Donnerstag, 17. September 2009

Aktuell: die "Basterds" floppen

Kontrovers ist noch geschönt: der neue Film von Quentin Tarantino hat nicht nur den Pressewald rauschen lassen, sondern auch das Publikum gespalten. Im Filmclub war es nicht anders, aber die eigentliche Überraschung war, dass der Film, der nicht nur meiner Ansicht nach zu den spannendsten Kinoereignissen der letzten Jahre gehört, in der Gesamtbewertung komplett durchfiel.
Nach der ergänzenden Notenabgabe zweier Mitglieder schafften es die BASTERDS mit 3,0 P nicht einmal in die Top Twenty.
Wer sich noch einmal mit dem Film auseinandersetzen will und die ganze Palette der Meinungen ("Meisterwerk" bis "Schund") an sich vorbeiziehen lassen will, der kann dies tun:
http://www.film-zeit.de/Film/20713/INGLOURIOUS-BASTERDS/Presse/

Donnerstag, 10. September 2009

Neue Rankings

Kräftig durcheinandergewirbelt wurden unser Ranking der Top Twenty in den letzten Wochen des August und besonders in der ersten Septemberwoche. Dies lag nicht nur an dem großen Erfolg von "The Wrestler" oder dem neuen Film von Sam Mendes, sondern auch daran, dass einige Filme, die bislang nur zwei Benotungen erhalten hatte, durch ein weitere Note in die Vollwertung aufgenommen werden konnten. So zum Beispiel Clint Eastwoods "Changeling", der monatelang mit zwei sehr guten Noten im Hintergrund schlummerte.

Das Ergebnis: die alte Nr. 1 kippte, die Nr. 2 stürzte sogar auf den 6. Platz ab.

Noch ist das Jahr nicht vorbei!

Mittwoch, 9. September 2009

Waltz with Bashir

Israel / Deutschland / Frankreich 2008 - Regie: Ari Folman - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 87 min.

Der Krieg findet im Kopf statt. Erst verschwindet er aus dem Gedächtnis, dann soll, ja muss ihm energisch nachgespürt werden, denn Ari Folman hat das Meiste von dem vergessen, was er vor über 25 Jahren als 19-jähriger israelischer Soldat im Libanonkrieg erlebt hat. All dies könnte er ruhen lassen, aber sein Freund Boaz wird immer wieder von einem Traum heimgesucht, in dem Nacht für Nacht 26 garstig aussehende Horror-Hunde von seinem Fenster auftauchen, um ein entsetzliches Geheul anzustimmen. Da Boaz keine Menschen töten konnte, musste er während seines Einsatzes im Libanon immer die Hunde des Dorfes mit einem schallgedämpften Gewehr erschießen, damit seine Einheit unbemerkt eindringen konnte. Nun, ein Vierteljahrhundert später, sind die Hunde wieder da und an jeden einzelnen kann sich Boaz erinnern. Folman weiß, dass er seinem Freund nur dann helfen kann, wenn er seinen eigenen, fest verschlossenen Schubladen öffnet.

Unwirklicher Alptraum: Doku-Fiction - genau recherchiert
Realität und Fiktion gehen gleich in der ersten Szene von Ari Folmans „Waltz with Bashir“ eine ambivalente Beziehung ein, denn der Regissuer Ari Folman ist in dem Film auch eine Figur und damit sein eigener Erzähler. Mit dem Thema Libanon wurde er konfrontiert, als er nach dem Ausscheiden aus der Reservearmee zu einer obligatorischen Therapiesitzung geladen wurde. Als real Beteiligter, dann als Filmemacher, aber auch als Filmfigur geht Folman nun in „Waltz with Bashir“ auf die Suche nach der verlorenen Zeit. „Verlorene Erinnerungen, Unbewusstes, Halluzinationen, Albträume“ begleiteten während seiner ersten Recherchen den Weg zurück und anscheinend ging es vielen seiner Kameraden auch so.
An einen Spielfilm dachte Folman allerdings nicht. Um stilistisch einem konventionellen Dokumentarfilm auszuweichen, in dem Zeitzeugen vor neutralen Hintergründen sitzen und von ihren Erinnerungen erzählen, verwandelte Folman seine Recherchen in Video-Interviews mit Kriegsteilnehmern und dramatisierte die berichteten Ereignisse in Spielszenen. Erst anschließend entstanden Illustrationen, aus denen im letzten Schritt die animierten Sequenzen hergestellt wurden. Dies wirkt zunächst etwas irritierend, weil man ohne diese Hintergrundinformation glaubt, das Ganze sei die fiktionale Nacherzählung eines historischen Ereignisses. Ist es aber nicht: alles in „Waltz with Bashir“ ist genauso passiert. Folmans Film ist präzise Doku-Fiction und in diesem Genre der erste animierte Film dieser Art.

