Mittwoch, 18. November 2015

Big Eyes

Wenn man aufmerksam ist, kann man bei jedem Stadtbummel große Augen sehen. Auf Plakaten, in der Werbung. Erst neulich sah ich im Vorbeifahren an einer Litfasssäule ein Foto mit „Big Eyes“, ähnlich wie jene, die von der amerikanischen Künstlerin Margaret Keane seit über 60 Jahren gemalt werden. Tim Burtons „Big Eyes“ erzählt nicht nur von ihrer Vorgeschichte, sondern auch von einem Kunstskandal – und vom Identitätsverlust einer Künstlerin, die ihre Kunst spürt, aber nicht erklären kann.

Margaret Keanes Mann Walter kann erklären. so ziemlich alles. Das muss er auch. Immerhin behauptet er, dass die Bilder von ihm stammen. Und dass er die Kinder mit den überdimensionalen Augen deshalb malt, weil er als Künstler an die vielen Kindern erinnern möchte, die in all den vielen Kriege millionenfaches Leiden erfahren haben. So etwas befriedigt die Kunstwelt und das trendige Gerede sichert ihm dann auch einen begehrten Ausstellungsplatz bei der New Yorker Weltausstellung 1964.
Dort zeigt das Bild „Tomorrow Forever“ eine Armee großäugiger Kinder aus allen Ethnien der Welt, eine Potenzierung des Motivs, die auch den Gigantismus des Möchtegern-Künstlers demonstriert. Gemalt hat dieses Bild nämlich seine Frau Margaret. Viel alle anderen auch. Niemand weiß davon, nicht einmal ihre Tochter. Erst als Margaret beschließt, mit dem Betrug an die Öffentlichkeit zu gehen, bricht das Kartenhaus der Lügen zusammen.

Tim Burton erzählt in „Big Eyes“ die authentische Geschichte eines berühmten Kunstskandals. Burton macht daraus eine leichtfüßige Komödie. In den 1950ern lernt Walter (Christoph Waltz) die alleinerziehende Mutter Margaret (Amy Adams) und ihre Tochter Jane (Madeleine Arthur) auf einem Trödelmarkt kennen, wo Margaret für einen Dollar Portraits malt. Er selbst versucht banale Genrebilder zu verkaufen. Der charmante Walter überzeugt die introvertierte Malerin davon, sich nicht unter Wert zu verkaufen. Bald wird geheiratet und Walter entwickelt außergewöhnliche Qualitäten als Verkäufer von Bildern – allerdings nur der seiner Frau. Als man ihn zufällig für den Schöpfer dieser Werke hält, versteht er, dass in der von Männern dominierten Kunstwelt Frauen keine Chance haben. Er bleibt bei der Lüge. Margaret malt von nun an heimlich, selbst ihre Tochter bekommt nichts mit, und aus Walter Keane wird innerhalb weniger Jahre ein Star der Kunstszene San Franciscos.


