Sonntag, 4. August 2013

"Hitchcock" und "The Girl" - zwei Biopics über Hitchcock und die Frauen, Teil 2

Der zweite Teil dieses Beitrags beschäftigt sich Julian Jarrolds „The Girl“, einem weiteren Biopic über den Master of Suspense. Der Film schildert die Entstehung von „The Birds“ und „Marnie“ und behauptet, dass Alfred Hitchcock seine Darstellerin Tippi Hedren zu sexuellen Gefälligkeiten erpressen wollte. Der Film basiert auf dem Buch „Spellbound by Beauty“ von Donald Spoto.

„The Girl“ – Die Abrechnung mit einem sadistischen Sex-Monster


Blondes make the best victims. They’re like virgin snow that shows up the bloody fingerprints (Alfred Hitchcock)

Ist dies der Wahlspruch eines Frauenhassers oder ein typisches Beispiel für Hitchcocks Humor? Jedenfalls leitet ein Textinsert den Film ein, dazwischen wird auf große weibliche Augen geschnitten, dann auf Hitchcock mit Küchenschürze im Garten, Vögel krächzen.
Später steht Hitchcock mit seiner Frau in der Küche: in einem TV-Spot sieht Alma plötzlich Tippi Hedren, die ihr auf Anhieb gefällt. „I like her smile.“ Musik blendet auf: „I’ve told every little star“, ein erfolgreicher Pop-Song, wir schreiben das Jahr 1961, das Jahr nach „Psycho“: die Credits beginnen.

Scriptwriter Evan Hunter aka Ed McBain spricht mit Hitchcock über das Drehbuch. Hitch ist nicht begeistert: wer bezahlt uns, fragt er Hunter: „The studios.“ Hitch: „The Audience. They want glamour!“
Der Glamour, den der Regisseur meint, erscheint in Gestalt von Tippi Hedren in Hitchcocks Büro. Peggy bittet sie herein, leise flüstert sie zu Hunter: „Right now every blonde in town can get a lunch.“
Hitch empfängt Tippi Hedren mit ausgesuchter Höflichkeit: Man bringe ihm viele Frau, „but few are chosen“. Später erzählt er seinem neuen Star einen seiner berüchtigten Limericks: „There was a young lady of Trent. Who said she knew what it meant. When he asked her to dine. Private rooms, lots of wine – she knew, oh, she knew, bust she went.“

Die einleitenden Szenen in „The Girl“ bauen eine suggestive Stimmung auf, die den ganzen Film beherrschen wird. Machtverhältnisse werden sondiert und Grenzen ausgelotet, nicht nur zwischen Autor und Regisseur, sondern auch zwischen dem Regisseur und seinem neuen Star. Toby Jones spielt von Beginn an Hitchcock als einen Mann, den nicht sein berühmter schwarzer Humor auszeichnet, sondern eine blasierte arrogante Herablassung. Einen mächtigen Filmemacher, der sein nächstes Opfer mit unverhohlener Gehässigkeit abschätzt: Hitchcock, der Frauenhasser und Blondinen-Fetischist, über den auch seine langjährige Sekretärin und Vertraute Peggy Robertson nur noch schale Witze machen kann. Ihrer Mutter berichtet Tippi nach der Rückkehr allerdings: „Mr. Hitchcock was a perfekt English Gentleman.“


“As is well known, I have no sense of humor whatsoever” (Alfred Hitchcock in „The Girl“)

„The Girl“ erzeugt in der ersten Viertelstunde bad taste. Der schlechte Geschmack rührt weniger von der Performance des Hitchcock-Darstellers Toby Jones her, der beängstigend gut umsetzt, was das Script verlangt. Es sind die kleinen beiläufigen Szenen mit Hitchcocks Mitarbeitern, die treffsicher eingebaut werden, um zu signalisieren, dass wir es mit einem Mann zu tun haben, dem man nicht über Weg trauen darf. Mit gezielten Verweisen zeigt Julian Jarrold Alfred Hitchcock als introvertierten humorlosen Mann, dessen Zwanghaftigkeit und Obszönität sich hinter einer Maske aus Höflichkeit verbirgt. Und Sienna Miller spielt Tippi Hedren von Beginn an als kluge, selbstbewusste Frau und Mutter, die den fetten Resisseur und seine misogynen Limericks charmant auf Distanz hält: „Heartbreak guaranteed“, zitiert sie Hitch schlagfertig. 
The Beauty an the Beast.

