Samstag, 7. April 2012

TV-Desaster: "Henri 4" floppt am Karfreitag


Deutschland / Frankreich 2009 - Regie: Jo Baier - Darsteller: Julien Boisselier, Joachim Król, Roger Casamajor, Armelle Deutsch, Chloé Stefani, Ulrich Noethen, Devid Striesow, Hannelore Hoger, Gabriela Maria Schmeide - FSK: ab 12 - Länge: 155 min.

Neues aus der Anstalt
Nachdem die Privaten mit „Game of Thrones“ klug investiert haben und mit einem innovativen Sendeschema die Fantasy-Saga zum Quotenhit machten, legte die ARD mit der Jo Baier-Verfilmung „Henri 4“ am Karfreitag im kleineren Zuschnitt nach: die Anstalt hatte sich an den satten 20 Millionen, die die deutsch-französisch-österreichisch-spanische Co-Produktion gekostet hat, investitionsfreudig beteiligt und statt an drei Abenden wurde die fast drei lange TV-Fassung, natürlich, an einem Abend gezeigt. Das hätte etwas werden können. Doch Pustekuchen. Nach einer knappen Stunde half nur noch der Notgriff zur Fernbedienung. Es war die Rettung: Einfach wegzappen und die Qual beenden.

Augenrollen am Rande der Hysterie
Da steht der kleine Prinz von Navarra unschuldig im Badezuber, als eine Gestalt augenrollend und mit ausgestreckten Armen die Gemächer betritt und auf den verschreckten Zehnjährigen zuwankt. Mein Gott, „The Walking Dead“ gleich nach der Tagesschau?
Nein, der Knattermime, der dem Knaben ganz tief in die Augen schaut, ist Nostradamus und der sieht in dem Jungen Heinrich den zukünftigen König von Frankreich.

10 Jahre soll das Kino- und nun auch TV-Debakel vorbereitet worden sein. 10 Jahre, in denen man die Chance hatte, mit einem ausgefeilten Drehbuch über die Auseinandersetzungen zwischen den Hugenotten und den herrschenden Katholiken im Frankreich des 16. Jh. zu erzählen. Ein Stoff, der nicht nur eine adäquate Verfilmung des Heinrich Mann-Romans „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ (1935) hätte sein können und sollen, sondern auch eine Geschichtslektion über Dogmatismus, Machtspiele und das Massaker der Bartholomäusnacht, aber auch über die Ideen der zögerlich aufkommenden Aufklärung. Eine wunderbare Herausforderung für die Anstalt. Bildungsauftrag und Unterhaltung, alles in einem großen Wurf unter Dach und Fach gebracht!
Stattdessen: Darsteller am Rande der Hysterie, Schreien, irres Augenrollen und wirre Blicke. Dialoge, deren Plattheit man zunächst ungläubig ausgesetzt war, bis man merkte, dass das Ganze wohl System hat und nicht mehr besser werden wird. Und eine sonderbare Distanz zu den historischen Gegebenheiten, die einen der bedeutendsten Religionskriege auf kleinkarierten Thronfolge-Soap herunterbrach. Das Sex und Crime-Spetakel als austauschbare Handlungshülse. 14. Jh., 15. oder 16. Jh.? Egal, es passt immer. Anything goes.

Dabei hatte die Anstalt als Co-Produzent aufgefahren, was Rang und Namen hat: Joachim Król, Hannelore Hoger, Ulrich Noethen, David Striesow, Katharina Thalbach, Wotan Wilke Möhring – da kann man wohl nicht viel falsch machen.
Julien Boisselier als Henri IV machte nicht einmal die schlechteste Figur, aber Hoger als Katharina von Medici und Noethen als ihr Sohn König Karl IX wurden durch die misslungene Darstellerführung Jo Baiers zu einer Performance hart am Rande der Fehlbesetzung getrieben. Besonders Noethen zeigte dem Zuschauer, was man wenig schmeichelhaft mit den Begriff „outrieren“ und „chargieren“ meint: grelle Übertreibung, Schmierenkomödie, wildes Gestikulieren und Grimassieren. Doch, auch wenn es vielleicht niemand am Set gewusst hat, die Tage des Stummfilms sind vorbei.

