Dienstag, 27. August 2013

More than Honey

Dokumentarfilm Schweiz, Deutschland, Österreich 2012, Regie: Markus Imhoof, Länge: 90 Minuten, FSK: 0

Fünf Jahre hat der Schweizer Regisseur Markus Imhoof an seinem Film gearbeitet und ihn ziemlich genau vor einem Jahr in die Kinos gebracht. Das Thema alarmiert: weltweit sterben die Bienenvölker aus. Warum, das weiß keiner so genau. Aber die üblichen Verdächtigen stehen bereits Schlange: steigender Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft, Befall durch Parasiten und vieles andere mehr. Imhoofs Dokumentarfilm „More than Honey“ schaut genauer hin und überzeugt nicht durch spektakuläre Bilder, sondern auch durch eine unter die Haut gehende Spannungsdramaturgie: Unsere liebe „Biene Maja“ wird gekillt und nur wenige schauen hin.

Colony Collapse Disorder (CCD) nennt man das unheimliche Geschehen. Auf gut Deutsch heißt dies Völkerkollapsstörung und gemeint ist Folgendes: binnen weniger Tage verschwinden gesunde Bienenvölker spurlos. Und wenn der Imker nachschaut, dann findet er im Stock nur noch die Königin, ein paar Arbeiterinnen, häufig krank, die Brut und einige übrig gebliebene Nahrungsvorräte. Das Bienenvolk aber bleibt verschwunden.


CCD: Den Begriff gibt es seit 2007, als das Phänomen zum ersten Mal in gehäufter Form in den USA auftrat. Dort waren urplötzlich über den Winter 2006/2007 fast 80% der Bienenvölker betroffen. Dabei sind Bienen sind hart, wenn es um Arterhalt und ihre Ressourcen geht: sie töten nicht nur im Winter die Drohnen, sondern entledigen sich auch ihrer kranken Artgenossen. Aber was geschieht, wenn ein ganzes Volk erkrankt? Verschwinden die Bienen, um irgendwo zu sterben? „Kahlfliegen“ nennt man dies, aber mysteriös bleibt es dennoch.

 

Biene Maja wird versklavt

Markus Imhoofs Film geht diesen Fragen nach, aber noch mehr interessiert ihn die Entwicklung von der fast an Liebhaberei grenzenden Privat-Imkerei zur industriellen Massentierhaltung.

Massentierhaltung? Bei Bienen?
Man will es zunächst nicht glauben, aber der 72-jährige Imhoof (u.a. bekannt geworden durch seinen Spielfilm „Das Boot ist voll“, 1980), der zunächst einen traditionellen und vermeintlich harmlosen Imker im Berner Oberland besucht, zeigt schon an seiner nächsten Station, wie das im Großen funktioniert. In den USA werden Jahr für Jahr Tausende von Bienenvölkern zu den großen Mandelbaum-Plantagen gekarrt, um in den riesigen Monokulturen als Zwangsbestäuber eingesetzt zu werden. Am Ende werden sie dann zum Dank mit Pestiziden besprüht, was zumindest ihre Brut eingehen lässt. Das ist sogar den Verantwortlichen zuwider, aber so funktioniere halt der Kapitalismus.

Dann werden die unter industriellen Bedingungen gezüchteten Bienenvölker in Trucks quer durch die USA zu anderen Einsatzorten verfrachtet. Reisestress killt aber viele Völker. Hinzu kommt die abnehmende Resistenz gegen Erreger, die sich in der globalen Bienenindustrie rasch verbreitet. 
Warum? Weil Bienen, so demonstriert Imhoof, durch selektive Zucht die Aggressivität ‚abtrainiert’ wird und die nun handzahm gewordenen Arbeitstiere offenbar anfälliger sind als die wilden Naturvölker. Und so zeigt Imhoof mit sehr drastischen Bildern, dass die erzwungene Sanftheit der Westlichen Honigbiene möglicherweise auch dazu führt, dass sie sich kaum noch gegen Parasiten wie die heimtückische Varroa-Milbe zur Wehr setzen kann.
Der nächste Drehort zeigt die Konsequenzen. In einigen Regionen Chinas sind die Bienen bereits ausgestorben und das Geschäft des Bestäubens wird nun von Menschen ausgeführt, die von Blüte zu Blüte wandern und den Job der fleißigen Bienen in mühsamer Kleinarbeit übernehmen. Absurde, fast niederdrückende Bilder eines aus den Gleisen geratenen Systems.

Ob nun die Rettung der Bienen durch die intensive Forschungsarbeit eines australischen Wissenschaftlerteams möglich wird oder bei der Afrikanisierten Honigbiene (der sog. „Killerbiene“), einem Hybrid aus afrikanischen Bienenköniginnen und europäischen Bienen, zu finden ist, wird nur angedeutet. Sicher scheint, dass die von Imkern wegen ihrer Produktivität geschätzten „Killerbienen“, deren frei lebende Völker sich rasant ausbreiten, der industriellen Sklavenbiene überlegen sind. 

Aber immer wieder kehrt „More than Honey“ zurück ins Berner Oberland, zurück zu dem traditionellen Imker, dessen Familie über Generationen einen Imkerbetrieb geführt hat.
Alles naturbelassen? Idylle pur?
Mitnichten. Der Schweizer Imker zerquetscht vor laufender Kamera eine Königin, die das Ergebnis einer Paarung mit Drohnen aus dem Nachbartal gewesen ist. Das geht so nicht. Er will ‚seine’ Bienenvölker rasserein halten. Und was mit unnatürlicher Inzucht unter Bienen beginnt, setzt sich fort bei zwei Österreicherinnen, die produktionsoptimierte Bienenköniginnen züchten und per Post in die Ganze Welt schicken. Wir lernen: auch dort, wo alles noch ganz nach freundlicher Natur aussieht, hat der Mensch bereits Hand angelegt. 


Viel Lärm um nichts?

Vielleicht wird der Eine oder Andere mit den Achseln zucken: Bienen? Was soll’s. Wenn man Markus Imhoofs Film gesehen, wird man diese Nonchalance schnell verlieren. Dabei ist „More than Honey“ keine zynische Anklage, Imhoof polemisiert auch nicht. Sein preisgekrönter Film (Bayerischer Filmpreis 2013, Deutscher Filmpreis 2013 in der Kategorie „Dokumentarfilm“) kommt ruhig daher, beobachtet scheinbar unparteiisch, lässt Imker in ihrer Ratlosigkeit zu Wort kommen und setzt dann fast beiläufig das unheimliche Puzzle zusammen. 
Am Ende wissen wir etwas mehr über die treuen Honigspender und ihren plötzlichen Tod, der sich vermutlich aus der Summe der kleinen und großen Eingriffe zusammensetzt, die beim traditionellen Imker begonnen haben und sich in der industriellen Massentierhaltung fortgesetzt haben.
In Deutschland soll das große Bienensterben noch nicht stattfinden, aber dennoch gilt, dass die Westliche Honigbiene ohne Antibiotika und sonstige Zugaben schon heute nicht mehr überlebensfähig ist. In den USA ist mittlerweile ein Viertel der über zwei Millionen Bienenvölker gestorben. Mehr als ein Drittel unserer Nahrungsmittel würde es ohne die natürliche Bestäubung der lieben Maja allerdings nicht geben. Das ist kaum weniger beunruhigend als die Finanzkrise, die wir alle wesentlich ernster nehmen.

Quo vadis, liebe Biene? Eins steht fest: Die Zeiten beschaulicher Naturfilme, die man gebannt im Kreise der Familie bewundern kann, sind vorbei. Heute kann man die aktuellen Vertreter dieses Genres keinem Kind mehr zeigen, denn die Kleinen würden anfangen zu weinen. Wohl zu Recht, denn die Eingriffe der mächtigsten Spezies auf diesem Planeten entpuppen sich immer mehr als Vabanque-Spiel mit der Natur. Da hilft auch die Trickfilmbiene Maja nicht weiter.
Und so fragt Imhoof – nicht ganz frei von Mystizismus –, ob die Bienenvölker möglicherweise ein „Super-Organismus“ sind, der imstande ist, intelligente Entscheidungen zu treffen, während wir Industriesklaven aus ihnen machen. Intelligenz ist, so wurde uns eingeredet, ein menschliches Alleinstellungsmerkmal. Zweifel sind allerdings berechtigt, denn die Spezies Mensch scheint dazu nur in der Lage zu sein, wenn die Katastrophe ante portas ist. Allerdings, und das sollte nicht verschwiegen werden, sind wir dazu sehr wohl in der Lage, wie die mittlerweile heiß gelaufenen weltweiten Forschungsinitiativen in Sachen Bienensterben zeigen. Nur passiert eben alles immer „Fünf Minuten vor Zwölf“.

