Mittwoch, 26. September 2007

Shooter

USA 2007 - Regie: Antoine Fuqua - Darsteller: Mark Wahlberg, Michael Peña, Danny Glover, Kate Mara, Elias Koteas, Rhona Mitra, Rade Sherbedgia, Ned Beatty, Dean McKenzie, Jonathan Walker - FSK: keine Jugendfreigabe - Länge: 120 min.

Man muss schon ziemlich naiv sein, wenn man glaubt, dass die mächtigen Männer des von Eisenhower warnend beschriebenen militärisch-industriellen Komplexes mithilfe von Regierungsbehörden und professionellen Söldnertruppen ein ganzes Dorf in Äthiopien liquidieren lassen, um die Ölversorgung zu sichern. Um dann auch noch einen hochrangigen äthiopischen Geistlichen in dem Moment abzuschießen, als er als Staatsgast des Präsidenten eine Enthüllungsrede halten will. Etwas mehr Raffinesse dürften die Machteliten schon allein aus Imagegründen walten lassen.
Aber genau die Vertuschung eines Massakers ist der Kern des Plots von „Shooter“ und der Elite-Scharfschütze Bob Lee Swagger (Mark Wahlberg) ist, nachdem er schon einmal übel gelinkt wurde, auch noch naiv genug, um sich nach Jahren des Exils vom zynischen Colonel Johnson (Danny Glover) zu einer Art von Machbarkeitsstudie überreden zu lassen: „Wie erschieße ich am besten den Präsidenten?“ Natürlich nur, um mit diesem Szenario Böses zu verhindern. Selbst die leutseligste Seele ahnt schon nach der ersten Viertelstunde, dass Swagger schon bald die Trottelrolle eine Lee Harvey Oswald einnehmen wird.

Angesichts des Bösen in der Welt gibt es wohl nur im Kino befriedigenden Lösungen.
Allerdings scheint sich im Gegensatz zu den liebenswerten und moralisch integren Capra-Helden à la James Stewart, die in „Mr. Smith goes to Washington“ die politische Moral kraft ihrer beschwörenden Rhetorik retten, gegenwärtig eine alternative Lösungsformel durchzusetzen: der Held lässt John Wayne alt aussehen und erschießt die Lumpen einfach, nachdem er erkannt hat, dass ihm das Rechtssystem nicht so recht helfen kann. Vielleicht ist dies die ehrlichere Variante, denn den Filmen des Moralisten Capra kann man nicht recht trauen: immerhin arbeitete der republikanische Konservative als Spitzel für’s FBI und hatte ein Faible für Diktatoren.

Dann schon lieber Antoine Fuqua („Training Day“), der mit tadellosen und eleganten Bildern sowie großer inszenatorischer Energie seinem Einzelgänger- und Rachefilm den Look großen Kinos verleiht, anstatt ein Ego-Shooter-Billig-Movie abzuliefern. Das gelingt auch, weil Mark Wahlberg seine Sache richtig gut macht und dem perfekten Killer durchaus weiche, aber nicht irritierende Züge verleiht. Trotzdem gewinnt der Film keine aufklärende Kraft, da Wahlbergs bornierte und zynische Gegenspieler einfach zu blöd sind. Oder glaubt jemand im Ernst, dass der alle Fäden ziehende amerikanische Senator (schön gespielt von Ned Beatty) allen Ernstes seine Motivation an der Überzeugung festmacht, dass es in der Politik nicht um Weltanschauung, Moral und Werte geht, sondern nur darum, dass es auf der einen Seite Reiche gibt und auf der anderen Seite Habenichtse? Kriege um des Profits willen - so kann unsere Welt doch nicht wirklich beschaffen sein? Oder sollte die FSK möglicherweise das Prädikat „keine Jugendfreigabe“ vielleicht an dieser Dialogpassage festgemacht haben? Fragen über Fragen.