Der Hintergrund für die erste israelische Intervention im Libanon waren zahlreiche Terroranschläge, die in Israel von PLO-Kämpfern begangen wurden. Die PLO operierte dabei von libanesischem Gebiet. Im Juni 1982 kesselte die israelische Armee rund 10.000 PLO-Kämpfer in Beirut ein. Als im September der Führer der christlichen Lebanese Forces Baschir Gemayel, der drei Wochen zuvor zum Präsident des Libanon gewählt worden war, bei einem Attentat getötet wurde, kam es zu Vergeltungsaktionen der christlichen Phalangisten, die den Israelis nicht entgingen und sogar durch israelische Beobachtungsposten unterstützt wurden.

Schicht für Schicht legt Folman diese Geschehnisse in seinem Film frei. Ein Prozess, der mit der Beseitigung einer partiellen Amnesie zu vergleichen ist, eine Spurensuche, die in zahlreichen Gesprächen mit ehemaligen Kameraden das fast Vergessene frei legt und immer mehr zum Kern der Ereignisse vordringt. Die animierten Szenen dehnen dabei die einzelnen Situationen mit einer Eindringlichkeit in die Länge, die konventionellen Kriegsfilmen mit ihrem Schnittgewitter versagt bleibt. Die Bilder zeigen immer wieder aufmerksam Gesichter und die Regungen, die das Erlebte auslöst. Es gibt Bilder der Ruhe und der Stille, dann wieder Ausbrüche der Gewalt. Fast scheint es, als würden die sparsamen Animationen das Archetypische der Situationen freilegen: Beim allerersten Einsatz geschieht die Liquidierung einer libanesischen Familie in ihrem Auto noch aus blinder Panik, ein anderer Zeuge berichtet von absurden nächtlichen Schießorgien ohne Ziel, in einem idyllischen Olivenhain wird eine Einheit von einem Kind mit Panzerfäusten angegriffen, ein Soldat schwimmt nach einem fehlgeschlagenen Angriff auf dem Meer kilometerweit zu seiner Einheit zurück und wird von Scham überwältigt, weil er glaubt, als Überlebender nicht genug getan zu haben. Alles unterlegt mit einem Mix aus 80er Jahre-Hits, Bach, Chopin Schubert und Songs wie »I bombed Beirut today«. Und immer wieder sieht man wie in einem surrealen Traum Ari und zwei Kameraden im Meer treiben, ehe sie nackt und wie unwirkliche Untote aus dem Wasser steigen und sich mit ihren Waffen dem Strand von Beirut nähern.

Irgendwo zwischen Breughel, Dali und Dante
Folman weiß, dass Erinnerungen nicht objektiv sind, erst recht dann, wenn Ungeheures verarbeitet werden muss, und er macht dies dem Zuschauer früh klar. Ständigen Ergänzungen, Umdeutungen und Fälschungen ausgesetzt, wendet sich Erinnertes ins Erträgliche, und falls dies misslingt, verschwinden die Erinnerungen oder es stellen sich nach über einem Vierteljahrhundert urplötzlich traumatische Prozesse ein, die sich wie Gespenster der Vergangenheit an denen rächen, die sich nicht erinnern wollen. Und dennoch sind nur diese Erinnerungen der Schlüssel zum Verstehen. Folman selbst, als seine eigene Figur, nähert sich dabei zusammen mit dem Zuschauer in spiralenförmigen Bewegungen den Ereignissen, die in Beirut ihren traumatischen Höhepunkt finden.
Erst ganz zum Schluss wird Folman klar, dass es einen Grund dafür gab, dass er in einer bestimmten Nacht ununterbrochen Leuchtraketen in die Luft schießen musste, von einem Dach, das den freien Blick auf die Lager von Sabra und Schatila ermöglichte. In jener Nacht drangen christliche Phalangisten in die Lager vor. Als der Anführer der Phalangisten, Elie Hobeika, über Sprechfunk gefragt wird, was man mit den Gefangenen tun soll, antwortet er : „Do the will of god!“ (zitiert aus einem Bericht der Untersuchungskommission des Israelischen Außenministeriums). Danach richteten die Phalangisten ein Blutbad unter den palästinensischen Zivilisten an. Es wurde getötet, gefoltert, verstümmelt und vergewaltigt und erst nach über 48 Stunden wurde das Massaker beendet. Ob nun knapp 500 oder über 3000 Menschen umkamen, spielte bei der Einschätzung der Ereignisse keine Rolle mehr: Das Massaker wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 16. Dezember 1982 als Genozid gewertet und Folmans Nosce te ipsum lautete: ich bin in dieser Nacht zum „Nazi“ geworden.