Ob unsere handzahm gezüchteten Bienen zum Tode verurteilt sind, steht also längst noch nicht fest. Am Ende des Films fragt sich Imhoof dennoch, warum denn die Bienen
sich das alles gefallen lassen" und antwortet mit TV-Einspielern von Überfällen der Killerbienen auf Menschen. Zum Glück vertieft er dies nicht weiter, aber man denkt schon ein wenig an Hitchcocks „Die Vögel“. Dort wurde angedeutet, dass unsere fragile Spezies gegen einen konzertierten Angriff der Vögel keine Chance hätte. Die Rache der Bienen würde vermutlich fürchterlicher ausfallen. Sie würden uns ausrotten. Zum Glück passiert so etwas nur im Kino. Oder?

Postscriptum: Im Filmclub gab es für „More than Honey“ 3x die Note Eins. Das ist selten vorgekommen, erst recht bei einem Dokumentarfilm.



Noten: Melonie, BigDoc, Mr. Mendez = 1

Wer sich mit einer kritischen Darstellung des Phänomens auseinandersetzen möchte, kann in DIE ZEIT nachlesen: http://www.zeit.de/2007/22/Bienen/komplettansicht.

Sonntag, 4. August 2013

"Hitchcock" und "The Girl" - zwei Biopics über Hitchcock und die Frauen, Teil 2

Der zweite Teil dieses Beitrags beschäftigt sich Julian Jarrolds „The Girl“, einem weiteren Biopic über den Master of Suspense. Der Film schildert die Entstehung von „The Birds“ und „Marnie“ und behauptet, dass Alfred Hitchcock seine Darstellerin Tippi Hedren zu sexuellen Gefälligkeiten erpressen wollte. Der Film basiert auf dem Buch „Spellbound by Beauty“ von Donald Spoto.

„The Girl“ – Die Abrechnung mit einem sadistischen Sex-Monster


Blondes make the best victims. They’re like virgin snow that shows up the bloody fingerprints (Alfred Hitchcock)

Ist dies der Wahlspruch eines Frauenhassers oder ein typisches Beispiel für Hitchcocks Humor? Jedenfalls leitet ein Textinsert den Film ein, dazwischen wird auf große weibliche Augen geschnitten, dann auf Hitchcock mit Küchenschürze im Garten, Vögel krächzen.
Später steht Hitchcock mit seiner Frau in der Küche: in einem TV-Spot sieht Alma plötzlich Tippi Hedren, die ihr auf Anhieb gefällt. „I like her smile.“ Musik blendet auf: „I’ve told every little star“, ein erfolgreicher Pop-Song, wir schreiben das Jahr 1961, das Jahr nach „Psycho“: die Credits beginnen.

Scriptwriter Evan Hunter aka Ed McBain spricht mit Hitchcock über das Drehbuch. Hitch ist nicht begeistert: wer bezahlt uns, fragt er Hunter: „The studios.“ Hitch: „The Audience. They want glamour!“
Der Glamour, den der Regisseur meint, erscheint in Gestalt von Tippi Hedren in Hitchcocks Büro. Peggy bittet sie herein, leise flüstert sie zu Hunter: „Right now every blonde in town can get a lunch.“
Hitch empfängt Tippi Hedren mit ausgesuchter Höflichkeit: Man bringe ihm viele Frau, „but few are chosen“. Später erzählt er seinem neuen Star einen seiner berüchtigten Limericks: „There was a young lady of Trent. Who said she knew what it meant. When he asked her to dine. Private rooms, lots of wine – she knew, oh, she knew, bust she went.“

Die einleitenden Szenen in „The Girl“ bauen eine suggestive Stimmung auf, die den ganzen Film beherrschen wird. Machtverhältnisse werden sondiert und Grenzen ausgelotet, nicht nur zwischen Autor und Regisseur, sondern auch zwischen dem Regisseur und seinem neuen Star. Toby Jones spielt von Beginn an Hitchcock als einen Mann, den nicht sein berühmter schwarzer Humor auszeichnet, sondern eine blasierte arrogante Herablassung. Einen mächtigen Filmemacher, der sein nächstes Opfer mit unverhohlener Gehässigkeit abschätzt: Hitchcock, der Frauenhasser und Blondinen-Fetischist, über den auch seine langjährige Sekretärin und Vertraute Peggy Robertson nur noch schale Witze machen kann. Ihrer Mutter berichtet Tippi nach der Rückkehr allerdings: „Mr. Hitchcock was a perfekt English Gentleman.“


“As is well known, I have no sense of humor whatsoever” (Alfred Hitchcock in „The Girl“)

„The Girl“ erzeugt in der ersten Viertelstunde bad taste. Der schlechte Geschmack rührt weniger von der Performance des Hitchcock-Darstellers Toby Jones her, der beängstigend gut umsetzt, was das Script verlangt. Es sind die kleinen beiläufigen Szenen mit Hitchcocks Mitarbeitern, die treffsicher eingebaut werden, um zu signalisieren, dass wir es mit einem Mann zu tun haben, dem man nicht über Weg trauen darf. Mit gezielten Verweisen zeigt Julian Jarrold Alfred Hitchcock als introvertierten humorlosen Mann, dessen Zwanghaftigkeit und Obszönität sich hinter einer Maske aus Höflichkeit verbirgt. Und Sienna Miller spielt Tippi Hedren von Beginn an als kluge, selbstbewusste Frau und Mutter, die den fetten Resisseur und seine misogynen Limericks charmant auf Distanz hält: „Heartbreak guaranteed“, zitiert sie Hitch schlagfertig. 
The Beauty an the Beast.

„The Girl“ erzählt diese bekannte Skandalgeschichte keineswegs übel. Vieles an dem Film stimmt: die Avancen, die Hitchcock seinen Stars gemacht hat, sind bekannt, ebenso die außergewöhnliche Behandlung, die Tippi Hedren während der Produktionsvorbereitungen erfahren hat. Das Model ohne Filmerfahrung wurde in jeden Produktionsschritt eingeweiht, was keiner Hitchcock-Heroine zuteil wurde. Noch Jahre später wird Hedren davon berichten, dass sie als Novizin eine komplette professionelle Filmausbildung bekommen hat, für die andere Jahre benötigen. Auch das berüchtigte Controlling des Altmeister lässt „The Girl“ nicht aus: Hitchcock stellt seinem Star einen luxuriös ausgestatteten Trailer bereit, sorgt für die Garderobe, bestimmt die Farbe des Lippenstifts und das Make-up. Anders gesagt: Hitchcock will um jeden Preis einen Star aufbauen, der nicht nur vor der Kamera das tut, was er sagt.
„Senken Sie ihre Stimme“, befiehlt er Tippi bei einer privaten Textprobe und tatsächlich ist sie danach besser, charismatischer. Aber Hitchcock ist nicht nur fasziniert, er will Tippi auch in eine Intimität hineinziehen, der sie sich zunächst höflich, dann entschlossen widersetzt. Ein gemeinsamer Drink wird zu einer Verbrüderungsszene, in der er schmachtend „For Alfie and Tippi” flüstert und die Arme mit ihr kreuzt, auch als Alma hinzutritt. „To Alma und Alfie“, erwidert Hedren.

Ein dreckiger Limerick, den der Regisseur unvermittelt auf der Heimfahrt vom Set erzählt, testet weitere Grenzen aus, ehe es gegen Ende der ersten halben Stunde zu jener Szene kommt, die sich allein Donald Spotos Recherchen und den Gesprächen mit Tippi Hedren verdankt: Hitchcock wirft sich im Auto auf die Darstellerin und küsst sie. Die Schauspielerin muss Gewalt anwenden, um sich von dem massigen Körper zu befreien und fällt geschunden aus dem Wagen. Hier zeichnet Julian Jarrold exakt nach, was in Spotos Buch
Spellbound by Beauty" beschreiben wird, nämlich dass Hitchcock erst dann seine Darstellerin gewaltsam umarmte, als er gesehen hatte, dass beide vom Produktionsteam beobachtet werden: er will allen eine romantische Beziehung zu seinem Star vorgaukeln. Dumm gelaufen: Der Star widersetzt sich undankbar.

„I mean, he did a lot of really weird things, but this was not intentional“ (Tippi Hedren, 1999)


Die direkten Konsequenzen, die Jarrold in „The Girl“ vorführt, sind zwei kontroverse Szenen während der Dreharbeiten zu „The Birds“. Zum einen die ‚Telefonzellen-Szene’, in der Hitchcock einen mechanischen Vogel mit hoher Geschwindigkeit auf die Telefonzelle prallen lässt. Die Szene missglückt, die Scheibe birst und Hedren wird verletzt. 