Schriller Wandel der Kunstwelt

Christoph Waltz spielt den Selfmade-Betrüger mit dem typischen Waltz-Touch -  zunächst durchaus ernsthaft an Margaret interessiert, ein Charmeur mit romantischer Ader, nett, aber auch gerissen. Aus den 5-Dollar-Noten, die er nach Hause bringt, werden größere Scheine. Als er in einem kultigen Club den prominenten Impressario Enrico Banducci (Jon Polito) nach einem Streit attackiert, ist dies keineswegs das gesellschaftliche Aus. Der Skandal ist irgendwie chic, die Szene ist begeistert, die beiden Streithähne wittern das Geschäft und geben dem Affen Zucker. Walter entwickelt nach dieser Lektion seine Talente zur Perfektion, ein geschickter Manipulator, der einen Raum beherrscht, sobald er ihn betritt. Er zieht die Yellow Press auf seine Seite, findet Förderer und Fans. Der Kolumnist Dick Nolan (Danny Huston) nennt ihn einen B-Promi. Immerhin. Der erste Schritt ist getan, bald folgen Ruhm und Big Money. Und Walter beginnt sich mit seiner Rolle zu identifizieren. 
Natürlich ist diese Geschichte für Christoph Waltz ein gefundenes Fressen. „Big Eyes“ wird über weite Strecken eine One-Man-Show, in der Waltz mit einem Schuss Overacting alle Facetten eines schrägen, aber nicht ungefährlichen Mannes präsentiert.
Dass er dabei seine Partnerin nicht an die Wand spielt, liegt daran, dass Amy Adams (
„Man of Steel“, „American Hustle“) der perfekte Cast für die Rolle der Margaret Keane ist. Während Waltz das spielt, was man von ihm erwartet und beinahe zum Selbstzitat wird, agiert Adams nuanciert und unauffällig. Ihre Überwältigung durch einen dominanten Mann verwandelt sich nur langsam in Irritation, dann in Traurigkeit. Adams tupft dies so pointiert und sparsam hin wie es eine minimalistische Künstlerin auf ihrer Leinwand tun würde.
Nur ist Margaret keine Minimalistin, wenn sie den Pinsel in der Hand hält. Die expressiven Bilder hart am Rande des Kitsch drücken aus, was sie fühlt, ohne dass sie wortreich erklären kann, warum sie so und nicht anders malt. Für den theoretischen Überbau sorgt Walter, und das in einer Zeit, die sich radikal von den bürgerlichen Kunstbegriffen entfernt. Aus dem Künstleratelier werden Factorys, Andy Warhol wird 1962 aus Suppendosen Kunstwerke machen und zwei Jahre später Schreibt Susan Sontag ihre „Notes on Camp“. 
In dieser Welt des schrillen Wandels reagiert die Kunstwelt geradezu hysterisch auf Sensationen und solche, die es sein wollen. Nur der Kritiker John Canaday (Terence Stamp) sieht in Keanes Bildern das Trashige, das für alle anderen hip ist. Eine Welt, in der Margaret Keane deplatziert wirkt. Ihr Mann bewegt sich in ihr wie ein Fisch im Wasser. Langsam schleichen sich in diese Beziehung Dissonanzen ein. Als Margaret entdeckt, dass Walter überhaupt nicht malen kann und seine eigenen Bildchen bei einem anderen Maler gekauft hat, begreift sie, dass ihr die eigene Identität trotz oder gerade wegen des enormen kommerziellen Erfolgs aus den Händen gleitet. Amy Adams spielt dies atemberaubend authentisch und dafür gab es zu Recht für sie den Golden Globe Award für die Beste Schauspielerin in der Kategorie „Komödie“. 


Keine Tragikomödie

Zu großen Augen scheint Tim Burton eine spezielle Beziehung zu haben. Bereits in „Frankenweenie“ sah man sie, auch Madeleine Arthur passt mit ihren großen Augen perfekt in den Film. Auch sonst ist „Big Eyes“ ein typischer Burton-Film geworden - mit opulenten Settings und satten Farben, allerdings nicht ganz so schräg wie in früheren Filmen. Einige geometrisch angeordnete Einstellungen des großartigen französischen Kameramanns Bruno Delbonnel („Die fabelhafte Welt der Amélie“, „Harry Potter und der Halbblutprinz“, „Inside Llewyn Davis“) erinnern sogar an die Tableaux Vivants von Wes Anderson, sind aber kein reines Stilmittel, sondern Ausdruck der emotionalen Verfasstheit der beiden Hauptfiguren.

Tim Burton schreckt in seinem Film allerdings vor dem großen Drama zurück. Nur einmal, kurz bevor Margaret mit ihrer Tochter ihren Mann verlässt, bekommt die von Waltz gespielte Figur dämonische und gewalttätige Züge. Dies trifft auch den Kern, denn „Big Eyes“ ist auch das Portrait einer gewaltigen narzisstischen Störung. 

Aber Burton wäre nicht Burton, wenn er eine bedrohliche Dunkelheit in seinen Filmen zulassen würde. In „Big Eyes“ rudert er zurück, der Film wird nicht zur Tragikomödie. Wenn in der Schlussszene Margaret und Walter vor Gericht über die Urheberrechte streiten (was tatsächlich über 20 Jahren nach der Trennung der beiden geschah), inszeniert dies Burton als Farce, in der Christoph Waltz völlig aus dem Ruder läuft. Das kann man in dieser Szene auch vom Film behaupten. Überzeugen kann dies leider nicht so ganz, auch wenn der Richter schließlich eine originelle Entscheidung trifft, mit der Walter nicht rechnen konnte.
 