Der Zuschauer ist an dieser brutalen Reise ins Innere unmittelbar beteiligt. Er landet zusammen mit dem Erzähler in diesem Vorhof der Hölle, irgendwo angesiedelt zwischen den apokalyptischen Visionen Breughels, den surrealen Bildern Dalis und dem Fegefeuer Dante Alighieris. Erst recht, als Folman am Ende auf reale Bilder schneidet, in denen man die Leichenberge in Sabra und Schatila und die schreienden und weinenden Überlebenden sieht. Dann ist der Film zu Ende.
Die Therapiesitzung ist es auch, aber die Katharsis will sich zunächst nicht einstellen. Dazu muss man an den Anfang des Films zurückkehren, denn wenn man aus „Waltz with Bashir“ einen Funken Hoffnung mitnehmen kann, dann ist es die Erkenntnis, dass nur das Sprechen über gemeinsame Erfahrungen die Seele entlastet, weil es aus einer subjektiven Erfahrung eine öffentliche macht.

Postskriptum
Es gibt eine bizarre Szene in dem Film. Israelische Soldaten sind in das halb zerstörte Beirut vorgedrungen und werden plötzlich aus den Fenstern der Hochhäuser beschossen. Deckung ist kaum vorhanden und im Hintergrund stehen die Libanesen auf ihren Balkonen und schauen ohne Angst um Leib und Leben zu. Einer der Soldaten greift sich ein MG und wagt den Ausbruch. Aber er überquert die Straße nicht, sondern beginnt unter einem Bild Baschir Gemayels einen irrwitzigen Tanz, während er Garben aus seiner Waffe in die Fenster jagt: „Waltz with Baschir“ meets „Apokalypse now“.
Durch das gespenstische Szenario schreitet ein Kriegsberichterstatter mit seinem Kameramann, während beiden die Kugeln um die Ohren fliegen. Es ist Ron Ben-Yishai, der wenig später Verteidigungsminister Ariel Scharon in einem nächtlichen Telefongespräch über alles informiert. Sharon rührt in dieser Nacht keinen Finger, um das Massaker zu stoppen, sorgte aber über zwanzig Jahre lang dafür, dass Ron Ben-Yishais Karriere beim israelischen Fernsehen ausgebremst wurde.

Ari Folman hat mit seinem Film in Israel für volle Kinos gesorgt. Angriffe blieben zu seiner Überraschung aus, auch die israelische Armee, noch gebeutelt durch den zweiten Libanon-Krieg, hielt sich zurück. Überhaupt scheint die Diskussion um den Verlust der „moralischen Unschuld“, wie es einige Kommentatoren nannten, in den letzten Jahren eher zugenommen zu haben. Dass die israelische Armee sich zumindest durch passive Duldung an einem Völkermord beteiligte, ist ein öffentliches Trauma, das die Nachkommen der Holocaust-Opfer auf singuläre Weise belastet, aber für Außenstehende seltsam irreal bleibt. Auch ich hatte das Massaker von Sabra und Schatila längst vergessen und erst durch Folmans Film und nach zusätzlichen Recherchen erreichte mich die Dimension der Ereignisse – und dies sowohl intellektuell als auch emotional. Das exemplarische Durcharbeiten der Traum- und Erinnerungslandschaften der Kriegsteilnehmer stellt Ari Folman in Bildern bereit, die unter die Haut gehen, weil sie die Mit-Täter nicht als Botschafter des Bösen zeigen, sondern als hilflos Gestrandete, denen am Ende ihren bösen Träume zeigen, dass auch dieser Umstand keine moralische Entlastung gestattet.