Dann folgt die berüchtigte Szene, in der „Melanie Daniels“ (Tippi Hedren) auf den Dachboden (attic scene) geht und von Möwen und anderen Vögeln attackiert wird. Auch hier sorgt Jarrold für eine direkte Verknüpfung zwischen den immer offener zu Tage tretenden Obsessionen Hitchcocks und der Gestaltung der Szene, in der – wie bekannt – Tippi Hedren tagelang die Takes wiederholen musste, um immer wieder von den Assistenten mit Vögeln beworfen zu werden. In „The Girls“ schneidet Jarrold immer wieder auf Hitchcock, der mit maskenhaftem Gesicht dem Treiben vor der Kamera zuschaut, am Ende scheinbar selbst erschöpft ist, „Cut“ ruft und Tippi Hedren nach ihrem physischen und psychischen Zusammenbruch mit dem Drehbuch für den nächsten Film „Marnie“
belohnt’.

Beide Szenen sind deshalb kontrovers, weil ich in meinem Recherchen nichts über die ‚Telefonzellen-Szene’ finden konnte. Die ‚Attic Scene’ ist wiederum sogar von Donald Spoto anders beschrieben worden: In „Spellbound by Beauty“ erzählt er, dass Hitchcock sich in seinem Trailer aufhielt und nur erschien, um ‚Action’ oder ‚Cut’ zu befehlen. Hedren fühlt sich bis heute allerdings gezielt von ihrem Regisseur belogen, eine Aussage, die Spoto in „The Dark Side of Genius“ (1983) nicht erwähnte – dort hat man bei der Lektüre eher den Eindruck, dass der Verzicht auf mechanische Vögel tatsächlich unumgänglich war und Hitchcock (wie auch bei Taylor beschrieben) extrem nervös war und gespürt haben muss, dass diese Torturen über das übliche Belastungsmaß weit hinausgingen.


Der Anfang vom Ende: „Marnie“

Die Dreharbeiten zu „Marnie“ (1964) werden von Donald Spoto als das Ende von Hitchcocks Kunst markiert. Filmhistorisch kann man das auch anders sehen, denn die Zeit der großen Studios ging langsam zu Ende und die Art, wie Hitchcock Szenen inszenierte, war zwar noch nicht outdated, aber es wurde deutlich, dass jüngere Filmemacher on location drehen wollten und nicht im Studio mit altmodischen Rückprojektionen (was dann auch in „Torn Curtain“ kaum noch überzeugte). Außerdem war „Marnie“ der letzte Film, für den Bernhard Herrmann die Musik schrieb, den Robert Burks fotografierte und den George Tomasini schnitt. Das vertraute Hitchcock-Team löste sich auf.

Die Story von „Marnie“ ist bekannt. Tippi Hedren spielt eine frigide Kleptomanin, die von einem Mann (Sean Connery) zur Heirat gezwungen und in der Hochzeitsnacht vergewaltigt wird – die psychoanalytisch angehauchte Bewältigung ihres Traumas wirkte etwas altbacken, aber nicht die Beziehung eines Fetischisten zu einer Frau mit einer veritablen Persönlichkeitsstörung. Hier war Hitchcock in seinem Element.

In „The Girl“ wird allerdings schnell klar, dass Julian Jarrold und sein Drehbuchautor Gwyneth Hughes zeigen wollen, dass Hitchcock in einer Art von Übertragung die Figur des Mark Rutland (Sean Connery) auf sich selbst projiziert, während er mit den traumatischen Aspekte der Marnie-Figur seine Darstellerin Tippi Hedren manipulieren will. 
In einer Script-Besprechung erklärt Evan Hunter: „And Marnie can’t let any man near her. It’s because of a childhood trauma.“ Hitchcock: „Frigid, you see.“ Hedren: „No, just scared, surely!“ Beide blicken sich lange an.

Cut. Alma fragt Hitchcock: „But she gets rescued by the love of a good man, right? Just, just guessing.“ In der Küche dann zu Peggy: „Surely to God she hasn’t let the old fool anywhere near her.“ Peggy: What ever he throws at her, however he provokes her – she makes him feel he can’t hurt her.“

„The Girl“ lässt auch bei der Darstellung einer Textprobe zur Vergewaltigungsszene keinen Zweifel daran, dass Hitchcock die Übertragungsstrategie fortsetzt und immer dann, wenn er von Marnie spricht, die reale Tippi Hedren gemeint ist, jene ‚gefühllose’ Frau, die seine Anträge abgewehrt hat.

Im letzten Drittel schwächelt „The Girl“ dann zunehmend. Jarrold arbeitet in einem fast hektischen Staccato einige Kurzszenen ab, die weitere Anekdoten und biografische Details wie ein Uhrwerk abarbeiten. Einige Beispiele: Hitchcock erklärt im Auto Evan Hunter, der diese Szene anders geschrieben hat: „When he sticks it in her, I want that camera right on her face.“
Später am Set, Hitchcock folgt seiner Darstellerin auf einen anderen Set. Hitch: „Touch me. No one can see us.“
Cut. Alma begegnet Tippi: „I just wanted to say I’m sorry you’re having to go through this.“ Auf Tippis Erwiderung, sie könne dies alles mit einem Wort beenden, schweigt Hitchcocks Frau und geht davon.
Schließlich gesteht der stark angetrunkene Hitchcock seinem Asisstant Direcor Jim Brown (Carl Beukes spielt diese wichtige und ambivalente Rolle übrigens grandios in seinem Schwanken zwischen Loyalität zu Hitchcock und Empathie für dessen Star), dass die einzige Frau, mit der Sex hatte, Alma gewesen ist: „Can’t get it up now.“ Brown: „Impotent.“ 

Später erzählt Hitchcock Jim Brown, dass er alles aufgeben würde, sein Geld, seine Filme, nur um physisch so attraktiv sein zu können wie sein Brown: Hitchcock, der sich selber als „Walrus dressed like a man“ skizziert hat, verwandelt sich langsam in einen Besessenen, der völlig die Kontrolle über sich verliert.

Alles steuert auf den ultimativen Akt der Grenzüberschreitung hin: Die legendäre Vergewaltigungsszene. Rutland, um daran zu erinnern, hat Marnie klar gemacht, dass sie ihm gehört und die Hochzeitsnacht gerät zu einer Mischung aus Machtausübung und der illusionären Absicht, die ‚Kranke’ mit gewaltsamem Sex zu kurieren. Hier erreicht auch „The Girl“ in seinem nun fast schon didaktischen Gestus seinen Höhepunkt, denn so wie die Szene von Jarrold montiert wieder, nämlich immer wieder mit Schnitten auf Hitch, der befriedigt und bedrohlich zuschaut, suggeriert sie, dass der Prozess der Übertragung beinahe abgeschlossen ist. Hitch selber muss nur noch das Rutland-Szenario in realita zu Ende bringen ...

Der endgültige Niedergang beginnt Weihnachten: Hitch ruft betrunken Tippi an und kündigt an, dass alles anders wird: er würde mit ihr um die Welt reisen, Filme machen ... Hedren legt auf. Hitchcock spricht weiter, Alma tritt hinzu, sie hat alles gehört: „The day she ever drops her knickers, you’ ll run a mile.“ Penelope Wilton  entspricht der echten Alma Reville zumindest optisch besser als Helen Mirren, bleibt als Figur aber eher undurchsichtig und ist ein kompletten Gegenentwurf zu Gervasis Version der selbstständigen, couragierten Filmemacherin.

Dann Musik: Wagners „Tristan und Isolde“ als langes Underscoring. Im Dressing Room  werden Tippi die Haare für eine der letzten Szenen gefärbt. Die Kamera fährt zu Wagners Musik auf Closeup. Dann Hitch und Tippi in der Garderobe: Sex, so Hitch, sei nicht wichtig für ihn. „It’s for the kids.“ Und:
I love you“. Tippi rennt davon. Hitchcock übernimmt ihren Dialogpart: „I love you too. I love you, Hitch“. Dann wendet sich Toby Jones direkt in die Kamera und schaut den Zuschauer an: ein entrücktes Gesicht, nahe am Rande des Wahnsinns.

Es kommt schließlich zu der unvermeidlichen Szene, die Tippi Hedren in Donald Spotos Buch so beschreibt:
“He stared at me and simply said, as if it were the most natural thing in the world, that from this time on, he expected me to make myself sexually available and accessible to him – however and whenever and wherever he wanted,” she recalls.  “That was the moment, after almost three years of trying to cope, when I finally had enough – that was the limit, that was the end.” Dann folgt das, was Spoto eine ‚Aufforderung zur Prostitution’ nennt: Hitchock weigert sich, Tippie Hedren aus dem Vertrag zu entlassen und mahnt sie, an ihre Kinder zu denken. Dann: „I’ll ruin your career“, he said. „You’ll never work again anywhere. I’ll destroy you."


 Realität oder Fiktion?

„The Girl“ ist kein Propagandafilm (wie von mir zunächst angedeutet). Dafür stimmen einfach zu viele Details, die durch vorhandene Quellen bestätigt werden: Hitchcocks Kontrollsucht, sein Hang zu kruden Witzen und obszönen Limericks. Und natürlich seine Leidenschaft für die kühlen Blondinen, die er zu Stars gemacht hat.
Auf der anderen Seite ist „The Girl“ eine Literaturverfilmung. Das Buch von Gwyneth Hughes ist eine 1:1-Umsetzung von Spotos neuesten Enthüllungen und geht gelegentlich im Detail sogar über sie hinaus. 

