Struggle“ wird der Alt-Fan deshalb auf eine harte Probe gestellt, denn Mulders Sinneswandel ist nicht wirklich plausibel. Scully kann nur konsterniert feststellen: „Das ist Techno-Paranoia. So dumm und gefährlich, dass es an Verrat grenzt!“

Verrat an dem, was man eigentlich besser wissen sollte? Carters Intention dürfte allerdings klar sein: Die neuen X-Files sollen in der politischen Neuzeit ankommen. Formal ist der Teaser spannend, denn extra-diegetische Elemente waren in der alten Serie nicht vorgekommen. Nun wird plötzlich in einem Rutsch alles serviert, wozu die alte Serie fast fünf Staffeln benötigte, bis dann irgendwann der Cigarette-Smoking-Man endlich einen knappen Abriss der Verschwörung präsentierte. Aber vielleicht wurde Mulder erneut zum Narren gehalten. Es wäre nicht das erste Mal.
Erneut bleibt sich Carter in einem Punkt treu: Es geht nicht um das Verstehen oder die endgültige Auflösung des Geheimnisses, sondern um den Glauben daran, dass es möglich ist, die verborgene Wahrheit
„da draußen" zu enthüllen. Auch Mulder wollte glauben. Nur ist dies in der Regel mit Täuschungen verbunden, auch mit Selbsttäuschungen – und das gilt nicht nur für die Protagonisten, sondern auch die Fans. Und so weiß man nicht so recht, ob Chris Carter mit dem Teaser ein politisches Statement abgeben will oder politische Satire in die Serie implementieren möchte. Aber ist etwas Satire, dass über weite Strecken so nah an der Realität ist? Eine weitere Lesart ist auch denkbar: Carter will die Mythologie gar nicht auserzählen, sondern (ähnlich wie bei dem offenen Ende der 9. Staffel) die Option behalten, irgendwann weitermachen zu können. Dazu ist es nun gekommen.

Trotz einiger Irritationen kann man der ersten Episode trotzdem eine Zwei plus geben. Die X-Files sind wieder da, mit all ihren Widersprüchen und Inkonsistenzen. Und selbstverständlich werden auch in „My Struggle“ wieder einmal alle Beweise vernichtet und einige Figuren verschwinden von der Bildfläche.

In „Founder’s Mutation“, der zweiten Episode geht es um telepathisch und telekinetisch begabte Geschwister, einen „Mad Scienctist“, der seltene genetische Deformationen bei Kindern behandelt und ein dunkles Familiengeheimnis hütet. „Founder’s Mutation“ ist eine „Monster of the Week“-Geschichte, die aber mit einem Fuß in der neuen Mythologie der Serie steht.
Geschrieben hat das Script James Wong, der für die alte Serie eine Reihe von brillanten Drehbüchern verfasst hat und Regisseur einer Kultepisode war: „Gedanken des geheimnisvollen Rauchers“ (
07x4). Diesmal ist Wong aber eher ein bescheidener Wurf gelungen, denn statt einem Monster gibt es eine Reihe kleiner und zwei halbgare zu sehen, die nicht so einprägsam sind wie die legendären MotWs der alten Serie. Die hatten aufgrund ihrer Popularität mitunter sogar Mehrfachauftritte.
Schön ist dagegen eine Sequenz in
„Founder’s Mutation“, in der man sieht, wie Mulder und sein Sohn erst Kubricks „2001" anschauen und im Garten eine Rakete in den Himmel schießen. Auch dies ist eine Traumvision, aber sie zeigt auch, dass die Macher stilistisch facettenreicher geworden sind, mehr in die Figurenentwicklung investieren und noch einige mysteriöse Geheimnisse im Köcher haben. Eins ist nach dieser Episode aber klar: Scully und Mulder sind nun wieder beim FBI und wir werden sie in ihrem alten, muffigen Kellerraum vor dem Aktenschrank mit den X-Akten sitzen sehen.

Wie geht es weiter?

Die neuen X-Files treffen den Ton der alten Serie. Die Mini-Serie ist steckenweise so frech wie die alte und technisch ihrem Vorgänger um Lichtjahre voraus. Die Effekte sind kinoreif und stilistisch haben Chris Carter und sein Team einen Schritt nach vorne gemacht. Zum Glück wurden vertraute Motive zudem nicht verändert. So ist die Main Title Sequence unverändert geblieben. Mark Snow, der für den Score und das Main Thema der alten Serie verantwortlich war, ist erneut an Bord, sodass auch musikalisch eine Kontinuität hörbar wird.
Beim Casting hat Carter neben den Hauptdarstellern viele der alten Akteure  erneut gewinnen können. Neben Mitch Pileggi gilt dies auch für die Darsteller der Lone Gunmen, die wohl in einer der folgenden Episoden ihren Auftritt haben werden. Auch der mittlerweile 78-jährige William B. Davis darf am Ende der ersten Episode einen Two-Liner zum Besten geben: „Wir haben ein Problem. Sie haben die X-Files wieder geöffnet!“ Der Cigarette-Smoking-Man sitzt allerdings schwer angeschlagen in einem Rollstuhl und qualmt nun durch ein Tracheostoma (wie bereits in
„Requiem", 7x22).
Auch wenn man zu Anfang den Eindruck hat, dass Chris Carter die Plot-Entwicklung etwas zu sehr forciert, ist dies wohl angesichts der limitierten Anzahl der Episoden nachvollziehbar. Immerhin hat man das Gefühl, das alles beim Alten geblieben, aber zugleich moderner und zeitgemäßer geworden ist. Die neuen X-Files sind mehr als eine Hommage für die Fans.