„Big Eyes“ steht in der Tradition jener Filme wie „Edward mit den Scherenhänden“ oder „Ed Wood“, in denen skurrile und weltfremde Figuren mit der Welt aneinander geraten und sich einen Platz für ihre Träume erkämpfen müssen. In „Ed Wood“ erzählte Burton die authentische Geschichte eines dilettantischen Filmemachers mit dem Ruf, der schlechteste aller Zeiten zu sein. Dort sagt Vincent D’Onofrio als Orson Welles am Ende zu Wood, dass Visionen es wert sind, um sie zu kämpfen. Lange Zeit geschieht dies in „Big Eyes“ nur an der Staffelei, aber dann, wenn es erforderlich ist, handelt Margaret Keane mit einer Entschlossenheit, die anderen Burton-Figuren oft fehlt. 
Die reale Margaret Keane malt immer noch, ihr Mann hat bis zu seinem Tode behauptet, dass die Bilder von ihm sind. Die Realität ist nicht nur in diesem Fall deprimierender als das Kino Tim Burtons.

Noten: Melonie = 1,5, Klawer, BigDoc = 2

Big Eyes – USA 2014 –Regie: Tim Burton – Drehbuch: Scott Alexander, Larry Karaszewski – Kamera: Bruno Delbonnel – Laufzeit: 105 Minuten – FSK = ohne Altersbeschränkung - D.: Amy Adams, Christoph Waltz, Danny Huston, Madeline Arthur, Terence Stamp, Jon Polito.

Dienstag, 10. November 2015

Spectre

007 meets 08/15: beinahe pflichtschuldig liefert Sam Mendes nach dem exorbitanten „Skyfall“ mit dem 24. Film der James-Bond-Reihe lediglich einen durchschnittlichen und an den traditionellen Erzählmustern des Franchise orientierten Thriller ab. Das kann man sich ansehen, man muss es aber nicht.

Das „Must see“ ist für Bond-Filme die Messlatte. In den drei Filmen, in denen Daniel Craig mit enormer physischer Wucht und psychischer Labilität dem britischen Top-Agenten mit der Lizenz zum Töten ein neues Gesicht gab, wurde das Franchise neu aufgestellt. Das war sehenswert. Im vierten Film geht es schablonenhafter zu.
„Spectre“ kehrt mit seiner Plotstruktur zu den Anfängen zurück und Craigs Bond erinnert unübersehbar an den zynischen Sean Connery - der allerdings hätte sich wohl kaum so weitgehend seelisch entblättert, wie es Daniel Craig zuletzt tat. Der alte Bond war im libidinösen Dauerbetrieb, der neue ist weniger lasziv und schläft mittlerweile auch mit Frauen reiferen Alters. Neu ist, dass die Kamera nicht mehr zeigen will, dass Bond einen erkennbaren Spaß an der Sache hat. 

 

Vorwärts in die Vergangenheit

In „Skyfall“ musste man um Bonds Diensttauglichkeit bangen, das hatte etwas, das war neu – Bond zeigte seine Verletzlichkeit, wurde im MI6 beinahe zum Branchen-Dino mit minimaler Halbwertszeit. In „Spectre“ ist er wieder ganz der Alte, obwohl Daniel Graigs Gesicht mittlerweile doch sehr zerfurcht aussieht. In Sam Mendes’ zweiter Interpretation des Bond-Narrativs schießt und prügelt sich 007 weitgehend grübelfrei und omnipotent wie in alten Zeiten durch die Handlung. Mal im Helikopter, dann in einer schnellen Autoverfolgungsjagd im nächtlichen Rom, die Kameramann Hoyte von Hoytema („Her“, „Interstellar“) nicht als Crashsequenz sondern als elegantes Ballett zeigt, in dem Bonds Aston Martin DB10 wie ein gefährliches Raubtier durch die Nacht gleitet.
Bond ist auch sonst pausenlos in Bewegung: Wie in einer Schnitzeljagd werden weltweit die einzelnen Stationen abgearbeitet, die Bond dem neuen und alten Erzschurken Ernst Stavro Blofeld einen Schritt näher bringen sollen. Auch das erinnert an alte Zeiten. 