Spotos Motivation, dieses Buch zu schreiben, bleibt unklar. Besonders dann, wenn man nachlesen kann, dass er einige Passagen vollständig aus seinem Buch ‚The Dark Side of Genius’ übernommen hat. Gut, warum nicht? Aber einer der häufigsten Vorwürfe an Spoto bleibt immer noch im Raum: solange Hitchcock lebte, genoss Spoto die Privilegien, die ihm der Regisseur gewährte. Erst nach Hitchcocks Tod nahm seine ‚Desillusionierung’ (Spoto) ihren Lauf.
Einige Merkwürdigkeiten fallen dabei auf: weder in „The Girl“ noch in Spotos Buch taucht Tippi Hedrens Mann Noel Marshall auf, den sie 1964 geheiratet hatte. Stattdessen wird Hedren als junge Frau gezeigt, die immer noch bei ihrer Mutter wohnt. Hitchcock-Biograf John Russell Taylor berichtet dagegen in seinem Buch (anders als Spoto), dass bereits vor „Marnie“ das Verhältnis zwischen Hitchcock und Hedren eben wegen dieser Heirat abgekühlt war, da er befürchtete, die Darstellerin würde ihm nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung stehen.

Erstaunlicherweise verzichtet „The Girl“ auch auf eine Darstellung der sexuellen Übergriffe Hitchcocks, die die Schauspielerin Diane Baker Spoto detailliert geschildert hat. Wenn dies stimmen sollte, dann wäre die Fixierung Hitchcocks auf Hedren alles andere als stimmig, denn offenbar hatte der Regisseur seine Hände überall gehabt. Passte das nicht ins Konzept eines Films, der ansonsten Donald Spotos Kapitel über die Entstehung von „The Bird“ und „Marnie“ wortgetreu umgesetzt hat?
Auch Spotos Schilderung, Hitchcock hätte ein Engagement Tippi Hedrens durch Francois Truffauts verhindert, wird von den Angehörigen Truffauts bestritten. Unwichtige Details? Wohl kaum, wenn es um die Glaubwürdigkeit eines Enthüllungsbuchs geht, das Hitchcocks morbide Gelüste bis in die Anfänge seiner Karriere zurückdatiert.

Persönlich habe ich äußerst gemischtes Verhältnis zum Enthüllungsjournalismus, besonders dann, wenn er sich auf nur auf eine zentrale Quelle beruft. Andere Personen, auf die sich die Macher von „The Girl“ berufen und mit denen ausführliche Interviews geführt worden, sind wie Jim Brown mittlerweile tot und die Angehörigen Browns bestreiten vehement, dass der Verstorbenen die Skandalisierung von Hitchcocks Leben, wie von Jarrold behauptet, jemals unterstützt hätte. Immerwährende Loyalität?

Wie schon erwähnt, sind die Fronten festgefahren. John Russell Taylor nannte den Film schlichtweg „total absurd“ (1) . Sacha Gervasi, der Regisseur von „Hitchcock“, stellte fest: “He was a brilliant, obsessed director and he would push people. I don’t think he was a sadistic monster. He was a popular entertainer, not Pol Pot ...It seems a rare one-note portrayal of a man who was a little more complex than that. A lot of people, who were there, do not recognise this portrayal of him as this monster.“ (2)

Ich selbst habe für diese Arbeit lange und ausgiebig recherchiert. Während in Deutschland die Kritik nur verhalten reagierte, weil „The Girl“ nicht in den Kinos lief und derzeit nur als DVD in englischer Originalfassung vorliegt, ist die Diskussion um den Film in Großbritannien und den USA heiß gelaufen. Mit anderen Worten: man ertrinkt förmlich in Artikeln, Statements und Videos auf YouTube.
Feministische Filmkritikerinnen sind begeistert von dem Film, da hier eine Lanze für die rechtlosen Schauspielerinnen geschlagen wird, die nicht nur in den 1960er Jahren sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren. Hitchcock-Fans reagieren dagegen angeekelt und empört über die vermeintliche Geschichtsklitterung, die Kim Novak („Vertigo“) so auf den Punkt brachte: "I feel bad about all the stuff people are saying about him now, that he was a weird character. I did not find him to be weird at all. I never saw him make a pass at anybody or act strange to anybody. And wouldn’t you think if he was that way, I would’ve seen it or at least seen him with somebody? I think it’s unfortunate when someone’s no longer around and can’t defend themselves." (3)

Klar ist jedoch, dass Hitchcock nach „Psycho“ große Probleme mit „The Birds“ (hier soll er laut Taylor sogar am Set improvisiert haben) hatte und erst recht mit „Marnie“, wo er als nicht mehr ganz fokussiert und nervös beschrieben wird. 
Aber etwas anderes hat mich dann doch sehr stutzig gemacht. In einem TV-Round Table-Gespäch (vgl. Literatur- und Quellenverzeichnis) trafen sich 1999 fünf der Hitchcock-Heroinen: Janet Leigh, Tippi Hedren, Karen Black, Suzanne Pleshette und Eva Marie Saint, die von Host Greg Garrett ausgiebig zu der Arbeitsweise von Hitchcock und seinen kauzigen Gewohnheiten befragt wurden. Fast alle, nur Tippi Hedren hielt sich auffallend zurück, waren posthum begeistert von den Manieren Hitchcocks und seiner professionellen Arbeitsweise. Keine Kritik, keine Skandale, keine sexuellen Übergriffe.
Selbst Tippi Hedren nutzte dies Plattform nicht, um zumindest andeutungsweise den Altmeister zu desavouieren. Karen Black stellte fest: „But I think whoever said he was a misogynist is a very silly, mistaken person. And you might go to them and ask them what they're talking about.“

Später fragt Garrett sehr explizit nach der von John Russell Taylor geschilderten Episode während der Dreharbeiten zu „Marnie“:
•    GARRETT: A question for Tippi Hedren. Hitchcock had you under contract and only a few actresses before had been under his exclusive contract. At any rate, one day, supposedly, he was being quite unreasonable about something, and you are supposed to have made a reference to his weight, which no one had ever done to him in public. Is there anything to that apocryphal story?
•    HEDREN: To his -- to his what?
•    GARRETT: You told a fat joke, or called him fat -- made some insulting reference to his weight.

•    HEDREN: I may have done that. I don't remember. That could have happened. I honestly don't remember that.

Über die Zusammenarbeit mit seinen Darstellerinnen:
•    PLESHETTE: Well, Tippi and I had a problem, too, when we were on location. She had a beau that was not allowed to come up and visit her. Because Hitch -- Hitch didn't want any distractions.
•    GARRETT: Joan Fontaine, who starred in Rebecca, recalls in her recent autobiography, No Bed of Roses, "Hitchcock would constantly tell me that no one thought I was any good, except himself and that nobody really liked me. He seemed to relish the cast not liking one another actor for actor, by the end of the film."
•    PLESHETTE: Because that's what he wanted her to be experiencing. That's what he wanted her character to experience.
•    GARRETT: Do you see this as kind of a cruel trick to get a certain kind of acting? Did he do this on your films?
•    LEIGH: That's not true. It's not a dirty trick.
•    BLACK: People always attack a great person. He could have the world, he was a big person. People are always attacking and latching onto that. and pulling themselves up by attacking people who are great people. But if he were what you guys have been reading, we would be complaining. The five of us would not be saying what we're saying.
•    LEIGH: I don't think we'd be here, do you?
•    PLESHETTE: But I will tell you, in all fairness, that every performer had a different experience, but it's because each performer had a different responsibility in the film. And, as I said, he gave each of us what it was we required to get the job done. If we needed freedom, he gave us freedom. If he needed control, he controlled. If he needed to make Joan Fontaine feel twelve hours a day when she was on the set that she was unloved and unappreciated so that that's what she would give, she gave one of the best performances of her career.
•    HEDREN: That's interesting. I believe it.

Fazit: Die Version, die „The Girl“ abliefert, muss zumindest mit kritischer Distanz betrachtet werden. Die geschilderten Details, die an die Substanz gehen und Hitchcock zu einem Sex-Monster machen, basieren auf den Aussagen einer Schauspielerin, die jahrzehntelang geschwiegen hat oder passende Gelegenheiten ungenutzt ließ, ihre Version der Dinge zu schildern. Erst ihre Begegnung mit Donald Spoto hat womöglich alles ins Rollen gebracht.
Daraus ein Biopic zu machen, das erzähltechnisch vorgibt, pure Fakten darzustellen, ohne sie mit gebräuchlichen Mitteln zu relativieren, ist gelinde gesagt mehr als gewagt. Was sich tatsächlich ereignet hat, wird man wohl nicht mehr herausfinden. Aber es sei daran erinnert, dass es einen Film gegeben hat, der bereits derartge Puzzles thematisiert hat. Puzzles, die dann entstehen, wenn man Mythos und Zeitzeugen aufeinandertreffen: Alles Mögliche passiert, bloß etwas gelingt nicht – die Wahrheit zu finden. Der Film hieß „Citizen Kane“.

