Donnerstag, 1. August 2013

„Hitchcock“ und „The Girl“ – zwei Biopics über Hitchcock und die Frauen, Teil 1

Hitchcock
USA 2012, R.: Sacha Gervasi, Laufzeit: 98 Minuten, FSK: ab 12 Jahren, Drehbuch: John J. McLaughlin (basierend auf Stephen Rebellos Buch Alfred Hitchcock And The Making Of Psycho (1990)), D.: Anthony Hopkins (Alfred Hitchcock), Helen Mirren (Alma Reville), Scarlett Johansson (Janet Leigh / „Marion Crane“), Jessica Biel (Vera Miles / „Lila Crane“), Toni Colette (Peggy Robertson), James D’Arcy (Anthony Perkins / „Norman Bates“), Michael Wincott (Ed Gein)

The Girl
BBC / HBO 2012, R.: Julian Jarrold, Buch: Gwyneth Hughes (basierend Donald Spotos Buch Spellbound by Beauty: Alfred Hitchcock and His Leading Ladies (2009)), Laufzeit: 109 Minuten, Altersfreigabe BBFC: ab 15 Jahren, D.: Toby Jones (Alfred Hitchcock), Sienna Miller (Tippi Hedren / „Melanie Daniels”), Penelope Wilton (Peggy Robertson), Imelda Staunton (Alma Reville), Carl Beukes (Jim Brown).

2012 wurde Alfred Hitchcocks Film „Vertigo“ von der britischen Zeitschrift „Sight & Sound“ zum besten Film aller Zeiten erkoren. Das American Film Institute (AFI) führt insgesamt vier Hitchcock-Filme in der Liste der 100 besten amerikanischen Filme an, was nur wenigen Regisseuren gelang. Nun liegen zwei Filme über Alfred Hitchcock vor, die sich mit der Entstehung von „Psycho“, „The Birds“ und „Marnie“ beschäftigen. „Hitchcock“ zeigt gelungen einen Filmemacher, der während der Dreharbeiten für „Psycho“ in seiner Phantasie mit dem Serienmörder Ed Gein parliert, aber im ganzen die Contenance bewahrt. Die britische TV-Produktion „The Girl“ führt den Master of Suspense dagegen als lüsternes Monster vor, das seine Hauptdarstellerin anfällt: Hitchcock filmisches Spätwerk wird aus Manien und sexuellen Obsessionen abgeleitet. Das hat der Altmeister nicht verdient.

„Hitchcock“ zu besprechen, ohne „The Girl“ zu erwähnen, ist unmöglich. Die BBC-HBO-Fassung schwebt wie ein Damokles-Schwert über dem Film, aber auch über der Person Alfred Hitchcock. Während Sacha Gervasis „Hitchcock“ trotz einiger Ungereimtheiten eine recht genaue Tragikomödie mit viel Charme ist, die sich erkennbar für die Arbeit Hitchcocks interessiert und im Drama immer wieder das Komödiantische durchscheinen lässt, ist „The Girl“ eine brutale Abrechnung. 
Julian Jarrolds Film macht dort weiter, wo Gervasi versöhnlich aufhört – aber er erzählt spekulativ die Geschichte des Niedergangs. Eine filmische Anti-These, die der (Selbst-)Zerstörung eines Genies beiwohnt, ohne sich dabei wirklich für Hitchcocks Filme zu interessieren.
In beiden Filmen geht es aber auch um die Frau an Hitchcocks Seite: Alma Reville. Gervasis Version zeigt Helen Mirren als kompetente Filmfrau, in „The Girl“ präsentiert sich Imelda Staunton als verhärmtes Muttchen, das mit einem besessenen Sex-Gnom zusammenleben muss. Welch ein Kontrast!


