Mittwoch, 11. Februar 2009

Der seltsame Fall des Benjamin Button

USA 2008 - Originaltitel: The Curious Case of Benjamin Button - Regie: David Fincher - Darsteller: Brad Pitt, Cate Blanchett, Taraji P. Henson, Julia Ormond, Jason Flemyng, Tilda Swinton - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 165 min.

Wenn wir eine Filmkritik nicht mehr vom Umschlagtext einer DVD unterscheiden können, hat das, was Filmkritik ist, möglicherweise aufgehört zu existieren. Vielleicht auch nicht. Man möge diese kleine Relativierung einfach so im Raum stehen lassen, obwohl es zu befragen gilt, ob die geschilderte Unschärfe auf die völlige Abstumpfung unserer ästhetischen Urteilsfähigkeit zurückzuführen ist oder auf den Umstand, dass wir irgendwann nur noch Umschlagtexte als Filmkritiken vorgesetzt bekommen.

Mitten im Traumkino
David Finchers Film „The Curious Case of Benjamin Button“ ist tatsächlich ein seltsamer Fall. Viele haben über ihn geschrieben, einiges war seltsam, was den den Verfasser zu den einleitenden und noch seltsameren Gedanken geführt hat. Dies war auch zwingend notwendig angesichts eines Films, der nichts anderes als die Grundfragen der menschlichen Existenz verhandeln will. Und da mich meine Erfahrung gelehrt hat, dass man eher eine Antwort erhält, wenn man es einige Nummern kleiner angeht, muss diese Filmkritik die krummen als die geraden Wege aufsuchen. Umso mehr, als die Filmkritik hierzulande eher positiv gestimmt war und die wenigen Verrisse von Finchers neuem Film mit Schaum vor dem Mund, aber durch messerscharf formuliert wurden.

Fangen wir mit dem Text eines Filmdienstes an, der eilfertig und in vorauseilendem Gehorsam die Marketingsinteressen eines mit mehr als Dutzend OSCAR-Nominierungen überhäuften Films in die uns allen geläufige Sprache der Filmwerbung übersetzt hat.
Zu lesen ist, dass der „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ eine „Lebensgeschichte (ist), wie sie ungewöhnlicher gar nicht sein könnte: das grandiose Schicksalspanorama eines wahrlich bemerkenswerten Mannes und der Menschen, denen er auf seinem Lebensweg begegnet: Er findet die Liebe und verliert sie wieder, er freut sich des Lebens und trauert um die Toten - vor allem aber lernt er, was wirklich von zeitloser Bedeutung ist.“

Liebe, Freude, Trauer, Verlust. In Gottes Namen: Was lernt Benjamin (Brad Pitt) denn nun nach fast drei Stunden reziproker Gefühlsaufwallungen sonst noch aus seiner Beziehung mit Daisy (Cate Blanchett)? Was könnte noch bedeutsamer sein? Was sollen wir lernen, die wir doch fast drei Stunden ausharrten, um jenseits des Sumpfes grauer Durchschnittlichkeit der Wahrheit ins Auge zu blicken? Der tiefen Wahrheit, die zwischen Geburt und Tod irgendwo da draußen auf uns wartet?
Es ist zeitlose Liebe, die nicht vergeht.

Hmmm, ein seltsam redundanter Satz.
Erweitern wir die Definition folglich um die Feststellung, dass nur dann etwas zeitlos ist, wenn es sich den augenfällig banalen Zufällen des Lebens dauerhaft entzieht. So mancher an den Traditionen phänomenlogischer Philosophie geschulter Betrachter hätte sicher einen Mordsspaß daran sich darüber zu mokieren, dass Finchers Film darauf insistiert, jenseits der alltäglichen Erscheinungen das „Wesen“, die zeitlose Substanz einer Sache, sichtbar zu machen. Aber dies gelingt nur dann, falls wir Husserl und Heidegger in ihren Beschreibungen des Alltäglichen folgen, wenn wir auf die leibhaftige Verwurzelung des „Wesens“ in den konkreten unmittelbaren Alltagserfahrungen eingehen können. Ist uns die sinnliche Erfahrung all dessen nicht zu Eigen, dann gerät nicht nur die Wahrheit aus dem Blickfeld, sondern auch das Reden über sie wird zur Schwafelei.

Fincher ist da schon etwas direkter: er zeigt uns, wie es geht. Man vögelt auf einer Matratze, ein Bett hat man nicht angeschafft, den edlen Tropfen Champagner in Griffnähe, und dieses Glück währt einige Jährchen und Brad Pitt sagt irgendwann zu Cate Blachett „Ich liebe Deine Falten“, und das, obwohl man keine sieht. Ich höre sie seufzen im Kino, die Mittvierzigerinnen. So etwas gibt es nur im Kino: edle Leiber und nie enden wollende orgiastische Freunden, bis alles ins Drama umschlägt, weil der Benjamin nicht Vater sein kann und will und sein Glück verlässt.