Stattdessen zitiere ich liebe Dwight D. Eisenhowers 1961 gehaltene Abschiedsrede: “This conjunction of an immense military establishment and a large arms industry is new in the American experience. The total influence -- economic, political, even spiritual -- is felt in every city, every State house, every office of the Federal government. We recognize the imperative need for this development. Yet we must not fail to comprehend its grave implications. Our toil, resources and livelihood are all involved; so is the very structure of our society. In the councils of government, we must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military-industrial complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists and will persist.”

Noten: BigDoc =3, Klawer = 2, Melonie = 3, Mr. Mendez = 3

Freitag, 14. September 2007

Das Bourne Ultimatum

USA 2007. R: Paul Greengrass. B: Tony Gilroy, Scott Z. Burns, George Nolfi (nach dem Roman von Robert Ludlum). K: Oliver Wood. Sch: Christopher Rouse. M: John Powell. T: Kirk Francis. V: Universal. L: 115 Min. D: Matt Damon (Jason Bourne), Julia Stiles (Nicky Parsons), David Strathairn (Noah Vosen), Scott Glenn (Ezra Kramer), Paddy Considine (Simon Ross), Edgar Ramirez (Paz), Albert Finney (Dr. Albert Hirsch), Joan Allen (Pamela Landy)

Irrsinnige Handkamera und delirierende Schnitte
Es versetzte mich schon in großes Erstaunen, als ich nach dem ernüchternden Kinobesuch im Blätterwald die enthusiastischen Kritiken studieren durfte, die das „Bourne Ultimatum“ im deutschen Blätterwald ausgelöst hatte: Kritik an Bush, Kritik an Abu Ghraib, Kritik an den Brave-New-World-Überwachungsszenarios (ja, Videoüberwachung auf Bahnhöfen und Flugplätzen beraubt uns wirklich der letzten Bürgerrechte).
Haben die jungen Kritiker etwa komplett die Paranoia-Movies der Siebziger vergessen? Nehmen sie jeden Schuss Ideologiekritik ernst, den sie vorgesetzt bekommen. Haben wir wirklich etwas Neues gesehen? Haben wir überhaupt etwas gesehen?

An sich nicht, denn in der Vorstellung, die ich besuchte, war der Vorführer angesichts des Blitzgewitters aus irrsinniger Handkamera und delirierender Schnitte nicht in der Lage, den Film scharf zu stellen, was die zu visuell betäubten Lemmingen mutierten Zuschauer nicht mal ansatzweise registrierten und wie paralysiert über sich ergehen ließen. Vermutlich hielten sie die Unschärfe für einen Teil des ästhetischen Konzepts von Paul Greengrass, der uns schon in Flug 93 demonstrierte, wie er aufnehmen und anschließend schneiden lässt. „Suggestive Nähe“ nannte dies ein Kritiker. Ich habe dafür ein anderes Wort: Bildersalat. Man erreicht ihn allerdings nicht, wenn man die Kamera, festgebunden an einem Strick, über seinem Kopf kreisen lässt. Etwas raffinierter ist das Ganze schon, aber wenn ein Kritiker allen Ernstes die Einzelbildschaltung empfiehlt, um per DVD das geniale Bildkonzept von Greengrass zu studieren, dann gehen bei mir die Lichter aus.

Enthüllungswahn
Natürlich geht Matt Damon im dritten Teil der Bourne-Trilogie dem Geheimnis seiner Vergangenheit endgültig auf den Grund, was – wen überrascht es? – dazu führt, dass er herausfindet, wer er ist: eine von der CIA konditionierte Killermaschine in einem miesen Projekt namens „Treadstone“, das schon längst durch ein noch mieseres Projekt abgelöst worden ist. Botschaft: die CIA lässt weltweit Menschen ermorden, alles natürlich im Interesse der nationalen Sicherheit, der wiederum mit dem Kampf gegen den Terrorismus zu tun hat, und natürlich besteht die Agency bis in die oberen Etagen ihrer Hierarchie aus kriminellen Psychopathen, die erst liquidieren lassen und dann fragen, ob sie den Richtigen erwischt haben.

