Montag, 29. Februar 2016

Weder gut noch schlecht: Akte X - Season 10

Mit einer haarsträubenden finalen Episode hat sich die Miniserie, die mittlerweile hochoffiziell als 10. Staffel bezeichnet wird, verabschiedet. Ob es weitergeht, steht in der Sternen. Die Vorzeichen sind gut und so hat Showrunner Chris Carter die Fans der X-Files mit einem gewaltigen Cliffhanger verabschiedet, der eigentlich nur ein Zitat ist. Wie so vieles in dem Revival.

Scully und Mulder können es noch immer. Es gibt in der sechsteiligen Miniserie nicht wenige Szenen, in denen die Funken nur so sprühen. Man freut sich, wenn man den alten Sprachwitz wieder erleben darf und sich die nun offiziell zum FBI zurückgekehrten Agenten wie in einer gut geölten Screwball-Comedy liebevoll fetzen. Reicht das aber für eine gute Endnote?
Eher mit Abstrichen, denn Chris Carter und sein Autorenteam verzettelten sich zu oft in dem Bemühen, zwischen Altfans und neuer Zielgruppe zu vermitteln. Nicht zum ersten Mal. Aber diesem Dilemma war kaum zu entkommen. Gemessen am Grad der Herausforderung hat sich Akte X aber ordentlich behauptet. In der Schule würde man die Note „Befriedigend“ vergeben. Gut sieht aber anders aus.



Die Mythologie: Nichts Halbes und nicht Ganzes

2008 kam der zweite Akte X-Film in die Kinos. In „The X-Files: I Want to Believe“ (Jenseits der Wahrheit) gab es keine Alien-Verschwörung mehr, sondern eine x-beliebige Story zwischen Fantasy, Religion und Thriller. Carter baute zwar FBI-Direktor Skinner in den Film ein (Wiedererkennungsfaktor!), es gab auch vertraute Musikmotive zu hören, aber die meisten Drähte zu den alten X-Files wurden durchtrennt. Chris Carter glaubte zu wissen, dass sechs Jahre nach dem Ende der TV-Serie das jüngere Publikum nicht mehr wissen könne, was relativ kurz zuvor im Fernsehen gelaufen ist. Der Film floppte.

„Who believes this crap anymore?“, konstatierte Mulder in „I Want to Belive“, angesprochen auf die alte Mythologie. Das wird er auch in der aktuellen Mini-Serie in ähnlicher Form sagen. Season 10 kämpft nun erneut mit dem alten Dilemma. Was wissen die Fans überhaupt noch? Was müssen die Newbies wissen?

Ein kompletter Reboot war nicht möglich, die Geschichte an der Stelle weiterzuerzählen, wo sie aufgehört hat, wohl auch nicht. Leider, denn das wäre wirklich eine echte Herausforderung gewesen. Carter löste das bekannte Problem auf seine Weise: er baute um den harten Kern von vier „Monster of the Week“-Episoden einen Erzählrahmen, der die Alien-Mythologie weitererzählte. Er wollte es damit allen recht machen. Leider zeigte er in den Folgen 1 und 6 aber erneut wenig Interesse an einer erzählerischen Konsistenz. Darunter hatten schon die alten X-Files zu leiden.

Damit Newbies nicht ganz auf dem Schlauch stehen, ließ er Mulder (Ep 1) und Scully (Ep 6) gleich zu Anfang im Off erzählen, was denn so alles in der alten Serie passiert ist. Das macht zwar Sinn und ist besser als ein „Previously on...“-Teaser (der aber lustig gewesen wäre!), scheitert aber daran, dass das knapp Zusammengefasste schon vor zwei Jahrzehnten so hyper-komplex war, dass selbst eingefleischte Fans Probleme damit hatten, den Regierungskomplott, das Syndikat, das Schwarze Öl und die Wiedereroberung des Planeten durch Aliens völlig zu durchschauen. Noch heute plagen sich Fan-Wiki damit ab, Licht ins Dunkle zu bringen.

Gelöst wurden diese Probleme durch die neuen Mythologie-Folgen nicht. Im Gegenteil. War die erste Folge „My Struggle“ (absurderweise von einigen Rezensenten mit Hitlers „Mein Kampf“ verglichen, obwohl es 'innerer Kampf' bedeutet) noch einigermaßen zugänglich, so endete in „My Struggle II“ die Mini-Serie mit einer abstrusen Apokalypse, in der die ganze Menschheit durch die virologisch ausgelöste Ausschaltung des Immunsystems von der Erdoberfläche getilgt werden soll. Klar, dass das Massensterben in letzter Sekunde durch Scully quasi im Alleingang verhindert wird.

Während Scully die Welt rettet, legt sich Mulder in einem Nonsens-Dialog mit dem „Smoking-Man“ (William B. Davis) an. Hatte der „geheimnisvolle Raucher“ bereits in „My Struggle I“ einen Kurzauftritt, so taucht er im Finale als Mega-Schurke auf, der die ganze Menschheit, abgesehen von einigen handverlesenen Exemplaren, komplett ausrotten will. 
Warum eigentlich? Nun, hier hat sich Carter offenbar bei der wirren Ideologie des Super-Schurken Valentine in „Kingsman: The Secret Service“ bedient, der ja auch der missratenen Spezies Mensch das Überlebenspotential absprach.
Aber was zum Teufel hat das mit der alten Mythologie zu tun? Wieso hat der greise CMS, der in Season 9 von Freund und Feind gehasst und mit einer Rakete buchstäblich atomisiert wurde, überlebt und warum hat er als Tattergreis plötzlich diese Macht? Geht es ihm immer noch um die Alien-Invasion? Wo sind die Alien-Rebellen geblieben? Warum lässt Carter in „My Struggle I“ Mulder zunächst von einer Regierungsverschwörung berichten, die Alien-Technologie einsetzt, um ein faschistisches Regime zu errichten, während am Ende eine ganz andere Verschwörung die Menschen ausrotten will, damit der Planet ökologisch seinen Frieden findet.
Fragen, auf die Carter nonchalant eine Antwort schuldig bleibt. Und immer wieder wird man mit dem alten Amnesie-Problem konfrontiert: Warum haben die Figuren das Meiste von dem, was sie erlebt haben, schlicht und einfach vergessen?

Gut, an solche Fragen und Nöte hat sich der X-Files-Nerd längst gewöhnt. Man ahnt, dass die Story nicht zu Ende erzählt werden darf, weil ja dann alles aus und vorbei wäre. So weit, so gut. Man könnte damit leben, wenn die Geschichte in „My Struggle I und II“ einigermaßen plausibel wäre. Ist sie aber nicht. Die Geschichte ist Bullshit.