Die sind natürlich an der Zukunft der X-Files interessiert. „My Struggle“ erreichte beim Debüt am 24. Januar über 16 Mio. Zuschauer und ein Nielsen-Rating von 6.1. Das schafft „The Walking Dead“ nur an guten Tagen. Die zweite Episode wurde von den US-Kritikern begeistert aufgenommen, halbierte aber mit 9,67 Mio. Zuschauer die Quoten der ersten Folge, was allerdings immer noch ein starkes Ergebnis ist (3). Duchovny und Anderson sind für eine weitere Zusammenarbeit bereit und wenn die Quoten nicht einbrechen, werden Scully und Mulder irgendwann auch die letzten Verschwörer aus ihren Löchern getrieben haben. Oder auch nicht. Und der Vorrat an Monstern scheint ohnehin unerschöpflich zu sein.


Note: BigDoc = 2


(1) „Progressive Complete Serien“ nennt man dies in der Medientheorie. „Complete“ (oder auch
„Status Quo") ist eine Erzählweise mit abgeschlossenen Geschichten, die mit jeder Episode enden und keine zeitliche Chronologie kennen. „Progressive“ („The Wire", „Breaking Bad") sind horizontal erzählte Episoden, die einen Plot haben, der mindestens eine ganze Staffel bestimmt, in der Regel aber staffelübergreifend ist. „Progressive Complete“-Serien sind eine Mischung aus beidem – sie haben einen staffelübergreifenden Meta-Plot, aber auch abgeschlossene Geschichten. Narratologisch wartet auf den horizontalen Serientyp aber immer das Problem des Endes, des überzeugenden Finales.

(2) Mit dem kollektiven Gedächtnisverlust spielte Carter schlagfertig in „Requiem" (7x22, dts. Titel „Alles begann in Oregon"). Dort taucht ein FBI-Revisor auf, der die Kosten-Nutzen-Relation der X-Files auf den Prüfstand stellt und zu keinem guten Ergebnis kommt, obwohl die X-Files nach über 100 Episoden eigentlich voll mit beweiskräftigen Unterlagen über die zahlreichen Monster sein sollten, die Scully und Mulder bis dahin zur Strecke gebracht haben. Das ist deshalb witzig, ironisch und selbst-referentiell, weil vertikale Serien grundsätzlich unter Amnesie leiden: die Figuren haben zu Beginn einer neuen Episode alles vergessen, was sie in der letzten erlebt haben. Das FBI scheint das gleiche Problem zu haben.

(3) Insgesamt wurde die zweite Folge besser aufgenommen als die erste. Nicht nur bei TV-Kritikern in der USA, sondern auch in deutschen Foren. Das spiegelt zum Teil den alten Kampf der Fraktionen wider: auf der einen Seite die MotW-Fans, auf der anderen Seite die Mythologie-Fans. Neueinsteiger tun sich schwer mit der Mythologie - sie haben so etwas ja in „Fringe" und ähnlichen Serien gesehen und erleben nun einen müden Aufguss. Mit der gebotenen Höflichkeit sei angemerkt, dass die X-Files das Original sind. „Fringe" ist der Nachahmer - bis hin zum Wechsel zwischen Einzelfällen und Metaplot. Probleme mit der neuen Mythologie entstehen allerdings auch dadurch, dass die Kern-Mythologie bereits mit One Son" (6x12) und der Auslöschung des Syndikats auserzählt war. Carter und sein Team konnten nur dank einiger erzählerischer Verrenkungen weitere Mythologie-Folgen produzieren. Oft zu Lasten der Plausibilität. Auch Mulder scheint in der neuen Miniserie One Son" vergessen zu haben.

Update des Beitrags v. 26. Januar 2016.

Freitag, 22. Januar 2016

The Revenant

Am 28. Februar ist OSCAR-Verleihung. Dann werden wir wissen, ob Leonardo DiCaprio endlich seine Trophäe erhält. Wenn nicht, geht die Welt auch nicht unter. Gegönnt sei es aber dem Hauptdarsteller des naturalistischen Western „The Revenant“. Interessanter scheint aber die Frage zu sein, ob Alejandro González Iñárritu nach dem überragenden „Birdman“ erneut einen guten Film gemacht hat.