„The Girl“ erzählt diese bekannte Skandalgeschichte keineswegs übel. Vieles an dem Film stimmt: die Avancen, die Hitchcock seinen Stars gemacht hat, sind bekannt, ebenso die außergewöhnliche Behandlung, die Tippi Hedren während der Produktionsvorbereitungen erfahren hat. Das Model ohne Filmerfahrung wurde in jeden Produktionsschritt eingeweiht, was keiner Hitchcock-Heroine zuteil wurde. Noch Jahre später wird Hedren davon berichten, dass sie als Novizin eine komplette professionelle Filmausbildung bekommen hat, für die andere Jahre benötigen. Auch das berüchtigte Controlling des Altmeister lässt „The Girl“ nicht aus: Hitchcock stellt seinem Star einen luxuriös ausgestatteten Trailer bereit, sorgt für die Garderobe, bestimmt die Farbe des Lippenstifts und das Make-up. Anders gesagt: Hitchcock will um jeden Preis einen Star aufbauen, der nicht nur vor der Kamera das tut, was er sagt.
„Senken Sie ihre Stimme“, befiehlt er Tippi bei einer privaten Textprobe und tatsächlich ist sie danach besser, charismatischer. Aber Hitchcock ist nicht nur fasziniert, er will Tippi auch in eine Intimität hineinziehen, der sie sich zunächst höflich, dann entschlossen widersetzt. Ein gemeinsamer Drink wird zu einer Verbrüderungsszene, in der er schmachtend „For Alfie and Tippi” flüstert und die Arme mit ihr kreuzt, auch als Alma hinzutritt. „To Alma und Alfie“, erwidert Hedren.

Ein dreckiger Limerick, den der Regisseur unvermittelt auf der Heimfahrt vom Set erzählt, testet weitere Grenzen aus, ehe es gegen Ende der ersten halben Stunde zu jener Szene kommt, die sich allein Donald Spotos Recherchen und den Gesprächen mit Tippi Hedren verdankt: Hitchcock wirft sich im Auto auf die Darstellerin und küsst sie. Die Schauspielerin muss Gewalt anwenden, um sich von dem massigen Körper zu befreien und fällt geschunden aus dem Wagen. Hier zeichnet Julian Jarrold exakt nach, was in Spotos Buch
Spellbound by Beauty" beschreiben wird, nämlich dass Hitchcock erst dann seine Darstellerin gewaltsam umarmte, als er gesehen hatte, dass beide vom Produktionsteam beobachtet werden: er will allen eine romantische Beziehung zu seinem Star vorgaukeln. Dumm gelaufen: Der Star widersetzt sich undankbar.

„I mean, he did a lot of really weird things, but this was not intentional“ (Tippi Hedren, 1999)


Die direkten Konsequenzen, die Jarrold in „The Girl“ vorführt, sind zwei kontroverse Szenen während der Dreharbeiten zu „The Birds“. Zum einen die ‚Telefonzellen-Szene’, in der Hitchcock einen mechanischen Vogel mit hoher Geschwindigkeit auf die Telefonzelle prallen lässt. Die Szene missglückt, die Scheibe birst und Hedren wird verletzt. 

Dann folgt die berüchtigte Szene, in der „Melanie Daniels“ (Tippi Hedren) auf den Dachboden (attic scene) geht und von Möwen und anderen Vögeln attackiert wird. Auch hier sorgt Jarrold für eine direkte Verknüpfung zwischen den immer offener zu Tage tretenden Obsessionen Hitchcocks und der Gestaltung der Szene, in der – wie bekannt – Tippi Hedren tagelang die Takes wiederholen musste, um immer wieder von den Assistenten mit Vögeln beworfen zu werden. In „The Girls“ schneidet Jarrold immer wieder auf Hitchcock, der mit maskenhaftem Gesicht dem Treiben vor der Kamera zuschaut, am Ende scheinbar selbst erschöpft ist, „Cut“ ruft und Tippi Hedren nach ihrem physischen und psychischen Zusammenbruch mit dem Drehbuch für den nächsten Film „Marnie“
belohnt’.