Lästig ist auch die Zwanghaftigkeit, mit der Carter, der selbst am Script mitgearbeitet hat, alte Figuren wiederauferstehen lässt
(bis hin zu einem merkwürdigen 2 sec-Auftritt der „Lone Gunmen“ als Teil des Drogentrip Mulders in „Babylon“) und neue – koste es, was es wolle – in die Handlung einbaut. Da taucht Special in „My Struggle II“ aus dem Altpersonal Agent Monica Reyes (Annabeth Gish) mit einer abstrusen Backstory auf, während zuvor in die Serie eingebaute Side-Kicks wie Agent Einstein (ein skeptisches Alter Ego von Scully) und Agent Miller (eher ein Alter Ego von Mulder) erneut einen Auftritt haben. Letzteres gelingt sogar manierlich, aber warum auch Mitch Pileggi seinen Kommentar abgeben darf, misslingt, scheint dieser doch vergessen zu haben, dass er in der Rolle des FBI-Direktors Walter Skinner eigentlich mit Scully und Mulder befreundet ist.

Das Sujet wird auch in „My Struggle II“ auf modern getrimmt, aber die Doppelfolge enthält zu viele Akteure, zu viele Logikbrüche und zu viele ins Leere laufende Dialoge. Gleichzeitig soll alles, was gerade aktuell ist auf dem Markt der Verschwörungen, in die Story gepresst werden: es wird über Chemtrails geredet (klar, dass es sie gibt, die Verschwörer sind schuld, bloß welche?) und am Ende erfahren die Zuschauer, dass alle Menschen irgendwie Aliens sind oder auch nicht – und dass es letztlich Alien-DNA ist, die den Genozid aufhalten kann. Sicher sind nur jene, die diese Gene bereits besitzen. 
Aber inmitten der heillosen Überfrachtung des Plots fühlt sich die Geschichte an wie ein großer Zutaten-Mix, bei dem die Köche glaubten, dass die Suppe nur dann schmecken kann, wenn man alles, was man so im Kühlschrank hat, in einen großen Topf wirft und umrührt. „Someone need to save The X-Files from itself“, schrieb der US-Kritiker Todd VanDerWerff auf Vox Culture – und er hat Recht.



„Monster of The Week“ - der harte Kern ist sehenswert

Glaubt man den Quellen, so hatte Chris Carter bei allen sechs Drehbüchern die Hände im Spiel. Nur in den Episoden 2, 3 und 4 kamen James Wong (10x02 „Founders Mutation“), Darin Morgan (10x03 „Mulder and Scully Meet the Were-Monster“) und Glen Morgan (10x04 „Home Again“) hinzu. Für „Babylon“ (10x04) war dann Chris Carter allein verantwortlich (Buch, Regie).
Einer fehlte: Vince Gilligan, der Schöpfer von „Breaking Bad“ und dem im Moment extrem erfolgreichen Prequel „Better Call Saul“. Gilligan war von 1995 – 2002 an über 140 Episoden der X-Files beteiligt. In unterschiedlichen Funktionen, also sowohl als Drehbuchautor als auch als Executive Producer. US-Gazetten machen nun das fehlende Kreativproblem der Miniserie ausgerechnet am Fehlen Gilligans fest und wärmen damit auch die nicht gerade neue Kritik an Chris Carters Schwächen auf. Viel halten Carter für einen exzellenten Visionär, den Mann fürs ‚Große Ganze’, der aber besser die Finger von Scripts lassen sollte. Wenn man aktuell sieht, was Gilligan aus dem anfänglich argwöhnisch beäugten Prequel zu „Breaking Bad“ herausholt, ist das nachvollziehbar.


„Founders Mutation“

Schauen wir uns die „MotW“-Episoden an. Über „Founders Mutation“ hatte ich bereits geschrieben. Nachhaltig beeindruckt hat mich die Episode nicht. Ein Flop war sie auch nicht. Man konnte sehen, dass Carter seine beiden Hauptfiguren nicht aus dem großen Erzählrahmen herausfallen ließ. Früher war die „MotW“-Folgen stärker vom Meta-Plot abgegrenzt, nun dürfen Scully und Mulder ihren tristen Gedanken über ihren verlorenen Sohn nachhängen und in ganz persönlichen Visionen sogar etwas Freizeit mit ihm verbringen. Ansonsten ist „Founders Mutation“ eine gorige Episode, in der – nicht zum ersten Mal in den X-Files – paranormal begabte Geschwister eine Spur des Schreckens hinterlassen und ein Mad Scientist an der DNA von Ungeborenen herumwerkelt, was den unschönen Verdacht erzeugt, dass dies durchaus mit Alien-DNA zu haben könne. Note = 3.

„Mulder and Scully Meet the Were-Monster“

Die Episode wurde in den Staaten bereits im Vorfeld mit Lobeshymnen überschüttet. Die Plot-Idee ist auch sehr charmant, denn der von Rhys Darby gespielte Eidechsen-Mann sieht zwar wie ein Monster aus, ist aber keins, wenn man ihn in Ruhe lässt. Leider wird er von einem Serienkiller gebissen (!) und mutiert zu einem Menschen (!). Wie ein Formwandler muss er nun mit beiden Rollen leben. Der Witz an der Sache: Als Mensch wird unsere liebeswerte Echse nun keineswegs zum Monster, sondern sie stürzt sich in eine fadenscheinige berufliche Tätigkeit, die sie urplötzlich mit all den Ängsten einer kleinbürgerlichen Existenz konfrontiert, die man halt erlebt, wenn man am Monatsende seine Rechnungen bezahlen muss.
Charmant ist auch, dass Scully und Mulder einige pointierte Dialoge abliefern. Mulder befindet sich wieder einmal in einer Sinnkrise und bombardiert sein „I want to believe“-Poster mit Bleistiften: Diese selbstrefentiellen Motive wirken durchaus witzig wie auch einige andere skurille Einfälle, die Darin Morgan und Christ Carter in dem Script untergebracht haben, etwa wenn das Were-Monster ausgerechnet Mulder als Monster bezeichnet und ihm Emile Zolas berühmtes „J’accuse“ entgegenschleudert.
Obwohl die Formkurve der Miniserie in dieser Folge deutlich nach oben schnellte, wurde mir im direkten Vergleich mit der 9. Season der X-Files schnell klar, dass in dieser von den Fans nicht sonderlich geliebten Staffel einige Episoden zu sehen waren, die an Originalität und Kreativität die Geschichte des Were-Monsters mühelos ausstachen, etwa „Daemonicus“ (09x03, Regie und Buch: Frank Spotnitz) oder „The Lord of the Flies“ (9x06, Regie: Kim Manners, Buch: Thomas Schnauz, der aktuell mit Vince Gilligan an „Better Call Saul“ arbeitet), übrigens eine Folge, in der Aaron Paul („Breaking Bad“) einen bemerkenswerten Auftritt hat, oder etwa „Scary Monsters“ (9x12, Regie: Dwight H. Little, Buch: Thomas Schnauz). Auch Vince Gilligans „Sunshine Days“ (9x18, Buch und Regie) ist ein Beispiel dafür, dass die 9. Season der X-Files zu Unrecht unterschätzt wird und mit etlichen Episoden die besten Folgen der Miniserie mühelos in den Schatten stellt. Spätestens wenn sich Duchovny und Darby in einem langen, mit Rückblenden unterfütterten Dialog, die Story des Were-Monsters erklären, wird erkennbar, wie unelegant die Miniserie ab und an vorgeht. Note = 2,5.