(1) The Independent, 22. Januar 2013: http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/films/news/who-was-the-real-sir-alfred-hitchcock-director-sacha-gervasi-backs-auteur-against-sadistic-monster-portrayed-in-the-girl-8462209.html
(2) ebd.
(3) The Daily Telegraph, 30.12.2012: http://www.telegraph.co.uk/culture/film/9586303/Kim-Novak-tells-all.html

Anhang: Limericks in „The Girl“

Alfred Hitchcock: There was a young man from Nantucket / Who had such a large cock he could suck it. / He looked in the glass / And saw his own arse / And broke his neck trying to fuck it. 


Alfred Hitchcock: A worried young man from Stamboul / Discovered red spots on his tool. / Said the doctor, a cynic, / Get out of my clinic! / Just wipe off that lipstick, you fool. 


Alfred Hitchcock: There was a young girl from Sofia / Who succumbed to her lover's desire. / She said it's a sin, / But now that it's in / Could you shove it a few inches higher? 

 

Literatur

•    „The Girl“ – DVD (BBC, HBO, Warner Bros.), Länge: 109 Minuten, Sprache: Englisch (Subtitles engl.)
•    John Russell Taylor: Hitchcock. Biographie. München Wien 1980 (Originalausgabe: The Life and Work of Alfred Hitchcock. 1978)
•    Donald Spoto: Alfred Hitchcock. Die dunkle Seite des Genies. Berlin 1984 (Originalsausgabe: The Dark Side of Genius. The Life of Alfred Hitchcock. 1983).
•    Donald Spoto: Spellbound by Beauty: Alfred Hitchcock and His Leading Ladies (Random House e-books 2012)
•    Hitchcock's women on Hitchcock (Greg Garrett Literature Film Quarterly (1999), volume 27, number 2, pages 278-289)
Kurzangabe: Transkript eines Round-Table-Gesprächs für den American Movie Classis Channel. Moderator: Greg Garrett. Teilnehmerinnen: Janet Leigh, Tippi Hedren, Karen Black, Susanne Pleshette, Eva Marie Saint. Garrett: „...when the other actresses champion Hitchcock, for example, Tippi Hedren seems to disappear from the conversation.“ Die Diskussion gibt Auskunft darüber, dass Leigh, Black, Pleshette und Saint voll des Lobes sind und Kritik an Hitchcock zurückweisen. Hedren deutet keinen der später geäußerten Vorwürfe an, stattdessen stellt sie fest: „I mean, he did a lot of really weird things, but this was not intentional“.
•    The psycho and his blondes (Daily Express, 27.05.2008),
Kurzangabe: kurz nach dem Erscheinen von Donald Spotos „Spellbound by Beauty“ fasst der Express die Kernaussagen Spotos zusammen und zitiert Hedrens Aussagen, die im Wesentlichen in „The Girl“ wortgetreu umgesetzt worden sind.
•    Interview mit Diane Baker über Hitchcock: Host: Eddie Muller, filmnoirfoundation.org
•    Tippi Hedren On Alfred Hitchcock's THE BIRDS
•    Tippi Hedren: Hitchcock Ruined My Career


 

Pressespiegel

Anthony Hopkins sieht mit seinem Make-Up aus wie eine aufgedunsene Witzfigur, und so spielt er seinen Hitchcock dann auch ... Das Drehbuch ist ein Mischsalat sondergleichen: Nebst der Entstehung und Vermarktung von Psycho möchte der Film noch Hitchcocks Ehe, seine Obsession mit jungen Blondinen, und die dunkle Seite seiner Seele erforschen. Und das alles mit locker-flockigem Danny Elfman-Soundtrack als Salatsauce. Abgepackt schmeckt das nicht frisch sondern einfach nur nach Durcheinander ... Da so viel gleichzeitig passiert, kann der Film gar nie langweilig werden, und so ist er dann auch auf eine seltsame Weise faszinierend und unterhaltsam (OutNow-CH).

Zum Dicken gesellt sich der gespielte Blondinenwitz, immerhin haben sich ja auch Scarlett Johannsson (als Janet Leigh) und Jessica Biel (als Vera Miles) in diesen Kostümschwank verirrt. Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass beide Rollen nur rein ornamentalen Charakter haben: Bei Hitchcock brachte die umstrittene Objektifizierung der Frau immerhin eine wichtige film- und geschlechttheoretische Debatte in Gang. "Hitchcock" hingegen fehlt jegliches selbstreflexive Moment. Nebenbei, eine lohnende Auseinandersetzung mit dem zwiespältigen Frauenbild Hitchcocks bot jüngst die britische TV-Produktion "The Girl" (2012), in der die konfliktreiche Beziehung zwischen Hitchcock (beeindruckend verkörpert von Toby Jones) und Tippi Hedren (Sienna Miller) im Mittelpunkt steht (David Kleingers, DER SPIEGEL).

Der hohe Anspruch ist zu spüren, aus «Hitchcock» selbst einen Hitchcock-Film zu machen, die Geschichte eines Mannes eben, dessen Genialität sich von gefährlichen Gelüsten nährte ... Ohne seine anregende Existenz wäre es zu «Psycho» offenbar gar nicht gekommen, und in «Hitchcock» ist dieser Gein nun leibhaftig in Alfred Hitchcocks Hirn gesetzt, nicht als der Wahnsinnige, der er war, sondern gewissermassen als ein domestizierter innerer Experte für mörderische Logik. Das hat in seiner selbstverständlichen Künstlichkeit tatsächlich etwas von jenem immer wieder bewundernswerten, lakonischen Hitch-Sarkasmus – als Porträt des Künstlers mit den Eigenschaften und Talenten eines erstklassigen Lustmörders: dem besessenen Perfektionismus, der brillanten szenischen Vorstellungskraft, der passiven Lüsternheit, die plötzlich krampfhaft und theatralisch explodiert, und nicht zuletzt der Sucht nach einer sadistischen Liebesbeziehung mit einem Publikum (Christoph Schneider, Tagesanzeiger).

Was die manischen Obsessionen und auch den Sadismus von Hitch angeht, bleibt "Hitchcock" freilich zurückhaltend. Zwar wird ein wenig am Sockel gekratzt, das Monument wird aber nicht gestürzt. Es ist nicht ohne Ironie, dass fast zeitgleich ein zweiter Hitchcock-Film gedreht wurde, der just von seinen nächsten beiden Projekten handelt, "Die Vögel" und "Marnie" – und von Tippi Hedren, die mehr als jede andere Hitchcock-Blondine unter dem Sadismus ihres Regisseurs zu leiden hatte. In "The Girl" wird Hitchcock von Toby Jones verkörpert, der im Direktvergleich mit dem überragenden Anthony Hopkins nur verlieren kann. Imelda Staunton aber gibt eine wesentlich kühlere und damit wohl echtere Alma ab. Und Sienna Miller als Tippi Hedren gibt einen plastischen Eindruck davon, was es bedeutete, von Hitch zum Star aufgebaut zu werden (Peter Zander, DIE ZEIT).

Unquestionably, the portraits of the director in Hitchcock and The Girl diminish him. Perhaps he needs diminishing. Our culture has a history of excusing or ignoring the excesses of famous, powerful men. Hedren should not be obliged to shut up just because Hitchcock was a great artist, or because he did not do to other women what she says he did to her, or because other people didn't see what went on, or because he is dead. Neither Hitchcock nor The Girl necessarily diminish his films, but by this phase in his career Hitchcock was doing that himself. Marnie is a terrible movie, and a cruel one: the idea that a woman sexually traumatised by her childhood can be saved by submitting to a controlling rapist is offensive, as well as plain wrong. The Girl puts its case more strongly, but as far as both biopics are concerned, the real monster on Hitchcock's sets was behind the camera (Alex von Tunzelmann, THE GUARDIAN).

Donnerstag, 1. August 2013

„Hitchcock“ und „The Girl“ – zwei Biopics über Hitchcock und die Frauen, Teil 1

Hitchcock
USA 2012, R.: Sacha Gervasi, Laufzeit: 98 Minuten, FSK: ab 12 Jahren, Drehbuch: John J. McLaughlin (basierend auf Stephen Rebellos Buch Alfred Hitchcock And The Making Of Psycho (1990)), D.: Anthony Hopkins (Alfred Hitchcock), Helen Mirren (Alma Reville), Scarlett Johansson (Janet Leigh / „Marion Crane“), Jessica Biel (Vera Miles / „Lila Crane“), Toni Colette (Peggy Robertson), James D’Arcy (Anthony Perkins / „Norman Bates“), Michael Wincott (Ed Gein)

The Girl
BBC / HBO 2012, R.: Julian Jarrold, Buch: Gwyneth Hughes (basierend Donald Spotos Buch Spellbound by Beauty: Alfred Hitchcock and His Leading Ladies (2009)), Laufzeit: 109 Minuten, Altersfreigabe BBFC: ab 15 Jahren, D.: Toby Jones (Alfred Hitchcock), Sienna Miller (Tippi Hedren / „Melanie Daniels”), Penelope Wilton (Peggy Robertson), Imelda Staunton (Alma Reville), Carl Beukes (Jim Brown).

