Dienstag, 20. Juli 2010

Klass

Estland 2007 - Regie: Ilmar Raag - Darsteller: Pärt Uusberg, Vallo Kirs, Lauri Pedaja, Karl Sakrits, Mikk Mägi, Riina Ries, Paula Solvak, Virgo Ernits, Joonas Paas, Triin Tenso, Margus Prangel, Tiina Rebane, Marje Metsur - FSK: ab 16 - Länge: 97 min. - Start: 15.10.2009

Die Frage nach dem richtigen Begriff hilft nur bedingt dabei, die Ursachen zu verstehen: Ist es Mobbing oder Bullying, was das Alpha-Männchen Anders (Lauri Pedaja) und seine Clique mit dem unsportlichen und introvertierten Joosep (Pärt Uusberg) anstellen?
Auch dem kann die semantische Trennschärfe egal sein, da es am Ende immer aufs Gleiche hinausläuft: er wird von der Mehrheit der Klasse terrorisiert, die Demütigungen eskalieren zunehmend, gehen in physische Gewalt und schließlich in sexuelle Demütigung über.
Schulleitung und Lehrer wirken in diesem Kosmos der Rohheit wie Aliens. Sie verstehen nichts und wenn sie einschreiten, haben sie nicht einmal ansatzweise die Dynamik begriffen, die in der Klasse herrscht, und verschärfen nichts ahnend die Torturen des Opfers. Auch die Eltern wirken wie Marsianer, die eine andere Sprache sprechen oder gleich die Selbstjustiz anempfehlen, wie dies Jooseps Vater tut.
Der Erstling des estnischen Regisseurs Elmar Raag endet schließlich mit einer Racheaktion, die sich wohl so mancher Zuschauer herbeigesehnt hat, hoffentlich ahnend, dass er in die Falle eines suggestiven Films geraten ist, der provoziert, aber keine Antworten gibt.

Auf der Suche nach der verlorenen Erklärung
Was ist Mobbing? Wer googelt, wird schnell fündig und kann auf qualitativ hochwertigen Websites alle Facetten dieses Phänomens kennen lernen: Mobbing im Alltag, im Beruf, in der Schule. Alles fein säuberlich in Kategorien unterteilt und im Jargon der Sozialpsychologie sprachlich gebändigt, bis hin zur analytisch nachvollziehbaren Beschreibung der Täter mit ihrem extremen Aggressionspotential, der schweigenden und vor Angst gelähmten passiven Zuschauer, die alles tun, um nicht selbst Opfer zu werden, und der garantiert empathiefreien Johler, die einen Heidenspaß beim Zuschauen haben und deren Intelligenzdefizite buchstäblich zum Himmel schreien.
Doch warum Menschen sich in Kindheit und Jugend in mitleidlose Täter verwandeln, bleibt uns ein Rätsel. Sicher, die moderne Hirnforschung ist auch hier um eine Antwort nicht verlegen, aber die Einsicht, dass einige Kinder auf Grund subtiler Hirndefekte, miserabler Familienstrukturen und einer verkorksten Sozialisation schon früh zu Soziopathen mutieren, lässt uns verstört zurück, denn auch hier bleibt die Frage im Raum: Wieso schaffen es die Verkorksten, massenhaft Jünger um sich zu scharen und ein perfektes Terror-Netzwerk aufzubauen?

In Klass gibt eine Sportstunde den Ausschlag. Joosep versaut beim Basketball dem Gruppenleader Anders durch eine Mischung aus Tollpatschigkeit und Provokation den Sieg und wird von nun an fertig gemacht. Raag spielt dabei alle bekannten Mechanismen des Mobbings durch und variiert sie sogar: so wird es Joosep nicht etwa zum Verhängnis, dass er keine Markenklamotten trägt (was häufige Ursache von Ausgrenzungen ist), sondern genau das Gegenteil: er trägt sie und er ist es, wie Anders feststellt, nicht wert. Also werden die Embleme zerstört. Als Joosep im Unterricht ein Schulheft entwendet wird, eskaliert alles, weil der Malträtierte den Diebstahl öffentlich macht und Anders einen Vorwand liefert, die Qualen in ein tägliches Ritual zu verwandeln.

Ein kalter Kosmos ohne Hoffnung
Raag lässt in seiner auch im Detail akribischen Studie keinen Optimismus zu. Hilfe existiert nicht und als Karsten, ein Schüler, der eigentlich zur Clique von Anders gehört, damit beginnt, Joosep zu helfen, geschieht dies weniger aus moralischer Verantwortung als vielmehr aus ganz anderen Gründen: er beendet eine demütigenden Aktion auf Bitte seiner Freundin Thea und zieht sich den Zorn des Alphatieres erst recht zu, als dieser sieht, dass Karsten eine Beziehung zu Thea hat, etwas, was Anders offenbar nicht zustande bringt. Erst nachdem Karsten selbst ins Netz der Mobber geraten ist, findet er zur Aussage „Das ist eine Frage der Ehre“. Das ist natürlich eine Instrumentalisierung der Moral und damit und viel eher ein aus der Not geborener Pragmatismus.