Beide Szenen sind deshalb kontrovers, weil ich in meinem Recherchen nichts über die ‚Telefonzellen-Szene’ finden konnte. Die ‚Attic Scene’ ist wiederum sogar von Donald Spoto anders beschrieben worden: In „Spellbound by Beauty“ erzählt er, dass Hitchcock sich in seinem Trailer aufhielt und nur erschien, um ‚Action’ oder ‚Cut’ zu befehlen. Hedren fühlt sich bis heute allerdings gezielt von ihrem Regisseur belogen, eine Aussage, die Spoto in „The Dark Side of Genius“ (1983) nicht erwähnte – dort hat man bei der Lektüre eher den Eindruck, dass der Verzicht auf mechanische Vögel tatsächlich unumgänglich war und Hitchcock (wie auch bei Taylor beschrieben) extrem nervös war und gespürt haben muss, dass diese Torturen über das übliche Belastungsmaß weit hinausgingen.


Der Anfang vom Ende: „Marnie“

Die Dreharbeiten zu „Marnie“ (1964) werden von Donald Spoto als das Ende von Hitchcocks Kunst markiert. Filmhistorisch kann man das auch anders sehen, denn die Zeit der großen Studios ging langsam zu Ende und die Art, wie Hitchcock Szenen inszenierte, war zwar noch nicht outdated, aber es wurde deutlich, dass jüngere Filmemacher on location drehen wollten und nicht im Studio mit altmodischen Rückprojektionen (was dann auch in „Torn Curtain“ kaum noch überzeugte). Außerdem war „Marnie“ der letzte Film, für den Bernhard Herrmann die Musik schrieb, den Robert Burks fotografierte und den George Tomasini schnitt. Das vertraute Hitchcock-Team löste sich auf.

Die Story von „Marnie“ ist bekannt. Tippi Hedren spielt eine frigide Kleptomanin, die von einem Mann (Sean Connery) zur Heirat gezwungen und in der Hochzeitsnacht vergewaltigt wird – die psychoanalytisch angehauchte Bewältigung ihres Traumas wirkte etwas altbacken, aber nicht die Beziehung eines Fetischisten zu einer Frau mit einer veritablen Persönlichkeitsstörung. Hier war Hitchcock in seinem Element.

In „The Girl“ wird allerdings schnell klar, dass Julian Jarrold und sein Drehbuchautor Gwyneth Hughes zeigen wollen, dass Hitchcock in einer Art von Übertragung die Figur des Mark Rutland (Sean Connery) auf sich selbst projiziert, während er mit den traumatischen Aspekte der Marnie-Figur seine Darstellerin Tippi Hedren manipulieren will. 
In einer Script-Besprechung erklärt Evan Hunter: „And Marnie can’t let any man near her. It’s because of a childhood trauma.“ Hitchcock: „Frigid, you see.“ Hedren: „No, just scared, surely!“ Beide blicken sich lange an.

Cut. Alma fragt Hitchcock: „But she gets rescued by the love of a good man, right? Just, just guessing.“ In der Küche dann zu Peggy: „Surely to God she hasn’t let the old fool anywhere near her.“ Peggy: What ever he throws at her, however he provokes her – she makes him feel he can’t hurt her.“

„The Girl“ lässt auch bei der Darstellung einer Textprobe zur Vergewaltigungsszene keinen Zweifel daran, dass Hitchcock die Übertragungsstrategie fortsetzt und immer dann, wenn er von Marnie spricht, die reale Tippi Hedren gemeint ist, jene ‚gefühllose’ Frau, die seine Anträge abgewehrt hat.

Im letzten Drittel schwächelt „The Girl“ dann zunehmend. Jarrold arbeitet in einem fast hektischen Staccato einige Kurzszenen ab, die weitere Anekdoten und biografische Details wie ein Uhrwerk abarbeiten. Einige Beispiele: Hitchcock erklärt im Auto Evan Hunter, der diese Szene anders geschrieben hat: „When he sticks it in her, I want that camera right on her face.“
Später am Set, Hitchcock folgt seiner Darstellerin auf einen anderen Set. Hitch: „Touch me. No one can see us.“
Cut. Alma begegnet Tippi: „I just wanted to say I’m sorry you’re having to go through this.“ Auf Tippis Erwiderung, sie könne dies alles mit einem Wort beenden, schweigt Hitchcocks Frau und geht davon.
Schließlich gesteht der stark angetrunkene Hitchcock seinem Asisstant Direcor Jim Brown (Carl Beukes spielt diese wichtige und ambivalente Rolle übrigens grandios in seinem Schwanken zwischen Loyalität zu Hitchcock und Empathie für dessen Star), dass die einzige Frau, mit der Sex hatte, Alma gewesen ist: „Can’t get it up now.“ Brown: „Impotent.“ 