2012 wurde Alfred Hitchcocks Film „Vertigo“ von der britischen Zeitschrift „Sight & Sound“ zum besten Film aller Zeiten erkoren. Das American Film Institute (AFI) führt insgesamt vier Hitchcock-Filme in der Liste der 100 besten amerikanischen Filme an, was nur wenigen Regisseuren gelang. Nun liegen zwei Filme über Alfred Hitchcock vor, die sich mit der Entstehung von „Psycho“, „The Birds“ und „Marnie“ beschäftigen. „Hitchcock“ zeigt gelungen einen Filmemacher, der während der Dreharbeiten für „Psycho“ in seiner Phantasie mit dem Serienmörder Ed Gein parliert, aber im ganzen die Contenance bewahrt. Die britische TV-Produktion „The Girl“ führt den Master of Suspense dagegen als lüsternes Monster vor, das seine Hauptdarstellerin anfällt: Hitchcock filmisches Spätwerk wird aus Manien und sexuellen Obsessionen abgeleitet. Das hat der Altmeister nicht verdient.

„Hitchcock“ zu besprechen, ohne „The Girl“ zu erwähnen, ist unmöglich. Die BBC-HBO-Fassung schwebt wie ein Damokles-Schwert über dem Film, aber auch über der Person Alfred Hitchcock. Während Sacha Gervasis „Hitchcock“ trotz einiger Ungereimtheiten eine recht genaue Tragikomödie mit viel Charme ist, die sich erkennbar für die Arbeit Hitchcocks interessiert und im Drama immer wieder das Komödiantische durchscheinen lässt, ist „The Girl“ eine brutale Abrechnung. 
Julian Jarrolds Film macht dort weiter, wo Gervasi versöhnlich aufhört – aber er erzählt spekulativ die Geschichte des Niedergangs. Eine filmische Anti-These, die der (Selbst-)Zerstörung eines Genies beiwohnt, ohne sich dabei wirklich für Hitchcocks Filme zu interessieren.
In beiden Filmen geht es aber auch um die Frau an Hitchcocks Seite: Alma Reville. Gervasis Version zeigt Helen Mirren als kompetente Filmfrau, in „The Girl“ präsentiert sich Imelda Staunton als verhärmtes Muttchen, das mit einem besessenen Sex-Gnom zusammenleben muss. Welch ein Kontrast!


Zwei Bücher, zwei Filme, zwei Welten

Während Stephen Rebellos Buch Alfred Hitchcock And The Making Of Psycho keinen Skandal provozierte und als gut recherchierte Arbeit gilt, basiert „The Girl” auf Donald Spotos umstrittenem Buch Spellbound by Beauty: Alfred Hitchcock and His Leading Ladies. Dort wiederholt Spoto im Wesentlichen alte Vorwürfe aus seinem Buch The Dark Side of a Genius (1983): Hitchcock habe seine Hauptdarstellerin Tippi Hedren während der Drehs zu „The Birds“ und „Marnie“ wie besessen kontrolliert und gequält, dann sexuell bedrängt, anschließend erpresst und schließlich systematisch ihre Karriere zerstört. 
Dreißig Jahre später stützen sich Spotos Behauptungen auf aktuelle Aussagen der mittlerweile über 80-jährigen Tippi Hedren, die allerdings zu all dem mehr als fünfzig Jahre geschwiegen hat. Tatsächlich kann Hedren die Vorwürfe nicht beweisen und andere Hauptdarstellerinnen Hitchcocks haben vergleichbare Obsessionen nie bestätigt: „Hitchcock was a gentleman, he was funny, he was so attentive to me, with the character, and he cared about everything my character Eve Kendall wore. He had an eye for the specifics of the character", stellte die „Hitchcock-Blondine“ Eva-Marie Saint (North by Northwest) unlängst fest (1).

Es folgte besonders im britischen Blätterwald eine wütende Auseinandersetzung, in der sich bald die Fronten unversöhnlich gegenüberstanden. Fest steht aber, dass der von Hitchcock autorisierte Biograf John Russel Taylor bereits 1978 in Hitch. The Life and Work of Alfred Hitchcock davon berichtet, dass Hitchcock sich während der Dreharbeiten zu „The Birds“ in „einem ungewöhnlich erregten Gemütszustand“ (317) befand. Laut Taylor ereignete sich das Zerwürfnis zwischen Regisseur und seiner Darstellerin allerdings erst, als Hedren um ein freies Wochenende bat und Hitchcock dies verweigerte. Der Streit eskalierte und Hitchcock berichtete, so Taylor, anschließend empört: „Sie hat auf mein Gewicht angespielt“ (322). Belegt ist, dass Hitchcock und Tippi Hedren anschließend nur über Dritte miteinander kommunizierten. Merkwürdigerweise unterschlägt „The Girl“ dies. Die von Taylor geschilderte Episode wird im Film anders dargestellt und ist Auftakt einer Reihe von Nötigungsversuchen Hitchcocks, in denen der Regisseur von seinem Star unbedingte sexuelle Verfügbarkeit verlangt, und zwar auf unterschiedliche Art und Weise und zu beliebigen Zeiten.

Zu Biopics habe ich eine klare Position: künstlerische Freiheit ist wichtig, hat aber eine geringere Bedeutung als sorgfältige Recherche. Von einem biografischen Film muss man erwarten, dass die Details stimmen, wenn die geschilderte Episode bedeutend ist. Filme, die eine umstrittene Version intimer Details aus dem Leben einer Person wie eine Tatsache verarbeiten und im Stile eines kolportagehaften Enthüllungsjournalismus zur gezielten Demontage verwenden, bewerte ich generell als abstoßend. 

Natürlich kann oder muss man Kontroverses und Umstrittenes thematisieren, auch wenn die Beweislage unklar ist. In einer Erzählung hat dies einfache Konsequenzen: Ich kann eine Dialogszene zeigen, in der X einer anderen Person erzählt, sie sei von Y sexuell bedrängt worden, ich kann aber auch eine Szene zeigen, in der dies geschieht und der Zuschauer es sehen kann. 
Das ist ein großer Unterschied, den man eigentlich nicht erläutern muss. Nur so viel: anders als in der Belletristik ist der Realitätsanschein eines Films nachhaltiger. Was man sieht, glaubt man. Propagandafilme jedweder Couleur haben sich dies zunutze gemacht, um massentauglich zu denunzieren oder zu diskreditieren. Häufig glaubt man, dass Propaganda leicht zu erkennen ist. Das ist nur dann der Fall, wenn sie plump agiert. Subtilere Exemplare sind nicht so leicht zu erkennen.

Im Falle von Alfred Hitchcock, dessen gelinde gesagt komplizierte Beziehungen zu seinen Darstellerinnen weitgehend bekannt sind, kommt noch etwas hinzu. Zwei Beispiele machen dies klar: Während man über Terrence Malick recht wenig
weiß und Steven Spielbergs Privatleben wenig Anlass gibt, Werk und psychologische Disposition des Filmemachers pausenlos zu untersuchen oder gar zu skandalisieren, ist es bei Alfred Hitchcock vermeintlich nicht so einfach. Wir haben es mit einem Filmemacher zu tun, der als Master of Suspense eine geheimnisvolle und gelegentlich zynische Figur gewesen ist, die sich mediengerecht und zu Werbezwecken auch mal gerne als Clown inszenierte, also viele Gesichter hatte, dabei sein Publikum raffiniert manipulierte und sich damit auch brüstete. 

Wir haben es aber auch mit einem Künstler zu tun, der über Dekaden die filmische Grammatik hinsichtlich Stil, Montage und Inszenierung vorangetrieben hat und dabei tief in die menschliche Seele blicken konnte. Hitchcock hat dabei präziser die dunklen Seiten sichtbar gemacht als andere Regisseure. Scheinbar legt dies nahe, Hitchcock als folgerichtigen Gegenstand psychoanalytischer Dekonstruktionen zu nutzen. 