Mal im Ernst: Würden Filme wie das „Bourne Ultimatum“ auch nur ansatzweise etwas über die Praktiken der CIA verraten, dann wäre Paul Greengrass wohl nicht mehr in der Lage gewesen, der Premiere seines Films beizuwohnen. Aber vielleicht sitzen die Jungs von der Agency auch nägelkauend in den dunklen Kinosälen und ärgern sich schwarz darüber, in einem Popcorn-Movie so schonungslos vorgeführt zu werden. Mein Tipp: einfach mal in der Wikipedia über die CIA recherchieren und dort vor allem die Quellen untersuchen – die Realität ist spannender und folgenreicher.

Wie uns Popcorn-Kino zum Narren macht
Einen „100-Millionen-Studentenfilm“ nannte Matt Damon das „Bourne-Ultimatum“. Und nicht ganz ironiefrei schilderte er in einem Interview, dass er während den Dreharbeiten nur selten wusste, in welcher Szene er sich gerade befand. Nicht dass er Greengrass vor’s Bein treten wollte, aber seine Ausführungen über die fast klassische Zusammenarbeit mit Robert de Niro und dessen Regietechnik in „The Good Shepherd“ verrät mehr, als es Damon recht sein kann. Aber wenigstens gibt er zu, dass die Gagen für die Bourne-Rolle ihm gestatteten, ganz entspannt zu Sparpreisen mit de Niro und Scorsese (The Departed) zusammenarbeiten zu können.

„Renn mit aller Kraft von A nach B“ – ein cleverer Kritiker kommentiert diese Regieanweisung von Greengrass möglicherweise mit dem Kraftwort „physisches Kino der Extraklasse“. Ich nicht. Dass macht mir Mut das Geheimnis eines anderen Kritikers zu enträtseln, der den Kamera- und Montagestil von Greengrass mit illustren Vokabeln bedachte. Eine da von war Flash Cut.
In Gottes Namen, was ist ein Flash Cut?

Eine Goggle-Suche brachte mich nicht weiter, allerdings fand ich in Foren händeringende und drängende Fragen junger Filmemacher – nämlich was denn ein Flash Cut sei. So kommt man nicht weiter, wenn sogar Insider nicht wissen, wovon die Rede ist. Mittlerweile, es deutet sich dunkel an, weist einiges darauf hin, dass ein Flash Cut ein Blitzeffekt zwischen zwei Einstellungen ist, der mit einem schrägen Geräusch unterlegt wird. Toll.

Doug Liman hatte mit „The Bourne Identity“ (2002) zumindest noch einen ansehnlichen Thriller hingelegt. Danach geriet die Serie in die Hände von Paul Greengrass, dem ich nichts Böses antun will, aber im Gegensatz zum Millionenheer enthusiastischer Kritiker sind für mich nicht alle Kamera- und Montageinnovationen der letzten Jahre ein Gewinn. Im Gegenteil: nachdem das amerikanische Kino die Standards in den Bereichen Kamera und Schnitt so hochgeschraubt hatte, dass man fast schon von einer Nivellierung auf allerhöchstem Niveau sprechen konnte, suchen einige Filmemacher nach Ressourcen, um den verloren geglaubten Individualismus des Stils zurückzugewinnen. Der technisch aufwändige und „perfekte“ Dilettantismus, der teilweise auch auf die „Dogma“-Bewegung zurückgeführt werden kann, ins für mich nichts anderes als Formalismus. Man gewinnt nichts, sondern verliert nur.

Note: BigDoc = 5, Klawer = o.A.

Mittwoch, 5. September 2007

Bilder des Bösen II: Pans Labyrinth

Mexiko / Spanien / USA 2006 - Originaltitel: El Laberinto del Fauno - Regie: Guillermo del Toro - Darsteller: Ivana Baquero, Doug Jones, Sergi López, Ariadna Gil, Maribel Verdú, Álex Angulo, Roger Casamajor, Sebastián Haro - FSK: ab 16 - Länge: 114 min.