Auf jeden Fall hat er einen ganz anderen gemacht. Dem ausgeklügelten Kunstprodukt „Birdman“, in dem es um Kino und Theater, um Massenkunst und bürgerliche Schaubühne, um Illusionen und Wahn geht und das am Ende die Frage offen lässt, ob der Held in den Tod springt oder tatsächlich fliegen kann, folgt mit „The Revenant“ ein Trip an unwirtliche Settings in Kanada und Argentinien, wo der mexikanische Starregisseur seine Mitarbeiter an die physische Grenze trieb, weil halt alles echt sein sollte. Bis ihm einige davonliefen. Dem Method Acting wurde quasi ein Method Naturalism zur Seite gestellt.
Für „Birdman“ hatte der Mexikaner vor einem Jahr drei Statuen bekommen (Bester Film, Beste Regie, Bestes Original-Drehbuch). Mit seinem rustikalen Western wagt Iñárritu diesmal nach komplexen Arthouse-Produkten wie „Amores Perros“, „21 Gramm“, „Babel“ und dem sperrigen „Biutiful“ den Sprung in Hollywoods edelstes Genre – den Western. Zwölf OSCAR-Nominierungen haben dieser kleinteilige Naturalismus und weitere Qualitäten dem Film eingebracht.

 

Naturalismus, keine Mythen

Iñárritu erzählt in „The Revenant – Der Rückkehrer“ die Geschichte des Trappers Hugh Glass, frei nach Motiven aus dem gleichnamigen Roman von Michael Punke. Sie spielt in den 1820ern, irgendwo in den Tiefen der Wälder von North Dakato. Glass (Leonardo DiCaprio) begleitet zusammen mit seinem halbindianischen Sohn Hawk (Forrest Goodluck) als Scout einen Trupp Männer, der ein nahe gelegenes Fort mit Fleisch versorgen soll, aber auch ein lukratives Geschäft mit der Erbeutung von Tierfellen im Sinn hat. Angeführt wird die Gruppe von Andrew Henry (Domhnall Gleeson). Pech für die Männer: ein Indianerstamm, die Arikarees, durchstreift die Wälder, weil die weißen Invasoren ausgerechnet die Tochter des Häuptlings entführt haben sollen. Der Jagdtrupp wird überfallen und beinahe vollständig aufgerieben. Nachdem die Überlebenden sich auf einen tagelangen Marsch ins entfernte Fort eingestellt haben, wird Glass von einem Grizzly angefallen. Der Bär zerfetzt den Trapper beinahe, kann aber von dem fast halbtoten Glass mit dem Messer getötet werden.
Wie durch ein Wunder hat Glass die Attacke
überlebt, aber der Rücktransport erweist sich als unmöglich. Henry beschließt, den Schwerverwundeten zurückzulassen. Der Pelzjäger John Fitzgerald (Tom Hardy), Hawk und der junge Jim Bridger (Will Poulter) sollen Glass, falls es zum Schlimmsten kommt, mit Würde und Anstand unter die Erde bringen. Fitzgerald, der bereits zuvor nicht sonderlich gut mit Glass zurechtkam, versucht dem vermeintlich Sterbenden zu suggerieren, dass dessen baldiger Tod das Beste für die Zurückgebliebenen sei und entnimmt Glass’ gurgelnder Antwort – die Stimmbänder des Trappers sind verletzt – eine Art von Zustimmung. Als Hawk die Sterbehilfe verhindern will, wird er von Fitzgerald vor den Augen seines Vaters erstochen. Fitzgerald beerdigt Glass bei lebendigem Leibe, täuscht seinen Begleiter Bridger über den wahren Hergang und setzt sich ab. Doch Glass überlebt die Tortur und schleppt sich, nur mit einem Bärenfell ausgerüstet, durch die Wildnis. Er will Rache.


Zu sagen hat der Film wenig, erzählen tut er viel

Das schreit nach Floskeln. Überraschen konnte daher nicht, dass die Kritik beinahe hymnisch einen „existenzialistischen Überlebenskampf“ heraufbeschwor und im Walten der Natur, eingefangen von der Kamera Emmanuel Lubezkis, Erbarmungslosigkeit und innewohnende Grausamkeit, aber auch Erhabenheit erkannte. Journalistenpoesie.
Tatsächlich hat sich Alejandro González Iñárritu mit stilistischem Purismus von der Komplexität seiner vorherigen Filme befreit und wohl nichts anderes als eine glasklare, möglichst unverfälschte Erzählung im Sinn gehabt. In zweieinhalb Stunden erzählt
Iñárritu daher die Geschichte der Auseinandersetzung zweier Männer beinahe handlungsarm, und das auf eine Weise, die frei von Deutungsangeboten ist. Und wenn sich beide am Ende gegenüberstehen, wird einer der beiden sterben müssen, nur auch das ein quälend langwieriges Procedere, denn Iñárritu zeigt auch, wie schwer es ist, einen Menschen zu töten. Das ist purer Naturalismus und hat absolut nichts mit den mythologisch überhöhten Naturgemälden eines Terrence Malick zu tun.

Dies gilt auch für die Kameraarbeit von Emmanuel Lubezki, der 2014 für „Gravity“ und 2015 für „Birdman“ einen Oscar mit nach Hause nehmen konnte. Seine vermeintlichen Naturpanoramen sind oft statische Totalen, die dem Zuschauer schweigend gegenübertreten. Seine Qualitäten zeigt Lubezki auch in einigen raffinierten Plansequenzen, wirklich beeindruckend ist seine virtuose Kadrierung, die souverän die Distanz zu den Akteuren aufhebt und eine Nähe herstellt, die ästhetisch einzigartig ist. „The Revenant“ ist daher ein Film, der seine Wirkung in der Präsenz der Ereignisse entfaltet, dabei eine sogartige Unmittelbarkeit entfaltet und sich am Ende als große Leerstelle entpuppt, wenn die finalen Credits über die Leinwand laufen.