„Home Again“

Nach dem lustigen Intermezzo schlug diese Episode wieder einen ernsten Ton an. Scully und Mulder müssen sich mit einem geheimnisvollen Rächer auseinandersetzen, dem das bedauernswerte Schicksal der Obdachlosen zu Herzen geht und der deshalb ein paar zynische Vertreter der Stadtverwaltung aus dem Weg räumt. Dass hier Empathie möglicherweise nicht der Auslöser ist, wird spätestens dann klar, wenn man sieht, dass ausgerechnet ein Kunstwerk die Kreatur ins Leben katapultiert.

„Home Again“ nimmt sich auch diesmal viel Zeit, um das Seelenleben seiner Hauptfiguren zu durchleuchten. Dabei steht Scully im Mittelpunkt, die den plötzlichen Tod ihrer Mutter zu verkraften hat und erneut mit dem Schicksal ihres Sohnes konfrontiert wird. Man hat schon den Eindruck, dass Chris Carter wie in den alten X-Files damit beschäftigt ist, das Leben Scullys in ein nicht enden wollendes Martyrium zu verwandeln. Trotz einiger Unstimmigkeiten hält diese „MotW“-Episode aber die Handlungsfäden zusammen und hinterlässt einen stimmigen Eindruck. Note = 2.


„Babylon“

Unübersehbar stand Tarsim Singhs „The Cell“ Pate, denn Scully und Mulder sollen nach einem verheerenden Anschlag in das Bewusstsein des einzigen überlebenden islamistischen Attentäters eindringen, der nun komatös auf dem Krankenlager liegt. Es gilt, den Rest der gefährlichen Terrorzelle ausfindig zu machen.
Wechselten die bisherigen Episoden zwischen überkandidelt und bierernst, so versuchte Carter nun, beide Tonarten in einer Folge unterzubringen. Der Auftakt erinnert eher an „24“, der Rest an den durchgeknallten Psychotrip von Johhny Depp und Benicio Del Toro in „Fear and Loathing in Las Vegas“. Kein Wunder, schlägt doch Mulder vor, sich einen psychotropen Pilz einzuwerfen, um Kontakt zum Bewusstsein des maladen Terroristen aufzunehmen. 

„Babylon“ spaltet. Stimmen wurden laut, die der Folge Islamophobie vorwarfen. Das ist nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen, weil das Thema Terrorismus keine bedeutende Rolle in der Episode spielt. Zudem karikiert Carter am Beispiel einer übel gesinnten Krankenschwester jedwede fremdenfeindliche Gesinnung, was durchaus als Kommentar zu Douglas Trump gelesen werden kann.
Im Mittelpunkt stand wohl eher Carters Idee, David Duchovny auf einen monströsen Drogentrip zu schicken, obwohl später erklärt wird, dass ihm nur ein Placebo verabreicht wurde. 
Origineller ist Carters Einfall, Scully und Mulder zwei Side-Kicks an die Seite zu stellen: Agent Einstein (Lauren Ambrose) und Agent Miller (Robbie Amell), die quasi Spiegelbilder der beiden Helden sind. Einstein ist die rationalere der beiden, Miller gehört dagegen ins Lager von Mulder und ist bereit, auch scheinbar abwegige Erklärungen in Erwägung zu ziehen. Carter lässt die Vier überkreuz zusammenarbeiten, was besonders in der Teamarbeit von Mulder und Einstein für einige sehr witzige Pointen sorgt. Abgesehen von einem überflüssigen, weil zu kurzem Cameo-Auftritt der Lone Gunmen ist „Babylon“ kein Flop, zumal es Carter gelang, zwei neue Charaktere in die X-Files einzubauen, ohne die Handlung heillos zu überfrachten. Note = 2,5.

Die vier „Monster of the Week“-Folgen erwiesen sich insgesamt als belastbarer als die beiden Mythologie-Folgen. Anders als in den alten X-Files wurde auch stärker die Kontinuität der Figurenentwicklung beachtet. Dies führte dazu, dass die Beziehung zwischen Scully und Mulder in den Folgen, die sich nicht an selbstreferentiellen Parodien versuchten, mit einem seriösen Grundton verhandelt wurde. In den alten X-Files mussten die so gegensätzlichen Helden den Streit zwischen Rationalität und Empirie (Scully) und Irrationalität, Spiritualität und Intuition (Mulder) ausfechten. Beide Positionen wurden einer Aussöhnung entgegengetrieben, die natürlich auch zu einer emotionalen Nähe führte. Scully respektierte nicht nur Mulders Ansichten, sondern übernahm sie auch zusehends, ohne allerdings ihre wissenschaftlich begründete Skepsis abzulegen. Und Mulder erkannte, dass es nicht reicht, nur zu glauben, sondern dass das Credo „I want to believe“ unbedingt an ein „I want to know“ im Sinne von echten Beweisen angebunden werden musste.
Was weniger bekannt ist: Carter hat als Showrunner im Verlauf der Staffeln (was besonders im Kinofilm „I Want to Believe“ sichtbar wurde) dem Plot einige religiöse Konnotationen übergestülpt. Sie machten besonders in der 9. Staffel aus Scully eine Frau, die mit zunehmender Gewissheit über die Existenz von Aliens und Verschwörern offenbar auch ihre Spiritualität wiederentdeckte. In der Diegese der X-Files nahmen die religiösen Querverbindungen dann so weit zu, dass Scully in Staffel 9 beinahe zu einer „Mutter Gottes“ umgedeutet wurde. Ihr Sohn William besaß nicht nur übersinnliche Kräfte, sondern wurde von Alien-Mystikern auch als gottähnlicher Erlöser verehrt. Mit seiner Hilfe sollte eine neue Weltordnung etabliert werden. Der kleine Haken: Natürlich muss zuvor Mulder umgebracht werden.