Mitten im Deutungsloch
In einem Gespräch in der Charlie-Rose-Show fasste Guillermo del Toro die Quintessenz seines Films „Pans Labyrinth“ mit einem Kierkegaard-Zitat zusammen: „Die Herrschaft des Tyrannen endet mit dessen Tod und die Herrschaft des Märtyrers beginnt mit dessen Tod“. Es ist gut, wenn man prägnante Sprüche zur Hand hat, denn del Toros Film verstört nicht nur am Schluss durch den Tod der Hauptfigur und deren märchenhafter Metamorphose, sondern auch vorher durch eine komplexe und schwer verdauliche Erzählstruktur. Dies verlangt nach Deutungen.

Irritation und Kopfschütteln daher auch im Filmclub, dazu ungläubiges Staunen und Sprachlosigkeit: der als Masterpiece angekündigte Film hatte einen mittleren Kulturschock ausgelöst. Dies lag nicht unbedingt an der Komplexität der Story (zwei Wochen später erhielt der aus meiner Sicht gewiss nicht einfachere Film „Babel“ von Alejandro González Iñárritu vortreffliche Höchstnoten), sondern war wohl eher dem Aufeinanderprallen zweier Erzählwelten zu verdanken: auf der einen Seite muss man die „realistische“ Darstellung des mörderischen Wütens faschistischer Franco-Truppen verdauen und auf der anderen Seite Feen und Faune in einer kindlichen, aber keineswegs harmlosen Märchenwelt, ohne genau zu wissen, ob diese „Welt“ innerhalb der Fiktion „real“ ist oder nicht. Starker Tobak.

Ofelia im Horrorland
Wir befinden uns im Spanien des Jahres 1944, kurz nach dem Sieg Francos gegen die Republikaner. Hauptmann Vidal reist mit seiner gerade geheirateten und hochschwangeren Frau Carmen und deren 12-jähriger Tochter Ofelia in ein armseliges nordspanisches Dorf. Dort, auf dem Gutshof der Familie, soll sein eigenes Kind geboren werden, während er gleichzeitig den Auftrag hat, die versprengten Reste der republikanischen Widerstandskämpfer zu bekämpfen.

Durch einen Zufall entdeckt die junge Ofelia (Ivana Baquero) in der Nähe des Gutshofes ein uraltes steinernes Labyrinth. Dort begegnet ihr nächtens ein Pan, der ihr eröffnet, dass sie unter Umständen die Prinzessin eines unterirdischen Reiches sein könnte. Vor langer Zeit habe sie dieses Reich verlassen und in der Welt der Menschen ihre Herkunft vergessen. Seit Jahrhunderten warte ihr Vater, der König, auf ihre Rückkehr. Um aber herauszufinden, ob sie wirklich die verlorene Prinzessin sei, müsse sie erfolgreich drei Aufgaben lösen.

Ofelia im Horrorland: während im realen Leben der Stiefvater (grandios: Sergi López) barbarisch Aufständische foltern lässt und die schwangere Mutter zusehends verfällt, taucht das Mädchen in eine mystische Parallelwelt ab, in der sie Feen sorgenvoll begleiten und grässliche Monster ihren Mut auf eine harte Probe stellen. Nur die Haushälterin Mercedes (Maribel Verdu), die in Wirklichkeit für die Widerstandskämpfer arbeitet, steht Ofelia zur Seite, ohne allerdings ihr Geheimnis zu kennen, und nimmt es mit dem faschistischen Hauptmann auf.

Fiktive Welten und das Problem der Ambivalenz
Fiktive Geschichten im Kino sind in der Regel verständlich. Sonst fallen sie an der Kasse durch. Was im Einzelnen als „verständlich“ durchgeht, ist in der Regel dem Bestand an erlernten Kulturtechniken zu verdanken, die bei der Masse des Publikums vorhanden sein müssen. Schwierig wird es aber immer dann, wenn die Fiktion sich selbst bespiegelt, zum Beispiel in einer „Film-im-Film“-Konstruktion.

