Donnerstag, 22. Juli 2010

The Wolfman

USA 2008 - Originaltitel: The Wolfman - Regie: Joe Johnston - Darsteller: Benicio Del Toro, Anthony Hopkins, Emily Blunt, Hugo Weaving, Art Malik, Geraldine Chaplin, Kiran Shah, Michael Cronin, Sam Hazeldine - FSK: ab 16 - Länge: Bluray "The Wolfman - Extended Version": 119 min.

England, 1891: Der gefeierte Shakespeare-Mime Lawrence Talbot (Benicio Del Toro) kehrt in sein Heimatdorf Blackmoore zurück, um seinen verschwundenen Bruder zu suchen. In den finsteren Wäldern wütet eine geheimnisvolle Bestie. Doch Talbot kommt zwei Tage zu spät: die fürchterlich verstümmelte Leiche des Vermissten liegt bereits aufgebahrt in der Leichenhalle. Lawrence verspricht der Verlobten seines Bruders (Emily Blunt), das geheimnisvolle Verbrechen aufzuklären. Auf dem heruntergekommene Anwesen der Familie warten sein distanzierte Vater (Anthony Hopkins) und dessen Sikh-Diener, der bereits vorsorglich silberne Kugeln gießt.

Universal hat mit The Wolfman den Versuch unternommen, an die glorreiche Horrorfilm-Tradition der 1920-1940er Jahre anzuknüpfen. Ob die Neuauflage von The Wolf Man (1941) mit Lon Chaney jr. nun eine Welle von Remakes auslösen wird, steht nach mageren 61 Mio. Dollar (Box Office IMDb, März 2010) in den Sternen. The Wolfman (2010) verdoppelte die Produktionskosten auf 150 Mio. Dollar und ohne durchschlagenden Markterfolg ist es schwer vorstellbar, dass wir in allzu naher Zukunft Frankenstein, Dracula und The Mummy zu sehen bekommen, zumal die Vampir-Mythologie in den letzten Jahrzehnten bis hin zur moderaten Teenie-Version in Twilight entschlossener durchdekliniert wurde als das Thema der Transformation eines Mannes in einen Wolf. Und auch die Mumie hat bereits das Stadium der Persiflage durchschritten, was schon in den alten Universal Studios der 50er Jahre das Aus für die Veteranen der Horrorgeschichte einläutete.

Überhaupt ist der Werwolf-Mythos eher ein spätes Kind des Horrorfilms. Bereits 1931 hatten Tod Browning (Dracula) und besonders James Whale (Frankenstein) eine neue Ästhetik des Gruselfilms begründet, die thematisch ein ganzes Jahrzehnt lang variiert wurde, ehe mit dem Wolfsmenschen 1941 ein später Nachzügler den Weg auf die Leinwand fand. Glücklicherweise hat Universal zuletzt eine vorzügliche DVD-Edition auf den Markt gebracht, in der die alten Klassiker bestaunt werden können – angereichert mit kinohistorisch überzeugenden Dokumentationen, die den jüngeren Filmfreunden ein guten Einblick in das gewähren, was die Menschen vor 80 Jahren aus der Fassung gebracht hat. Der Blick lohnt sich: man wird sicher überrascht sein, wie wenig explizit die Urahnen des Genres waren, die gemessen an der heutigen Splatter-Ästhetik geradezu als handzahm zu bezeichnen sind. Und doch sind es die Bilder unserer Kino-Kindheit, die sich den meisten von uns unauslöschlich ins visuelle Gedächtnis eingebrannt haben.