Mit dem Katzenfreund Blofeld und S.P.E.C.T.R.E. hatte bereits der alte Bond zu kämpfen, nun, da in der neuen Zeitlinie alles auf Null gesetzt wurde, wird auch der neue Bond mit der globalen Terrororganisation konfrontiert, die ein Krake auf einem Siegelring ikonisch auf den Punkt bringt. Und obwohl die Settings bei der Hatz nach dem Schurken abwechslungsreiche und damit auch pittoreske Reize zu bieten haben und mal die schneebedeckten österreichischen Alpen, dann trostlose Wüsten zeigen, zwischen London, Rom und Mexico-City pendeln und dabei rund um den Globus führen, hat man bereits nach einer Stunde das Gefühl, all dies schon einmal gesehen zu haben. Früher hat man das im Kino erwartet: Mit Bond um die Welt reisen. Zugegeben: Das sieht immer noch gut aus, ein Must-see ist es nicht mehr. „Spectre“ ist nicht nur aufgrund seines Location-Hoppings ein traditionsbewusster 007-Film voller Konventionen geworden, höflich formuliert. Ungnädiger könnte man feststellen, dass „Spectre“ der langweiligste aller Filme mit Daniel Craig ist. Er sieht so aus, als hätte Regisseur Sam Mendes beschlossen, noch einmal den klassischen Bond-Film der 1960er und 1970er Jahre aufleben zu lassen. Das funktioniert nicht mehr.

Dabei hat der Film ein Thema. Früher waren die Schurken einfach nur größenwahnsinnig und wollten die Weltherrschaft. Heute sind sie größenwahnsinnig, wollen die Weltherrschaft, erkennen nun aber die Zeichen der Zeit. Franz Oberhauser, den Christoph Waltz hart an der Grenze zur Selbstparodie als charmanten Soziopathen gibt, hat den Zeitgeist erkannt: wahre Herrschaft ist die Kontrolle über Menschen und deren Daten. 

Daten werden ja gerne mit dem Synonym „Beschnüffelung“ kurzgeschlossen. „Spectre“ will noch mehr: Das Oberhaupt der Organisation möchte alles über jeden zu jeder Zeit wissen, am besten live auf dem Monitor. Selbst in logistische Vorleistung gehen? Nein, natürlich nicht. Vielmehr sollen einige handverlesene Terroranschläge die Dienste provozieren, sich zwecks Gefahrenabwehr zusammenzuschließen und dabei alle ihre Daten auf den Tisch legen. Wirklich alle! Natürlich muss man ein besonders argloses Gemüt besitzen, um nicht spätestens nach einer halben Stunde zu ahnen, dass der Initiator des Ganzen natürlich zu Spectre gehört. Dabei kann man sich ganz auf seine Intuition verlassen.

Dass man aus dem Strippenzieher kein großes Geheimnis macht, hört sich spannungsarm an, ist es auch. Auch das Thema wirkt ausgelutscht. Weltherrschaft durch Datenkontrolle - das ist bereits in Roger Spottiswoodes „Tomorrow never dies“ (1997) erzählt worden, vor 18 Jahren hatte das mehr mit Science Fiction zu tun. Heute sind wir weiter, aber nicht klüger.
Bedeutungslos wird etwas allerdings dann, wenn es durch ständige Wiederholung seiner Reizpunkte beraubt wird. Das Genrekino hat sich das Thema, Marvel-Universum inklusive, völlig einverleibt - bis an die Grenze des Überdrusses und vermutlich ohne Folgen für den kritischen Verstand. Nicht nur hierzulande, wo die Realität geradezu aufreizend die Kinofiktionen überholt hat und das allgegenwärtige Beschnüffeln achselzuckend mit einem „Ich habe ja nichts zu verbergen“-Kommentar abgetan wird, dürften die Aktivitäten des neuen „Joint Intelligence Service“ in „Spectre“ vom Zuschauer höchstens als narratives Hintergrundrauschen erlebt werden. Wer es etwas realistischer und damit zynischer haben will, sollte sich daher lieber die neue Staffel von „Homeland“ anschauen. Immerhin, und das gibt der Sache zumindest einen gewissen Reiz, wollen die Spectre-Nerds, die bereits die britischen Dienste unterwandert haben, nicht nur MI5 und MI6 fusionieren, sondern auch die Doppelnull-Agenten abschaffen. Und das verschafft James Bond immerhin den Charmefaktor eines analogen Fossils.