Es überrascht nicht, dass auch in den „Monster of the Week“-Folgen dieser erzählerische Überbau einen Weg in die Handlung gefunden hat. Er spiegelt sich in der dräuenden Schuldfrage wider, die Scully anhaltend quält. War sie es doch, die ihren Sohn aus ganz pragmatischen Gründen durch eine anonymisierte Adaption vor Freund und Feind schützen musste. Dass sie diese Fragen nur vor dem Hintergrund einer neu entdeckten Spiritualität verhandeln kann, zeigt, dass Carters Serie sich im Zweifelsfall auf die Seite des Mystizismus schlägt. 
Die cartesianische Einsicht, dass das Denken die Existenz beweist wurde abgelöst durch die Behauptung, dass es vielmehr der Glaube ist, der beweist, dass man ist. Beweise macht das in gewisser Weise entbehrlich, die Wahrheit allerdings auch, weil die Suche nach ihr ihrer Natur nach unendlich ist.
Dass ausgerechnet Mulder gar nicht mehr so fest glaubt, passt konsequent in diesen Rahmen und wird auch in der Miniserie voller Ironie durchgespielt. Aber die beiden Hauptfiguren haben sich ja schon immer angenähert und voneinander entfernt. Wenn man schon Christ Carter für etliche Script-Mängel verantwortlich macht, dann muss eingeräumt werden, dass Carter die MotW-Episoden nicht als Standalone-Vehikel geplant hat, sondern der Geschichte der beiden Helden mit diesem Überbau mehr Tiefe gab.



Die Quoten sprechen für die X-Files

Geht es weiter? Nach der ersten Episode halbierten die X-Files ihre Quote, pendelten sich aber bei Zuschauerzahlen um die 8 Mio. ein. Das ist ein Absturz von einem extrem hohen auf ein sehr hohes Niveau. 
Vergleichen wir: das aus meiner Sicht qualitativ deutlich bessere Spin-Off „Better Call Saul“ erreichte bislang in der werberelevante Zielgruppe durchschnittlich ein Nielsen-Rating von 1.6 bei absoluten Zahlen um ca. 2,5 Mio. Zuschauern. Auch Vince Gilligan hatte zunächst einen sensationellen Start und halbierte danach die Quote. Die zweite Season konnte dieses Niveau nicht anheben, obwohl „Better Call Saul“ qualitativ einen spektakulären Sprung nach vorne machte und – um es bildhaft zu machen – qualitativ in der 1. Bundesliga spielt, während Chris Carters Show im oberen Mittelfeld der 2. Liga herumdümpelt. Um beim Fußball zu bleiben: Die X-Files sind ein Traditionsverein, der nostalgisch reizvoll ist und viele Zuschauer bindet, „Better Call Saul“ ist eher wie RB Leipzig – etwas elitär und aufwändig gemacht, aber mit einem soliden Fanstamm.
Quotentechnisch liegen die X-Files also gut im Rennen. Carters Serie ist nämlich das Schalke 04 im Haifischbecken der US-Serien, geliebt von den Altfans - und das sorgt dafür, dass „die Hütte immer fast voll ist“, auch wenn die Mannschaft mal richtig mies gespielt hat. Folglich wird es mit den X-Files weitergehen, auch wenn David Duchovny sich nur weitere Mini-Serien vorstellen kann, aber bitte nicht mehr den Stress einer langen Staffel mit mehr als 20 Episoden.



Fazit

Chris Carters Serie war in den ersten neun Staffeln ein heller Stern am Medienhimmel, weil trotz aller Höhen und Tiefen der Spaßfaktor enorm hoch war. Dass die X-Files den Serienkosmos mit einer Mischung aus vertikaler und horizontaler Erzählweise revolutioniert haben, dürfte die Fans weniger interessieren als die Frage, ob sie gut unterhalten wurden. Das wurden sie in neun Staffeln und in einem Kinofilm. Dies lag auch daran, dass Mulders Credo „I want to believe“ wohl auch das Credo von Chris Carter war und er es wie einen Staffelstab an die Fans weiterreichte.
Ausgerechnet der gleichnamige Film aus dem Jahr 2008 zeigte, dass dies aber kein Selbstgänger ist. Die Fans gaben ihren Glauben auf und folgten Carter nicht mehr in blindem Glauben. Und acht Jahre später stießen Scully und Mulder auf ein kritisches Publikum, dass inzwischen mit jenen epigonalen Produkten gefüttert worden war, die es ohne die X-Files vermutlich nie gegeben hätte. Das schärft die Aufmerksamkeit.
 

Aus meiner Sicht ist das Revival der X-Files weder überflüssig noch gelungen. Es liegt mittendrin, irgendwo zwischen zwei Stühlen. Vieles ist witzig und schlagfertig, auch die Absicht, das X-Files-Serien-Universum zu updaten war angemessen und keineswegs ein Fehlschlag. Durchgehend gelungen war das Comeback nicht, aber das lag daran, dass die Scripts von Chris Carter im Vergleich zu denen der anderen Autoren deutlich abfielen. Sie waren weder durchdacht noch sparsam. Und dort, wo geklotzt werden musste, fehlten offenbar die Mittel und die Phantasie, um mehr aus dem Plot herauszuholen. Schwächen, die in der letzten Episode kaum noch wegzudiskutieren waren und dort erst recht nicht durch die banalen Dialoge kompensiert werden konnten. Überraschenderweise sahen die Zuschauer dies anders. Nicht nur Altfans, sondern auch Newbies reagierten in einigen Foren mit großer Zustimmung auf die Serie. Oft aus Gründen, mit denen man nicht rechnen konnte.