Stinkkonservatives Remake - aber bitte nur auf Bluray!
Eine vergleichbar gute Qualität wie die Wolf Man Legacy Collection bietet die in Großbritannien bereits vorliegenden Bluray (mit dts. Tonspur), mit der Universal die sich abzeichnenden Verluste in Grenzen halten will. Sie enthält nicht nur die Kinofassung, sondern auch den über eine Viertelstunde längeren Extended Cut. Die folgende Kritik bezieht sich nur auf diese Version, denn – man staune – der Kinofassung fehlen nicht etwa die expliziten Splatter-Effekte, sondern vielmehr viele Szenen, in denen das psychologische Profil der Hauptfiguren deutlicher gemacht wird. So vermisst man in der Kinofassung die gesamte Einleitung, die unentbehrlich für den Stimmungsaufbau ist, darunter auch eine schöne Szene mit einem Kurzauftritt von Max von Sydow. Auch später wurde geschnippelt, meistens dann, wenn die Figuren im Extended Cut mehr Tiefe erhalten. Was auch immer wen zu diesen Eingriffen bewogen hat: sie gingen gründlich in die Hose.

Schade, denn für das Remake von The Wolf Man hat sich Universal geballte Qualität ins Boot geholt: Benicio del Toro übernimmt Lon Chaneys Part als Lawrence Talbot, Anthony Hopkins beerbt Claude Rains in der Rolle des Vaters, Geraldine Chaplin macht die Rolle der alten Zigeunerin zu einer kleinen Perle (was auch im Original dank Maria Ouspenskaya der Fall war, die nicht aus heutiger Sicht Lon Chaney jr. an die Wand gespielt hat) und der sechsfach oscargekrönte Make-up-Designers Rick Baker verwandelte schon mehrfach gestandene Männer mit innovativer Maskentechnik in Werwölfe, zuerst 1981 in American Werwolf.
Actionspezialist Joe Johnston zeigt gleich zu Anfang, worum es Universal wohl ging: dunkle Moore, in denen der Nebel wabert, verfallene Schlösser, schwarze Kutschen, die durch die Nacht rasen und eine bis ins Detail liebevoll gestaltete Ausstattung lassen die düstere Atmosphäre des Originals wieder auferstehen und steigern den romantischen Gruselflair mit moderner Digitaltechnik, ohne den Charakter der altehrwürdigen Studiokulissen zu verraten. The Wolfman ist so gesehen ein streng konventioneller Film, der keine neue Sehgewohnheiten evozieren will, sondern sich streng an einen vertrauten Kanon hält und in seinen stimmungsvollsten Bildern sogar einen Hauch Hammer Film einfließen lässt, jenes britische Studio, das in den 1950er und 1960er-Jahren die gothic novels mit morbidem und oft auch leicht anzüglichem Charme ins Bild setzte. Filmästhetisch überschreitet The Wolfman also keine Grenzen, er ist in seiner Konventionalität sogar anti-innovativ, aber das, was er zeigt, zeigt er in einer ausgefeilten Perfektion, die mehr als positiv überrascht. Einige Bilder geraten zu so prachtvollen Tableaus, dass man sie am liebsten mit der Fernbedienung einfrieren möchte.

Auch inhaltlich geht The Wolfman keine neuen Wege. Und damit ist vor allen Dingen der Verzicht auf allegorische Umdeutungen des Themas, wie ihn ‚moderne’ Varianten klassischer Themen oft (und nicht immer zu Unrecht) anbieten. Man erinnere sich an From Hell (2001), einen Film, der erkennbar die Dämonen des 20. Jh. in das biedere viktorianische London holte. In The Wolfman gibt es übrigens eine kleine Anspielung auf diesen Film, denn Hugo Weaving spielt den Polizeiinspektor Francis Aberline (eine wirklich sehr schöne Nebenrolle Weavings, der keine Karikatur gibt, sondern einen intellektuell geistreichen Ermittler, dem allerdings Tragisches widerfahren wird), der bereits in Sachen Ripper-Morde ermittelte. Wir erinnern uns: Frederick Abberline hieß der in From Hell von Johnny Depp gespielte Inspektor.