Ich bezweifele nicht die Bedürfnisse derartiger Ansätze, auch Donald Spotos Buch The Dark Side of a Genius ist alles andere als Kolportage, sondern das Werk eines sehr gebildeten und kenntnisreichen Autor. Derartige Anamnesen können zweifellos Licht in die Entstehungsgeschichte von Filmen bringen, auch wenn Psychoanalyse nicht immer der Weisheit letzter Schluss ist (übrigens ein typisches Hitchcock-Thema).
Aber wenn das Ganze im Faktischen nicht glaubhaft recherchiert worden ist, werden solche Versuche schnell zum Rohrkrepierer. Im Folgenden werde ich daher beide Filme etwas genauer untersuchen und mit meiner alten, verstaubten Hitchcock-Literatur abgleichen. Für die erforderliche Länge des Textes entschuldige ich mich schon vorab bei meinen wenigen Lesern :-)




Die Liebe zum Kino ist für mich entscheidender als jede Moral (Alfred Hitchcock) – der Master of Suspense in Sacha Gervasis „Hitchcock“

1944: Ed Gein’s Farmhouse, Wisconsin.
Ed Gein (Michael Wincott) und sein Bruder Henry streiten sich. Henry will die Farm für einen neuen Job verlassen, aber Ed insistiert, dass ‚Mutter’ sie beide braucht. Dann erschlägt Gein seinen Bruder mit der Schaufel: es ist sein erster Mord. Der berühmte TV-Jingle aus „Alfred Hitchcock Presents“ erklingt. Abschwenk auf Hitch, der mit einer Tasse Tee in der Hand sichtlich angeregt zugeschaut hat und sarkastisch feststellt, dass eine weniger naive Polizei wohl die späteren Taten Geins verhindert hätte – nur wäre da ein kleines Problem: „We wouldn’t have our little movie, would we?“ 

Gleich zu Beginn wird die filmische Textur festgeschrieben: Sacha Gervasis Film geht locker mit Fiktion und Realität um, die morbiden Fantasien des Altmeisters werden flott visualisiert und mit etwas grobem Humor gewürzt. Klar: Dies wird kein Drama, sondern eine Komödie.

1959: Alfred Hitchcock hat mit dem Agententhriller North by Northwest (Der unsichtbare Dritte) einen Riesenerfolg. Auf einem Empfang wird er anzüglich gefragt, ob es nun, mit 60 Jahren, nicht an der Zeit wäre, zurückzutreten. Der Meister ist sichtbar schockiert und muss in der N.Y.T. zudem noch lesen, dass seine Nachfolger Gewehr bei Fuß stehen: Claude Chabrol, Jules Dassin, Henri-Georges Clouzot. 
Mit anderen Worten: Hitch braucht ein neues Projekt, aber er will weder Anne Franks Tagebuch verfilmen, auch nicht Casino Royale.
Vielmehr stürzt er sich auf Trash, also etwas, was man von einem Mann, der Grace Kelly vor der Kamera hatte, nun wirklich nicht erwartet: auf den Roman Psycho von Robert Bloch. Mit Ed Gein hat der Roman nichts zu tun, möglicherweise wurde Bloch durch Geins Morde angeregt. Aber Gervasi zeigt Hitch mit Blochs Roman in der Hand und visualisiert sogleich die Lektüre: in Hitchcocks Phantasie ist es nicht Norman Bates, sondern Ed Gein, der sich zu seiner mumifizierten Mutter ins Bett legt. Hier werden Puristen ein flaues Gefühl bekommen. Nicht zu Unrecht.

Was Hitchcock tatsächlich faszinierte, war die Vorstellung, mit seinem TV-Team ein besseres B-Picture zu produzieren als all die anderen, die B-Filme wie am Fließband produzierten – und dabei auch noch richtig Geld verdienten (wie es Roger Corman seit Mitte der 1950er vormachte). Aber Gervasi schreibt seiner Titelfigur etwas anderes zu: Hitch will zurück zur Freiheit des Experimentierens, die seine Frau Alma Reville und er ganz am Anfang der gemeinsamen Karriere erlebten. Und so muss Hitch nicht nur seine skeptische Frau überzeugen, es müssen natürlich auch die Erwartungen des Publikums durchkreuzt werden. Hitch malt sich bereits den Schock aus: Die Leading Lady stirbt bereits in der Mitte des Films, stellt er triumphierend fest. Alma kontert kühl: „Kill her after thirty minutes.“


Morbider Charme und diskrete Andeutungen

„Hitchcock“ hat von Anfang an einen Humor, der mal sardonisch, dann wieder sophisticated ist. Sacha Gervasi erzählt die Geschichte schnell, die Szenen wechseln rasch ab und werden häufig mit einer satten Pointe beendet. Ein wenig erinnert der Film dabei an die noch temporeicheren Screwball Comedys der 1930er.
Lebendig wird dabei jener Hitchcock, der mit subtilem Charme die schlimmsten Dinge schönreden und elegant servieren konnte, alles mit einer Mischung aus treffsicherer Boshaftigkeit und genauer Einschätzung der Zielgruppe. Wenn Hitch sich am Anfang und am Ende direkt an den Zuschauer wendet, dann wird klar: Bei Gervasi sieht man nicht nur dort den sich clever selbstinszenierenden ‚Hitch’ aus seinen TV-Shows.
 

Die entsprechenden Pointen werden sogleich serviert. Bei einer Projektvorstellung werden Fotos aus Ed Geins morbider ‚Sammlung’ gezeigt. Alle sind angeekelt. Nur Hitchcock ist in seinem Element: „But they can’t stop looking – can they?“
Später wird sich Hitch mit Joseph Stefano unterhalten, der das Script schreiben soll. Stefano berichtet von seinen täglichen Besuchen beim Psychiater. Was er denn so erzählt, will Hitchcock wissen. „Sex, Rage – my mother!“ Der Mann ist engagiert.
Auch Anthony Perkins (toll gespielt von James D’Arcy, Cloud Atlas) geht es nicht besser. Während des Castings gesteht Perkins, dass er eine enge Beziehung zu seiner Mutter hatte und sich schuld am Tod des Vaters fühlt: „I’ve been guilty my whole life.“ Hitchcock, zuvor noch distanziert, wendet Perkins den Kopf zu. Mehr nicht. Auch dieser Mann ist engagiert. Langweilig ist Gervasis Film auf keinen Fall und offen gestanden: man beginnt Anthony Hopkins als Hitchcock bald zu mögen.

Aber Paramount will den Film nicht finanzieren. Hitchcock beschließt, das Projekt selbst zu finanzieren und die Firma an den Einspielergebnissen zu beteiligen. Dies und andere Details sind allerdings nicht erst seit Rebellos Buch bekannt. Auch Spoto und Taylor haben dies ausführlich geschildert. Ebenso bekannt sind Hitchcocks Probleme mit dem Production Code und der Besuch beim Zensor Geoffrey Shurlock (Kurtwood Smith) wird zu einem listigen Duell. „No nudity“ in der Duschszene, fordert dieser, aber noch wichtiger: keine Toilette zeigen, geschweige denn den Spülvorgang. Hitchcock, der natürlich gerade diese Provokationen ausdrücklich will, setzt sich durch.
Trotzdem nehmen seine Zweifel zu und so sieht er sich in einem seiner (Tag-)träume beim Psychiater: Jahr für Jahr sitzt er in Preisverleihungs-Galas, so berichtet er, zusammen mit Leuten, für die er Millionen verdient hat, aber niemand sagt: „Sie sind gut!“ Abschwenk auf Ed Gein: „That must hurt!“ Hitch: „Deeply, Ed! Deeply!“ Gewisse Impulse würden ihn quälen und was er meint, zeigt ein Flashback: er sitzt an seinem Schreibtisch, vor ihm eine Galerie mit Fotos seiner blonden ‚Leading Ladies’. Leider ist nun aber dieses Plotelement kompletter Humbug, auch wenn es in der Pre-Title-Sequence noch einigermaßen witzig ist und Rebello in seinem Buch Ed Gein ein ganzes Kapitel gewidmet hat. Und fatalerweise erinnert das Ed Gein-Gespenst zudem noch an „Dexter“, in der die Titelfigur auch pausenlos mit einer ‚Erscheinung’ spricht, dem toten Vater, der Dexters Über-Ich sein will. Hitchcock als Seelenverwandter und Patient des geistig leicht behinderten Serienmörders Ed Gein – das ist kein schwarzer Humor, sondern leider abstrus.

Aber spätesten jetzt ist Gervasi beim eigentlichen Thema angekommen: Hitchcocks Obsessionen. Die dunkle Seite wird dezent angedeutet: Almas vielsagende Blicke, wenn Hitch mit ‚seiner’ Blondine spricht. Hitch, der heimlich durch ein Guckloch Vera Miles beim Ausziehen zusieht und dabei die entsprechende Szene in „Psycho“ imitiert. Und schließlich Vera Miles, die Hitckcocks neuen Star Janet Leigh vor dessen Kontrollsucht warnt und an „Vertigo“ erinnert : „You know that poor, tortured soul James Stewart played in Vertigo? That’s Hitch.“

Man ahnt es bereits: hier wird Psychoanlyse für Dummies praktiziert und gleichzeitig muss der Zuschauer doch schon etwas filmgeschichtliches Wissen ins Kino mitbringen, um alle Anspielungen des Films zu verstehen. Andererseits werden mögliche Lücken mit viel Charme überspielt und Anthony Hopkins macht als Alfred Hitchcock dabei eine gute Figur (obwohl oder gerade weil man den Schauspieler hinter der Maske absolut nicht erkennen kann). Das liegt aber nicht am Maskenbild, denn einen Hitchcock bekommt man auch mit Fat-Suit und viel Latex nicht hin. Hopkins spricht aber wie der Altmeister (ich empfehle nachdrücklich die Originalfassung), und es sind die Nuancen, seine Mimik, die Körpersprache, die Hitch lebendig machen. Und mehr noch: Hopkins spielt Hitch nicht als vitales obsessives Monster, sondern als einen Mann, den seine sublimierten erotischen Fantasien bereits selbst nicht mehr ertragen, geschweige denn genießen kann. Vielmehr spielt Hopkins einen Menschen, den die Gespenster peinigen und der schlicht und einfach erschöpft ist. Und das macht er richtig gut.


