Donnerstag, 22. Oktober 2015

Der Marsianer - Rettet Mark Watney

Notfall auf dem Mars. Der Astronaut Mark Watney wird versehentlich von der Crew der Hermes auf dem roten Planeten zurückgelassen. Man hält ihn für tot. Doch statt sich philosophisch mit existentiellen Fragen auseinanderzusetzen und in aller Demut zu sterben, beschließt Watney in dem neuen Film von Ridley Scott, dass er einfach nur überleben möchte. Er baut Kartoffeln an. Er verliert seinen Humor nicht. Das hat einige deutsche Kritiker angeödet.

Eine Robinson Crusoe-Geschichte auf einem feindlichen Planeten – da fallen einem
routinemäßig gleich mehrere Vergleiche ein. Man denkt an „Cast Away“ oder Brian de Palmas grandiosen, aber leider völlig unterschätzten Film „Mission to Mars“. Ridley Scotts Verfilmung von Andy Weirs Bestseller „The Martian“ orientiert sich am Pragmatismus von Robert Zemeckis Klassiker, stellt aber visuell eine engere Verbindung zu de Palmas elegant gefilmter Mars-Saga her, allerdings ohne deren utopisches Ende. Der gestrandete Mark Watney entdeckt auf dem Mars keine untergegangene Kultur, dafür viel Sand und Steine. „Der Marsianer“ lässt aber sich auf jenen Teil ein, den de Palma nicht ganz so ausführlich erzählt hat – in „Mission to Mars“ geht es um die Rettung eines Mannes, der auf dem Mars in einem Gewächshaus überlebt hat. Ridley Scott zeigt nun, wie das gelingen kann. Man baut Kartoffeln an. Die haben den besten Kalorienertrag pro Quadratmeter Ackerboden, rät auch Andy Weir. Gut zu wissen.


"I am going to science the shit out of this"

Der Mann, dem dies gelingt, ist Matt Damon. Er spielt den Astrobotaniker Mark Watney, der Mitglied der Ares III-Mission ist. Watneys Crew beschließt während eines verheerenden Sandsturms, zum Mutterschiff zurückzukehren. So sehen es die NASA-Richtlinien vor. Während man sich durch den Sturm kämpft, wird Watney von einem herumfliegenden Teil getroffen. Die Crew von Commander Melissa Lewis (Jessica Chastain, „Interstellar“) wartet bis zuletzt, fliegt dann aber ohne den für tot gehaltenen Watney ab. Der gräbt sich am nächsten Morgen aus einer Sanddüne und kann bis Drei zählen. Danach weiß er, dass er so gut wie tot ist.

Mit wem redet man, wenn man allein auf dem Mars ist? Mit einer Kamera! Watney führt per Video ein Logbuch – es ist auch sein Tagebuch. In dem weitgehend unbeschädigten künstlichen Habitat rechnet er sich vor dem Objektiv zusammen, was ihm geblieben ist: Nahrung und Wasser für 300 Tage. Danach muss er weitere drei Jahre überleben, bis die nächste Mars-Mission Ares IV mit einem Schiff auf dem roten Planeten landen kann. An einem Ort, der über 3000 Meilen entfernt ist. Dort muss er hin, natürlich mit ausreichenden Vorräten. Das ist so gut wie unmöglich – da bleibt nur noch der Humor.

"I am going to science the shit out of this", stellt Watney fest. Frei übersetzt: ich prügele wissenschaftlich die letzten Ressourcen aus diesem Mist. Matt Damon spielt den Überlebenskünstler mit typisch jungenhafter „Ich pack das mal an“-Attitüde. Halt so, wie man Damon kennt. In Christopher Nolans „Interstellar“ gab er einen Gestrandeten, der in einer ähnlichen Situation mental zusammenbricht. Ridley Scott zeigt ihn nun als all-American boy, der zu überleben versucht, weil er gerade nichts Besseres zu tun hat: Er baut Kartoffeln an („Ich bin der beste Botaniker auf dem Mars!“). Per Katalyse Wasser- und Sauerstoff verbinden? Kein Problem, das Bewässerungsproblem ist gelöst. Der Dünger? Nun ja ...