Zwei Bücher, zwei Filme, zwei Welten

Während Stephen Rebellos Buch Alfred Hitchcock And The Making Of Psycho keinen Skandal provozierte und als gut recherchierte Arbeit gilt, basiert „The Girl” auf Donald Spotos umstrittenem Buch Spellbound by Beauty: Alfred Hitchcock and His Leading Ladies. Dort wiederholt Spoto im Wesentlichen alte Vorwürfe aus seinem Buch The Dark Side of a Genius (1983): Hitchcock habe seine Hauptdarstellerin Tippi Hedren während der Drehs zu „The Birds“ und „Marnie“ wie besessen kontrolliert und gequält, dann sexuell bedrängt, anschließend erpresst und schließlich systematisch ihre Karriere zerstört. 
Dreißig Jahre später stützen sich Spotos Behauptungen auf aktuelle Aussagen der mittlerweile über 80-jährigen Tippi Hedren, die allerdings zu all dem mehr als fünfzig Jahre geschwiegen hat. Tatsächlich kann Hedren die Vorwürfe nicht beweisen und andere Hauptdarstellerinnen Hitchcocks haben vergleichbare Obsessionen nie bestätigt: „Hitchcock was a gentleman, he was funny, he was so attentive to me, with the character, and he cared about everything my character Eve Kendall wore. He had an eye for the specifics of the character", stellte die „Hitchcock-Blondine“ Eva-Marie Saint (North by Northwest) unlängst fest (1).

Es folgte besonders im britischen Blätterwald eine wütende Auseinandersetzung, in der sich bald die Fronten unversöhnlich gegenüberstanden. Fest steht aber, dass der von Hitchcock autorisierte Biograf John Russel Taylor bereits 1978 in Hitch. The Life and Work of Alfred Hitchcock davon berichtet, dass Hitchcock sich während der Dreharbeiten zu „The Birds“ in „einem ungewöhnlich erregten Gemütszustand“ (317) befand. Laut Taylor ereignete sich das Zerwürfnis zwischen Regisseur und seiner Darstellerin allerdings erst, als Hedren um ein freies Wochenende bat und Hitchcock dies verweigerte. Der Streit eskalierte und Hitchcock berichtete, so Taylor, anschließend empört: „Sie hat auf mein Gewicht angespielt“ (322). Belegt ist, dass Hitchcock und Tippi Hedren anschließend nur über Dritte miteinander kommunizierten. Merkwürdigerweise unterschlägt „The Girl“ dies. Die von Taylor geschilderte Episode wird im Film anders dargestellt und ist Auftakt einer Reihe von Nötigungsversuchen Hitchcocks, in denen der Regisseur von seinem Star unbedingte sexuelle Verfügbarkeit verlangt, und zwar auf unterschiedliche Art und Weise und zu beliebigen Zeiten.

Zu Biopics habe ich eine klare Position: künstlerische Freiheit ist wichtig, hat aber eine geringere Bedeutung als sorgfältige Recherche. Von einem biografischen Film muss man erwarten, dass die Details stimmen, wenn die geschilderte Episode bedeutend ist. Filme, die eine umstrittene Version intimer Details aus dem Leben einer Person wie eine Tatsache verarbeiten und im Stile eines kolportagehaften Enthüllungsjournalismus zur gezielten Demontage verwenden, bewerte ich generell als abstoßend. 

Natürlich kann oder muss man Kontroverses und Umstrittenes thematisieren, auch wenn die Beweislage unklar ist. In einer Erzählung hat dies einfache Konsequenzen: Ich kann eine Dialogszene zeigen, in der X einer anderen Person erzählt, sie sei von Y sexuell bedrängt worden, ich kann aber auch eine Szene zeigen, in der dies geschieht und der Zuschauer es sehen kann. 
Das ist ein großer Unterschied, den man eigentlich nicht erläutern muss. Nur so viel: anders als in der Belletristik ist der Realitätsanschein eines Films nachhaltiger. Was man sieht, glaubt man. Propagandafilme jedweder Couleur haben sich dies zunutze gemacht, um massentauglich zu denunzieren oder zu diskreditieren. Häufig glaubt man, dass Propaganda leicht zu erkennen ist. Das ist nur dann der Fall, wenn sie plump agiert. Subtilere Exemplare sind nicht so leicht zu erkennen.