Anders formuliert: Zu sagen hat der Film wenig, erzählen tut er viel.
Bei „Birdman“ sah dies anders aus.Und das bedeutet wohl auch, dass man „The Revenant – Der Rückkehrer“ nicht zwingend zum zweiten Mal ansehen muss.  Er ist nach dem esten Mal auserzählt. Zwar hat Hugh Glass im Fieberwahn Visionen und einige Flashbacks zeigen, dass Glass seine indianische Frau offenbar in den Scharmützeln zwischen den Briten, den Franzosen und den verschiedenen indianischen Stämmen verloren hat, aber dies sind visuelle Intermezzi.
Auch die Auseinandersetzung zwischen Fitzgerald und Glass gibt keine moralischen Dimensionen her, die aus dem Genrefilm ein existenzialistisches Drama machen. Tom Hardy spielt recht exakt einen ruppigen und gänzlich empathiefreien Mann, der von Indianern beinahe zu Tode skalpiert wurde und sich in einen boshaften Rassisten verwandelt hat. Für das ganz große Schurkenniveau ist Hardys Rolle aber eine Nummer zu klein und zu bedeutungslos.

Übrig bleibt eine Trostlosigkeit, die über den Bildern von „The Revenant“ liegt. Und die findet ihre Ursache nicht in wabernden Projektionen auf die Natur. Das war das Privileg der Romantik. Romantisch gestimmt ist Iñárritu eher nicht. Auch die historischen Rahmenbedingungen lässt er außen vor. Was die Briten und Franzosen in Kanada getrieben haben, welche Summen gezahlt wurden, damit riesige Terretorien mitsamt der Ureinwohner den Besitzer wechseln konnten, wird dem Zuschauer nicht erklärt. Dass die Indianer Anfang des 19. Jh. bereits ihren zivilisatorischen Untergang ahnten, legt der Regisseur nur an einer Stelle einem Arikaree in den Mund.
Trostlos ist vielmehr die eisige Distanz zwischen dem Zuschauer, der im warmen Kinosaal sitzt, und der nekrotisch vergammelnden Hauptfigur, die buchstäblich durch die Ödnis kriecht, auf Wurzeln herumkaut, von eiskalten Flüssen davon gerissen wird und im wärmenden Kadaver eines toten Pferdes Schutz vor dem Erfrieren sucht. Beiläufig sieht man, dass die Menschen in „The Revenant“ Vorboten einer düsteren Zukunft sind, in denen ökonomische Überlegungen die ethischen überlagern und der Indianer, der einem am Vortag beim Überlebenskampf geholfen hat, einen Tag später von irgendwelchen Barbaren an einem Baum gehenkt wurde.

Einigen Kritikern war diese Studie wohl zu metaphernarm. „Blöd eigentlich, dass man sich fast unweigerlich lustig macht über diese Geschichte. Denn mit Humor hat es Alejandro González Iñárritu eigentlich nicht so“, konstatierte der Rezensent des SPIEGEL. Nun liegt aber wenig Sinn darin, einem Film das abzuverlangen, was der Film eben explizit nicht sein will.
„Je mehr Iñárritu die Natur mit dem Pathos des Numinosen auflädt und das schiere Wunder des Seins heraufbeschwören will, desto stärker gleiten Lubezkis Bilder ab in leere Protzerei“, fährt der Rezensent fort. Das ist nicht knapp verfehlt, sondern einfach nur vorbei geschossen. Pathos ist weit und breit in „The Revenant“ nicht zu entdecken und nur weil Emmanuel Lubezki für Malick „The New World“ und „The Tree of Life“ geschossen hat, bedeutet dies nicht, dass er Iñárritus strenge Einfachheit by the way konterkarieren kann. „The Revenant“ ist Blut, Dreck und Scheiße – mehr nicht, und edle Wilde gibt es nicht. Sehenswert.

Note: BigDoc = 2

The Revenant – Der Rückkehrer – USA 2015 - Alejandro González Iñárritu – Laufzeit: 156 Minuten – Drehbuch: Alejandro González Iñárritu, Mark L. Smith – Kamera: Emmanuel Lubezki - FSK: ab 16 Jahren – Darsteller: Leornardo DiCaprio, Tom Hardy, Domhnall Gleeson, Will Poulter, Forrest Goodluck u.a.

Samstag, 2. Januar 2016

Best of 2015

Der Trend ist ein unberechenbarer Zeitgenosse. Im Filmclub bestätigten sich allerdings fast alle Prognosen, die ich im letzten Jahresrückblick gewagt hatte: Es wurden mehr Serien geschaut, Video-on-Demand nimmt im Sehverhalten eine dominierende Rolle ein, das Problem der medialen Übersättigung ist nicht geringer geworden. 55 Filme und knapp 20 Serien wurden gesichtet. Hier sind die Gewinner und Verlierer des letzten Jahres.