Schöne Hommage ohne Tiefgang
Joe Johnstons Film ist ein Kind der Spätromantik geblieben, eine Hommage, die Aufklärung und kritische Distanz aus dem Film heraushält. Wenn Talbot, der von der aufgebrachten Dorfbevölkerung als Werwolf verdächtigt wird, in einer schaurigen Irrenanstalt landet, werden die mittelalterlichen Foltermethoden der ‚modernen Psychiatrie“ nicht persifliert, sondern in ihrer Grausamkeit todernst genommen: Eisbad und Elektroschock. Wie schon in vielen Universal-Klassikern bleibt der Moderne der Zutritt verwehrt und auch in The Wolfman ist das viktorianische England der einzig denkbare Ort, an dem Mythen, Monster und altmodischer Plüsch ihre berechtigte Existenz haben. Natürlich legt das Remake die Figuren in psychologischer Hinsicht etwas tiefer an und auch ein Schuss unterdrückte Sexualität und eine Prise Ödipus-Komplex wabern in den Film hinein, aber letztendlich geht es den Machern um den Spaß, ein altes Thema nicht allzu gedankenschwer zu einem unterhaltsamen visuellen Vergnügen zu machen. Man sieht es im Bonusmaterial bei Benicio Del Toro, der in den Che-Extras noch dümmlich-verschlossen parlierte, während er in den Makings of’s von The Wolf Man nicht nur als Darsteller, sondern auch als Produzent kaum zu bremsen ist.
Mir hat das Ganze jedenfalls gut gefallen. So ähnlich wie das Verzehren einer verbotenen Frucht. Sie schmeckt, was man allerdings öffentlich nur ungern zugibt.


Noten: BigDoc = 2,5, Klawer = 3, Melonie = 3, Mr. Mendez = 3

Postskriptum: Der Pressespiegel.
Wieder einmal scheiden sich die Geistern, wieder einmal kompromisslos.
Daniel Ronel schreibt auf Bayern3.de: „Es ist ärgerlich, dass Hollywood seine Klassiker ständig neu verfilmen muss. Außerdem wären del Toros Schlafzimmerblick, die Monster-mischung aus Yeti, King Kong und Hulk, sowie eine mäßig originelle Story genügend Gründe, sich über den Film lustig zu machen. Dennoch muss man ihm zugestehen: er verfehlt seine Wirkung nicht und sorgt für ordentlichen Schauer.“
Genre-Spezialist Frank Arnold ist in epd-Film über Johnstons Film begeistert: So „erweist sich sein „Wolfman“ jetzt als eine angenehme Überraschung, ist er doch so klassisch und angenehm altmodisch ausgefallen, wie man es kaum erwarten durfte, und vermag es auch, der Geschichte einige neue Akzente abzugewinnen.“
In „DerWesten“ ist Uwe Mies völlig anderer Meinung: „Die Regie von Joe Johnston ist … Flickwerk. Mit viktorianischem Plüsch und viel Kunstnebel gelingt ihr lediglich vordergründige Atmosphäre und trägt in allem, was Spannung schüren soll, viel zu dick auf. Es ist ein vulgärer Film, der die tragischen Aspekte mit plumpen Blut- und Ekel-Attraktionen übertüncht und damit leichtfertig an die vermeintlichen Erwartungen des Teenagerpublikums verschenkt.“
Michael Kohler in der Frankfurter Rundschau hat indes einen überzeugenden Film mit vielen Sahnehäubchen gesehen: „Genau das ist hier gelungen: Einen Blockbuster zu drehen, der sich vor der Tradition, die er in einer Szene plündert, schon im nächsten Moment wieder verneigt. Man sieht es daran, wie Johnston immer wieder die Kamera kippt, um die schrägen Perspektiven eines Universal-Klassikers nachzuahmen, wie er seinen englischen Schauplatz im festen Griff von fahlem Dämmerlicht und Nebel hält, und dann ist sein Wolfmensch, wenn er nicht gerade die Zähne fletscht, auch noch der verwunschenen Bestie aus Jean Cocteaus "Die Schöne und das Biest" wie aus dem Gesicht geschnitten.“
Eben diese Qualitäten könnenhalt auch zum Verriss führen: „Und natürlich ist Wolfman schrecklich, natürlich ist er blutig, und natürlich ist er kolossal, aber das alleine macht ihn noch lange nicht gut. Zu abgeschmackt sind die kunstnebligen Bilder der düsteren Seite der Romantik, zu kitschig der symbolträchtige Pathos der brennenden Bilder von Vater, Mutter und verlorenem Sohn, zu billig die nervenaufreibenden Schocktricks, die einen mit kalkulierbarer Regelmäßigkeit im Kinosessel zusammenzucken lassen. Der Horror scheint in Wolfman fast gänzlich aus den Zuschauerköpfen in die Postproduktion verlegt: in die schnellen Schnitte, die visuellen Effekte, das unterschwellig dröhnende Sounddesign“ (Sarah Sander, SCHNITT).
Daniel Haas sieht In DER SPIEGEL das Positive für den Zuschauer: „Nach dem ganzen Rummel um "Twilight", dem Märchen über edle Blutsauger, die das Hämoglobin-Zölibat zur Gefühlssteigerung nutzen, war es höchste Zeit für eine scharfe, blutrünstige Auseinandersetzung mit dem Monströsen in uns. Denn das repräsentieren sie ja, die Vampire, Wölfe, Gestaltwandler: das Andere und Fremde, das wir verdrängen, aber nie ganz loswerden.“
Eben, eben.