Raag hat seinen Film in Kapitel unterteilt, die Überschriften haben, die man als zynisch bezeichnen kann, die aber tatsächlich mit eisiger Ironie die stufenweise Eskalation ankündigen, die das folgende Szenarium dann mit fast naturgesetzlicher Gewalt umsetzt. Dieser strengen Struktur stehen immer wieder videoclip-ähnliche Trailer gegenüber, in denen die zentralen Themen Gewalt und Ausgrenzung wie universelle Topoi der Schullandschaft wirken. Dies wirkt etwas kokett, notwendig sind diese formalen Accessoires nur bedingt. Sie führen aber nicht zu einem „Scheitern auf ästhetischer Ebene“, wie der Kritiker Sascha Keilholz zu erkennen glaubte. Dessen Plädoyer für Filme wie Sieben Tage Sonntag (2007) von Niels Laupert oder Weltstadt (2008) von Christian Klandt drückt eher das Bedürfnis aus, dem schwer Erklärbaren mit „formale(r) Strenge“ zu begegnen, so als sei das ästhetisch Innovative und die radikalen Abkehr von jedweder Psychologisierung die Rettung vor der eigenen Sprachlosigkeit und jener der Zuschauer. Und es auch keineswegs so, dass Ilmar Raag die Gefolgschaft Anders’ als „durchweg eindimensional, undifferenziert gezeichnete (n) Antagonisten“ zeichnet. Im Gegenteil: in der Gruppe des Chefmobbers nimmt ausgerechnet der intellektuell überlegene Klassenprimus die Beta-Rolle ein, einer zynischer Jugendlicher, der den infamen Einfall hat, Joosep und Karsten mit ausgeklügeltem Cyber-Mobbing in die Ecke zu drängen.

Suggestivität versus Rationalität
Die Filme von Laupert und Klandt basieren ebenso wie der von Raag und anders als Gus van Sants preisgekrönter Elephant auf tatsächlichen Ereignissen. Reine Fiktion, die gleichwohl tief in der schulischen Realität verankert wäre, erscheint mir als deutlich schwerer zu ertragen. Diese Verzahnung baut den appellativen Wert von „Klass“ begründeter auf, sie lässt kein Ausweichen zu. Dass in diesem kalten Netzwerk der Gewalt auch die Unbeteiligten nicht nur wegschauen, sondern überwiegend lustvoll zuschauen, ist daher das eigentlich Faszinierende an „Klass“. Denn auch der Terror wandelt auf dünnem Eis. Ohne den Mangel an Empathie und ohne das völlige Fehlen von Zivilcourage in einer geschlossenen sozialen Gruppe könnte Gewalt nur schwerlich existieren. Dass auch „Klass“ keine beruhigenden Einsichten liefert, ist weder zu vermeiden noch ist es gewünscht. Und hier hat Sascha Keilholz völlig Recht: „Ein Film in diesem Kontext kann nur Teil des Diskurses ein, muss über sich hinausweisen“. Eben.
Doch worauf kann der estnische Film verweisen? Zeigt er den sozialen Hintergrund der Täter? Nein. Dämonisiert er das Böse, das offenbar leicht in uns freizulegen ist? Nein. Konfrontiert er uns mit einer komplexen und gleichzeitig enigmatischen Analyse wie Haneke. Nein, auch nicht.
Raag macht indes etwas, was Alfred Hitchcock auch getan hat. Er manipuliert emotional den Zuschauer in etwas mehr als 90 Minuten so perfekt, dass dieser am Ende glaubt, dass es keine Alternative zum finalen Racheszenario gibt. Damit reiht sich Klass eher in das Genre der Vigilanten-Filme ein, die den Zuschauer wie Neil Jordans The Brave One (Die Fremde in dir) hineinziehen in die emotionale Ver- und Zerstörung des Opfers. Auch mit Jordans Film hatte die Kritik ihre ganz eigenen Schwierigkeiten und forderte, zweifellos politisch korrekt, eine Suche nach den Ursachen in gesellschaftlichen und/oder politischen Institutionen. Dieser Schrei nach Rationalität scheint mir indes etwas reflexhaft und verzweifelt zu sein, so als könne man mit nachvollziehbaren Gründen das Übel wegexorzieren.
Raag lässt dagegen Joosep und Kasper in der Schulmensa mit Gewehr und Pistole ein Massaker anrichten, dem schließlich auch Anders und einige Mittäter zum Opfer fallen, und konfrontiert fast noch eindringlicher als Jordan den Zuschauer nach kapitelweise dargereichten Exerzitien mit dessen eigener archaischen Triebstruktur, um sie nur wenig später wieder völlig auseinander zunehmen. Ich finde dies durchaus erschreckender als ein rationales Plädoyer für den Kantschen Imperativ, obwohl dieser sicherlich gediegener ist.

„Ich habe ein Mädchen aus der 8. Klasse erschossen“, klagt Karsten nach dem Töten.
Fast noch unerträglicher als dieses Lamento ist die sachlich-funktionale Unterweisung in die technische Handhabung der seinem Vater entwendeten Waffen, die Joosep vor dem Finale vornimmt: man müsse mit der Pistole schon sehr nahe an die Opfer herantreten, um sie sicher zu liquidieren. Später, als beide erschöpft an einer Wand sitzen, inmitten der Leichen, erinnert Joseep nach Karstens Klage an seine Einweisung in die Waffentechnik: er ist ein pervertierter Techniker des Tötens geworden, der gelassen Scheitern und Gelingen der Aktion auswertet, bei der auch unbeteiligte Mitschüler den Tod gefunden haben. Hier verlässt unser Gerechtigkeitsgefühl die Protagonisten.

Das Ende ist (fast) der kollektive Selbstmord. Doch Karsten lässt Joosep allein sterben. Er hat die Pistole an seiner Schläfe, aber er drückt anders als Joosep nicht ab. Er will leben, den Anderen zum Trotz. Mit Winnenden hat dies nichts zu tun.

Noten: BigDoc=2,5