Aber was hilft das alles, wenn keiner weiß, dass man noch lebt? Watney erinnert sich an den Pathfinder, eine Raumsonde, die seit 1997 unter rotem Sand vergraben ist. Er buddelt das Gerät aus und ersinnt eine rudimentäre Kommunikation mithilfe des Hexadezimal-Codes. Der Kontakt zur Erde ist hergestellt. Dort ist der Astronaut kurz zuvor feierlich beigesetzt worden. Nun muss die NASA über eine neue „Mission to Mars“ nachdenken.



Schönheit im Angesicht des Todes

In den USA ist „The Martian“ der große Renner. Die Zahlen des Box-Office-Mojo wiesen bereits kurz nach dem Kinostart einen Umsatz von 147 Mio. US-Dollar (weltweit $ 250 Mio.) aus. In der Jahreswertung ist Scotts Science-Fiction-Film bereits auf Platz 16.
Gedreht wurde in Ungarn, die Außenaufnahmen entstanden in einem jordanischen Flussbett, dem berühmten Wadi Rum, auch Valley of the Moon genannt. Hier haben vor über 30 Millionen Jahren geologische Prozesse die Gesteinsmassen aus Granit und Sandstein auf ungewöhnliche Weise erodiert. Die phantastischen Gebilde, die dabei entstanden, sind im Film zum Valley of the Mars geworden, das von Ridley Scotts Lieblingskameramann Dariusz Wolski in überwältigenden 3D-Bildern festgehalten wurde. Während Erbsenzähler sich über die Wolken beschweren, die man in diesen Bildern einer kargen lebensfeindlichen Natur sehen kann (Wolken gibt es auf dem Mars nicht), könnte man auch zu einem anderen Schluss kommen: Gäbe es kein 3D, dann hätte es für diesen Film erfunden werden müssen. Immer wieder fährt Wolski in den ersten Szenen mit der Kamera im die Protagonisten herum und zeigt die roten Sandstein-Wüsten des jordanischen Sets. Keine Frage: so und nicht anders stellt man sich den Mars vor.
Aber warum man dieser Ödnis einen ästhetischen Reiz abgewinnen kann, bleibt ein faszinierendes Rätsel. Folgt man den Theorien der Evolutionären Ästhetik, dann finden wir das ‚schön’, was für unser Überleben nützlich ist. Aber wenn Watney trübsinnig wird, besteigt er einen Berg und blickt in die bizarre Landschaft. Es sind diese kurzen kontemplativen Einstellungen, in denen „Der Marsianer“ enigmatisch wird. Man muss aber genau hinschauen, wenn Scott diese Metaphern in das Narrativ einfließen lässt. Sie lassen ohne viel Tamtam fühlen, was es bedeutet, auf einem 15 Millionen Meilen entfernten Planeten zu leben. Schönheit im Angesicht des Todes.



Loblied auf die Technik

„Der Marsianer“ gehört zweifellos zu den besten Filmen von Ridley Scott, der mit „Blade Runner“ immerhin einen dystopischen Meilenstein des Genres geschaffen hat. Scotts Space Survival Guide ist (endlich mal) Science-Fiction ohne schleimige Monster, heimtückische Invasoren und auch ohne Star Wars-Fantasy. Dafür detailversessen und nicht nur deshalb ein Plädoyer für das nüchterne wissenschaftliche Denken und damit auch ein Loblied auf die Technik. 
Schaut man sich die obligatorische Technologiekritik in unserem Kulturkreis an, hat man den Eindruck, dass sie zu einem Mythos der rationalen Kritik geworden ist. Generell fragwürdig ist, was sich der Mensch austüftelt und zusammenbaut. Technikfeindlichkeit ist in Genrefilmen mittlerweile zum guten Standard geworden. Denn Technik richtet sich gegen den Menschen, die Natur sowieso, sie wird missbraucht, meistens von den Bösewichtern in den großen Konzernen und den noch geheimeren Geheimdiensten. So wird die berechtigte kritische Reflexion zu einer stereotypen Erzählformel, die einen nur noch gähnen lässt.