Geschichtsrecycling für die Doofen?
Vielleicht muss man das Ganze auch mal ganz anders sehen. Statt sich mit den üblichen Kriterien einer Filmkritik herumzuschlagen, sollte man das Ganze als Produkt und Dienstleistung betrachten, alles auf der Grundlage einer Medienstrategie, die nur funktionieren kann, wenn man die Quote fest im Auge behält und sich zu diesem Behufe im Geiste vorstellt, wer da wohl am heimischen Fernseher sitzt und was dieser womöglich von einem Historienstoff erwartet.
Historische Genauigkeit, genaue Figurenzeichnung: Fehlanzeige, will keiner wissen. Sex: unbedingt, hat schon bei den „Borgias“ funktioniert und so wird gevögelt, was das Zeug hält und hübsch brutal darf es auch sein (vor 22.00 Uhr!), und Hannelore Hoger darf Margot, der künftigen Frau des Prinzen von Navarra, kräftig in den Arsch beißen. Henri IV trifft den Philosophen Montaigne (immerhin eine Schlüsselszene im Roman): Montaigne? Wird gestrichen, kennt keine Sau, bei Philosophie zappt der Plebs ja gleich weg. Gewalt: ja, aber in Maßen, auch wenn die FSK-Freigabe ab 12 Jahren irgendwie nicht zur erwähnten Vögelei passen will.

Schade nur, dass sich der promovierte Theaterwissenschaftler und mit Preisen überhäufte Jo Baier und die Bundesverdienstkreuzträgerin und Erfolgsproduzentin Regina Ziegler nicht entblöden konnten. Zynische Publikumsverachtung mag ich so intelligenten Menschen allerdings nicht unterstellen. Warum eigentlich nicht?
Den Privaten wurde häufig vorgeworfen, dass sie Unterschichten-TV unters Volk bringen.
Doch dieses Konzept funktioniert nicht deshalb, weil es die Unterschicht gibt, sondern weil die Programmmacher sich vorstellen, es gäbe eine. Und sie wissen: denen darf man nichts zumuten. Und so setzt man ihnen quotengepeinigt genau das vor, was im Laufe der Jahre aus dem Zuschauer das machen soll, was man ihm immer schon unterstellt hat.
Die Öffentlich-Rechtlichen haben sich dieser Strategie unterworfen. Nicht erst seit gestern.

Als unlängst auf einem Symposium des Kölner Initiativkreises Öffentlicher Rundfunk diskutiert wurde, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk für die Gesellschaft leisten soll, gerieten nicht nur die Talkshows als die üblichen Verdächtigen unter die Räder. Der Medienrechtler Helge Rossen-Stadtfeld mahnte an, dass die öffentlich-rechtlichen Programmanbieter der „unproduktiven Verschmelzung von Programm und Unterhaltung“ und dem „quotenmaximierenden ‘More of the same‘ widerstehen“ müssen. Und: „Unterschichtenfernsehen ist verfassungswidrig“, stellte er fest.
Ich bin gespannt.

Ach ja, offenbar ist der Zuschauer doch nicht so doof, wie die Macher in der Anstalt es glauben. „Henri 4“ ist gestern Abend (wie schon im Kino) gefloppt. Erzielte der erste Teil lausige 8,3%, so hatten beim zweiten schon viele ganz weggeschaltet. Warum wohl?

Mittwoch, 4. April 2012

Die Haut, in der ich wohne


Spanien 2011 - Originaltitel: La piel que habito - Regie: Pedro Almodóvar - Darsteller: Antonio Banderas, Elena Anaya, Marisa Paredes, Jan Cornet, Roberto Álamo, Blanca Suárez, Eduard Fernández, Bárbara Lennie - FSK: ab 16 - Länge: 120 min. - Start: 20.10.2011

Pedro Almodóvar hat nach seinem gradlinigen Publikumserfolg „Volver“ (2006) nur zwei weitere Filme realisiert: mit „Zerrissene Umarmungen“ (2009) und nun auch „Die Haut, in der ich wohne“ verabschiedete sich der spanische Regisseur von einer linearen Erzählstruktur und präsentierte kryptisch verwobene Storylines, die stilistisch eher an die zeitliche Komplexität von „La mala educación“ (2004) erinnern. „Die Haut, in der ich wohne“ profitiert zwar von der Dekonstruktion der Zeitebenen und hält auch eine Reihe respektvoller Referenzen an klassische Vorbilder bereit, die mit den nicht weniger bekannten Almodóvar-Themen verschmelzen. Aber die Melange, die dabei entsteht, wirkt gelegentlich etwas holperig und lässt den Betrachter diesmal leider etwas unterkühlt zurück.