Generell haben es Fiktionen, die dem Realitätsprinzip folgen, deutlich einfacher, da die „fiktive Welt“ den Mustern der realen Welt nachempfunden ist. „Realistische“ Fiktionen besitzen einen hohen Akzeptanzgrad, da man über die fiktiven Geschehnisse und Figuren so reden kann, als wären sie real: z.B. über eine problematische Handlung mit der Aussage „So etwas hätte ich nie getan!“, oder über ein fiktives Liebespaar mit der Frage „Was wird nur aus den beiden?“. Dies ermöglicht Interpretationen und Deutung via Einfühlung und Psychologisierung. Und es funktioniert sogar in Sci-Fi-Epen wie „Star Wars“, weil die die Figuren psychologisch kaum anders gestrickt sind als der Zuschauer. Auch wenn Luke Skywalker in fernen Welten mit skurrilen Aliens kämpfen muss, geht es doch um Liebe, Treue und Freundschaft, der Verrat, Gier und Machtlust gegenüberstehen. Das versteht man. Also: „Realistisch“ bedeutet eben nicht immer „genaue Abbildung unserer eigenen Lebenswelt“, auch wenn dies einige Kinofreunde aus ideologischen Gründen glauben müssen oder wollen.

Wie problematisch komplexere Konstruktionen werden können, bewies andererseits vor etlichn Jahren der keineswegs über-intellektualisierte, aber raffinierte „Last Action Hero“ von John McTiernan mit Arnold Schwarzenegger in zwei Hauptrollen. Der „Film-in-Film“, der zudem auch noch zitatenreich war (Shakespeare! Ingmar Bergman!) fiel zunächst an der Kinokasse durch, mauserte sich aber im Laufe der Zeit zum Geheimtipp und stellte damit unter Beweis, dass intelligentere Konzepte auf Dauer durchaus vermittelbar sind.

In „Pans Labyrinth“ geht es aber nicht um fiktive Verdoppelungen oder Metalepsen, in denen fiktiven Figuren bewusst wird, dass sie fiktiv sind, sondern um die uneindeutige Zuordnung des Realitätscharakters zweier grundverschiedener Erzählebenen.
Würde man beispielsweise in „Pans Labyrinth“ die beiden Erzählebenen „Spanien 1944“/“Märchenwelt“ deutlicher voneinander trennen und Ofelias Visionen formal und ästhetisch als Traum darstellen, wäre die erste Erzählebene, die „reale“, vor der zweiten gerettet und wir hätten alle kein Problem. Aber tatsächlich durchdringen sich beide Welten, die eine scheint in das Geschehen der anderen einzugreifen und umgekehrt.
Diese Deutung erledigt sich allerdings in der Schlussszene, als klar wird, dass alles, was Ofelia sieht, von den anderen nicht gesehen wird: Vidal kann, bevor er das Mädchen erschießt, den Faun, mit dem Ofelia spricht, nicht sehen und dies macht deutlich, dass das Märchen nur in Ofelias Kopf existiert.
Gut, auch dies wäre nicht wirklich ein Problem und könnte bequem mit dem Begriff „Genre-Mix“ erledigt werden, aber das Deutungsangebot, dass die Märchenwelt nur in Ofelias Kopf existiert und als regressive Fluchthandlung notwendig geworden ist, um den Schrecken der Wirklichkeit zu entkommen, ist ambivalent, denn wenn Vidal den Faun nicht sehen kann, dann kann dies auch bedeuten, dass Ofelia mystische Fähigkeiten besitzt und die Märchenwelt ebenso real ist wie die Erzählebene „Spanien 1944“.

Aus meiner Sicht besteht das Problem einzig und allein darin, dass wir kulturtechnisch so konditioniert wurden, dass wir uns innerhalb von Fiktionen nur orientieren können, wenn die Erzählebenen eindeutig (und nicht ambivalent) sind und die Konventionen der Zuordnung stimmen. Ambivalenzen und Konventionsbrüche räumen dagegen einen zu großen Deutungsspielraum ein. Das schafft Probleme.

Guillermo del Toro hat sich meiner Meinung nach als auktorialer (allwissend, allmächtig) Erzähler die Freiheit genommen, seine Welt so zu arrangieren, wie es ihm gefällt. Dabei besteht das auktoriale Moment nicht in der Art, mit der ein Erzähler in das Innenleben seiner Figur eindringt und eingreift (wie wir es aus der Literatur kennen), sondern in der Souveränität, mit der del Toro ästhetisch und formal seine Erzählwelten arrangiert und dabei bei der Sprengung von Konventionen die Imaginationsfähigkeit des Zuschauers bis an die Grenze ausreizt oder im ungünstigsten Fall restlos überfordert.