Déjà-vu: Bond und die Schurken

Aber nicht nur mit der Umsetzung dieser Topics haben die Drehbuchautoren John Logan und die Script-Veteranen Neal Purvis und Robert Wade den Film nur knapp am Klischee vorbeilaviert. Auch andere Nachlässigkeiten überraschen, immerhin hat das Trio „Skyfall“ geschrieben, Purvis und Wade sind seit „The World Is Not Enough“ (Die Welt ist nicht genug, 1997) dabei. In „Spectre“ greifen sie tief in den Fundus des Vertrauten, originell ist das nicht. Zu den zahlreichen Déjà-vu’s gehören daher auch die Hierarchien der Schurken.
Im neuen Bond-Spektakel gibt es neben dem Alpha-Schurken Franz Oberhauser auch einen Beta-Schurken, gespielt von Andrew Scott. Der hat bereits als Gegenspieler von Sherlock Holmes in der TV-Serie „Sherlock“ demonstriert, dass die Fiesen heute so ticken, als seien sie bei einem x-beliebigen Hedgefond ausgeliehen worden. „Spectre“ folgt allerdings neuen Pfaden, wenn der Beta am Ende nicht von Bond erledigt wird, vielmehr von „M“, der damit auch hausintern regelt, was längst überfällig war. Nicht nur damit bekommt Ralph Fiennes mehr Raum im Film, sondern auch Moneypenny (Naomie Harris) und „Q“ (Ben Whishaw) erhalten einige Schlüsselszenen. Ein Pluspunkt auf der Habenseite.

Die Zeiten, in denen die Handlanger des Oberschurken mit einer tödlichen Melone glänzen konnten, sind allerdings vorbei. Der von Harold Sakata gespielte Oddjob verblüffte in „Goldfinger“ (1964) noch mit seiner stählernen Krempe das Publikum. Sakata war Wrestler, den Mann fürs Handfeste gibt diesmal ebenfalls ein Wrestler, nämlich der als „Batista“ bekannte Dave Batista. Als Mr. Hinx wird er allerdings arg schablonenhaft eingesetzt. Er darf bei einer Spectre-Konferenz, in die sich Bond heimlich eingeschlichen hat, ein unfähiges Mitglied der Organisation umbringen (in welcher Spectre-Konferenz werden eigentlich nicht unfähige Mitarbeiter entsorgt?), dann kann er in einem Zug Bond nach Herzenslust verprügeln, bevor er sein gerechtes Ende findet (erinnern wir uns da nicht an „From Russia with Love“ und den grandiosen Hünen Robert Shaw, der zusammen mit Sean Connery ein ganzes Zugabteil zerlegte?). Anders gesagt: In „Spectre“ wird reichlich zitiert.