Persönlich habe ich mich über vieles amüsiert, aber ich bin ja auch ein Altfan. Da gibt es schon den einen oder anderen Bonuspunkt. Dass die neuen X-Files streckenweise ihren Witz aus der Selbstbespöttelung zogen und sich damit haarscharf an einer Parodie vorbeilavierten, war wohl unvermeidlich. Dass die Miniserie aber substantiell sehr viel verschenkt hat, was man hätte besser machen können, war schon schwerer zu schlucken.
Hoffen wir also, dass es besser wird. Ich will schließlich wissen, warum am Ende der letzten Episode plötzlich und wie aus dem Nichts ... ach ja, das ist ein Spoiler. Und das muss ja nicht sein. Ausnahmsweise.

Donnerstag, 4. Februar 2016

The Hateful Eight

Quentin Tarantinos achter Film soll sein drittletzter sein. Der Meister will abtreten, auf der Höhe seiner Kunst, wie er sagt. Und dann Romane schreiben. Das wäre schade, denn Tarantinos aktueller Film ist großes, klassisches Kino. Und je mehr man sich in „The Hateful Eight“ umschaut – und das kann man wirklich – desto deutlicher wird, dass der Regisseur und Autor Quentin Tarantino nicht nur ein auteur ist, sondern zuallererst ein Stilist. Ein Meisterwerk.

Am Ende sind fast alle tot und die einzigen Überlebenden sind ein rassistischer Südstaatler und der einzige Farbige. Dazu noch die Person, die sie lustvoll aufhängen, weil eine Kugel für sie zu schade wäre.
Ob die Henker dies überleben? Wir werden es nicht herausfinden, wahrscheinlich ist es nicht. Eins steht aber fest: zynisch waren Quentin Tarantinos Filmenden schon immer, hoffnungsloser als „The Hateful Eight“ war ein Tarantino-Film lange nicht mehr. 
In „Inglorious Basterds“ und „Django Unchained“ wird den Helden eine fiktive Zukunft geschenkt, „The Hateful Eight“ tut dies nicht. Vielleicht auch deswegen, weil es keine Helden mehr gibt in diesem Noir-Western, der im einem zeitlichen Niemandsland nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs spielt. 

Wer diese einleitende Vorwegnahme des Endes für einen Spoiler hält, sollte erst ins Kino gehen und dann die Kritiken lesen. Filmkritiken sind nämlich keine Produktbeschreibungen, in denen die Nebenwirkungen verschwiegen werden können. Betrachtet man „Inglorious Basterds“, „Django Unchained“ und „The Hateful Eight“ nämlich als zusammenhängenden filmischen Kosmos, begegnen uns zwei lustvoll inszenierte Geschichtsrevisionen (blutrünstige Rache an den Nazis und blutrünstige Rache an den Sklavenhaltern) und nun ein skeptisches Finale, dessen blutrünstiges Filmende beinahe eine rückwärts auf die anderen Filme gerichtete Conclusio ist. Eben noir, schwarz. Aber mit klassischem Geschmack.


Chapter One: Last Stage to Red Rock

Ein Noir-Western ist Tarantinos achter Film (wie auch der Vorspann ihn ankündigt) auch deswegen, weil eine Femme fatale eine zentrale Rolle spielt. Es ist Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh als „The Prisoner“), die von dem berüchtigten Bounty Hunter John Ruth (Kurt Russell als „The Hangman“) nach Red Rock gebracht wird, um dort gehängt zu werden. Die Kutsche wird von Major Marquis Warren (Samuel L. Jackson als „The Bounty Hunter“) aufgehalten. Warren trägt immer noch die Uniform der Unions-Truppen. Sein Pferd ist zusammengebrochen und er will die Leichen von drei Verbrechern nach Red Rock bringen, um wie Ruth ein Kopfgeld zu kassieren. Ruth, der die Kutsche exklusiv angemietet hat, ist fast schon paranoid. Er erwartet, dass konkurrierende Kopfgeldjäger ihm die Beute abjagen, aber auch, dass seine Gefangene befreit werden soll. Erst nach einer weitschweifigen Diskussion und peniblen Sicherheitsmaßnahmen ist er bereit, seinen ‚Kollegen’ mitsamt der Leichen mitreisen zu lassen. Das hat einen Grund: der knurrige Ruth ist ein heimlicher Bewunderer von Warren, der einen Brief von Abraham Lincoln bei sich trägt. Nicht nur das: Warren rühmt sich auch einer Brieffreundschaft mit dem berühmten US-Präsidenten. Und Ruth ist begierig, dies noch einmal nachzulesen. Als Domergue verächtlich auf das Dokument spuckt, rammt ihr Ruth den Ellenbogen ins Gesicht. 

Chapter Two: Son of a Gun

Damit endet das erste Kapitel. Wie so oft hat Quentin Tarantino auch diesen Film in Episoden mit eingeblendeten Überschriften unterteilt. „Son of a Gun“ kündigt nun einen weiteren Fahrgast an, der angesichts des heraufziehenden mörderischen Schneeblizzards nur widerwillig in die Reisegruppe aufgenommen wird. Es ist Chris Mannix (Walton Goggins als „The Sheriff“). Mannix erklärt, dass er der neue Sheriff von Red Rock ist, aber als klar wird, dass er auch der Sohn eines berüchtigten konföderierten Rebellenführers ist, werden die Frontlinien in der Kutsche neu arrangiert. Mannix ist ein Rassist, der einem farbigen Kopfgeldjäger gegenübersitzt, der sich als ehemaliger Unions-Offizier ausgibt und ausführlich schildert, welches Vergnügen ihm das Killen von Südstaatlern bereitet hat. Natürlich fliegen die Fetzen und Ruth und Warren schließen einen befristeten Sicherheitspakt gegen den undurchsichtigen Reisegefährten.

Tarantino inszeniert die „Höllenfahrt nach Red Rock“ mit fast manischer Ausführlichkeit. Man kennt dies: Es wird gern und viel geredet. Die Dialoge wirken umständlich, fast schon redundant. Während in vielen Western nicht besonders viel geredet wird, weil der schnelle Colt und der schnelle One-Liner mehr als viele Worte sagen, dehnt Tarantino nicht nur rhetorisch die Kutschenfahrt in die Länge, sondern richtet einmal sogar fast 45 Sekunden die Kamera auf ein Gesicht, ohne dass etwas geschieht. 