Später erzählt Hitchcock Jim Brown, dass er alles aufgeben würde, sein Geld, seine Filme, nur um physisch so attraktiv sein zu können wie sein Brown: Hitchcock, der sich selber als „Walrus dressed like a man“ skizziert hat, verwandelt sich langsam in einen Besessenen, der völlig die Kontrolle über sich verliert.

Alles steuert auf den ultimativen Akt der Grenzüberschreitung hin: Die legendäre Vergewaltigungsszene. Rutland, um daran zu erinnern, hat Marnie klar gemacht, dass sie ihm gehört und die Hochzeitsnacht gerät zu einer Mischung aus Machtausübung und der illusionären Absicht, die ‚Kranke’ mit gewaltsamem Sex zu kurieren. Hier erreicht auch „The Girl“ in seinem nun fast schon didaktischen Gestus seinen Höhepunkt, denn so wie die Szene von Jarrold montiert wieder, nämlich immer wieder mit Schnitten auf Hitch, der befriedigt und bedrohlich zuschaut, suggeriert sie, dass der Prozess der Übertragung beinahe abgeschlossen ist. Hitch selber muss nur noch das Rutland-Szenario in realita zu Ende bringen ...

Der endgültige Niedergang beginnt Weihnachten: Hitch ruft betrunken Tippi an und kündigt an, dass alles anders wird: er würde mit ihr um die Welt reisen, Filme machen ... Hedren legt auf. Hitchcock spricht weiter, Alma tritt hinzu, sie hat alles gehört: „The day she ever drops her knickers, you’ ll run a mile.“ Penelope Wilton  entspricht der echten Alma Reville zumindest optisch besser als Helen Mirren, bleibt als Figur aber eher undurchsichtig und ist ein kompletten Gegenentwurf zu Gervasis Version der selbstständigen, couragierten Filmemacherin.

Dann Musik: Wagners „Tristan und Isolde“ als langes Underscoring. Im Dressing Room  werden Tippi die Haare für eine der letzten Szenen gefärbt. Die Kamera fährt zu Wagners Musik auf Closeup. Dann Hitch und Tippi in der Garderobe: Sex, so Hitch, sei nicht wichtig für ihn. „It’s for the kids.“ Und:
I love you“. Tippi rennt davon. Hitchcock übernimmt ihren Dialogpart: „I love you too. I love you, Hitch“. Dann wendet sich Toby Jones direkt in die Kamera und schaut den Zuschauer an: ein entrücktes Gesicht, nahe am Rande des Wahnsinns.

Es kommt schließlich zu der unvermeidlichen Szene, die Tippi Hedren in Donald Spotos Buch so beschreibt:
“He stared at me and simply said, as if it were the most natural thing in the world, that from this time on, he expected me to make myself sexually available and accessible to him – however and whenever and wherever he wanted,” she recalls.  “That was the moment, after almost three years of trying to cope, when I finally had enough – that was the limit, that was the end.” Dann folgt das, was Spoto eine ‚Aufforderung zur Prostitution’ nennt: Hitchock weigert sich, Tippie Hedren aus dem Vertrag zu entlassen und mahnt sie, an ihre Kinder zu denken. Dann: „I’ll ruin your career“, he said. „You’ll never work again anywhere. I’ll destroy you."


 Realität oder Fiktion?

„The Girl“ ist kein Propagandafilm (wie von mir zunächst angedeutet). Dafür stimmen einfach zu viele Details, die durch vorhandene Quellen bestätigt werden: Hitchcocks Kontrollsucht, sein Hang zu kruden Witzen und obszönen Limericks. Und natürlich seine Leidenschaft für die kühlen Blondinen, die er zu Stars gemacht hat.
Auf der anderen Seite ist „The Girl“ eine Literaturverfilmung. Das Buch von Gwyneth Hughes ist eine 1:1-Umsetzung von Spotos neuesten Enthüllungen und geht gelegentlich im Detail sogar über sie hinaus. 