Einen klaren Sieger in der Sparte ‚Kinofilm’ gibt es nicht. Recht früh hatte sich etwas überraschend Philippe de Chauverons „Die Töchter des Monsieur Claude“ an der Spitze festgesetzt. In Frankreich war die Komödie mit über 12 Mio. Zuschauern ein Riesenerfolg, in Deutschland erreichte man immerhin über 3 Mio. Kinogänger. Für die deutsche Kritik war alles ein wenig zu seicht, uns gefiel der Film.

Punktgleich ins Ziel kamen Birdman, den ich persönlich für das Kinoereignis des Jahres halte, dann – auch eine Überraschung - das Regiedebüt von Ralph Fiennes, der sich mit dem geheimen Liebesleben von Charles Dickens beschäftigte. „The Invisible Woman“ geriet bei den Kritikern etwas unter die Räder und dürfte hierzulande kaum zur Notiz genommen worden sein.

Ebenfalls auf dem geteilten 1. Platz landete „Wir sind jung. Wir sind stark“ von Burhan Qurbani, ein Film, der sich mit den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen auseinandersetzt. Im Sommer 1992 wollte ein wütender Mob die Einwohner eines Asylbewohnerheimes lynchen, die Polizei zog sich zurück und die besorgten Bürger schauten zu. Teile der Antwort, die der Film gab, können den Zuschauer frei nach Thomas de Maizière tatsächlich verunsichern und ähnlich dachte wohl auch die FAZ, die den Film als „anrührend verstörend“ erlebte. Verstehen kann ich das nicht, denn wir wissen doch alle, dass in diesem Land niemand auf die Idee kommt, die Wohnunterkünfte von Kriegsflüchtlingen abzufackeln.


Hier nur nur die Top Twenty des Jahres 2015



Meine persönlichen Favoriten des Jahres sind neben „Birdman“ folgende Filme: Christopher Nolans Interstellar, der trotz eines aus meiner Sicht verkorksten Endes das Zeug zum Klassiker hat, dann die beiden Filme von Mike Leigh (es ist wirklich selten, dass ein Regisseur 2x in den Best of landet), wobei Pride zugänglicher ist.
Leighs Biopic über den britischen Landschaftsmaler William Turner benötigt etwas mehr Geduld. „Mr. Turner – Meister des Lichts“ ist nicht nur wegen Timothy Spalls Interpretation der Hauptrolle außergewöhnlich, auch Mike Leighs Bildästhetik ist eine kongeniales Pendant zur Kraft der Bilder eines Mannes, der so gut wie nie über seine Kunst sprechen wollte, aber genauer hingeschaut hat als seine Zeitgenossen.
Auch „Whiplash“hat mir ausgezeichnet gefallen. Nicht nur als Jazzfan. Damien Chazelles mit drei Oscars ausgezeichneter Film kann man als Triumph eines Novizen über den strengen Meister erleben. Ich habe da eher eine packende Studie von zwei Menschen erlebt, die verhaltensgestört sind und deren Hassliebe zu einer beängstigenden Symbiose führt, die wenig Gutes erwarten lässt. Aber Drummer sind sowieso eine Spezies für sich.

Über die schlechtesten Filme des Jahres schreibt man ungern. Wut und Ärger der Leser sind ebenso vorprogrammiert wie Unverständnis und Achselzucken. Versuchen wir’s trotzdem:


Die schlechtesten Filme 2015



  • Platz 1:    „Honig im Kopf“ (Note 5)
  • Platz 2-3: „Jupiter Ascending“ (Note 4,5)
  • Platz 2-3: „Focus“ (Note 4,5)
  • Platz 4:    „Star Wars – Das Erwachen der Macht“ (Note 4,25)
  • Platz 5:    „The Drop“ (Note 3,5)

Platz 1 ist keineswegs dem unter Kritikern verbreiteten Til Schweiger-Bashing zu verdanken, sondern dem Umstand, dass wir den Film durchgehend als peinlich und angemessen erlebten. Besonders jene, die zu Hause an Demenz erkrankte Familienangehörige pflegen, befiel intensives Fremdschämen. Schweigers Film ist süßlich-sentimental und siedelt einige Pointen auch unter der Gürtellinie an. Über 7 Mio. Zuschauer in Deutschland sind allerdings anderer Meinung.
Noch eine Anmerkung zum „Star Wars“-Reboot: Ich habe ausnahmsweise keine Kritik geschrieben, sondern einen Kommentar und musste anschließend feststellen, dass ein Teil der Kinogänger offenbar genauso mit dem Film fremdelt wie wir. Die Online-Ausgabe der WELT hat den Fan-Reaktionen eine eigene Seite spendiert. Im Wesentlich läuft dies auf das hinaus, was ich bereits geschrieben habe und ein Kinofreund fasste es bitter-böse mit den Worten „Es fühlt sich an wie eine Dosensuppe, die seit den 70ern im Regal stand ...“ zusammen. Muss es wohl auch, denn Disney hat natürlich das perfekte 4Q-Movie im Sinn gehabt. Und Four-Quadrant bedeutet nun mal, dass alle, wirklich alle Zuschauer von einem Kinoprodukt erreicht werden müssen. Männlich und weibliche, solche unter 25 Jahren und auch jene, die älter sind. Aber noch nie wurde in Hollywood so offensichtlich recycelt wie diesmal. Blockbuster aus dem Marvel-Universum wirken dagegen beinahe schon wie Arthouse-Filme. George Lucas nölt jetzt kräftig mit, aber er hat seine Geschichte gewinnbringend verscherbelt, an Slavenhändler, wie er nun meint:
Stars Wars ist missbraucht worden.“ Er sollte besser nicht so tun, als hätte er dies nicht vorher gewusst.