Kino, das uns solche Geschichten erzählt, gibt uns die sinnliche Erfahrung nicht und auch nicht zurück, sondern ist Surrogat dessen, was sich den meisten als nicht erfahrbar entzogen hat. Wir armen grauen Mäuse, bei denen der Champagner nicht in Griffnähe steht und die auch nicht aussehen wie Pitt und Blanchett, sitzen im Kino, dass zum Traum wird, ohne dass wir einen Grund haben zu träumen. Dieses Traumkino ist das, was man ihm seit jeher vorgeworfen hat: ein Ort der Illusionen.

„Man weiß nie, was das Leben bereithält“
Fincher erzählt im „Benjamin Button“ eine Geschichte, wie sie F. Scott Fitzgerald in seiner gleichnamigen Novelle nicht erzählt hat. Die Streiterei um die vermeintliche Unfähigkeit des Films, der literarischen Vorlage gerecht zu werden, erspare ich mir. Ich erspare mir auch Gedanken über den Vorwurf, Fincher habe Technik (in diesem Fall das Maskenbild) über die Geschichte gestellt, und erinnere stattdessen daran, dass nicht erst seit der Wandlungsfähigkeit von Orson Welles in „Citizen Kane“ Technik zur Essenz des Kinos gehört.

Zur Sache: Fincher und sein Autor Eric Roth haben Fitzgeralds Geschichte gründlich entkernt und aus diesem Kernplot jenes bereits erwähnte ‚Schicksalspanorama’ geschmiedet, das die Geschichte eines Kindes erzählt, das als Greis geboren wird, zum Jüngling altert und völlig dement als Säugling in den Armen seiner Geliebten stirbt.

Richtig: hier erkennt der bildungsbeflissene Zuschauer im Ansatz jene Entwicklungsgeschichte, die sich ein Oskar Matzerath bewusst ausgewählt hat, während sie von Benjamin Button schicksalhaft erfahren wird. Doch während ‚Oskarchen’ sich weigert zu wachsen, um das Treiben der kirre gewordenen Erwachsenen in einer unheilvollen Zeit aus sicherer Distanz zu beobachten und gelegentlich auch zu durchkreuzen, ist Benjamin eher ein vom Schicksal zufällig an diesen oder jenen Ort Gespülter.

1918: Vom Vater in New Orleans gleich nach der Geburt ob der grotesken Hässlichkeit seines Greisengesichts ausgesetzt und von einer gutseligen Farbigen aufgezogen, verbringt Benjamin seine ersten Jahre in der Endstation des Lebens: einem etwas maroden, aber nostalgisch-chicen Altersheim, dessen Bewohner ihn in regelmäßigen Abständen mit dem Ende allen Seins konfrontieren. Sie sterben. Während normale Kinder das Leben lernen, erfährt Benjamin von Anfang an dessen großen Antipoden: den Tod. Er selbst wird dabei immer jünger.
Im Alterheim lernt das greise Kind auch Daisy kennen, die Enkelin einer Bewohnerin. Hier entsteht schon früh eine Liebe, die beide immer wieder zusammenführen wird. Aber zunächst zieht es Benjamin zur See: die Erkundung der Welt findet auf einem Kutter statt, der später in den Wirren des Zweiten Weltkriegs landet. Zwischendurch gibt es auch eine Affäre mit Elisabeth (Tilda Swinton), der Gattin eines vermeintlichen Spions - eine fast sprachlose ritualisierte Beziehung, die schon in ihren Anfängen das Ende ankündigt. Und schließlich führt das Schicksal, nennen wir es ruhig so, Benjamin und Daisy mehrmals zusammen, ohne dass dies zu einem Bleiben gerät. Erst als die berühmte Ballerina nach einem schweren Unfall ihre Karriere beenden muss, findet Daisy zu Benjamin.

Eingerahmt wird die Handlung durch Daisys langsames Sterben in einem Krankenhaus. Die Erzählgegenwart ist angesiedelt in dem Jahr, in dem der Hurrikan Katarina die Stadt verwüstet hat. Daisy lässt sich von ihrer Tochter aus einem Tagebuch vorlesen – und richtig: es sind Benjamins Aufzeichnungen, die der Vorleserin am Ende klar machen, wer denn nun eigentlich ihr wirklicher Vater ist. Diese narrative Klammer erlaubt es Fincher / Roth, die Stimme Benjamins zum räsonierend-philosophischen Off-Erzähler zu machen.