Spotos Motivation, dieses Buch zu schreiben, bleibt unklar. Besonders dann, wenn man nachlesen kann, dass er einige Passagen vollständig aus seinem Buch ‚The Dark Side of Genius’ übernommen hat. Gut, warum nicht? Aber einer der häufigsten Vorwürfe an Spoto bleibt immer noch im Raum: solange Hitchcock lebte, genoss Spoto die Privilegien, die ihm der Regisseur gewährte. Erst nach Hitchcocks Tod nahm seine ‚Desillusionierung’ (Spoto) ihren Lauf.
Einige Merkwürdigkeiten fallen dabei auf: weder in „The Girl“ noch in Spotos Buch taucht Tippi Hedrens Mann Noel Marshall auf, den sie 1964 geheiratet hatte. Stattdessen wird Hedren als junge Frau gezeigt, die immer noch bei ihrer Mutter wohnt. Hitchcock-Biograf John Russell Taylor berichtet dagegen in seinem Buch (anders als Spoto), dass bereits vor „Marnie“ das Verhältnis zwischen Hitchcock und Hedren eben wegen dieser Heirat abgekühlt war, da er befürchtete, die Darstellerin würde ihm nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung stehen.

Erstaunlicherweise verzichtet „The Girl“ auch auf eine Darstellung der sexuellen Übergriffe Hitchcocks, die die Schauspielerin Diane Baker Spoto detailliert geschildert hat. Wenn dies stimmen sollte, dann wäre die Fixierung Hitchcocks auf Hedren alles andere als stimmig, denn offenbar hatte der Regisseur seine Hände überall gehabt. Passte das nicht ins Konzept eines Films, der ansonsten Donald Spotos Kapitel über die Entstehung von „The Bird“ und „Marnie“ wortgetreu umgesetzt hat?
Auch Spotos Schilderung, Hitchcock hätte ein Engagement Tippi Hedrens durch Francois Truffauts verhindert, wird von den Angehörigen Truffauts bestritten. Unwichtige Details? Wohl kaum, wenn es um die Glaubwürdigkeit eines Enthüllungsbuchs geht, das Hitchcocks morbide Gelüste bis in die Anfänge seiner Karriere zurückdatiert.

Persönlich habe ich äußerst gemischtes Verhältnis zum Enthüllungsjournalismus, besonders dann, wenn er sich auf nur auf eine zentrale Quelle beruft. Andere Personen, auf die sich die Macher von „The Girl“ berufen und mit denen ausführliche Interviews geführt worden, sind wie Jim Brown mittlerweile tot und die Angehörigen Browns bestreiten vehement, dass der Verstorbenen die Skandalisierung von Hitchcocks Leben, wie von Jarrold behauptet, jemals unterstützt hätte. Immerwährende Loyalität?

Wie schon erwähnt, sind die Fronten festgefahren. John Russell Taylor nannte den Film schlichtweg „total absurd“ (1) . Sacha Gervasi, der Regisseur von „Hitchcock“, stellte fest: “He was a brilliant, obsessed director and he would push people. I don’t think he was a sadistic monster. He was a popular entertainer, not Pol Pot ...It seems a rare one-note portrayal of a man who was a little more complex than that. A lot of people, who were there, do not recognise this portrayal of him as this monster.“ (2)

Ich selbst habe für diese Arbeit lange und ausgiebig recherchiert. Während in Deutschland die Kritik nur verhalten reagierte, weil „The Girl“ nicht in den Kinos lief und derzeit nur als DVD in englischer Originalfassung vorliegt, ist die Diskussion um den Film in Großbritannien und den USA heiß gelaufen. Mit anderen Worten: man ertrinkt förmlich in Artikeln, Statements und Videos auf YouTube.
Feministische Filmkritikerinnen sind begeistert von dem Film, da hier eine Lanze für die rechtlosen Schauspielerinnen geschlagen wird, die nicht nur in den 1960er Jahren sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren. Hitchcock-Fans reagieren dagegen angeekelt und empört über die vermeintliche Geschichtsklitterung, die Kim Novak („Vertigo“) so auf den Punkt brachte: "I feel bad about all the stuff people are saying about him now, that he was a weird character. I did not find him to be weird at all. I never saw him make a pass at anybody or act strange to anybody. And wouldn’t you think if he was that way, I would’ve seen it or at least seen him with somebody? I think it’s unfortunate when someone’s no longer around and can’t defend themselves." (3)