Dienstag, 20. Juli 2010

Quick Review: die Halbjahres-Bilanz

Der Umstand, dass unser schöner Blog einige Wochen mit Notstrom gefahren wurde, kann nicht verhindern, dass in einer Quick Review die wichtigsten Filme der letzten Wochen mit galliger Schärfe oder humorvoller Zustimmung vorgestellt werden – je nachdem, was sie verdient haben.

Nicht aktuell im Kino, aber als DVD-Neuerscheinung lief John Crowleys Boy A (2007), ein britisches Drama, das mit 2,6 eine erfreuliche Note erreichte. Der mehrfach preisgekrönte Film erzählt die Geschichte von Jack Burridge (ausgezeichnet: Andrew Garfield), der wegen eines gemeinschaftlich begangenen Mordes bereits mit 14 Jahren in den Knast einwanderte. Nach der Entlassung versucht Jack Fuß zu fassen, scheitert aber an der gandenlosen Hetzjagd der Medien und der Unversöhnlichkeit der Gesellschaft.
Im Club erwies sich der Film immerhin als Auslöser einer der selten gewordenen Debatten, wobei der Chronist bei der Darstellung des Mordes einen Schuss Krzysztof Kieślowski forderte und sich damit mehr Realismus und ein härteres Täterprofil wünschte, um die Hauptfigur nicht nur als Opfer, sondern auch in ihrer Ambivalenz als kindlicher Mörder zu zeigen. Oupps, das fand nur wenig Gehör.

Etwas einstimmiger war die Meinung einige Wochen zuvor, als mit Der fantastische Mr. Fox (englischer Originaltitel: Fantastic Mr. Fox) ein US-amerikanischer Stop-Motion-Animationsfilm aus dem Jahr 2009 bei uns lief. Der Film wurde als Bester Animationsfilm 2010 für den Oscar nominiert und alle waren von der eleganten und geistreichen Tierfabel begeistert. Nach Up (derzeit Platz 1) hat es ein zweiter Animationsfilm mit einer sehr guten Note (2,1) in die Top Ten geschafft. Interessant. Ich werde mir den Film auf jeden Fall noch einmal im Original anschauen. Dort warten folgende englische Sprecher auf mich: Meryl Streep, George Clooney, Jason Schwartzman, Bill Murray, Owen Wilson, Willem Dafoe u.v.a.