Ridley Scott erzählt dagegen eine ganz andere Geschichte. Sein Held macht dank seines technischen Wissens das Beste aus seiner Situation, auch wenn die Crew ihm nur Disco-Klassiker wie "Waterloo", "Don't Leave Me This Way" und "I Will Survive" zur Unterhaltung zurückgelassen hat. So what.
Dabei verzichtet Ridley Scott programmatisch auf Love Affairs und klassische Bösewichter. Zwar ist man sich auf der Erde zunächst nicht klar darüber, wie und womit man Mark Watney helfen kann, aber die politischen und emotionalen Verwicklungen bei der NASA beschränken sich auf interne Querelen zwischen NASA-Direktor Terry Sanders (Jeff Daniels, „The Newsroom“), der einer erfolgreichen Rückkehr der Ares III-Crew Vorrang einräumt, und dem Mars Mission Director Vincent Kapoor (Chiwetel Ejofor, „12 Years A Slave“) und Flight Director Mitch Henderson (Sean Bean, „Der Herr der Ringe – Die Gefährten“), die alles dransetzen wollen, um Watney zu retten.

Dramatisch wird es, als eine Rakete, die neue Vorräte auf den Mars schicken soll, kurz nach dem Start explodiert, während zeitgleich die Luftschleuse des Habitats explodiert und dies Watney endgültig in eine aussichtslose Lage bringt. Melissa Lewis und ihre Mannschaft auf der Hermes beschließen daraufhin, alle NASA-Befehle zu ignorieren. Henderson ist es, der ihnen heimlich entscheidende Informationen über einen alternativen Plan des Computer-Nerds Rich Purnell (Donald Glover) zuspielt. Auf diese Weise kann die Crew die Erdgravitation als Sprungbrett nutzen, um mit einer chinesischen Versorgungskapsel und enormer Beschleunigung zurück in Richtung Mars zu fliegen. Dort muss Mark Watney allerdings noch die enorme Entfernung zum geplanten Landeplatz der Ares IV-Mission zurücklegen und dort eine von der NASA im Krater Schiaparelli geparkte Rückflugkapsel flott machen (1). Das fällt fast noch spektakulärer aus als die eigentliche Rettung

„Der Marsianer“ ist in einigen Jahren vermutlich ein Genreklassiker. Trotz unvermeidlicher Auslassungen und Verkürzungen wird eine packende Geschichte mit hoher Plausibilität, viel Humor und gebremstem Pathos erzählt, in der das Prinzip Hoffnung von der Hauptfigur ohne großes Palaver in die Tat umgesetzt wird. In ihrer Moralität erinnert sie gelegentlich an einige der betulichen, aber nicht zu unterschätzenden Produktionen aus der DEFA-Schmiede (2). Zudem wird dem Zuschauer, anders als in Christopher Nolans „Interstellar“, keine intellektuelle Gratwanderung zugemutet, allerdings muss er schon etwas Schulphysik mitbringen. Dazu kommen wir jetzt.



Mark Watney und die Physik: Beschleunigen, bewegen, bremsen!