Klar ist jedoch, dass Hitchcock nach „Psycho“ große Probleme mit „The Birds“ (hier soll er laut Taylor sogar am Set improvisiert haben) hatte und erst recht mit „Marnie“, wo er als nicht mehr ganz fokussiert und nervös beschrieben wird. 
Aber etwas anderes hat mich dann doch sehr stutzig gemacht. In einem TV-Round Table-Gespäch (vgl. Literatur- und Quellenverzeichnis) trafen sich 1999 fünf der Hitchcock-Heroinen: Janet Leigh, Tippi Hedren, Karen Black, Suzanne Pleshette und Eva Marie Saint, die von Host Greg Garrett ausgiebig zu der Arbeitsweise von Hitchcock und seinen kauzigen Gewohnheiten befragt wurden. Fast alle, nur Tippi Hedren hielt sich auffallend zurück, waren posthum begeistert von den Manieren Hitchcocks und seiner professionellen Arbeitsweise. Keine Kritik, keine Skandale, keine sexuellen Übergriffe.
Selbst Tippi Hedren nutzte dies Plattform nicht, um zumindest andeutungsweise den Altmeister zu desavouieren. Karen Black stellte fest: „But I think whoever said he was a misogynist is a very silly, mistaken person. And you might go to them and ask them what they're talking about.“

Später fragt Garrett sehr explizit nach der von John Russell Taylor geschilderten Episode während der Dreharbeiten zu „Marnie“:
•    GARRETT: A question for Tippi Hedren. Hitchcock had you under contract and only a few actresses before had been under his exclusive contract. At any rate, one day, supposedly, he was being quite unreasonable about something, and you are supposed to have made a reference to his weight, which no one had ever done to him in public. Is there anything to that apocryphal story?
•    HEDREN: To his -- to his what?
•    GARRETT: You told a fat joke, or called him fat -- made some insulting reference to his weight.

•    HEDREN: I may have done that. I don't remember. That could have happened. I honestly don't remember that.

Über die Zusammenarbeit mit seinen Darstellerinnen:
•    PLESHETTE: Well, Tippi and I had a problem, too, when we were on location. She had a beau that was not allowed to come up and visit her. Because Hitch -- Hitch didn't want any distractions.
•    GARRETT: Joan Fontaine, who starred in Rebecca, recalls in her recent autobiography, No Bed of Roses, "Hitchcock would constantly tell me that no one thought I was any good, except himself and that nobody really liked me. He seemed to relish the cast not liking one another actor for actor, by the end of the film."
•    PLESHETTE: Because that's what he wanted her to be experiencing. That's what he wanted her character to experience.
•    GARRETT: Do you see this as kind of a cruel trick to get a certain kind of acting? Did he do this on your films?
•    LEIGH: That's not true. It's not a dirty trick.
•    BLACK: People always attack a great person. He could have the world, he was a big person. People are always attacking and latching onto that. and pulling themselves up by attacking people who are great people. But if he were what you guys have been reading, we would be complaining. The five of us would not be saying what we're saying.
•    LEIGH: I don't think we'd be here, do you?
•    PLESHETTE: But I will tell you, in all fairness, that every performer had a different experience, but it's because each performer had a different responsibility in the film. And, as I said, he gave each of us what it was we required to get the job done. If we needed freedom, he gave us freedom. If he needed control, he controlled. If he needed to make Joan Fontaine feel twelve hours a day when she was on the set that she was unloved and unappreciated so that that's what she would give, she gave one of the best performances of her career.
•    HEDREN: That's interesting. I believe it.