Die Note für den geistreichen Fuchs wurde allerdings von Sturm getoppt. Der deutsch-dänisch-niederländischer Spielfilm aus dem Jahr 2009 zeigt meiner Meinung nach, dass Hans-Christian Schmid (Lichter, Requiem) zu den besten deutschen Filmemachern gehört. Schmid findet nicht nur provozierende Themen, sondern verbindet sehr viel Originalität auf authentische Weise mit der gewünschten Nachdenklichkeit. Und so gab es von allen eine Zwei, was bei einem nicht immer ganz einfachen Kriegsverbrecher-Drama am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag keine Selbstverständlichkeit ist. Politische Filme sind halt nicht jedermanns Sache, aber Schmid bringt sie an den Mann und die Frau. Ich hoffe, dass ich in den nächsten Wichen eine ausführliche Kritik hinbekomme.

Natürlich gibt es auch im Filmclub etwas zum Lachen. Jason Reitman hat nach Thank you for smoking und Juno eine spritzige Komödie mit George Clooney auf die Leinwand gebracht, die leider ihr politisch-satirisches Potential nicht ganz ausreizt: Clooney spielt in Up in the air einen Spezialisten, der für seine Auftraggeber die unangenehmen Entlassungsgespräche führt. Das heißt: er feuert Leute. Rhetorisch ansprechend, mit viel Mitgefühl und einem Schuss Lebensweisheit. Und zu diesem Zweck fliegt er pausenlos: Ryans großes Ziel ist es nämlich, die Zehn-Millionen-Frequent-Flyer-Meilen-Schallmauer zu überwinden. Leider verfolgt Reitman nicht den galligen Michael Moore-Ansatz des ersten Filmdrittels weiter, sondern entscheidet sich, das tragikomische Psychogramm eines Mannes zu zeichnen, der zu echten menschlichen Bindungen nicht mehr fähig ist. Das gelingt ihm recht gut, erfüllt aber nicht meine intimsten Wünsche. Muss es auch nicht.

Passend zur Fußball-WM wurde District 9 von Neill Blokamp (Produzent: Peter Jackson) vorgestellt. Mit einer Note von 2,4 schaffte es der im Blog bereits im Vorjahr rezensierte Film in die Top Ten, stieß aber bei einem Mitglied auf großen Widerstand – ungeachtet der Analogien zur Situation in Südafrika. Der auch formal sehenswerte Film hat gewiss seine Schwächen, ist unbestreitbar aber einer der originellsten Sci-Fi-Filme der letzten Jahre. Wenn der Schmuddellook nicht den einen oder anderen abnerven würde.

Gediegener und noch direkter am Thema Südafrika und Sport dran ist Invictus, Clint Eastwoods neuester Film, der sogar auf einer frisch aus Great Britain importierten Bluray präsentiert wurde. Das änderte nichts daran, dass die Lager (wieder einmal) gespalten waren: 2x Top, 1x hop („stinklangweilig) brachten den Film dennoch mit einer Note von 2,4 auf den derzeitigen 6. Platz der Top Ten. Eastwood erzählt etwas betulich die Geschichte vom Gewinn der Rugby-Weltmeisterschaft 1995 durch die bei den Schwarzen verhassten Springboks und darüber hinaus ein Kapitel aus der Geschichte Nelson Mandelas (Morgan Freeman), der mit dem weißen Mannschaftskapitän Francois Pienaar (Matt Damon) einen Pakt schließt, der die neue südafrikanische Nation vereinen soll. Am Ende jubeln auch die Schwarzen über den Turniersieg, aber der stocksolide und politisch korrekte Film stößt immer dann etwas sauer auf, wenn man sich daran erinnert, wie nah Südafrika in den Jahren zuvor am Abgrund der Anarchie stand und welche ups und downs die Nation in den Post-Apartheid-Jahren bis heute erleben musste. Ich erinnere nur an die unselige Leugnung des HIV-Virus durch die Regierung und den Versuch, Aids mit dem regelmäßigen Verzehr von Gemüse zu bekämpfen. So verzieht man beim pathetischen Happy-End doch etwas die Miene, auch wenn Morgan Freeman glänzend schauspielert und Damon regelrecht an die Wand spielt. Invictus ist sicher keines der großen Meisterwerke von Clint Eastwood, aber ein integrer und ordentlich inszenierter Film.
Ich habe nach einem halben Jahr jedoch das Gefühl, dass Invictus auch ein wenig das Filmjahr 2010 repräsentiert. Die ganz großen Kracher fehlen, sieht man mal von Avatar ab, und in der zweiten Jahreshälfte kann es eigentlich nur besser werden.