Nicht nur die Montage konterkariert hier geläufige Genreerwartungen. Wir sind im Tarantino-Land und dort werden Genres eben nicht nur zitiert, sondern kräftig gegen den Strich gebürstet. Tarantino hat auch in früheren Filmen die Quasseleien der Akteure kontrapunktisch eingesetzt (Unterlaufen von Erwartungen, unpassende Witzigkeit in unpassenden Situationen).
Ein weiterer Aspekt ist nicht auf Anhieb zu erkennen: Es ist der eigenen Rhythmus’ und die Melodik der Sprache, die Tarantino schätzt und die den Szenen eine eigene, von den Gesprächsinhalten abgekoppelte Metrik gibt. Auch das kennen wir: die Handlung wird von Figuren gelenkt, die rhetorisch ihrer Umgebung überlegen und besonders charismatisch sind. Das gilt besonders für die Bösewichte, wie es Christoph Waltz nicht nur in „Inglorious Basterds“ unter Beweis stellte, sondern in „Django Unchained“ sogar noch toppte.

Noch etwas fällt auf. Wenn Samuel L. Jackson sich zu Beginn in der schneebeladenen Landschaft der Kutsche in den Weg stellt, dann erinnert dies nicht nur zufällig an Ringo Kid (John Wayne) in John Fords „Stagecoach“ (Höllenfahrt nach Santa Fé; Ringo, 1939). Tarantinos Kutschfahrt sucht diesmal also keine Referenzen in seinen heiß geliebten Trash-Movies, sondern in Kinoklassikern. Dies wird auch später zu sehen sein. An dieser Stelle soll nur darauf hingewiesen werden, dass die Schuhe, in die Tarantino steigt, natürlich groß sind. Der berühmte Filmkritiker Andre Bazin fasste Fords Film nämlich so zusammen: „Die Kunst hat ihr vollkommenes Gleichgewicht gefunden, ihre ideale Ausdrucksform.“ Das ist unter anderem auf die von Bazin bevorzugte Ästhetik der tiefenscharf gefilmten Aufnahmen zurückzuführen, die Ford gezielt einsetzte. Wer sich an John Ford anlehnt, muss schon ein großes Ego haben.
Aber Tarantino wäre nicht Tarantino, wenn er die Schicksalsgemeinschaft in der Kutsche nicht kräftig umdefinieren würde. In „The Hateful Eight“ werden die ungleichen Reisenden es nicht mit einem Indianerüberfall zu tun bekommen wie in
„Stagecoach“, sondern mit sich selbst. Ähnlich wie Ford stellt auch Tarantino die größtmöglichste Einheit von Ort, Zeit und Raum bei der Inszenierung der Kutschenfahrt her, aber in „Stagecoach“ sind es die Außenseiter in der Kutsche, die sich moralisch bewähren müssen, um die Gemeinschaft zu retten. Davon sind die Reisenden in Tarantinos Film meilenweit entfernt. „Son of a Gun“ heißt nämlich übersetzt ‚Scheißkerl’.

Chapter Three: Minnie's Haberdashery

Die zentralen Figuren sind etabliert, der Prolog ist beendet. Warren, Ruth, Mannix und Domergue erreichen kurz vor dem Ausbruch des Schneesturms „Minnies Kurzwarenladen“, eine gut befestigte Postkutschenstation, die ausreichenden Schutz bietet. Dort treffen sie auf Bob (Demián Bichir), einen Mexikaner, der die Geschäfte für die abwesende Ladenbesitzerin Minnie Mink führt, und auf einige Gäste: den schweigsamen Cowboy Joe Gage (Michael Madsen), den ehemaligen Konföderierten-General Sanford „Sandy“ Smithers (Bruce Dern) und den gesprächigen Oswaldo Mobray (Tim Roth), der angibt, der neue Henker von Red Rock zu sein. Die Hateful Eight sind nun zusammen. Etwas irritiert allerdings: Die Eingangstür ist stark beschädigt und muss immer wieder vernagelt werden, um dem Sturm standzuhalten.

Der Blizzard ist mittlerweile so stark geworden, dass die Zwangsgemeinschaft wohl einige Tage zusammenbleiben muss. Das bringt John Ruth in Rage. Um die Situation unter Kontrolle zu halten, nimmt er bis auf Warren allen anderen die Waffen ab. Beim gemeinsamen Essen erklärt Mannix genüsslich, dass Warrens Lincoln-Brief eine Fälschung ist. Zur allgemeinen Überraschung gibt dieser den Fake lässig zu. Dies habe ihm neben allgemeiner Bewunderung auch Bewegungsfreiheit gegenüber den Weißen verschafft. Ruth registriert diese Enthüllung mit unverhohlener Wut. Später provoziert Warren mit sichtlichem Vergnügen den altersschwachen Konföderierten-General mit dezidierten „Suck my dick“-Details des qualvollen Sterbens von Smithers Sohn. Da Warren dem Alten fürsorglich einen Revolver auf die Sessellehne gelegt hat, stirbt der Einzige, der das Geheimnis von Minnies Kurzwarenladen kennt, umgehend. Er war nicht schnell genug.

Eine konventionelle Szenenauflösung würde die Handlung in der Hütte in zahlreiche Handlungs- und Blickachsen zerlegen und die Montage an den jeweils involvierten Personen ausrichten. Das von Tarantino gewählte extreme Breitwandformat erschließt den Erzählraum auf andere Weise. Tarantino, der nicht gerade ein Freund der digitalen Technik ist, konnte die Entscheider in der Weinstein Company davon überzeugen, den Film im Ultra-Panavision-70-Format drehen zu dürfen. „The Hateful Eight“ ist damit der elfte Film, der in diesem recht teuren und extrem breitem Bildformat gedreht wurde. Der Film reiht sich damit auch technisch in die Tradition einiger Klassiker wie „Ben Hur“ (1959) oder „Meuterei auf der Bounty“ (1962) ein. Aber nicht, um erlesene Schauwerte zu präsentieren, sondern um Zimmertheater zu zeigen.
Glücklicherweise besaß Panavision noch die alten Kamera und die erforderlichen Linsen. Aus dem Master wurden dann 70- und 35 mm-Kopien gezogen. Die breite 70 mm-„Roadshow“-Version zeigte die Company zum US-Start in ausgewählten Kinos, die entsprechend breite Leinwände und Projektoren besaßen (2).