Alma rettet „Psycho“

Der eigentliche Star des Films ist aber Helen Mirren als Hitchcocks Frau Alma Reville. Das liegt besonders an Mirrens fabelhafter Darstellung einer ‚Frau im Schatten des Genies’. Allerdings war sie es, die diesen Schatten nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig mit großer Professionalität aufhellte. Reville war während ihrer eigenen Karriere in England Cutterin und Drehbuchautorin und bis Ende der 1930er Jahre aktiv und gelegentlich auch erfolgreicher als ihr Mann. Nachdem die Hitchcocks in die USA auswanderten, half sie ihrem Mann nicht nur bei der Drehbuchentwicklung, sondern auch während der Dreharbeiten, obwohl sie nur gelegentlich in den Credits auftauchte.

Dass Gervasi ihr in „Hitchcock“ eine Arbeitsbeziehung mit dem recht talentfreien Autor Whitfield Cook (Danny Huston) andichtet, wurde von einigen Kritikern nicht sehr begeistert aufgenommen. Dieser fiktive Kniff gibt der Figur aber eine eigene Dimension, nämlich die einer Frau, die alle Marotten des großen Hitchcock von A bis Z kennt, seine komplizierten Beziehung zu den blonden ‚Leading Ladies’ mit feinem Humor kommentiert und dabei doch eine Frau bleibt, die sich wünscht, als Frau begehrt zu werden – was Hitchcock bekanntlich physisch nicht mehr leisten konnte.
Trotzdem verfolgt Hitchcock das Fernbleiben seiner Frau mit zunehmender Eifersucht und die Szenen zwischen Hopkins und Mirren bieten eine der außergewöhnlichsten Beziehungsstudien, die man zuletzt im Kino sehen konnte. Wenn Alma ihrem Mann den Kopf wäscht, steht der große Hitch da wie ein kleiner Junge und bringt kein Wort hervor – das ist schon old-fashioned gespielt und richtig gutes Kino.

Gervasi hält das Niveau aber nicht durch – es kommt zur berühmten Duschszene. Tatsächlich wurde diese Szene mit einem Model gedreht, da Hitch es für unangebracht hielt, seinen Star nackt zu filmen, obwohl gerade dies in der fertigen Schnittfassung nicht zu sehen sein, aber natürlich suggeriert werden sollte. 
In „Hitchcock“ muss Scarlett Johansson selbst unter die Dusche und der Meister greift persönlich zum Messer, um zu zeigen, wie man so etwas ‚richtig’ macht. Aber wenn Hitchcock wütend das Messer führt und ausgiebig zusticht, dann tauchen unter der Dusche Cook und Alma auf, Geoffrey Shurlock, der Zensor, und Barney Balaban, der Chef von Paramount.
Das ist ärgerlich, das ist platt, hier springt der Zug aus den Gleisen. Genauso wie Hitchs Ed Gein-Fantasien und Almas keusche Romanze stimmt auch diese Szene faktisch nicht. Taylor schreibt in seiner Biografie: „...unter der Dusche das nackte schöne Mädchen, hoch darüber auf einer Plattform Hitch im dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, ein Inbegriff von Korrektheit und Gelassenheit. Jeder spürte: ein Alfred Hitchcock stellt sich nicht vor eine nackte Frau, für ihn war sie überhaupt nicht nackt, und damit basta.“ (2)

In „Hitchcock“ ist die Duschszene mit ihrem etwas platten Psychologismus allerdings der entscheidende Plot-Point, denn nun geht es bergab mit dem Meister. Hitch liegt krank und erschöpft im Bett und Alma muss einen kompletten Drehtag retten, indem sie höchstpersönlich die Regie übernimmt. Aber die Preview bei Paramount geht in die Hose und auch Ed Gein verabschiedet sich aus Hitch’ Phantasien. 

Wie schafft Gervasi den Turnaround? Mit der Rückkehr zur Komödie, dies allerdings mit Witz: Wieder ist es Alma, die sich neu versöhnt an die Arbeit begibt und mit Hitchcock den Final Cut auf den Prüfstand stellt.
Geradezu symbolisch für die Arbeitsbeziehung ist Almas Plädoyer für das Underscoring der Duschszene durch die geniale Musik Bernhard Herrmanns, die sich bis heute dem filmischen Kollektivgedächtnis unauslöschlich eingeprägt hat.

Und so kommt es dann auch folgerichtig zur Klimax, für die Gervasi eine verblüffend inspirierte Idee findet: Während in einem der beiden Erstaufführungskinos der Film läuft, tigert Hitch im Foyer auf und ab. Ein Blick in den Zuschauerraum kurz vor der Duschszene, dann zieht er sich diskret zurück. Als Herrmanns Musik einsetzt, dirigiert Hitch mit ausholenden Bewegungen, aber nicht die Musik, sondern die Entsetzensschreie des Publikums. Das ist gut geschnitten und noch besser gespielt.


Tragikomödie ohne Tragik

Sacha Gervasis Biopic ist trotz einiger Ungereimtheiten alles andere als ein Missgriff. Mit seinem Spielfilmdebüt hat der erfolgreiche britische Drehbuchautor stilistisch recht überzeugend die Entstehung von Alfred Hitchcocks „Psycho“ in eine Tragikomödie ohne echte Tragik verwandelt. Gervasi erzählt sattsam bekannte Details und anekdotisches Material aus der Entstehungsgeschichte jenes Films, den keiner wollte und der Hitchcock (und nolens volens auch das Studio) reich machte. Allein das macht „Hitchcock“ sehenswert. 
Set-Design, Dekors, Kostüme stimmen fabelhaft und auch die Studiohallen mit ihren aufwändigen Settings, den Kranaufhängungen und Rückprojektionen fangen die sich dem Ende zuneigende Phase der Studioproduktionen stimmungsvoll ein. 

Gervasis Film ist das sympathische Portrait eines Mannes, den Ängste und Verlustkomplexe bereits gequält haben, bevor er auf dem vorläufigen Höhepunkt des Erfolges angelangt war. Zu den weniger glücklichen Momenten des Films gehört allerdings die an den Haaren herbeigezogene Ed Gein-Figur und die verunglückte Duschszene. Aber die positiven Seiten überwiegen, denn „Hitchcock“ ist ein charmanter Film, er besitzt selbst ein wenig Hitchcock-Look.
 

Erfreulich ist auch, dass sich Gervasi nicht plakativ auf die Marotten des Genies konzentriert, sondern Hitchcocks Frau Alma ihren verdienten Platz in der Filmgeschichte gibt und sie als das zeigt, was sie war, nämlich eine kompetente und selbstbewusste Filmemacherin.
John Russell Taylor geht sogar weiter: Alma, so schrieb er vor über drei Dekaden in seiner immer noch lesenswerten Biografie, war womöglich die einzige Person, vor der Hitchcock tatsächlich Angst gehabt hat: „Nicht so sehr Angst ... als tiefe Besorgtheit um sie und ehrlichen Respekt vor ihren Reaktionen. Denn sie ist mit Sicherheit die einzige auf der Welt, die sich überhaupt nicht vor ihm fürchtet, die ihm frei heraus sagt, was sie von seiner Arbeit hält und die (...) eisern an ihren Überzeugungen festhält.“ (3)
 

Am Ende wendet sich Hitch wieder direkt an uns, sein Publikum: natürlich suche er nach einem neuen Projekt, aber wie üblich sei er wieder einmal völlig uninspiriert. 
Da lässt sich ein schwarzer Rabe auf seiner Schulter nieder. Und der wahre Hitchcock? Auch darauf hatte John Russell Taylor eine Antwort: „Für uns andere zählt nur sein Werk!“ 




(1) Millward, David (26 December 2012). "BBC under fire over Hitchcock drama". The Daily Telegraph (Telegraph Media Group). Retrieved 4 January 2013.
(2) John Russell Taylor: Hitchcock, 1980, S. 304
(2) Taylor, ebd. S. 365



Fortsetzung folgt: In Teil 2 geht es um "The Girl - Die Abrechnung mit einem Sex-Monster"