Klass

Estland 2007 - Regie: Ilmar Raag - Darsteller: Pärt Uusberg, Vallo Kirs, Lauri Pedaja, Karl Sakrits, Mikk Mägi, Riina Ries, Paula Solvak, Virgo Ernits, Joonas Paas, Triin Tenso, Margus Prangel, Tiina Rebane, Marje Metsur - FSK: ab 16 - Länge: 97 min. - Start: 15.10.2009

Die Frage nach dem richtigen Begriff hilft nur bedingt dabei, die Ursachen zu verstehen: Ist es Mobbing oder Bullying, was das Alpha-Männchen Anders (Lauri Pedaja) und seine Clique mit dem unsportlichen und introvertierten Joosep (Pärt Uusberg) anstellen?
Auch dem kann die semantische Trennschärfe egal sein, da es am Ende immer aufs Gleiche hinausläuft: er wird von der Mehrheit der Klasse terrorisiert, die Demütigungen eskalieren zunehmend, gehen in physische Gewalt und schließlich in sexuelle Demütigung über.
Schulleitung und Lehrer wirken in diesem Kosmos der Rohheit wie Aliens. Sie verstehen nichts und wenn sie einschreiten, haben sie nicht einmal ansatzweise die Dynamik begriffen, die in der Klasse herrscht, und verschärfen nichts ahnend die Torturen des Opfers. Auch die Eltern wirken wie Marsianer, die eine andere Sprache sprechen oder gleich die Selbstjustiz anempfehlen, wie dies Jooseps Vater tut.
Der Erstling des estnischen Regisseurs Elmar Raag endet schließlich mit einer Racheaktion, die sich wohl so mancher Zuschauer herbeigesehnt hat, hoffentlich ahnend, dass er in die Falle eines suggestiven Films geraten ist, der provoziert, aber keine Antworten gibt.

Auf der Suche nach der verlorenen Erklärung
Was ist Mobbing? Wer googelt, wird schnell fündig und kann auf qualitativ hochwertigen Websites alle Facetten dieses Phänomens kennen lernen: Mobbing im Alltag, im Beruf, in der Schule. Alles fein säuberlich in Kategorien unterteilt und im Jargon der Sozialpsychologie sprachlich gebändigt, bis hin zur analytisch nachvollziehbaren Beschreibung der Täter mit ihrem extremen Aggressionspotential, der schweigenden und vor Angst gelähmten passiven Zuschauer, die alles tun, um nicht selbst Opfer zu werden, und der garantiert empathiefreien Johler, die einen Heidenspaß beim Zuschauen haben und deren Intelligenzdefizite buchstäblich zum Himmel schreien.
Doch warum Menschen sich in Kindheit und Jugend in mitleidlose Täter verwandeln, bleibt uns ein Rätsel. Sicher, die moderne Hirnforschung ist auch hier um eine Antwort nicht verlegen, aber die Einsicht, dass einige Kinder auf Grund subtiler Hirndefekte, miserabler Familienstrukturen und einer verkorksten Sozialisation schon früh zu Soziopathen mutieren, lässt uns verstört zurück, denn auch hier bleibt die Frage im Raum: Wieso schaffen es die Verkorksten, massenhaft Jünger um sich zu scharen und ein perfektes Terror-Netzwerk aufzubauen?