Distanz und Nähe
Der Körper einer jungen Frau in einem fleischfarbenen Bodysuit streckt sich während einer gymnastischen Übung. Vera ist grazil und zerbrechlich. Und sie ist eine Gefangene, die über eine Gegensprechanlage mit der alten Haushälterin Marilia kommuniziert, die ihre Wünsche höhnisch kommentiert. Wenn Veras Herr und Meister abends in sein Haus zurückkehrt, schaut er sich als Erstes das übergroße Bild der schönen Gefangenen an. Der Blick auf die weiblichen Rundungen der Liegenden erinnert trotz der Zierlichkeit Veras an ein barockes Frauenportrait, doch das Bild ist kein Gemälde, sondern das Überwachungsbild einer Videokamera, das auf einen monströs überdimensionierten Flatscreen projiziert wird. Und wenn Vera später stumm aus der Kadrage hinausblickt, kann Robert sie mit seiner Fernbedienung ganz nah an sich heranholen. Der Kamerazoom als Synonym für die Dialektik von Distanz und Nähe verspricht in Pedro Almodóvars neuesten Film gleich am Anfang Unheilvolles.

Basierend auf dem Roman Mygale von Thierry Jonquet erzählt Almodóvar die Geschichte des Hautchirurgen Professor Robert Ledgard (Antonio Banderas), dessen Forschungen zur Obsession werden – oder ist es umgekehrt?
Ledgard will eine neue und wesentlich robustere Haut entwickeln, um Menschen mit schweren Gesichts- und Körperverletzungen ihr natürliches Aussehen zurückzugeben.
Mit der Integration genetischer Elemente von Tieren (Transgene) in das menschliche Genom stößt der Mediziner allerdings an die Grenzen der Bioethik und wird von seinen Fachkollegen eher gemieden. Doch statt mit Mäusen zu experimentieren, hat Ledgard bereits die letzten Grenzen überschritten: seine Gefangene ist, man ahnt es, die ästhetische Vollendung von Forschung und Resultat.

Der Plot von „Die Haut, in der ich wohne“ ist alles andere als uneindeutig. Während vordergründig Georges Franjus Horrorfilm „Augen ohne Gesicht“ (Fr/ITA 1960) Pate stand, wird sich Almodóvars düsterer Genre-Mix bald auch an ganz andere sattsam bekannte Vorbilder herantasten und dabei den Fundus plündern.
Antonio Banderas spielt einen Mad Scienctist. Weniger in schlichter Dr. Frankenstein-Manier, sondern in seiner Radikalität eher an den kirren Seth Brundle aus David Cronenbergs Remake „The Fly“ (Kanada, USA 1986) erinnernd. Thematisch wurde auch bei Vincenzo Natalis Gen-Thriller „Splice“ (Kanada, FR, USA 2009) über die Schulter geschaut. Auch in Almodóvars Film geht es um die Transformation von Körpern, nur werden hier nicht Mensch und Fliege verschmolzen, sondern Mensch und Schwein.
Das Ergebnis ist wie in „Splice“ ein Art von Hybridisierung: die schöne Vera trägt eine genetisch manipulierte schweinisch-menschliche Haut und diese Chimäre war dereinst Vincente, ein junger Modedesigner, der unter dem Skalpell des Chirurgen zur Frau mutierte.
Also etwas von Cronenbergs Body Horror, aber dieser wird konterkariert: nicht etwas Monströses entsteht am Ende der grausigen Experimente, sonders etwas explizit Schönes, eine zerbrechliche junge Frau, was man in Kenntnis von Almodóvars Themenwelt durchaus als ironische Hommage interpretieren kann.

Quer durch die Genres
„Die Haut, in der ich wohne“ beginnt als Psychothriller, verwandelt sich in einen Horrorfilm und endet als Melodram. Um neben der physischen Transformation auch die filmische zu begründen, zerlegt Almodóvar die zeitliche Gliederung des Films. Er beginnt mit dem Mittelteil, springt zum Anfang und präsentiert dann das Ende. Diese Verschachtelung hat durchaus etwas Verblüffendes, weil Almodóvar Ursache und Wirkung gegen den Strich bürstet: wenn man erst nach der Wirkung die Ursache kennenlernt, wird ganze Monstrosität des Projekts erst vollständig sichtbar.
So sieht man zunächst, wie die bildschöne Vera Cruz sich an ihren abweisenden und sich fast schüchtern gebenden Gebieter anschmiegt und um dessen (auch erotische) Zuneigung wirbt. Schicht für Schicht wird nun abgeblättert. Wir erfahren, dass die strenge Haushälterin Roberts Mutter ist, die für die alsbaldige Beseitigung Veras plädiert. Und wir sehen in kurzen Flashbacks, dass Roberts Frau Gal vor Jahren mit seinem brutalen Bruder Zeca durchbrannte und mit dem Auto verunglückte. Während Zeca überlebte, wurde Gal schwer entstellt. Obwohl Robert versucht, seine Frau zu „re-konstruieren“, begeht Gal, angeekelt von ihrem Äußeren, Selbstmord. Norma, ihre Tochter wird unfreiwillig Zeugin des Suizids und landet traumatisiert in einer Nervenklinik. Und Zecas bizarrer Auftritt in einem Tigerkostüm wird eine Reihe von Gewalttaten auslösen – am Anfang und am Ende warten Verrat und Rache auf die Protagonisten und das Werben um Nähe und Zärtlichkeit ist zugleich authentisch und auch Teil einer minuziös geplanten Intrige.