Im Falle von Alfred Hitchcock, dessen gelinde gesagt komplizierte Beziehungen zu seinen Darstellerinnen weitgehend bekannt sind, kommt noch etwas hinzu. Zwei Beispiele machen dies klar: Während man über Terrence Malick recht wenig
weiß und Steven Spielbergs Privatleben wenig Anlass gibt, Werk und psychologische Disposition des Filmemachers pausenlos zu untersuchen oder gar zu skandalisieren, ist es bei Alfred Hitchcock vermeintlich nicht so einfach. Wir haben es mit einem Filmemacher zu tun, der als Master of Suspense eine geheimnisvolle und gelegentlich zynische Figur gewesen ist, die sich mediengerecht und zu Werbezwecken auch mal gerne als Clown inszenierte, also viele Gesichter hatte, dabei sein Publikum raffiniert manipulierte und sich damit auch brüstete. 

Wir haben es aber auch mit einem Künstler zu tun, der über Dekaden die filmische Grammatik hinsichtlich Stil, Montage und Inszenierung vorangetrieben hat und dabei tief in die menschliche Seele blicken konnte. Hitchcock hat dabei präziser die dunklen Seiten sichtbar gemacht als andere Regisseure. Scheinbar legt dies nahe, Hitchcock als folgerichtigen Gegenstand psychoanalytischer Dekonstruktionen zu nutzen. 

Ich bezweifele nicht die Bedürfnisse derartiger Ansätze, auch Donald Spotos Buch The Dark Side of a Genius ist alles andere als Kolportage, sondern das Werk eines sehr gebildeten und kenntnisreichen Autor. Derartige Anamnesen können zweifellos Licht in die Entstehungsgeschichte von Filmen bringen, auch wenn Psychoanalyse nicht immer der Weisheit letzter Schluss ist (übrigens ein typisches Hitchcock-Thema).
Aber wenn das Ganze im Faktischen nicht glaubhaft recherchiert worden ist, werden solche Versuche schnell zum Rohrkrepierer. Im Folgenden werde ich daher beide Filme etwas genauer untersuchen und mit meiner alten, verstaubten Hitchcock-Literatur abgleichen. Für die erforderliche Länge des Textes entschuldige ich mich schon vorab bei meinen wenigen Lesern :-)




Die Liebe zum Kino ist für mich entscheidender als jede Moral (Alfred Hitchcock) – der Master of Suspense in Sacha Gervasis „Hitchcock“

1944: Ed Gein’s Farmhouse, Wisconsin.
Ed Gein (Michael Wincott) und sein Bruder Henry streiten sich. Henry will die Farm für einen neuen Job verlassen, aber Ed insistiert, dass ‚Mutter’ sie beide braucht. Dann erschlägt Gein seinen Bruder mit der Schaufel: es ist sein erster Mord. Der berühmte TV-Jingle aus „Alfred Hitchcock Presents“ erklingt. Abschwenk auf Hitch, der mit einer Tasse Tee in der Hand sichtlich angeregt zugeschaut hat und sarkastisch feststellt, dass eine weniger naive Polizei wohl die späteren Taten Geins verhindert hätte – nur wäre da ein kleines Problem: „We wouldn’t have our little movie, would we?“ 

Gleich zu Beginn wird die filmische Textur festgeschrieben: Sacha Gervasis Film geht locker mit Fiktion und Realität um, die morbiden Fantasien des Altmeisters werden flott visualisiert und mit etwas grobem Humor gewürzt. Klar: Dies wird kein Drama, sondern eine Komödie.