Die besten Serien des Jahres 2015


Natürlich ist es unmöglich, in einem Filmclub gemeinsam Serien zu sichten. Im Wesentlichen, aber keineswegs durchgehend, gibt das folgende Ranking meine persönliche Favoriten wieder:


Über die fünfte Season von Homeland habe ich eine Kritik geschrieben: Für mich die Serie des Jahres, auch weil ich völlig überrascht war von der außergewöhnlich spannenden und brandaktuellen Story. Von „Homeland“ hatte ich nach der 3. Staffel nicht mehr viel erwartet, aber was ist schöner als der Moment, in dem Erwartungen durchkreuzt werden? Ich bin gespannt, ob die Serie ihren Platz auf dem deutschen TV-Markt findet. Es wird schwer werden, ein Produkt im linearen TV zu platzieren, wenn die meisten potentiellen Zuschauer und die Fans das Ganze bereits gestreamt haben.
 

Neben den üblichen Kandidaten sind besonders Weissensee und die 2. Staffel von „The Strain“ zu loben. Die Öffentlich-Rechtlichen lassen sich mit ihrem Quality TV wie immer recht viel Zeit – zu viel, wie ich meine. Aber sie schaffen es immer wieder, die Qualität ihres Vorzeige-Produkts auf einem hohen Level zu halten. Das ist hierzulande nicht einfach. Der Totalflop von „Deutschland 83“ dürfte ganze Redaktionen eingeschüchtert haben und man darf sich wohl nicht darauf freuen, dass das ZDF allen Ernstes mit der am 2. Januar an den Start gehenden Serie „Morgen hör ich auf“ den Zuschauer in Sachen horizontales Erzählen nachschulen will. ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler kündigte nassforsch ein „deutsches Breaking Bad“ an. Das müssen Bastian Pastewka und seine Mitspieler nun büßen und bereits im Vorfeld ergoß sich Hohn und Spott über die Ärmsten. Die Macher von „Weissensee“ wissen indes nicht einmal, ob sie ihr Premium-Produkt weitererzählen dürfen. Serien in Deutschland: hier treffen sich Not und Angst. Und dies führt bekanntlich zu nichts Gutem.
 

Völlig verblüfft war ich dann von der 2. Staffel der von Guillermo del Toro („Pazific Rim“) und Chuck Hogan konzipierten Vampirserie „The Strain“. In meiner Kritik über die die erste Staffel konnte ich nur gepflegtes Mittelmaß entdecken, aber die Macher haben tatsächlich ordentlich draufgepackt. Mit ihren raffinierten Flashbacks und einigen politischen Subtexten kann die Serie bereits ordentlich punkten, aber Darsteller wie Corey Stoll, David Bradley und Kevin Durand legen noch einen drauf und halten mit ihrer Performance das Level kontinuierlich hoch. Der Mix aus Splatter und klassischer Horrorserie ist mein Geheimtipp des Jahres.

Freitag, 1. Januar 2016

Star Wars – Das Erwachen der Macht

Ein Kommentar


Es gibt Filme, die man einfach sehen muss. Es sind die großen Epen, für die man ins Kino geht und die man sich erst beim zweiten Mal im Home Cinema auf der Couch ansieht. Früher auf VHS, heute auf Bluray. „Lawrence of Arabia“ zum Beispiel oder „Jaws“. Ihr Geheimnis: Sie entsprechen zwar nicht immer dem eigenen Kinogeschmack, aber sie besitzen dennoch eine magische Anziehungskraft. Alles strömen ins Kino, alle wollen sie sehen. Man geht mit. Neugier ist etwas Faszinierendes und auch wenn man sonst ganz andere Filme sieht, so gibt es nichts Lustvolleres als den Regelbruch.