Der Hoffnung, man könne aus Geschichte lernen, wurde in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als ein Schlag versetzt. Die aufklärerische Geste erweist sich als naiv, die realen Lektionen werden uns nicht nur durch psychotische Idi Amins und Pol Pots erteilt, sondern auch durch uns selbst: immer noch und täglich auf dem Schwarzen Kontinent, in Sebrenica, im Irak, in Sabra und Schatila, zuletzt in Afghanistan. Wer „Waltz with Bashir“ mit besten Absichten und großer Geste pädagogisch nutzbar machen will, steckt schon in der Falle. Man sollte sich auch klar darüber sein, dass ein moralisches Verdikt anmaßend ausfallen muss, wenn man diese cineastische Auto-Psychotherapie ohne empathische Integration der Fremderfahrungen für politische Schuldzuweisungen instrumentalisiert. Das einzige, was übrig bleibt, ist die Teilnahme an der Trauerarbeit.

Anmerkung (zitiert nach Wikipedia): 2008 konkurrierte Folmans Film bei den 61. Filmfestspielen von Cannes ohne Erfolg um die Goldene Palme, wurde aber vom Publikumfrenetisch gefeiert. Im gleichen Jahr wurde Waltz With Bashir als offizieller israelischer Beitrag als einer von fünf Filmen für den Oscar als bester nichtenglischsprachiger Film nominiert. Bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises 2008 war Waltz with Bashir in vier Kategorien nominiert, aber nur der deutsche Komponist Max Richter wurde mit dem Preis ausgezeichnet. Bei der Golden-Globe-Verleihung 2009 wurde Folmans Regiearbeit als Bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet. Im Januar 2009 erhielt der Film von der History Makers Conference 2009 in New York den Preis als Beste Produktion, Wochen später den französischen César als bester ausländischer Film.
Im Filmclub erhielt der Film 3x eine 1 und eroberte sich den ersten Platz in der Jahresauswertung 2009.


http://www.mfa.gov.il/MFA/Foreign%20Relations/Israels%20Foreign%20Relations%20since%201947/1982-1984/104%20Report%20of%20the%20Commission%20of%20Inquiry%20into%20the%20e enthält den "104 Report of the Commission of Inquiry into the events at the refugee camps in Beirut- 8 February 1983"

Noten: Klawer, BigDoc, Melonie = 1, Mr. Mendez = 2,5

Freitag, 4. September 2009

Der diskrete Charme der Bourgeoisie

Herausragende DVD-Edition
Die Editoren der KINOWELT geben sich mit ihren ARTHAUS-Editionen sehr viel Mühe. Vom Filmklassiker bis zum Dogma-Kino, von Dreyer bis Wong-Kar-Wai: Cinephile kommen auf ihre Kosten, vorbei auch in technischer Hinsicht Kosten und Mühen nicht gescheut werden. Ein gutes Beispiel ist die Neuauflage des Buñuel-Klassikers „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“, der exzellent gemastert auf DVD vorliegt und mit atemberaubenden Boni ausgestattet wurde.
Ich frage mich: Wer soll sich das anschauen?

Es fehlt uns die Sprache, deshalb haben wir Begriffe
Luis Buñuel und sein langjähriger Co-Autor Jean-Claude Carrière brüten im Café und suchen verzweifelt nach einer neuen Filmidee. Der Produzent sitzt ihnen im Nacken und will etwas Handfestes. Ideen werden durchgespielt und verworfen. Ein Zufall hilft, als ihnen eine Geschichte erzählt wird, die sich tatsächlich so zugetragen hat: gemeinsame Freunde laden zwei Brasilianer zum Essen ein, doch die Geladenen erscheinen einen Tag zu früh, die Gastgeber sind perplex und nicht vorbereitet. Das gemeinsame Essen scheitert.
Bingo! Die erste Szene des Films steht und nun muss die Geschichte 'nur noch' weiterentwickelt werden. Wie in einem Running Gag werden sich in Buñuels Film die getriebenen Mitglieder der Obersicht immer wieder zum Essen verabreden und immer wieder wird alles scheitern, verwoben mit Traumsequenzen, die den Bezug von Fiktion und Realität so auseinandersprengen, dass man am Ende nicht mehr weiß, was man überhaupt sieht.