Erst nach dem Mittelteil erzählt uns Almodóvar die Vorgeschichte: die Re-Modellierung einer Frau nach dem Vorbild einer geliebten Toten erinnert natürlich an Hitchcocks „Vertigo“, während die kurzen Skizzen der der spanischen Upper Class durchaus eine Portion Luis Buñuel erkennen lassen: wenn Robert während einer Hochzeitsfeier im Garten die sexuellen Exzesse der bourgeoisen Jugend beobachtet, erinnert die ansonsten in schön sesignten Settings schwelgenden Kameraarbeit von José Luis Alcaine zumindest einmal dezent an die Handschrift des großen Surrealisten. Im Garten, der eigentlich Synonym für die paradiesische Unschuld ist, entsteht fast biblisch auch die Saat des Bösen: hier wird Roberts Tochter das Opfer einer eher misslungenen Vergewaltigung durch den jungen Vincente, was sie letztendlich ebenfalls in den Selbstmord treiben wird.
Der Rest ist die ambivalente Suche nach Zärtlichkeit und Rache. Das geht selten gut.

Roberts Mutter wird irgendwann sagen, dass sie ihre Kinder „wahnsinnig geboren“ habe, da sie den Wahnsinn bereits in sich trage. Antonio Banderas spielt den Mad Scienctist nicht mad, sondern eher unterkühlt. Die minimalistische Spielweise lässt psychologischen Deutungen wenig Spielraum, das Obsessive zeigt sich nicht in der Mimik, sondern in der Kälte des Handelns. Ähnlich wie James Stewart in „Vertigo“ verschafft dem Virtuosen der Haut nicht der Prozess der Verwandlung die große Lust, sondern das Ergebnis. Dass der Interruptus kurz vor dem Höhepunkt allerdings tödlich enden kann, erinnert stark an Hitchcocks morbiden und durchaus etwas nekrophilen Thriller. Während Banderas allerdings den Zuschauer auf Distanz hält, besitzt Elena Anaya in dem Film eine kraftvolle Präsenz. Die Verwandlung einer geschundenen Kreatur in einen göttlich schönen Racheengel ist großes Melodram und fügt den starken Frauenrollen in Almodóvars Werk eine weitere hinzu. Anaya erhielt für ihre formidable Leistung 2012 Spaniens wichtigsten Filmpreis Goya als beste Hauptdarstellerin.

Transsexualität und Transvestitismus sind natürlich bekannte Themen von Pedro Almodóvar. In „Die Haut, in der ich wohne“ sind sie allerdings nicht Ausdrucksformen der Non-Konformität einiger greller Außenseiter im bonbonfarbenen Almodóvar-Kosmos. Diesmal drehte der Spanier seine bevorzugten Sujets vielmehr durch den Fleischwolf der Genretopoi und stellt sie damit quasi auf den Kopf. Dabei erscheint allerdings ein anderes Motiv aus Almodóvars Fundus in neuem Glanz: das der starken Frau. So besiegelt Almodóvars männliche Hauptfigur ihr Schicksal, indem sie aus einem schwachen, etwas saftlosen Jüngling eine Chimäre macht,  deren Weiblichkeit der Figur die Stärke gibt, einen subtilen Komplott zu schmieden, der Liebe und Nähe, Verrat und Befreiung einschließt.
Hier, so zeigt der Film, darf man nicht dem Äußeren trauen und die künstliche Haut wird im wahrsten Sinne des Wortes Ausdruck für Verletzlichkeit und abweisende Härte. Das alles funktioniert als Mix aus Horror, Psychothriller, ein wenig noir und vertrauten Zitaten streckenweise schrecklich schön, aber leider weist die Inszenierung Almodóvars diesmal, und das ist durchaus eine Überraschung, einige Holprigkeiten auf, die die elegante Souveränität, mit der der Spanier sonst seine Vexierspiele präsentiert, vermissen lässt.