1959: Alfred Hitchcock hat mit dem Agententhriller North by Northwest (Der unsichtbare Dritte) einen Riesenerfolg. Auf einem Empfang wird er anzüglich gefragt, ob es nun, mit 60 Jahren, nicht an der Zeit wäre, zurückzutreten. Der Meister ist sichtbar schockiert und muss in der N.Y.T. zudem noch lesen, dass seine Nachfolger Gewehr bei Fuß stehen: Claude Chabrol, Jules Dassin, Henri-Georges Clouzot. 
Mit anderen Worten: Hitch braucht ein neues Projekt, aber er will weder Anne Franks Tagebuch verfilmen, auch nicht Casino Royale.
Vielmehr stürzt er sich auf Trash, also etwas, was man von einem Mann, der Grace Kelly vor der Kamera hatte, nun wirklich nicht erwartet: auf den Roman Psycho von Robert Bloch. Mit Ed Gein hat der Roman nichts zu tun, möglicherweise wurde Bloch durch Geins Morde angeregt. Aber Gervasi zeigt Hitch mit Blochs Roman in der Hand und visualisiert sogleich die Lektüre: in Hitchcocks Phantasie ist es nicht Norman Bates, sondern Ed Gein, der sich zu seiner mumifizierten Mutter ins Bett legt. Hier werden Puristen ein flaues Gefühl bekommen. Nicht zu Unrecht.

Was Hitchcock tatsächlich faszinierte, war die Vorstellung, mit seinem TV-Team ein besseres B-Picture zu produzieren als all die anderen, die B-Filme wie am Fließband produzierten – und dabei auch noch richtig Geld verdienten (wie es Roger Corman seit Mitte der 1950er vormachte). Aber Gervasi schreibt seiner Titelfigur etwas anderes zu: Hitch will zurück zur Freiheit des Experimentierens, die seine Frau Alma Reville und er ganz am Anfang der gemeinsamen Karriere erlebten. Und so muss Hitch nicht nur seine skeptische Frau überzeugen, es müssen natürlich auch die Erwartungen des Publikums durchkreuzt werden. Hitch malt sich bereits den Schock aus: Die Leading Lady stirbt bereits in der Mitte des Films, stellt er triumphierend fest. Alma kontert kühl: „Kill her after thirty minutes.“


Morbider Charme und diskrete Andeutungen

„Hitchcock“ hat von Anfang an einen Humor, der mal sardonisch, dann wieder sophisticated ist. Sacha Gervasi erzählt die Geschichte schnell, die Szenen wechseln rasch ab und werden häufig mit einer satten Pointe beendet. Ein wenig erinnert der Film dabei an die noch temporeicheren Screwball Comedys der 1930er.
Lebendig wird dabei jener Hitchcock, der mit subtilem Charme die schlimmsten Dinge schönreden und elegant servieren konnte, alles mit einer Mischung aus treffsicherer Boshaftigkeit und genauer Einschätzung der Zielgruppe. Wenn Hitch sich am Anfang und am Ende direkt an den Zuschauer wendet, dann wird klar: Bei Gervasi sieht man nicht nur dort den sich clever selbstinszenierenden ‚Hitch’ aus seinen TV-Shows.
 

Die entsprechenden Pointen werden sogleich serviert. Bei einer Projektvorstellung werden Fotos aus Ed Geins morbider ‚Sammlung’ gezeigt. Alle sind angeekelt. Nur Hitchcock ist in seinem Element: „But they can’t stop looking – can they?“
Später wird sich Hitch mit Joseph Stefano unterhalten, der das Script schreiben soll. Stefano berichtet von seinen täglichen Besuchen beim Psychiater. Was er denn so erzählt, will Hitchcock wissen. „Sex, Rage – my mother!“ Der Mann ist engagiert.
Auch Anthony Perkins (toll gespielt von James D’Arcy, Cloud Atlas) geht es nicht besser. Während des Castings gesteht Perkins, dass er eine enge Beziehung zu seiner Mutter hatte und sich schuld am Tod des Vaters fühlt: „I’ve been guilty my whole life.“ Hitchcock, zuvor noch distanziert, wendet Perkins den Kopf zu. Mehr nicht. Auch dieser Mann ist engagiert. Langweilig ist Gervasis Film auf keinen Fall und offen gestanden: man beginnt Anthony Hopkins als Hitchcock bald zu mögen.