In Klass gibt eine Sportstunde den Ausschlag. Joosep versaut beim Basketball dem Gruppenleader Anders durch eine Mischung aus Tollpatschigkeit und Provokation den Sieg und wird von nun an fertig gemacht. Raag spielt dabei alle bekannten Mechanismen des Mobbings durch und variiert sie sogar: so wird es Joosep nicht etwa zum Verhängnis, dass er keine Markenklamotten trägt (was häufige Ursache von Ausgrenzungen ist), sondern genau das Gegenteil: er trägt sie und er ist es, wie Anders feststellt, nicht wert. Also werden die Embleme zerstört. Als Joosep im Unterricht ein Schulheft entwendet wird, eskaliert alles, weil der Malträtierte den Diebstahl öffentlich macht und Anders einen Vorwand liefert, die Qualen in ein tägliches Ritual zu verwandeln.

Ein kalter Kosmos ohne Hoffnung
Raag lässt in seiner auch im Detail akribischen Studie keinen Optimismus zu. Hilfe existiert nicht und als Karsten, ein Schüler, der eigentlich zur Clique von Anders gehört, damit beginnt, Joosep zu helfen, geschieht dies weniger aus moralischer Verantwortung als vielmehr aus ganz anderen Gründen: er beendet eine demütigenden Aktion auf Bitte seiner Freundin Thea und zieht sich den Zorn des Alphatieres erst recht zu, als dieser sieht, dass Karsten eine Beziehung zu Thea hat, etwas, was Anders offenbar nicht zustande bringt. Erst nachdem Karsten selbst ins Netz der Mobber geraten ist, findet er zur Aussage „Das ist eine Frage der Ehre“. Das ist natürlich eine Instrumentalisierung der Moral und damit und viel eher ein aus der Not geborener Pragmatismus.

Raag hat seinen Film in Kapitel unterteilt, die Überschriften haben, die man als zynisch bezeichnen kann, die aber tatsächlich mit eisiger Ironie die stufenweise Eskalation ankündigen, die das folgende Szenarium dann mit fast naturgesetzlicher Gewalt umsetzt. Dieser strengen Struktur stehen immer wieder videoclip-ähnliche Trailer gegenüber, in denen die zentralen Themen Gewalt und Ausgrenzung wie universelle Topoi der Schullandschaft wirken. Dies wirkt etwas kokett, notwendig sind diese formalen Accessoires nur bedingt. Sie führen aber nicht zu einem „Scheitern auf ästhetischer Ebene“, wie der Kritiker Sascha Keilholz zu erkennen glaubte. Dessen Plädoyer für Filme wie Sieben Tage Sonntag (2007) von Niels Laupert oder Weltstadt (2008) von Christian Klandt drückt eher das Bedürfnis aus, dem schwer Erklärbaren mit „formale(r) Strenge“ zu begegnen, so als sei das ästhetisch Innovative und die radikalen Abkehr von jedweder Psychologisierung die Rettung vor der eigenen Sprachlosigkeit und jener der Zuschauer. Und es auch keineswegs so, dass Ilmar Raag die Gefolgschaft Anders’ als „durchweg eindimensional, undifferenziert gezeichnete (n) Antagonisten“ zeichnet. Im Gegenteil: in der Gruppe des Chefmobbers nimmt ausgerechnet der intellektuell überlegene Klassenprimus die Beta-Rolle ein, einer zynischer Jugendlicher, der den infamen Einfall hat, Joosep und Karsten mit ausgeklügeltem Cyber-Mobbing in die Ecke zu drängen.