Wie in „Gravity“ und „Mission to Mars“ spielen auch in „Der Marsianer“ die entscheidenden Szenen im Weltall. Wie dockt man mit einer Kapsel an einem anderen Raumschiff an, wenn man sich zu schnell bewegt? Gar nicht, wenn man die gesamte Bordtechnik zuvor entsorgen musste. Also bleibt nur eins: Aussteigen und und Richtung der Retter fliegen. Mit anderen Worten: richtig zielen und dann bremsen. Leider hat man keine Bremse. 
Wenn Mark Watney am Ende gerettet wird, spielen Schwerelosigkeit, Beschleunigung und/oder gleichbleibende Geschwindigkeit also eine entscheidende Rolle. Doch anders als in „Gravity“ werden in Ridley Scotts Film gravierende Fehler vermieden.
Zunächst etwas Schulphysik: Schwerelosigkeit gibt es während eines freien Falls im Vakuum oder bei einem Parabelflug, wobei, das ist die Feinheit, die Schwerkraft quasi nicht wirkt, aber natürlich immer noch präsent ist. Schwerelosigkeit ist ein also Nullsummen-Spiel, bei dem die Gewichtskraft durch die entgegengesetzte Fliehkraft kompensiert wird. Beispiel: eine Raumstation bewegt sich mit einer definierten Geschwindigkeit und ‚fällt’ gleichzeitig auf ihrer Umlaufbahn. Das Ergebnis: Man ist schwerelos.

Während gefühlte 90% der Kritiker über „Gravity“ schrieben, dass im Raum die Erdanziehung nicht mehr besteht, liegt sie in Wahrheit bei 90%. Immerhin sind die Zahlen gleich, egal ...
Da die Körper in Schwerelosigkeit immer noch dieselbe Masse besitzen, greift natürlich der Trägheitseffekt. Einmal beschleunigt, z.B. durch einen kurzen Impuls, bewegt sich der Körper mit gleichbleibender Geschwindigkeit. Doch wo bleibt die Bremse? Da muss man etwas tricksen. Matt Damon macht es dabei besser als George Clooney in „Gravity“, der offenbar Newtons Gesetze und auch das Prinzip der Impulserhaltung nicht kannte und sich opfert, weil er das rettende Raumschiff nicht erreicht.
 


Wie es richtig gemacht wird, demonstriert Mark Watney, als er eine Bremse braucht. Einfacher Trick: Er könnte etwas wegwerfen, was ihn bremst. Watney schneidet sich aber seinen Handschuh auf und erzeugt durch den aus seinem Raumanzug austretenden Sauerstoff eine ähnliche Wirkung. Verrechnen darf er sich nicht, denn sonst geht ihm buchstäblich die Puste aus. Ein Übel: er erzeugt zwar einen Bremseffekt (Beschleunigung in die entgegengesetzte Richtung), der ist leider aber unkontrollierbar, was das genau Zielen betrifft. 
Immerhin hat Watney in der finalen Sequenz Newtons Prinzip von Aktion und Reaktion klar kalkuliert, als er sich beim Bergungsmanöver mit zu hoher Geschwingkeit auf die Rettungscrew der Hermes zubewegt. Denn im All herrscht dank fehlender Reibung das Trägheitsprinzip besonders gnadenlos – theoretisch hat dies bereits der große Isaac Newton gewusst, sich aber wohl kaum ausmalen können, zu welchem Kuddelmuddel dies im Weltraum führt.
Hätte sich Watney allerdings einen Gegenstand mit dem Gewicht von mehreren Tonnen umgeschnallt, würden die auf ihn einwirkenden Kräfte deutlich geringeren Einfluss auf seine Geschwindigkeit haben. So aber kommt es nach den Zusammenstößen mit der ihn erwartenden Melissa Lewis zu einem bizarr anmutenden und unberechenbaren Chaos von Aktion und Reaktion. Anders formuliert: alle fliegen wild durcheinander. Auch das ist Newton.