Als das Script steht, müssen Buñuel und Carrière dem Kind noch einen Namen geben. Wie es sich für guten Surrealisten gehört, soll der Titel a posteriori dem Ganzen eine Deutungsebene geben, die bei der Stoffentwicklung noch nicht erkennbar war. Man schlägt sich gegenseitig einiges vor, aber nur Buñuels „Der Charme der Bourgeoisie“ hält der Prüfung stand. Rund ist das noch nicht, aber Carrière hat die rettende Idee: ein Adjektiv muss her! Man stellt eine Liste zusammen und hat zweifellos viele nette Ideen, aber am Ende bleibt nur das Wörtchen „diskret“ übrig.
Ist das alles? Eine Ausgangsszene suchen und dann einfach erzählen, was einem gerade so einfällt. Und ganz zum Schluss als Taschenspieltrick und Dreingabe der Titel als Bedeutungsgenerator?
Tagträumend begebe ich mich in meine Schulzeit, in der mir eingehämmert wurde, dass Kunst tiefe Wahrheiten in unsere Wahrnehmung befördert, dass die Werke allerdings einer korrekten Deutung bedürfen, um erkennbar zu werden. Alles andere fällt hintenüber, ausgesondert als unzulässiges Phantasiematerial.
Bis zum Erbrechen von der hermeneutischen Deutungslehre oder den positivistischen Puzzelspielereien durchsozialisiert, suchen unsere malträtierten Hirne seither bis ans Lebensende nach dem Schlüssel für die Rätsel der Kunst.
Und was passiert, wenn wir ihn gefunden haben?

Was soll’s. Buñuel ist sowieso vergessen. Vermutlich.
Ich habe schon mächtig gestaunt, als neulich zu nachtschlafender Zeit das „Gespenst der Freiheit“ im TV wiederholt wurde. In den 70er Jahren gab es, falls ich mich recht entsinne, mal eine Buñuel-Schwemme im TV und einige seiner schönsten Arbeiten wurden so zugänglich. Keine Ahnung, ob sie damals gekürzt wurden. In den 50er Jahren hat man ja im TV alles Surrealistische rausgeschnitten. Da wir in der Post-Post-Moderne alle viel cooler sind, wäre es spannend, wenn man L'Âge d'Or zur Hauptsendezeit zu sehen bekäme. Die Zeit ist reif. Das Aufführungsverbot von Buñuels zweitem Film wurde schließlich 1981 aufgehoben.

Wanderungen
Die Widerbegegnung mit „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ war nach fast 35 Jahren zunächst eine kleine Enttäuschung. Irgendwie war mir Buñuels Film viel radikaler im Gedächtnis geblieben. Man hat mittlerweile so viele Attacken auf’s frivole Bürgertum gesehen, dass man alle Spielarten durchgenommen hat. „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ wirkt in seiner ruhigen und sorgfältigen Erzählweise dagegen geradezu unpathetisch, erst Recht, wenn man sich direkt davor „Magnolia“ angeschaut hat. Böser Vergleich.