Für die Filmindustrie sind diese Filme Maschinen zum Gelddrucken. Für die Menschen sind sie es nicht. Und wenn nicht nur die Nerds, sondern auch Familien mit ihren Kindern oder die Großväter mit ihren Enkeln mit klopfenden Herzen ins Kino eilen, um „Star Wars: The Force Awakens“ zu sehen, bewegt sie irgendwie das Gleiche wie vor fast 40 Jahren. Die Jüngeren wollen den Film sehen, weil es die anderen Kids auch wollen, aber die Älteren verspüren eine nostalgische Sehnsucht nach etwas, das sie vor fast 40 Jahren in ein traumähnliches Märchenland voller tapferer Helden und pathetischer Schurken, kleiner piepsender Roboter mit eigener Seele und geheimnisvoller Ritter versetzt hat. Wobei Letztere dann auch Hüter eines Mysteriums waren, der ‚Macht’, die alle Guten vereint, aber von den Bösen missbraucht wird.
Alle diese großen Gefühle gehören zum Kino. 
Seine dunkle Seite sieht man nicht: Es sind die kalten seelenlosen Roboter hinter den Kulissen, die aussehen wie lebendige Menschen. Sie, und nicht etwa George Lucas, haben diesmal den Film gemacht. Und sie zählen ungerührt das Geld. Den Film haben sie am Computer entworfen. Sie haben die passenden Algorithmen definiert und die Maschine berechen lassen, was zu tun ist. Und die Maschine hat ihnen gesagt: Macht einfach das Gleiche wie damals, macht den gleichen Film wie 1977. Die da draußen mit den klopfenden Herzen werden es schon nicht merken. Und sie haben es nicht gemerkt.

Fast 4 Milliarden US-$ hat Disney bezahlt, um George Lucas das traumähnliche Märchenland abzukaufen. Nun sitzt Lucas traurig zu Hause und quengelt, dass Disney seinen Traum zerstört hat. Vielleicht sieht er auch, was er selbst hätte verdienen können. „Star Wars: The Force Awakens“ bricht alle Rekorde: Nach nur wenigen Tagen hat der Film weltweit über 1,2 Mrd. Dollar eingespielt, in Deutschland nahmen die Kinobesitzer, die zuvor von Disney heftig stranguliert worden sind, allein am ersten Tag über 7 Mio. Euro ein. Es wird so weiter gehen, es wird ein unfassbares Vermögen angehäuft werden. Und George Lucas sitzt dann immer noch zu Hause und ärgert sich. Einen Grund hat er nicht. Seine Prequel-Trilogie hat bereits genug Schaden angerichtet.

Aber was ist denn nun eigentlich so schlimm am neuen „Stars Wars“? Es ist das ‚Schnitzel-Modell’. Wer sein erstes Schnitzel gemocht hat, will danach immer wieder das  gleiche Schnitzel essen wollen. Im Kino, so haben es die Maschinen berechnet, funktioniert das auch so. Man nennt das Blockbuster. Die Kritiker haben mit ihren Fingern darauf gezeigt und gespottet, die Kinogänger haben sie nicht gelesen oder einfach nur den Kopf geschüttelt. Was ist denn so schlimm daran, wenn es schmeckt?
Und so haben die Maschinen mit „Star Wars: The Force Awakens“ das gleiche Schnitzel erneut auf den Teller gelegt. Der neue Film wirkt wie eine Kopie, oder noch schlimmer: er ist ein Plagiat.


Drei Jahrzehnte nach dem Sieg über das Imperium ist alles vergessen, denn nun reißt die sogenannte ‚Erste Ordnung’ die Macht an sich und will die Galaxis unterjochen. In „Star Wars“ werden die Bösen von Grand Moff Tarkin (Peter Cushing) und seinen Stormtroopers geführt, der schwarze Ritter Darth Vader assistiert ihm. Im neuen „Stars Wars“ greift nun der böse General Hux (Domhnall Gleeson) nach der Macht, assistiert vom schwarzen Ritter Kylo Ren (Adam Driver), der als Wiedergänger genauso hinter einer schwarzen Maske schnauft wie Darth Vader, obwohl er nicht furchtbar entstellt wurde und daher eigentlich keine Maske braucht. Im alten „Star Wars“ suchen die Bösen nach den Rebellen und bedrohen die Republik, im neuen Film tun sie dies auch. Im alten Film haben sie den „Todesstern“ und vernichten einen Planeten, um ihre Macht zu demonstrieren, im neuen Film besitzen sie auch einen Todesstern, nur zehnmal größer, und vernichten einen Planeten, um ihre Macht zu demonstrieren. Im alten Film müssen die Helden am Ende ein waghalsiges Manöver fliegen, um den Todesstern zu zerstören, im neuen gibt es eine ähnliche Szene, die sogar fast auf die gleiche Weise montiert worden ist.

Und die Guten? In „Star Wars“ waren es die hübsche Prinzessin Leia Organa (Carrie Fisher) und der jugendliche Held Luke Skywalker (Mark Hamill), die sich auf eine gefährliche Reise begeben. Im neuen Film werden diese Parts die geheimnisvolle und offenbar von der ‚Macht’ durchdrungene Schrottsammlerin Rey (die bislang relativ unbekannte TV-Actrice Daisy Ridley) und der desertierte Stormtrooper FN-2187, später „Finn“ (John Boyega) genannt, übernehmen. Das Einzige, was neu ist, das ist der Geschlechtertransfer: die Skywalker-Rolle spielt eine junge Frau, den Sidekick mimt ein junger Farbiger. Und natürlich sind auch Han Solo (Harrison Ford) und Chewbacca mit von der Partie, wobei Harrison Ford immerhin die anderen Mimen lässig an die Wand spielt, aber dann im großen Finale die Rolle und das traurige Ende des legendären Ben Obi-wan Kenobi (Alec Guiness) übernimmt, ohne dass die Hoffnung besteht, dass man wenigstens seine Stimme in den nächsten Teilen des Sequels hören wird.