Und Oberhauser? Christoph Waltz rundet die Déjà-vu’s mit einer saloppen Reminiszenz an den guten alten Joseph Wiseman ab, der als Dr. No mit großem Gehabe 007 durch sein Headquarter führte, um anschließend den Agenten seiner Majestät genussvoll umzubringen. Klappte nicht, wissen wir doch alles schon, in Mendes’ Film wird es neu aufgelegt: da taucht Bond (wie anno 1962) gar mit weiblicher Begleitung an den Pforten des Oberschurken auf, liefert brav seine Waffe ab, gesteht dem Hausherrn, dass er ihn zu töten wünscht, wird ein wenig im Spectre-Heiligtum herumgeführt und landet wie bestellt auf dem Folterstuhl, wo ihm Oberhauser aka Blofeld mit ausgesuchter Höflichkeit die bevorstehenden Details der ausgeklügelten Folter mitteilt. In
Goldfinger“ sollte es noch per Laser ans Gemächt von 007 gehen - schöne Metapher -, in „Spectre“ soll Bonds Gedächtnis neurochirurgisch gelöscht werden.
Aber w
eiß denn keiner dieser hochbegabten Bond-Schurken, dass 007 irgendwo ein Gadget am Leibe trägt, dass den ehrenwerten Houdini vor Neid erblassen ließe?
Nein, Bond-Schurken sehen keine Bond-Filme, sie machen immer wieder den gleiche Fehler - 007 soll nicht einfach nur umgebracht werden, nein, man nimmt sich (wie früher) die Zeit für ausgeklügelten Sadismus. In „Goldfinger“ fragte 007 vor der Prozedur mit dem Laserstrahl, ob er zum Reden gebracht werden soll, worauf der legendäre Gert Fröbe den nicht weniger legendären Oneliner „Nein, Mr. Bond. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sterben!“ raushaute. In „Spectre“ erklärt Oberhauser redselig, dass es die gemeinsam verbrachte Kindheit war, die ihn zu dem machte, was er nun ist. Der ganze Hustle also nur, weil ein kleines Kind neidisch auf den Stiefbruder war? Immerhin ist Oberhausers Wahl der Waffen ein
nettes Apercu, das offen lässt, ob er Bond foltern oder lediglich therapieren will.

Bond und die Gadgets und die Frauen und der Rest

Zu den ernsthaften Ermüdungserscheinungen eines Genres gehört das Durchkreuzen von Erwartungen, und zwar dann, wenn dies pausenlos wiederholt wird. An sich ist das anfänglich eine nette Sache, aber der spärliche Humor in „Spectre“  besteht wieder einmal darin, dass „Q“ offenbar einen eisernen Sparkurs verfolgt. Er gibt Bond eine Uhr (hübsches Product Placement, es ist nicht das einzige) und auf die Frage, was der Zeitmesser so alles kann, erklärt er lapidar, dass die Uhr die Zeit anzeigen könne. 

Und überhaupt die Gadgets. Mitten im Gefecht feststellen zu müssen, dass die Bewaffnung im piekfeinen Aston Martin nur teilweise funktioniert, mag zwar den einen oder anderen Lacher einbringen, in seiner vermeintlich ironischen Selbstbezüglichkeit zeigt „Spectre“ aber nichts Neues. Klar, die Gags sitzen, man grinst etwas anzüglich. Aber da nicht zum ersten Mal in einem Bondfilm mit Daniel Graig die alten Topics auf die Schippe genommen werden, wirkt das nunmehr etwas anstrengend.

Eine interessantere Facette des Films ist dann aber die Art und Weise, wie Bonds angeknackste Libido auf den Prüfstand gestellt wird. Aus dem eleganten Womanizer, der ohne allzu intensive Gefühle Frauen mit frivolen Namen wie „Holly Goodhead“ oder „Pussy Galore“ vernaschte und dabei aus dem eigenem Narzissmus keine große Sache machte, wurde spätestens nach „Casino Royale“ (2006) ein mit seiner Virilität und seinem Selbstbild hadernder Mann.
Von Ursula Andress’ spektakulären Auftritt als Honey Rider in „Dr. No“ bis zu Eva Green als Vesper Lynd in „Casino Royale“ hat 007 einen weiten Weg zurückgelegt. Aus dem „sexistischen, frauenfeindlichen Dinosaurier“ (Judi Dench als „M“ über Bond) mit einem Faible für Pin-Up-Girls ist ein erotisch mäandernder Mann geworden, der in „Spectre“ mit der 51-jährigen Monica Belucci ins Bett steigt. Belucci, die am Anfang ihrer Karriere ein Sex-Symbol gewesen ist, spielt die Frau jenes mysteriösen Schurken, den Bond in der Eröffnungssequenz liquidiert.
Während Monica Belucci damit zum ältesten Bond-Girl aller Zeiten wird und danach rasch aus dem Film verschwindet, ist Bonds neuer weiblicher Sidekick in „Spectre“ eine Frau, die dem Doppelnull-Agenten auf Augenhöhe begegnet: Madeleine Swann (großartig gespielt von Léa Seydoux, u.a. „Grand Budapest Hotel“) ist die Tochter von
Mr. White (Jesper Christensen), der als „Blasser König“ auf der Abschussliste von Spectre steht und Bond als Vermächtnis das Schicksal seines Kindes anvertraut. Madeleine kann, so scheint’s, aber gut auf sich selbst aufpassen. Kämpfen, Schießen – kein Problem. Allein dass sie dem einst zwanghaften Erotomanen „Ich liebe Dich“ ins Gesicht sagen darf, gibt „Spectre“ dann doch ein bemerkenswertes Alleinstellungsmerkmal.