Vielleicht musste ich erst eine Kurve machen, etwas durch die Lebens-, Traum- und Kinolandschaft wandern. Da hilft einem die KINOWELT weiter. Auf der Bonus-DVD findet man einen wunderbaren Film: „Das letzte Drehbuch – Erinnerungen an Luis Buñuel“ (El último guión - Buñuel en la memoria). Der Dokumentarfilm von Javier Espada und Gaizka Urresti (Spanien/Frankreich/Deutschland 2008, 94 Minuten) ist besser als der Hauptfilm oder anders gesagt: man sollte sich diese ungewöhnliche Wanderung anschauen, bevor man sich „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ anschaut.
„Das letzte Drehbuch“ wurde bereits anlässlich des 25. Todestages Luis Buñuels (29. Juli 1983) von 3sat gezeigt. Zusammen mit zwei Vertrauten des Regisseurs, dem Drehbuchautor und langjährige Mitarbeiter Jean-Claude Carrière und Buñuels Sohn, dem Filmemacher Juan Luis Buñuel, durchwandert man die Lebensstationen Luis Buñuels in Spanien (Calanda, Zaragoza, Toledo und Madrid), Frankreich, Mexiko und den USA. Zunächst wirkt das im Stile eines Video-Tagebuchs gedrehte Abschreiten irgendwie versponnen und nostalgisch, dann schält sich immer mehr das heraus, was Buñuels Leben und seine Filme ausmacht: die enge Freundschaft mit Künstlern und Literaten wie García Lorca und Salvatore Dali (der Buñuel später in den USA als Kommunist anschwärzen sollte und jawohl, es wurde in diesem elitären Freundeskreis gesoffen), die ambivalente Beziehung der Spanier zum Tod, die Architektur der Städte, frühe Kinoerfahrungen wie Fritz Langs „Der müde Tod“, der Geist des Surrealismus und die Lust am Kino und am Fabulieren, die Buñuel eigentlich nur dann leben ließ, wenn er einen Film drehen durfte.
Anschließend weiß man, warum es absurd ist, Buñuels Traumlandschaften in „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ in dem bedeutungsgeladenen Begriff „Satire“ einzufrieren.

Vom ungelösten Geheimnis
Vielen Menschen ist die Fähigkeit, sich über Filme zu freuen, völlig abhanden gekommen. Erst werden sie durch das Erwachsenwerden zugerichtet und schämen sich über die Filme, von denen sie als Kinder begeistert waren, dann werden durch ihren Beruf endgültig ihrer Phantasie beraubt.
Besonders Freunde, die in technischen Berufen arbeiten, können einen in die Verzweifelung treiben. In einer Welt, in der alles funktionieren muss, hat das Objekt keine obskuren Eigenschaften, sondern muss einen klaren Zweck haben, der gleichzeitig auch Sinn ist. Eine unheilige Beziehung.
„Was hat dieser Film zu bedeuten?“, fragen sie mit leuchtenden Augen, was immerhin andeutet, dass irgendetwas sie berührt hat.
Normalerweise beantworte ich solche Fragen nicht.

Machen wir eine Ausnahme: „Buñuel zeigt uns, dass das, was wir im Kino in unseren Köpfen zusammensetzen, auf Gewohnheiten basiert. Deshalb infiltrieren Träume den Film solange, bis man die fiktive Realität nicht mehr von den Träumen der Figuren unterscheiden kann. Würden wir erkennen, wie sehr uns unsere Träume im Leben verfolgen, dann würden wir auch erkennen, wie brüchig unser Konzept von Wirklichkeit ist!“
Enttäuschung auf dem Gesicht des Angesprochenen. „Das ist alles? Mehr ist in dem Film nicht drin?“.
Da haben wir es: kaum haben sie ihre Bedeutung, wollen sie schleunigst das Geheimnis zurück.

Epilog
Wenn man in „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ jene sinnlose Szene sieht, in der die Protagonisten über eine Landstraße marschieren, eine Szene, die so sinnlos ist, dass sie sich jeder vernünftigen Deutung widersetzt, sträuben sich bei den Meisten die Nackenhaare.
Luc Lagier hat einen kleinen Film gemacht, der mit dieser Szene beginnt. Eine wirklich diskrete und luzide Deutung: „Ein Spaziergang unter Schatten“ (2005). Die KINOWELT hat Lagiers Film zum Glück mit auf die Bonus-DVD gepackt. Lagier, der übrigens ein bekannter Spezialist für die Zusammenstellung von Bonusmaterial ist, entfaltet ein Deutungspanorama, das nach 28 Minuten erneut auf der erwähnten Landstrasse landet. Nichts ist wahr daran und alles ist richtig. Die Phantasielosen haben endlich ihre Deutung, alle anderen dürfen sich ans Werk machen und sich selbst etwas ausdenken. Ich glaube, das würde Luis Buñuel noch im Grab begeistern.

(Zu empfehlen ist http://www.kunst-der-vermittlung.de/artikel/luc-lagier-ueber-dvd-boni/. Der kleine Text von Lagier über die Gepflogenheiten beim Zusammenstellung von Bonus-Disks ist sehr witzig).