Mit anderen Worten: es ist alles geklaut in „Star Wars: The Force Awakens“. Wirklich alles. Sogar der Anfang. In beiden Filmen muss ein kleiner Roboter entscheidende Informationen hüten, im neuen Film ist es der Aufenthaltsort von Luke Skywalker, im alten sind es die Baupläne des Todessterns. Und fassungslos muss man erkennen, dass dies offenbar niemanden stört und dass alle bewusstlos ins Kino rennen, um den alten Wein in neuen Schläuchen kredenzt zu bekommen. Nur sind die Schläuche halt zehnmal so groß wie 1977.

Der gute Georg Seeßlen hat vor 30 Jahren George Lucas’ „Star Wars“ als „die Erfüllung eines Kindertraums mit den perfektionierten Mitteln der Unterhaltung“ beschrieben und danach den klugen Kommentar hinzugefügt, dass in „Star Wars“ nicht der Grad der technologischen Entwicklung das moralische Maß bestimmt, sondern der Gebrauch, der von der Technologie gemacht wird: Menschen werden zu Sklaven der Technologie (symbolisch vertreten durch den Todesstern und von einigen Philosophen „Verdinglichung“ genannt), während die Helden lernen, dass Technik auch menschlich und empathiefähig sein kann (symbolisch vertreten durch die Droiden R2-D2 und C-3PO). Beide kommen auch im neuen „Star Wars“ vor, aber C-3PO ist beschädigt und R2-D2 steht die meiste Zeit in eine Decke gehüllt neben anderem Schrott irgendwo herum. Auch das hat Symbolkraft.
 

In „Star Wars: The Force Awakens“ sind fast alle Figuren seltsam unreflektiert. Sie haben ihre Geschichte vergessen. Niemand kennt die ‚Macht’, niemand erinnert sich an die Jedis, Luke Skywalker hat nie existiert und ist nur ein Mythos und warum die Galaxis, in der erst kurz zuvor das Böse besiegt wurde, nun wieder in die Hände eines Wesen namens Snoke (Andy Serkis) fallen soll, wird auch nicht ganz klar. Lediglich die geheimnisvollen Binnenbeziehungen der dunklen Seite der Macht werden in den familiären Beziehungen der Figuren widergespiegelt, beispielsweise im ‚bösen’ Kylo Ren, der Han Solos und Leias Sohn ist. 

Regisseur J.J. Abrams, der ja bereits das Star Trek-Universum auf Null gesetzt hat, und Drehbuchautor Lawrence Kasdan, der 1980 das Buch für „The Empire Strikes Back“ geschrieben hat, scheinen geahnt zu haben, dass auch der Zuschauer nicht besser dran ist. Auch er scheint auf seltsame Weise von einem Vergessen ergriffen worden zu sein, das es möglich macht, ihm alles wie in einer Endlosschleife immer wieder aufs Neue zu erzählen. Wirklich neu ist in diesem Reboot von „Stars Wars“ eigentlich nur die Rolle des Stormtroopers FN-2187, der rasch die Seiten wechselt, dessen moralische Bedenken aber wie in jeder Mythologie nicht im Geringsten psychologisch plausibel erscheinen.

Und so führt uns „Star Wars: The Force Awakens“ in eine neue alte Galaxis, in der täglich aufs Neue das Murmeltier grüßt. Wer alt genug ist, um sich zu erinnern, dem kommt in den Sinn, dass in lange vergessenen Zeiten die Großen Alten des Kinos daran verzweifelten, dass die Menschen nicht mehr in ihre Traumpaläste gingen. Sie pumpten Unsummen in sinnlose Monumentalfilme und verloren viel Geld. Besonders die jungen Zuschauer suchten lieber einen Planeten namens „New Hollywood“ auf und sahen sich begierig die Filme von Francis Ford Coppola, Sidney Lumet, Martin Scorsese, Mike Nichols, Dennis Hopper, Robert Altman, John Cassavetes, Sam Peckinpah und Peter Bogdanovic an. Nach Kubricks bahnbrechendem „2001“ wollten sie statt der alten Schinken lieber „Phase IV“ von Saul Bass (1974), „THX 1138“ von George Lucas (1970), „The Crazies“ von George A. Romero (1973), „Silent Running“ von Douglas Trumball (1972) oder gar Andrej Tarkowskijs „Solaris“ sehen.
Doch das Imperium schlug zurück und holte einige der jungen mutigen Ritter auf die dunkle Seite der Macht. Sie bauten einen neuen Todesstern und er wurde erneut „Blockbuster“ genannt. Den Rest der Geschichte kennen wir. „Star Wars: The Force Awakens“ ist einer der schlechtesten Filme des alten Jahres. Er wird auch im neuen Jahr nicht aufzuhalten sein.

Der Filmclub wünscht allen Lesern nichtsdestotrotz ein gutes neues Jahr!

Noten: BigDoc = 5, Melonie = 3,5