Geschüttelt, aber nicht gerührt

Nach vier Filmen mit Daniel Craig ist die neue Storyline um 007 eigentlich auserzählt. „Casino Royale“, „Quantum of Solace“, „Skyfall“ und nun auch „Spectre“ haben aus einem eleganten Comic-Helden einen deprimierten Agenten gemacht, der in der Realität angekommen ist. Auch in der eigenen. Bond hat nun eine Geschichte, aber eine, bei der eine Menge auf der Strecke geblieben ist. Zu viele Tote, zu viele Gespenster aus der eigenen Vergangenheit. Daniel Craig als 007 war und ist nach vier Filmen erst recht keiner mehr, dem ein „Geschüttelt, aber nicht gerührt“ die Welt besser machen könnte. 


„Skyfall“ wäre der passende Schlusspunkt gewesen, „Spectre“ will dagegen dem Publikum den alten Bond ein stückweit zurückgeben, ohne alles zuvor Erzählte zu annulieren. Aber das geht nicht ohne Weiteres. Bond-Filme sind längst keine Procedurals mehr, also abgeschlossene und beliebig austauschbare Episodenfilme. Sie werden horizontal erzählt und eigentlich wäre die weitere Entwicklung von 007 in einer Serie besser aufgehoben. Das wird nicht geschehen, denn Daniel Craig hat trotz der hysterischen Spekulationen um seinen Ausstieg einen Vertrag unterschrieben, der einen weiteren Film vorsieht. Zuletzt verriet er in einem Magazin: „Ich werde solange weitermachen, wie ich körperlich in der Lage dazu bin.“

Auch wenn „Spectre“ eher zu den Anfängen von 007 zurückkehrt und dabei etwas sprunghaft wirkt, ist Sam Mendes' Film kein Flop. Im Gegenteil: der Mix aus klassischem Bond der 1960er und 1970er und dem Zeitgeist des neuen Jahrhunderts ist griffig und unterhaltsam, auch wenn über weite Strecken Wein in alten Schläuchen serviert wird. Geschenkt. Denn eigentlich möchte man Bond nicht aus den Augen verlieren – er gehört zur Inventarliste des Kinos. Und er spiegelt in eng gesteckten Grenzen immer auch ein Stück Zeitgeist wider. Der neue Bond ist zudem längst nicht mehr so blauäugig wie einer seiner Vorgänger, nämlich Timothy Dalton, der 1987 in „The Living Daylights“ noch zwanglos mit afghanischen Mudschaheddin zusammenarbeitete. Der Bond der 21. Jahrhunderts hätte da so seine Zweifel. Er sucht nach seiner Identität, traut weder seinen Brötchengebern noch der Welt an sich. Man könnte gerne wissen, wie weit das gehen kann. Nur sollte man im nächsten Film weniger nostalgisch sein. 08/15 und 007 passen nämlich nicht mehr zueinander.

Noten: BigDoc = 3,5

Spectre (GB 2015) – Laufzeit: 148 Minuten – Regie: Sam Mendes – Drehbuch: John Logan, Neal Purvis, Robert Wade – Kamera: Hoyte von Hoytema – D.: Daniel Craig, Christoph Waltz, Andrew Scott, Léa Sedoux, Ralph Fiennes, Naomie Harris, Ben Whishaw, Jesper Christensen, Dave Batista, Monica Bellucci