Suggestivität versus Rationalität
Die Filme von Laupert und Klandt basieren ebenso wie der von Raag und anders als Gus van Sants preisgekrönter Elephant auf tatsächlichen Ereignissen. Reine Fiktion, die gleichwohl tief in der schulischen Realität verankert wäre, erscheint mir als deutlich schwerer zu ertragen. Diese Verzahnung baut den appellativen Wert von „Klass“ begründeter auf, sie lässt kein Ausweichen zu. Dass in diesem kalten Netzwerk der Gewalt auch die Unbeteiligten nicht nur wegschauen, sondern überwiegend lustvoll zuschauen, ist daher das eigentlich Faszinierende an „Klass“. Denn auch der Terror wandelt auf dünnem Eis. Ohne den Mangel an Empathie und ohne das völlige Fehlen von Zivilcourage in einer geschlossenen sozialen Gruppe könnte Gewalt nur schwerlich existieren. Dass auch „Klass“ keine beruhigenden Einsichten liefert, ist weder zu vermeiden noch ist es gewünscht. Und hier hat Sascha Keilholz völlig Recht: „Ein Film in diesem Kontext kann nur Teil des Diskurses ein, muss über sich hinausweisen“. Eben.
Doch worauf kann der estnische Film verweisen? Zeigt er den sozialen Hintergrund der Täter? Nein. Dämonisiert er das Böse, das offenbar leicht in uns freizulegen ist? Nein. Konfrontiert er uns mit einer komplexen und gleichzeitig enigmatischen Analyse wie Haneke. Nein, auch nicht.
Raag macht indes etwas, was Alfred Hitchcock auch getan hat. Er manipuliert emotional den Zuschauer in etwas mehr als 90 Minuten so perfekt, dass dieser am Ende glaubt, dass es keine Alternative zum finalen Racheszenario gibt. Damit reiht sich Klass eher in das Genre der Vigilanten-Filme ein, die den Zuschauer wie Neil Jordans The Brave One (Die Fremde in dir) hineinziehen in die emotionale Ver- und Zerstörung des Opfers. Auch mit Jordans Film hatte die Kritik ihre ganz eigenen Schwierigkeiten und forderte, zweifellos politisch korrekt, eine Suche nach den Ursachen in gesellschaftlichen und/oder politischen Institutionen. Dieser Schrei nach Rationalität scheint mir indes etwas reflexhaft und verzweifelt zu sein, so als könne man mit nachvollziehbaren Gründen das Übel wegexorzieren.
Raag lässt dagegen Joosep und Kasper in der Schulmensa mit Gewehr und Pistole ein Massaker anrichten, dem schließlich auch Anders und einige Mittäter zum Opfer fallen, und konfrontiert fast noch eindringlicher als Jordan den Zuschauer nach kapitelweise dargereichten Exerzitien mit dessen eigener archaischen Triebstruktur, um sie nur wenig später wieder völlig auseinander zunehmen. Ich finde dies durchaus erschreckender als ein rationales Plädoyer für den Kantschen Imperativ, obwohl dieser sicherlich gediegener ist.

„Ich habe ein Mädchen aus der 8. Klasse erschossen“, klagt Karsten nach dem Töten.
Fast noch unerträglicher als dieses Lamento ist die sachlich-funktionale Unterweisung in die technische Handhabung der seinem Vater entwendeten Waffen, die Joosep vor dem Finale vornimmt: man müsse mit der Pistole schon sehr nahe an die Opfer herantreten, um sie sicher zu liquidieren. Später, als beide erschöpft an einer Wand sitzen, inmitten der Leichen, erinnert Joseep nach Karstens Klage an seine Einweisung in die Waffentechnik: er ist ein pervertierter Techniker des Tötens geworden, der gelassen Scheitern und Gelingen der Aktion auswertet, bei der auch unbeteiligte Mitschüler den Tod gefunden haben. Hier verlässt unser Gerechtigkeitsgefühl die Protagonisten.

Das Ende ist (fast) der kollektive Selbstmord. Doch Karsten lässt Joosep allein sterben. Er hat die Pistole an seiner Schläfe, aber er drückt anders als Joosep nicht ab. Er will leben, den Anderen zum Trotz. Mit Winnenden hat dies nichts zu tun.

Noten: BigDoc=2,5