Aber Paramount will den Film nicht finanzieren. Hitchcock beschließt, das Projekt selbst zu finanzieren und die Firma an den Einspielergebnissen zu beteiligen. Dies und andere Details sind allerdings nicht erst seit Rebellos Buch bekannt. Auch Spoto und Taylor haben dies ausführlich geschildert. Ebenso bekannt sind Hitchcocks Probleme mit dem Production Code und der Besuch beim Zensor Geoffrey Shurlock (Kurtwood Smith) wird zu einem listigen Duell. „No nudity“ in der Duschszene, fordert dieser, aber noch wichtiger: keine Toilette zeigen, geschweige denn den Spülvorgang. Hitchcock, der natürlich gerade diese Provokationen ausdrücklich will, setzt sich durch.
Trotzdem nehmen seine Zweifel zu und so sieht er sich in einem seiner (Tag-)träume beim Psychiater: Jahr für Jahr sitzt er in Preisverleihungs-Galas, so berichtet er, zusammen mit Leuten, für die er Millionen verdient hat, aber niemand sagt: „Sie sind gut!“ Abschwenk auf Ed Gein: „That must hurt!“ Hitch: „Deeply, Ed! Deeply!“ Gewisse Impulse würden ihn quälen und was er meint, zeigt ein Flashback: er sitzt an seinem Schreibtisch, vor ihm eine Galerie mit Fotos seiner blonden ‚Leading Ladies’. Leider ist nun aber dieses Plotelement kompletter Humbug, auch wenn es in der Pre-Title-Sequence noch einigermaßen witzig ist und Rebello in seinem Buch Ed Gein ein ganzes Kapitel gewidmet hat. Und fatalerweise erinnert das Ed Gein-Gespenst zudem noch an „Dexter“, in der die Titelfigur auch pausenlos mit einer ‚Erscheinung’ spricht, dem toten Vater, der Dexters Über-Ich sein will. Hitchcock als Seelenverwandter und Patient des geistig leicht behinderten Serienmörders Ed Gein – das ist kein schwarzer Humor, sondern leider abstrus.

Aber spätesten jetzt ist Gervasi beim eigentlichen Thema angekommen: Hitchcocks Obsessionen. Die dunkle Seite wird dezent angedeutet: Almas vielsagende Blicke, wenn Hitch mit ‚seiner’ Blondine spricht. Hitch, der heimlich durch ein Guckloch Vera Miles beim Ausziehen zusieht und dabei die entsprechende Szene in „Psycho“ imitiert. Und schließlich Vera Miles, die Hitckcocks neuen Star Janet Leigh vor dessen Kontrollsucht warnt und an „Vertigo“ erinnert : „You know that poor, tortured soul James Stewart played in Vertigo? That’s Hitch.“

Man ahnt es bereits: hier wird Psychoanlyse für Dummies praktiziert und gleichzeitig muss der Zuschauer doch schon etwas filmgeschichtliches Wissen ins Kino mitbringen, um alle Anspielungen des Films zu verstehen. Andererseits werden mögliche Lücken mit viel Charme überspielt und Anthony Hopkins macht als Alfred Hitchcock dabei eine gute Figur (obwohl oder gerade weil man den Schauspieler hinter der Maske absolut nicht erkennen kann). Das liegt aber nicht am Maskenbild, denn einen Hitchcock bekommt man auch mit Fat-Suit und viel Latex nicht hin. Hopkins spricht aber wie der Altmeister (ich empfehle nachdrücklich die Originalfassung), und es sind die Nuancen, seine Mimik, die Körpersprache, die Hitch lebendig machen. Und mehr noch: Hopkins spielt Hitch nicht als vitales obsessives Monster, sondern als einen Mann, den seine sublimierten erotischen Fantasien bereits selbst nicht mehr ertragen, geschweige denn genießen kann. Vielmehr spielt Hopkins einen Menschen, den die Gespenster peinigen und der schlicht und einfach erschöpft ist. Und das macht er richtig gut.