„Es sind acht Leute im Raum, und so können wir das Bild nach und nach mit immer mehr von ihnen füllen“, erklärte Kameramann Robert Richardson. „Das Publikum kann in fast jeder Einstellung sehen, wo die Figuren sich befinden. Die Breite des Bildes erzeugt ein klaustrophobisches Gefühl, weil man alle Wände gleichzeitig sieht. Du wirst eingeschlossen, und die Erfahrung des Schauspiels wird meiner Meinung nach multipliziert.“
Tarantino und sein Kameramann erzählen die Geschichte von „The Hateful Eight“ deshalb überwiegend in Totalen und Halbtotalen. Es sind nicht die Schnitte, mit denen eine Fokussierung des Zuschauers gelenkt wird, sondern der Zuschauer ist es, der die erforderliche Zeit besitzt, um sich in den Plansequenzen umzuschauen. Nur gelegentlich nähert sich das Objektiv den Figuren, aber nur dann, wenn die Aufmerksamkeit auf wichtige Details gelenkt werden soll.
„Endlich hatten wir ein Kamerasystem, mit dem sich auch die winzigen Details in ihrer ganzen Pracht einfangen ließen. Es gibt viel mehr Informationen in den Bildern. Sie sind wunderschön und bringen etwas von der Ehrfurcht zurück, die wir als Kinder empfanden, wenn wir Breitwandbilder im Kino sahen“ (Kameraassistent Gregor Tavenner).

Während (nicht nur) Hollywood-Blockbuster ihre Szenen zunehmend mit 2-3 sec-Takes häckseln (1), verteidigte Tarantino mit der Wahl der Aspect Ratio die Integrität seines Erzählraums. Richardsons Kamera gleitet durch den Raum, hin zu einem Akteur, dann weg von ihm und anschließend zum Ausgangspunkt. Dies ist keine Spielerei. Vielmehr gibt Tarantino dem Zuschauer die Souveränität des Sehens zurück. Nicht die hektischen Bildfolgen und damit die entfesselte Montage kontrollieren das Sehen, sondern der Zuschauer entscheidet, wo er hinschaut und wie lange er dies tut. Damit wird er zu einem autonomen Teil der filmischen Diegese.

Über die Ästhetik in „Django Unchained“ schrieb ich vor drei Jahren: „(...) erzählt uns Tarantino die (Geschichte) in so ausgesucht altmodischen Bildern, dass man versucht ist, dies als Kommentar zu lesen. Kadrierung und Kameraführung und dazu die klassisch anmutende Montage der ersten Sequenzen haben fast nichts mit den vielzitierten Spaghetti-Western zu tun (...), sondern viel mit der offenen Bildsprache eines John Ford. Das ist natürlich auch dem großartigen Robert Richardson zu verdanken („Kill Bill – Volume 1 und 2“ und „Inglorious Basterds“). Und da sitzt man im Kino und sieht, wie ein Regisseur in aller Seelenruhe das Kino entschleunigt und einen Erzählraum konstituiert, wie man ihn lange nicht mehr im Mainstream-Kino gesehen hat. Tarantino etabliert bereits zu Beginn die formalen Gesetze seiner Geschichte, dann beginnt er damit, sie zu erzählen. Tarantino hat Stil und man sieht das.“
Das gilt ohne Abstriche auch für „The Hateful Eight“ und bedeutet einen signifikanten Wechsel von der Montage in „Inglorious Basterds“ hin zu klassischen Bildkompositionen in
„The Hateful Eight“. Stil ist etwas, was der Handlung dient. Alles andere ist Formalismus. Tarantino hat dies meisterlich umgesetzt.


„The Hateful Eight“ – ein stilistisches Meisterwerk

„The Hateful Eight“ kehrt erzählerisch und stilistisch zurück zu mehr Linearität, allerdings nicht durchgehend. In Chapter Four: Domergue’s Got a Secret“ setzt Tarantino sehr originell die Suspense-Technik Alfred Hitchcocks ein und deckt einen Teil der Verschwörung auf. Cliffhanger inklusive. „Chapter Five: The Four Passengers“ ist komplett ein Flashback, der die gesamte Vorgeschichte enthüllt und einleitend vom Regisseur als Off-Narrator – wieder einmal vermeintlich umständlich – erläutert wird. Und das letzte Kapitel „Black Man, White Hell“ steigert das blutige Inferno hin zu einer Hommage an den verblichenen John „The Hangman“ Ruth. Denn eins ist klar: Es wird gestorben in Tarantinos Film. Gift, Kugeln, Messer befördern die meisten der „hassenswerten Acht“ in die ewigen Jagdgründe, wobei einige noch nicht einmal in der letzten Filmminute tot sind, sondern zuckend irgendwo in Minnie’s Laden herumliegen.

Quentin Tarantino, der freimütig seine Referenzen aufgezählt hat, hatte mit seinem achten Film weniger eine erneute Rassismus-Debatte im Sinn, sondern ganz andere Vorbilder. Insbesondere TV-Western-Serien wie „Bonanza“, „Die Leute von der Shiloh Ranch“ oder „High Chaparral“. Dort tauchten in einzelnen Episoden Gaststars auf, die als Gesetzlose die eigentlichen Hauptfiguren überrumpelten und komplett das Kommando übernahmen. „Ich wollte nichts als einen Haufen ruchloser Typen, die sich gegenseitig ihre Vorgeschichte erzählen, die wahr sein kann oder auch nicht“, erklärte Tarantino die Kernidee seines Film. Dann wollte er ihnen eine Knarre in die Hand drücken und abwarten, was passiert. Mit Spaghetti-Western, wie dies eine Kritikerin zu sehen glaubte, hat dies nichts zu tun.


Ganz so cool hat Tarantino „The Hateful Eight“ dann doch nicht geplant und vorbereitet. Immerhin waren drei Drehbuchversionen nötig, um sich seinen Figuren zu nähern und sie zu verstehen. Herausgekommen ist ein Western-Krimi in Agatha Christie-Manier, der nur bedingt – vielleicht für den einen oder anderen Zuschauer unbefriedigend – eine ideologische Debatte über die aktuellen Auswüchse des Rassismus in den Vereinigten Staaten führen will. „The Hateful Eight“ wendet sich deshalb auch von der inhaltlichen Komplexität der Dialoginhalte in „Django Unchained“ ab.
„Ich wollte keine politische Polemik schreiben. Andererseits waren Western schon immer politisch in dem Sinn, dass sie das Jahrzehnt reflektierten, in dem sie entstanden“, resümierte Tarantino in einem Interview mit der WELT. „Ich bin sicher, wenn Sie ‚The Hateful Eight’ in zwanzig, dreißig Jahren ansehen, bekommen Sie eine ziemlich gute Vorstellung von dem, was heute in Amerika abläuft.“

Gedreht wurde in Colorado bei eiskalten Temperaturen. Auch am Set lagen die Werte nahe am Gefrierpunkt. Quentin Tarantino wollte, dass man im Kino die eisige Kälte sieht. Vielleicht sind es genau die richtigen Bilder, um seine Sicht der Dinge auf den Punkt zu bringen.