Fazit: Die Version, die „The Girl“ abliefert, muss zumindest mit kritischer Distanz betrachtet werden. Die geschilderten Details, die an die Substanz gehen und Hitchcock zu einem Sex-Monster machen, basieren auf den Aussagen einer Schauspielerin, die jahrzehntelang geschwiegen hat oder passende Gelegenheiten ungenutzt ließ, ihre Version der Dinge zu schildern. Erst ihre Begegnung mit Donald Spoto hat womöglich alles ins Rollen gebracht.
Daraus ein Biopic zu machen, das erzähltechnisch vorgibt, pure Fakten darzustellen, ohne sie mit gebräuchlichen Mitteln zu relativieren, ist gelinde gesagt mehr als gewagt. Was sich tatsächlich ereignet hat, wird man wohl nicht mehr herausfinden. Aber es sei daran erinnert, dass es einen Film gegeben hat, der bereits derartge Puzzles thematisiert hat. Puzzles, die dann entstehen, wenn man Mythos und Zeitzeugen aufeinandertreffen: Alles Mögliche passiert, bloß etwas gelingt nicht – die Wahrheit zu finden. Der Film hieß „Citizen Kane“.

(1) The Independent, 22. Januar 2013: http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/films/news/who-was-the-real-sir-alfred-hitchcock-director-sacha-gervasi-backs-auteur-against-sadistic-monster-portrayed-in-the-girl-8462209.html
(2) ebd.
(3) The Daily Telegraph, 30.12.2012: http://www.telegraph.co.uk/culture/film/9586303/Kim-Novak-tells-all.html

Anhang: Limericks in „The Girl“

Alfred Hitchcock: There was a young man from Nantucket / Who had such a large cock he could suck it. / He looked in the glass / And saw his own arse / And broke his neck trying to fuck it. 


Alfred Hitchcock: A worried young man from Stamboul / Discovered red spots on his tool. / Said the doctor, a cynic, / Get out of my clinic! / Just wipe off that lipstick, you fool. 


Alfred Hitchcock: There was a young girl from Sofia / Who succumbed to her lover's desire. / She said it's a sin, / But now that it's in / Could you shove it a few inches higher? 

 

Literatur

•    „The Girl“ – DVD (BBC, HBO, Warner Bros.), Länge: 109 Minuten, Sprache: Englisch (Subtitles engl.)
•    John Russell Taylor: Hitchcock. Biographie. München Wien 1980 (Originalausgabe: The Life and Work of Alfred Hitchcock. 1978)
•    Donald Spoto: Alfred Hitchcock. Die dunkle Seite des Genies. Berlin 1984 (Originalsausgabe: The Dark Side of Genius. The Life of Alfred Hitchcock. 1983).
•    Donald Spoto: Spellbound by Beauty: Alfred Hitchcock and His Leading Ladies (Random House e-books 2012)
•    Hitchcock's women on Hitchcock (Greg Garrett Literature Film Quarterly (1999), volume 27, number 2, pages 278-289)
Kurzangabe: Transkript eines Round-Table-Gesprächs für den American Movie Classis Channel. Moderator: Greg Garrett. Teilnehmerinnen: Janet Leigh, Tippi Hedren, Karen Black, Susanne Pleshette, Eva Marie Saint. Garrett: „...when the other actresses champion Hitchcock, for example, Tippi Hedren seems to disappear from the conversation.“ Die Diskussion gibt Auskunft darüber, dass Leigh, Black, Pleshette und Saint voll des Lobes sind und Kritik an Hitchcock zurückweisen. Hedren deutet keinen der später geäußerten Vorwürfe an, stattdessen stellt sie fest: „I mean, he did a lot of really weird things, but this was not intentional“.
•    The psycho and his blondes (Daily Express, 27.05.2008),
Kurzangabe: kurz nach dem Erscheinen von Donald Spotos „Spellbound by Beauty“ fasst der Express die Kernaussagen Spotos zusammen und zitiert Hedrens Aussagen, die im Wesentlichen in „The Girl“ wortgetreu umgesetzt worden sind.
•    Interview mit Diane Baker über Hitchcock: Host: Eddie Muller, filmnoirfoundation.org
•    Tippi Hedren On Alfred Hitchcock's THE BIRDS
•    Tippi Hedren: Hitchcock Ruined My Career


 

Pressespiegel

Anthony Hopkins sieht mit seinem Make-Up aus wie eine aufgedunsene Witzfigur, und so spielt er seinen Hitchcock dann auch ... Das Drehbuch ist ein Mischsalat sondergleichen: Nebst der Entstehung und Vermarktung von Psycho möchte der Film noch Hitchcocks Ehe, seine Obsession mit jungen Blondinen, und die dunkle Seite seiner Seele erforschen. Und das alles mit locker-flockigem Danny Elfman-Soundtrack als Salatsauce. Abgepackt schmeckt das nicht frisch sondern einfach nur nach Durcheinander ... Da so viel gleichzeitig passiert, kann der Film gar nie langweilig werden, und so ist er dann auch auf eine seltsame Weise faszinierend und unterhaltsam (OutNow-CH).