Alma rettet „Psycho“

Der eigentliche Star des Films ist aber Helen Mirren als Hitchcocks Frau Alma Reville. Das liegt besonders an Mirrens fabelhafter Darstellung einer ‚Frau im Schatten des Genies’. Allerdings war sie es, die diesen Schatten nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig mit großer Professionalität aufhellte. Reville war während ihrer eigenen Karriere in England Cutterin und Drehbuchautorin und bis Ende der 1930er Jahre aktiv und gelegentlich auch erfolgreicher als ihr Mann. Nachdem die Hitchcocks in die USA auswanderten, half sie ihrem Mann nicht nur bei der Drehbuchentwicklung, sondern auch während der Dreharbeiten, obwohl sie nur gelegentlich in den Credits auftauchte.

Dass Gervasi ihr in „Hitchcock“ eine Arbeitsbeziehung mit dem recht talentfreien Autor Whitfield Cook (Danny Huston) andichtet, wurde von einigen Kritikern nicht sehr begeistert aufgenommen. Dieser fiktive Kniff gibt der Figur aber eine eigene Dimension, nämlich die einer Frau, die alle Marotten des großen Hitchcock von A bis Z kennt, seine komplizierten Beziehung zu den blonden ‚Leading Ladies’ mit feinem Humor kommentiert und dabei doch eine Frau bleibt, die sich wünscht, als Frau begehrt zu werden – was Hitchcock bekanntlich physisch nicht mehr leisten konnte.
Trotzdem verfolgt Hitchcock das Fernbleiben seiner Frau mit zunehmender Eifersucht und die Szenen zwischen Hopkins und Mirren bieten eine der außergewöhnlichsten Beziehungsstudien, die man zuletzt im Kino sehen konnte. Wenn Alma ihrem Mann den Kopf wäscht, steht der große Hitch da wie ein kleiner Junge und bringt kein Wort hervor – das ist schon old-fashioned gespielt und richtig gutes Kino.

Gervasi hält das Niveau aber nicht durch – es kommt zur berühmten Duschszene. Tatsächlich wurde diese Szene mit einem Model gedreht, da Hitch es für unangebracht hielt, seinen Star nackt zu filmen, obwohl gerade dies in der fertigen Schnittfassung nicht zu sehen sein, aber natürlich suggeriert werden sollte. 
In „Hitchcock“ muss Scarlett Johansson selbst unter die Dusche und der Meister greift persönlich zum Messer, um zu zeigen, wie man so etwas ‚richtig’ macht. Aber wenn Hitchcock wütend das Messer führt und ausgiebig zusticht, dann tauchen unter der Dusche Cook und Alma auf, Geoffrey Shurlock, der Zensor, und Barney Balaban, der Chef von Paramount.
Das ist ärgerlich, das ist platt, hier springt der Zug aus den Gleisen. Genauso wie Hitchs Ed Gein-Fantasien und Almas keusche Romanze stimmt auch diese Szene faktisch nicht. Taylor schreibt in seiner Biografie: „...unter der Dusche das nackte schöne Mädchen, hoch darüber auf einer Plattform Hitch im dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, ein Inbegriff von Korrektheit und Gelassenheit. Jeder spürte: ein Alfred Hitchcock stellt sich nicht vor eine nackte Frau, für ihn war sie überhaupt nicht nackt, und damit basta.“ (2)

In „Hitchcock“ ist die Duschszene mit ihrem etwas platten Psychologismus allerdings der entscheidende Plot-Point, denn nun geht es bergab mit dem Meister. Hitch liegt krank und erschöpft im Bett und Alma muss einen kompletten Drehtag retten, indem sie höchstpersönlich die Regie übernimmt. Aber die Preview bei Paramount geht in die Hose und auch Ed Gein verabschiedet sich aus Hitch’ Phantasien. 

Wie schafft Gervasi den Turnaround? Mit der Rückkehr zur Komödie, dies allerdings mit Witz: Wieder ist es Alma, die sich neu versöhnt an die Arbeit begibt und mit Hitchcock den Final Cut auf den Prüfstand stellt.
Geradezu symbolisch für die Arbeitsbeziehung ist Almas Plädoyer für das Underscoring der Duschszene durch die geniale Musik Bernhard Herrmanns, die sich bis heute dem filmischen Kollektivgedächtnis unauslöschlich eingeprägt hat.