In „Der Marsianer“ wurden übrigens alle Schwerelosigkeitsszenen in einem Parabelflieger der NASA gedreht. Und wie sieht es sonst mit der Physik in „Der Marsianer“ aus? Viele Details stimmen, aber Sandstürme auf dem Mars wären in ihrer Wirkung banal, da der atmosphärische Druck dort oben (oder unten?) nur ein Hundertstel des irdischen Luftdrucks beträgt – da würde ein Blatt Klopapier im härtesten Sturm bestenfalls leicht wedeln. Und es müsste alles deutlich leiser sein. Stichwort: Luftdichte.
Dass sich Watney auf dem Mars zudem auf eine Weise bewegt, die so aussieht, als würde er durch die Wüste Sahara marschieren, ist ebenfalls nicht nachzuvollziehen. Warum? Auf dem roten Planeten existieren nur 38% der Erdschwere.
An solchen Details hat sich Verena Lueken in ihrem Verriss für die Frankfurter Allgemeine festgeklammert und generalisierend festgestellt, dass „alles, was hier geschieht, aus einer physikalischen Unmöglichkeit“ folgt. Stimmt leider nicht.
Dass die Rezensentin sich von der Figur des Mark Watney zudem philosophisch abgestoßen fühlt („Dieser Mann denkt über nichts nach, was über die Frage hinausgeht, wie er Wasser erzeugen kann, um seine Kartoffeln zu sprengen“), erinnert dann doch an ein fruchtloses Lamentieren à la ‚Warum erzählt Ridley Scott ausgerechnet diese Geschichte und keine andere?’ Nun, er hat sich die Freiheit genommen.

Sieht man von dererlei Kleinigkeiten ab, so hat Drehbuchautor Drew Goddard mit seiner Adaption des Buches von Andy Weir hervorragende Arbeit geleistet. Das hielt einige Feuilletonschreiber aber nicht davon ab, diesen Film nicht nur aus technischen Gründen zu verreißen. Wohl, weil man sich nach „Gravity“ und „Interstellar“ warm geschrieben hatte, zum anderen, weil die Kritiker einfach nicht bereit sind, sorgfältig zu recherchieren, um ihre längst vergessenen Kenntnisse über elementare Schulphysik aufzupeppen. 
„Selbstverliebtheit ins eigene Nichtwissen“ nennt dies Prof. Ulrich Walter in seinem Beitrag über die Physik in „Der Marsianer“. Allerdings macht auch Walter auf einige Unstimmigkeiten aufmerksam. Der Autor dieser Kritik hat sich zumindest anständig um seine Recherchen bemüht und er weiß daher zu schätzen, dass „Der Marsianer“ insgesamt doch ein sehr sorgfältig produzierter Film ist, auch wenn sich einige Kollegen in ihren Redaktionsstuben wieder einmal über den amerikanischen Technologieoptimismus echauffiert haben.

Aber in „Der Marsianer“ geht es ja nun wirklich nicht nur um Technik. Ridley Scott erzählt in keineswegs zu langen 144 Minuten eine Geschichte, die trotz ihres naturalistischen Grundtons extrem spannend ist. Denn spannend ist auch die Frage, was uns umtreibt, wenn wir ins All fliegen.
"Space is not cooperative“, wird Mark Watney am Ende feststellen. Und jene, die in einigen Jahren tatsächlich zum Mars fliegen werden, sollten ihre philosophischen Büchern am besten vor dem Start gelesen haben. Denn da draußen warten Einsamkeit und Leere und fremde Planeten, deren Landschaften schön und tödlich sind. Aber möglicherweise warten dort auch altmodische Tugenden, die das Mainstream-SF-Kino zu oft vergisst: Kreativität, schöpferisches Denken und Mut. Dazu Charakterstärke und andere Nebensächlichkeiten wie Freundschaft, Loyalität und Hingabe. In solchen Momenten erinnert
Der Marsianer“ dann doch sehr an Star Trek.
 