Zum Dicken gesellt sich der gespielte Blondinenwitz, immerhin haben sich ja auch Scarlett Johannsson (als Janet Leigh) und Jessica Biel (als Vera Miles) in diesen Kostümschwank verirrt. Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass beide Rollen nur rein ornamentalen Charakter haben: Bei Hitchcock brachte die umstrittene Objektifizierung der Frau immerhin eine wichtige film- und geschlechttheoretische Debatte in Gang. "Hitchcock" hingegen fehlt jegliches selbstreflexive Moment. Nebenbei, eine lohnende Auseinandersetzung mit dem zwiespältigen Frauenbild Hitchcocks bot jüngst die britische TV-Produktion "The Girl" (2012), in der die konfliktreiche Beziehung zwischen Hitchcock (beeindruckend verkörpert von Toby Jones) und Tippi Hedren (Sienna Miller) im Mittelpunkt steht (David Kleingers, DER SPIEGEL).

Der hohe Anspruch ist zu spüren, aus «Hitchcock» selbst einen Hitchcock-Film zu machen, die Geschichte eines Mannes eben, dessen Genialität sich von gefährlichen Gelüsten nährte ... Ohne seine anregende Existenz wäre es zu «Psycho» offenbar gar nicht gekommen, und in «Hitchcock» ist dieser Gein nun leibhaftig in Alfred Hitchcocks Hirn gesetzt, nicht als der Wahnsinnige, der er war, sondern gewissermassen als ein domestizierter innerer Experte für mörderische Logik. Das hat in seiner selbstverständlichen Künstlichkeit tatsächlich etwas von jenem immer wieder bewundernswerten, lakonischen Hitch-Sarkasmus – als Porträt des Künstlers mit den Eigenschaften und Talenten eines erstklassigen Lustmörders: dem besessenen Perfektionismus, der brillanten szenischen Vorstellungskraft, der passiven Lüsternheit, die plötzlich krampfhaft und theatralisch explodiert, und nicht zuletzt der Sucht nach einer sadistischen Liebesbeziehung mit einem Publikum (Christoph Schneider, Tagesanzeiger).

Was die manischen Obsessionen und auch den Sadismus von Hitch angeht, bleibt "Hitchcock" freilich zurückhaltend. Zwar wird ein wenig am Sockel gekratzt, das Monument wird aber nicht gestürzt. Es ist nicht ohne Ironie, dass fast zeitgleich ein zweiter Hitchcock-Film gedreht wurde, der just von seinen nächsten beiden Projekten handelt, "Die Vögel" und "Marnie" – und von Tippi Hedren, die mehr als jede andere Hitchcock-Blondine unter dem Sadismus ihres Regisseurs zu leiden hatte. In "The Girl" wird Hitchcock von Toby Jones verkörpert, der im Direktvergleich mit dem überragenden Anthony Hopkins nur verlieren kann. Imelda Staunton aber gibt eine wesentlich kühlere und damit wohl echtere Alma ab. Und Sienna Miller als Tippi Hedren gibt einen plastischen Eindruck davon, was es bedeutete, von Hitch zum Star aufgebaut zu werden (Peter Zander, DIE ZEIT).

Unquestionably, the portraits of the director in Hitchcock and The Girl diminish him. Perhaps he needs diminishing. Our culture has a history of excusing or ignoring the excesses of famous, powerful men. Hedren should not be obliged to shut up just because Hitchcock was a great artist, or because he did not do to other women what she says he did to her, or because other people didn't see what went on, or because he is dead. Neither Hitchcock nor The Girl necessarily diminish his films, but by this phase in his career Hitchcock was doing that himself. Marnie is a terrible movie, and a cruel one: the idea that a woman sexually traumatised by her childhood can be saved by submitting to a controlling rapist is offensive, as well as plain wrong. The Girl puts its case more strongly, but as far as both biopics are concerned, the real monster on Hitchcock's sets was behind the camera (Alex von Tunzelmann, THE GUARDIAN).