Pressespiegel

„Wie immer bei Tarantino lösen sich epische Dialogpassagen mit stummen Sequenzen ab, jeweils überproportioniert und doch nie langweilig. Auf positive Charaktere wartet man dieses Mal vergeblich, es ist sein schwärzester Film und das heißt schon einiges bei Tarantino“ (Daniel Kothenschulte in: Frankfurter Rundschau).

„Das Ergebnis ist dieses Mal, dass der dumpfe Rachereflex in The Hateful Eight offenbar überhaupt nicht weiß, gegen wen oder was er sich richten soll. Also schlägt er scheinbar blind um sich. Ein Kollege stellte nach der Vorführung fest, dass er das dringende Bedürfnis nach einer Rosamunde-Pilcher-Verfilmung verspürt. So weit muss es nicht kommen. Aber der Geschmack, der nach diesem Tarantino zurückbleibt, ist besonders metallisch“ (Wenke Husmann in: DIE ZEIT).

Über die Wahl der Breitwand-Format schreibt Verena Luecken in der FAZ: „Und wozu das alles? Für „The Hateful Eight“, Quentin Tarantinos achten Film, wie der Vorspann vermerkt. Einen Western, für den nicht die gloriose Geschichte des Hollywood-Genres Vorbild und Weidefläche war, sondern der Spaghetti-Western der Sechziger. Und dort nicht etwa eine Serie wie „Django“, sondern ein Solitär, nämlich Sergio Corbuccis „Leichen pflastern seinen Weg“, der im Schnee spielt und im Original „Il grande silenzio“ hieß, was Tarantino offenbar zum Anlass genommen hat, in seinem Schneewestern für ununterbrochenes Gequassel zu sorgen. Dies ist sein, das darf verraten werden, in Bild und Ton geschwätzigster Film.“

„Mit dem aus zwei sehr unterschiedlichen Hälften bestehenden Western „The Hateful 8“ beweist Quentin Tarantino einmal mehr, warum er zu den außergewöhnlichsten und kompromisslosesten Filmemachern unserer Zeit gehört – wobei er es seinem Publikum allerdings auch nicht ganz leicht macht“ (Björn Becher in: FILMSTARTS). 


Fußnoten


(1) Ein besonders abstoßendes Beispiel konnte man am 21. Januar im Tatort „Hundstage“ sehen. Regisseur Stephan Wagner und Cutterin Susanne Ocklitz, mit der Wagner regelmäßig zusammenarbeitet, häckselten die Szenen mit Schnittfolgen, die eine kontinuierliche Wahrnehmung bereits im Ansatz zerstörten. Die Einstellungslängen folgten häufig einem 2-2-3-Schema (Takelänge in sec), nur gelegentlich unterbrochen von längeren Takes. Christian Buß nannte dies im SPIEGEL den „wahrscheinlich am schnellsten geschnittenen deutschen Fernsehkrimi aller Zeiten“ und glaubte zu erkennen, dass „die Kleinteiligkeit in den Sequenzen konsequent der Dynamik der Interaktion (folgt)“.
Ich behaupte einfach mal, dass man die Interaktion zwischen Personen am besten verarbeiten kann, wenn sie beide in einer Einstellung zu sehen sind. Die Dynamik entsteht dann im filmischen Raum und nicht am Schneidetisch.

„Per definitionem gibt es im Gedächtnis nichts (außer es ist genetischer Art), was nicht gelernt wurde, und etwas zu lernen bedeutet, ihm Aufmerksamkeit zu schenken" (Lefrancois, 1994: Psychologie des Lernens, S. 162).
Doch was bedeutet Aumerksamkeit in Bezug auf die Länge eines Ereignisses und dessen Darstellung im Kino? Wer mehr darüber erfahren will, sollte sich mit den Arbeiten Ernst Pöppels beschäftigen, der sich aus psychologischer, aber auch hirnphysiologischer Sicht mit dem Erleben von Zeit und Gegenwart auseinandersetzte. Die Thesen Pöppels konnten experimentell bestätigt werden.
Demzufolge geschieht die zeitliche Integration von Ereignissen in einem 3-Sekunden-Fenster, das wir als subjektive Gegenwart erleben. Ein länger andauerndes Ereignis kann, so Pöppel, nicht festgehalten werden. Mit anderen Worten: es wird zu einem bereits vergangenen Erlebnis. Offenbar sind die Pöppelschen „Drei-Sekunden-Pakete“, die unser Hirn integrieren muss, aber sehr angenehm für uns. Besonders in ästhetischer Hinsicht. Pöppel untersuchte Gedichte und fand heraus, dass „in allen Sprachen eine bemerkenswerte Bevorzugung des Drei-Sekunden-Verses zu beobachten ist.“
Offenbar funktioniert auch Musik auf die gleiche Weise. Es sollte untersucht werden, ob wir die gleichen befriedigenden ästhetischen Erfahrungen (Pöppel nennt sie Gestalteinheiten) auch mit der Einstellungslänge von Filmtakes machen. Dies ist wahrscheinlich, wenn man sich vorstellt, dass eine Szene, die aus Ein-Sekunden-Einstellungen besteht, wahrscheinlich nicht mehr im Gedächtnis konsolidiert werden kann. Deshalb heißt so etwas auch „Schnittgewitter“.
Auf Tarantinos Einstellungslängen übertragen, bedeutet dies, dass wir in den Plansequenzen die Gegenwart von Ereignissen erleben, die in der Vergangenheit langsam verschwinden. Filmzeit und subjektive Zeit synchronisieren sich, wir sind aufmerksam – und das kann nicht schlecht sein.

(2) In Deutschland ist dies in Berlin, Essen, Karlsruhe und Hamburg zu sehen.


Quellen


SPIEGEL-ONLINE: Aus jeder Pore tropft die Wahrheit

Ernst Pöppel, Stuttgart 1985: Grenzen des Bewusstseins, S. 76

Scott Eyman, Paul Duncan (Hg.), Köln 2004: John Ford



Noten: BigDoc, Melonie = 1
 

The Hateful Eight - USA 2015 - Regie und Buch: Quentin Tarantino - Kamera: Robert Richardson - Musik: Ennio Morricone - D.: Samuel L. Jackson, Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh, Tim Roth, Walton Goggins, Michael Madsen, Bruce Dern, Démian Bishir, Channing Tatum. Laufzeit: 169 Minuten (Kinoversion), 187 Minuten (Roadshow Version).