Formal betrachtet ist dieser Kunstgriff, der die Erinnerungen Daisys mit denen Benjamins mischt, durchaus ein dramaturgisch für Spannung sorgender Baustein, der für eine starke Ambivalenz der Gefühle sorgt, nämlich dann, wenn man ahnt, dass der Erzähler seine Geschichte nicht überleben wird. Gewollt ist allerdings etwas anderes: nämlich die sprachliche Literarisierung der Geschichte durch stilistisch kunstvoll arrangiertes Monologisieren und Ausdeutungen der ohnehin schon bedeutungsschwangeren Handlung.
Dies führt zu einer Reihe durchaus anrührender Momente, aber auch zu einigen unvermeidbaren Trivialitäten, die immer dann entstehen, wenn dem Zuschauer im Off noch einmal mit großer sprachlicher Geste all das ausgelegt wird, was er bereits gesehen und verstanden hat. Wann immer man nach der feinen Grenze, die Kunst und Kitsch trennen, gesucht hat – hier kann man sie finden und leider bis zum Überdruss studieren.

Formal wichtiger als der häufig als unfilmisch bezeichnete Off-Erzähler ist das Arrangieren grotesk-zufälliger Situationen, in die Benjamin immer wieder gerät. Eric Roth (der u.a. die sehr stringenten Bücher für „The Horse Whisperer“ (1998), Michael Manns „Insider“ (1999), Spielbergs „Munich“ (2005) und de Niros „The Good Shepherd“ (2006) geschrieben hat) greift erneut zu diesem Stilmittel, das er bereits in „Forrest Gump“ (1994) verwendet hat, ohne dass man dort den Eindruck gewinnen konnte, aus Gumps Begegnungen mit großen Momenten der Weltgeschichte wirklich etwas über diese zu lernen.
Zwar ist Benjamin in Finchers Film kein tumber Tor, der zufällig in die großen Dinge entscheidend eingreift, aber dennoch sind es skurrile Momente, die in „The Curious Case of Benjamin Button“ die Dinge beeinflussen: Eine von einem trauernden Uhrmacher gebaute Uhr, die rückwärts läuft, kann noch als Metapher durchgehen. Die dem Stummfilm nachempfundenen Slapstick-Szenen, in denen immer wieder ein Mann vom Blitz getroffen wird, ohne zu sterben, wollen sich dagegen nicht so recht erschließen. Elisabeth dagegen, die als junge Frau das Durchschwimmen des Ärmelkanals nur wenige Meter vor dem Ziel abbrach und daraus ihre resignative Lebensauffassung ableitete, wird als alte Frau das Versäumte schaffen, was uns Fincher in einem TV-Einspieler zeigt.
Nicht aufgeben, auch wenn es mal stürmisch wird inmitten der Zufälle des Lebens, will uns der Film hier vermutlich sagen. Dazu passt auch die Reihe von elegant montierten bizarren Zufällen, die (allesamt vermeidbar, wie Benjamin im Off erklärt) zu Daisys schwerem Unfall führen. Man kann sie durchaus als ‚Verfilmung der Chaos-Theorie’ bezeichnen, wie dies Rüdiger Suchsland in seinem barschen Verriss vermutete, aber letztendlich ist diese High-Speed-Montagesequenz doch wohl mehr und in letzter Konsequenz das, was sie uns zeigt: Das Leben ist eine Reihe von Zufällen, die gleichsam Bedeutendes und Unbedeutendes schaffen: „Man weiß nie, was das Leben bereithält“. Das haben wir schon in „Forrest Gump“ gehört: „Das Leben ist eine Pralinenschachtel: man weiß nie, was drin ist.“
Menschen, die derartige Trivialitäten mit Philosophie verwechseln, kann nur schwer geholfen werden. Wenn ich eingangs behauptet habe, dass das Zeitlose jenseits der banalen Zufälle angesiedelt ist, so stellen Fincher /Roth dies (immerhin konsequent) auf den Kopf. In einem Film, der große Gesten zelebriert, um dann in kleiner Münze zu wechseln, scheint dies aber durchaus am Platze zu sein und mitten ins Herz der meisten Kritiker hat es auch getroffen.

Trostlos
Es gibt einige gelungene, durchaus schöne Momente in Finchers Film. Zum Beispiel den, als die farbige „Queenie“ (Taraji Penda Henson) den kleinen Benjamin ganz pragmatisch und ohne Pathos im Altersheim aufnimmt. Eine schöne Nebenrolle und eine liebenswerte Figur. Man weiß halt nie, was ein Film bereithält, wenn man ihn nicht gesehen hat.
Der Rest ist, fassen wir es zusammen, ziemlich prätentiös und damit trostlos. Es bleibt zu hoffen, dass die von einem Kritiker geäußerte Vermutung stimmt, Fincher habe den „Button“-Film nur deshalb gemacht, um ein Projekt beim Studio abzusichern, das ihm am Herzen liegt. Die Wartezeit kann man sich verkürzen, in dem man zum Beispiel noch einmal „Fight Club“ sieht, einen unsentimentalen Film, der jene Hohlheit seziert, die uns in „The Curious Case of Benjamin Button“ so dreist vorgesetzt wird.

Noten: BigDoc = 4