Und so kommt es dann auch folgerichtig zur Klimax, für die Gervasi eine verblüffend inspirierte Idee findet: Während in einem der beiden Erstaufführungskinos der Film läuft, tigert Hitch im Foyer auf und ab. Ein Blick in den Zuschauerraum kurz vor der Duschszene, dann zieht er sich diskret zurück. Als Herrmanns Musik einsetzt, dirigiert Hitch mit ausholenden Bewegungen, aber nicht die Musik, sondern die Entsetzensschreie des Publikums. Das ist gut geschnitten und noch besser gespielt.


Tragikomödie ohne Tragik

Sacha Gervasis Biopic ist trotz einiger Ungereimtheiten alles andere als ein Missgriff. Mit seinem Spielfilmdebüt hat der erfolgreiche britische Drehbuchautor stilistisch recht überzeugend die Entstehung von Alfred Hitchcocks „Psycho“ in eine Tragikomödie ohne echte Tragik verwandelt. Gervasi erzählt sattsam bekannte Details und anekdotisches Material aus der Entstehungsgeschichte jenes Films, den keiner wollte und der Hitchcock (und nolens volens auch das Studio) reich machte. Allein das macht „Hitchcock“ sehenswert. 
Set-Design, Dekors, Kostüme stimmen fabelhaft und auch die Studiohallen mit ihren aufwändigen Settings, den Kranaufhängungen und Rückprojektionen fangen die sich dem Ende zuneigende Phase der Studioproduktionen stimmungsvoll ein. 

Gervasis Film ist das sympathische Portrait eines Mannes, den Ängste und Verlustkomplexe bereits gequält haben, bevor er auf dem vorläufigen Höhepunkt des Erfolges angelangt war. Zu den weniger glücklichen Momenten des Films gehört allerdings die an den Haaren herbeigezogene Ed Gein-Figur und die verunglückte Duschszene. Aber die positiven Seiten überwiegen, denn „Hitchcock“ ist ein charmanter Film, er besitzt selbst ein wenig Hitchcock-Look.
 

Erfreulich ist auch, dass sich Gervasi nicht plakativ auf die Marotten des Genies konzentriert, sondern Hitchcocks Frau Alma ihren verdienten Platz in der Filmgeschichte gibt und sie als das zeigt, was sie war, nämlich eine kompetente und selbstbewusste Filmemacherin.
John Russell Taylor geht sogar weiter: Alma, so schrieb er vor über drei Dekaden in seiner immer noch lesenswerten Biografie, war womöglich die einzige Person, vor der Hitchcock tatsächlich Angst gehabt hat: „Nicht so sehr Angst ... als tiefe Besorgtheit um sie und ehrlichen Respekt vor ihren Reaktionen. Denn sie ist mit Sicherheit die einzige auf der Welt, die sich überhaupt nicht vor ihm fürchtet, die ihm frei heraus sagt, was sie von seiner Arbeit hält und die (...) eisern an ihren Überzeugungen festhält.“ (3)
 

Am Ende wendet sich Hitch wieder direkt an uns, sein Publikum: natürlich suche er nach einem neuen Projekt, aber wie üblich sei er wieder einmal völlig uninspiriert. 
Da lässt sich ein schwarzer Rabe auf seiner Schulter nieder. Und der wahre Hitchcock? Auch darauf hatte John Russell Taylor eine Antwort: „Für uns andere zählt nur sein Werk!“ 




(1) Millward, David (26 December 2012). "BBC under fire over Hitchcock drama". The Daily Telegraph (Telegraph Media Group). Retrieved 4 January 2013.
(2) John Russell Taylor: Hitchcock, 1980, S. 304
(2) Taylor, ebd. S. 365



Fortsetzung folgt: In Teil 2 geht es um "The Girl - Die Abrechnung mit einem Sex-Monster"