Mittwoch, 5. Juni 2013

Oh Boy

D 2012, R: Jan Ole Gerster. Mit Tom Schilling, Marc Hosemann, Friederike Kempter, Ulrich Noethen, Justus von Dohnányi, Michael Gwisdek, Katharina Schüttler. Ab 12 Jahren, Laufzeit: 88 Minuten

Gleich zu Beginn lässt Jan-Ole Gersters Held Niko seinen One-Night-Stand abblitzen. Erst redet er um den heißen Brei herum, dann schweigt er vielsagend, bis die junge Dame versteht. Schweigen wird Niko, ein verkrachter Jurastudent Ende 20, sehr häufig in „Oh Boy“.
Er beobachtet lieber. Vielleicht hat er auch nicht viel zu sagen. Er ist ein Drifter, oder anders formuliert: er ist kein Flaneur.


Ursprünglich ist ein Flaneur eine literarische Konstruktion, eine Kunstfigur, die unauffällig die Straßen der Großstadtmetropolen durchstreift und mit ihren ästhetischen und intellektuellen Reflexionen die Schnittstellen des Lebens widerspiegelt. Walter Benjamin hat sehr viel Schönes über den Flaneur geschrieben. Jan-Ole Gersters Hauptfigur Niko (Tom Schilling) ist dagegen ein junger Mann, der sich nur treiben lässt. Von flüchtigen Begegnungen, von Zufällen, ohne Ziel. Von irgendeiner Art Reflexion kann bei dieser post-modernen Kunstfigur auch keine Rede sein.
Stattdessen reden pausenlos alle anderen in „Oh Boy“: zum Beispiel der Amtsspsychologe, der Niko wegen 0,7 Promille als fahruntauglich einstuft, der Nachbar seiner neuen Wohnung, der Niko mit selbstgemachten Fleischbällchen überwältigt und unter Tränen von seiner Frau spricht, deren Brüste amputiert worden sind, sein Freund Matze (Marc Hosemann), der mit ihm zum Set einer allem Augenschein nach strunzdämlichen Nazi-Klamotte fährt. Und irgendwann landen Matze und Niko dann, es ist bereits Nacht, in einer alternativen Theatervorstellung, wo Niko einer ehemaligen Mitschülerin (toll gespielt: Friederike Kempter) begegnet, die er einst in der Schule zusammen mit Mitschülern wegen ihrer Fettleibigkeit gemobbt hat.

„Oh Boy“ will eine Komödie sein, doch die Episoden des Films listen lediglich eine Palette von Situationen auf, die fast zwanghaft auf kauzig getrimmt worden sind. Und so erlebt Niko an einem Tag und der darauffolgenden Nacht mehr, als andere Menschen in einem ganzen Jahr. Es geht atemlos zu in Berlin. Und lediglich die Episode mit der Großmutter eines Kleindealers und eine traurige Kneipenbekanntschaft am Ende geben dem Held eine empathische Kontur. Zumindest ein wenig. Dazwischen ist Niko nicht einmal Stichwortgeber und schon gar nicht ein Flaneur, dem man zutraut, etwas über das Biotop zu wissen, in dem er sich treiben lässt. Das diegetische Berlin schrumpft innerhalb von 24 Stunden zu einer nicht enden wollenden Galerie der schrägen Typen, in die sich auch Nikos Vaters einreiht, der seinem Filius das Konto sperrt.
Über allem hängt eine gewisse Tristesse. Und Jan-Ole Gerster gelingen in seinem schwarz-weiß gedrehten Berlin-Portrait auch viele stimmungsvolle Bilder. Vielleicht schwebte Gerster ein Schuss John Cassavetes oder „La Dolce Vita“ vor, doch Fellini hat seine bissige Gesellschaftssatire in sieben Tagen und Nächten erzählt. Am Ende wirkt „Oh Boy“ dagegen, als habe man einen Film von Til Schweiger sorgfältig von allen Peinlichkeiten entkernt und das Übriggebliebene ins Tragikomische gewendet. Und über allem schwebt eine deplatziert wirkende Jazzmusik, die wohl ein wenig an Louis Malles Ascenseur pour l’échafaud erinnern soll.


„Was ist das Leben? Reden, reden, reden!“

Dieses Zitat stammt aus einer Filmkritik, in der auch Folgendes steht: „Immer wieder wirkt der Dissens gesucht, weil dem Film Pointe und Pose wichtiger sind als die Vertiefung der Charaktere.“ Gemeint ist nicht „Oh Boy“, sondern „Before Midnight“ von Richard Linklater, aber der Kollege, der übrigens sehr begeistert von Jan-Ole Gersters Film gewesen ist, hat Formulierungen gefunden, die komischerweise ziemlich gut zum großen Gewinner des Deutschen Filmpreises 2013 passen. Insgesamt sechsmal räumte „Oh Boy“ ab: Bester deutscher Spielfilm, beste Regie, bestes Drehbuch, beste männliche Haupt- (Tom Schilling) und Nebendarsteller (Michael Gwisdek), beste Filmmusik (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2013/04/oh-boy-sahnt-beim-deutschen-filmpreis-ab.html).

„Oh Boy“ hat vorher und nachher eine irritierende und etwas distanzlose Zustimmung innerhalb der deutsche Filmkritik ausgelöst. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass der Film – auch in Konkurrenz zu dem Co-Favoriten „Cloud Atlas“ -zum Politikum gemacht wurde: Gersters Film soll(te) wohl – quot erat demonstrandum – dafür herhalten, dass die deutsche Filmförderung imstande ist, deutsche Filme mit deutschen Themen hervorzubringen (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2013/03/cloud-atlas-fur-deutschen-filmpreis.html).
Als Wirtschaftsförderung hat der Deutsche Filmpreis indes funktioniert: die Produktionskosten hat „Oh Boy“, den leider nur 250.000 Zuschauer sehen wollten, damit wieder eingespielt.
Und „leider“ soll auch andeuten, dass diese Kritik keineswegs ein Verriss sein will. „Oh Boy“, der in der Tradition der „Berliner Schule“ steht, hat durchaus das Zeug zu einem guten Film. Ein wenig mehr Tiefe in der Figurenzeichnung, etwas weniger Comic Relief und mehr Feinschliff beim Skript und etwas Ansehnliches wäre denkbar gewesen. Auch wenn es nicht zu einem Startschuss für eine neue Deutsche Nouvelle Vague gereicht hätte.
So aber hinterließ der Film im Filmclub eine spürbare Ratlosigkeit. Schade.

Noten: Klawer = 3, Mr. Mendez, BigDoc = 3,5