Tja, und jetzt dürfte dem einen oder anderen endgültig der Hut hochgehen, denn die aus der Literatur bekannte Problematik der Erzählperspektive oder des Erzählers („wer erzählt wem und vor allen Dingen was?“) ist keineswegs einfach auf das Kino und seine Fiktionen zu übertragen, da der Gestus des „als ob“ in der Kinofiktion scheinbar stärker dem Realitätsprinzip verpflichtet ist und der Erzähler völlig verschwindet, es sei denn, er wird formal (z.B. im Off) integriert. In „Pans Labyrinth“ haben wir es jedoch mit einem Filmemacher zu tun, der sich die Freiheit der Fantasie nimmt und uns (in aller Freiheit) überlässt, ob wir den Film als spirituelle Erfahrung konsumieren oder anderweitig zu Tode deuten.

Die Innenwelt des Bösen
Ungeachtet dieser theoretischen Probleme ist „Pans Labyrinth“ einfach ein fantastischer Film, der sich dem Zuschauer auch emotional erschließen soll und kann. Die Reise eines jungen Mädchens in eine unbekannte, bedrohliche Gegend fernab der urbanen Zivilisation, der Schrecken des Krieges, der ungeliebte Stiefvater, die Begegnung mit Terror und Folter – angesichts dieser Erfahrungen ist die Flucht in eine Märchenwelt auch ohne literatur- und kinotheoretische Diskussionen nachvollziehbar. Dabei kann man sich auch ruhig seinen Gefühlen und seiner Phantasie überlassen.
All dies wird zudem noch in eine sinnliche, überbordenden Filmsprache übersetzt, die durch opulente Szenarios den Zuschauer unwiderstehlich in die magische Welt Ofelias hineinzieht, ohne ihn völlig von den Schrecken der Außenwelt zu entlasten.

Dass in der Welt der Faune die Grausamkeit im selben Maße zunimmt wie in der Außenwelt zeigt zudem, wie beide Welten sich in den Fluchtphantasien Ofelias bespiegeln. Besonders in dem Moment, als ihre Mutter bei der Geburt stirbt und sie ihren gerade geborenen Bruder dem Faun übergeben soll, nur um von ihm zu erfahren, dass der Säugling als letzter Teil der Prüfung rituell geopfert werden soll.

Bei all diesen Grausamkeiten gibt es nur einen kleinen Unterschied: die Schrecken der Märchenwelt spiegeln die kulturell codierten Grausamkeiten der Märchen und der Initiationsriten wider, die Perversionen eines Hauptmann Vidal jedoch sind Guillermo des Toros ureigene Auslotung einer nihilistischen Ideologie, die der Moderne ihre Todessehnsucht und Barbarei entgegenschleudert und gleichzeitig die kathartische Funktion der Mythen verloren hat. Letzteres bietet del Toro mit seinem scheinbar infantilen Filmschluss an, den man sorgfältig bedenken sollte, bevor man ihn als sentimentalen Kitsch in die Tonne tritt.

Melonie = 3, Mr. Mendez = 3,5, BigDoc = 2, Klawer = 2,5

Noch eine Bemerkung: „Pans Labyrinth“ gewann drei Oskars – den für die beste Kamera, einen für die beste Maske und noch einen für die beste Ausstattung. Mehr hatte die Jury sich und dem Film nicht zugetraut.
Die dieser Kritik zugrunde liegende „3-Disc Collector’s Edition“ gehört zum Besten, was derzeit auf dem Markt ist. Das sechsstündige Bonusmaterial erschöpft sich nicht in den üblichen Making Of’s und Featurettes, sondern bietet klärende Dokumentationen und als Einführung in das mexikanische Kino ein cineastisch spektakuläres Studiogespräch zwischen Charlie Rose, Guillermo del Toro, Alejandro González Iñárritu und Alfonso Cuarón an. Und das wiederum ist schon fast alleine das Geld für das 3er-Set wert.