Noten: BigDoc = 1
 

(1) Mark Watneys Tour zum Krater Schiaparelli wurde vom DLR-Institut für Planetenforschung in einem sehenswerten Video nachgestellt, das aus 2,5 Millionen präzisen Kartierungen zusammengesetzt wurde.
(2) In der DDR und anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks gab es in der 1960er- und 1970er-Jahren eine ganz eigene Tradition von Weltraumfilmen, die nicht von ungefähr als „wissenschaftlich-phantastisch“ deklariert wurden. Technisch konnten die besten Exemplare mit der westlichen Konkurrenz durchaus mithalten, wirken heute aber etwas museal. Die Macher orientierten sich häufig an literarischen Vorbildern wie Stanislaw Lem oder Isaac Asimov – nicht immer zum Wohlgefallen der politischen Führung. DEFA-SF besaß häufig eine realistische Ausrichtung und eine unübersehbare Fokussierung auf technische Details. Eine Special-Edition mit drei der bekanntesten DEFA-Sci-Fi-Filmen plus Soundtrack-CD gibt es bei einem bekannten E-Tailer.

Pressespiegel


„...meiner Meinung nach das Beste, was es an Weltraumfilmen bis heute gibt“ (Ulrich Walter auf N24).

„Dieser Mann denkt über nichts nach, was über die Frage hinausgeht, wie er Wasser erzeugen kann, um seine Kartoffeln zu sprengen (...) Keine packende Geschichte. Keine Angst, kein Gefühl überhaupt“ (Verena Lueken in der Frankfurter Allgemeinen).

„Das ist auch das Tolle an Ridley Scotts Film. Er zeigt in jeder Einstellung das Abenteuer, das entsteht, wenn Überlebenswille auf Wissenschaft trifft. Im Grunde ist "Der Marsianer" eine Kreuzung aus Gravity und Robinson Crusoe“ (Jan Küveler in DIE WELT).

„Das Ergebnis ist vielleicht nicht tiefschürfend und sicher nicht so wegweisend wie einst »Blade Runner« oder »Alien«. Aber eben immerhin die wohl überzeugendste und unterhaltsamste Großproduktion des Jahres. Und obendrein Scotts bester Film in mindestens diesem Jahrzehnt“ (Patrick Heidmann in epd-Film).

„So ist Der Marsianer letzten Endes ein fast frömmelndes Loblied auf den Menschen selbst: „Endlich sind wir wieder wer!“ Und tatsächlich, die Natur wurde wieder einmal bezwungen, der Traum des Technooptimismus, er darf wieder geträumt werden, und die USA als Nation hat wieder alles im Griff. (...) So gehen kosmopolitische Blockbuster im Jahr 2015 eben: Am Ende feiert die Welt die Rettung, einträchtig vereint und verbrüdert – eine sentimentale Utopie“ (Johannes Bluth, critic.de)

„Scotts Marsianer ist vielmehr praktische Anleitung für eine handfeste Vision in einer an politischen Visionen armen Gegenwart. Und möglicherweise erklärt gerade diese offenkundige Pragmatik, warum der Film in den USA bei Publikum und Kritik begeistert aufgenommen wird und in Deutschland nicht“ (Axel Timo Purr, artechock.de).

Der Marsianer – Rettet Mark Watney (The Martian) – USA 2015 – Regie: Ridley Scott – Drehbuch Drew Goddard (nach dem Roman „The Martian“, 2011, von Andy Weir – Kamera: Dariusz Wolski – FSK: ab 12 Jahren – D.: Matt Damon, Jessica Chastain, Kate Mara, Jeff Daniels, Chiwetel Ejiofor, Sean Bean, Donald Glover

Montag, 19. Oktober 2015

Er ist wieder da

Die Verfilmung des gleichnamigen Buches von Timur Vermes hat sich recht schnell in den Top 3 der deutschen Kinocharts etabliert. Regisseur David Wnendt hat dabei alles richtig gemacht: Er löst sich von der literarischen Vorlage, schickt Darsteller Oliver Masucci als Gröfaz auf eine Reise durch Deutschland und muss dabei feststellen, dass an einigen Mitbürgern 70 Jahre Demokratiegeschichte spurlos vorübergezogen sind: Sie würden ‚ihm’ wieder folgen.

Teile der deutschen Kritik hielten sich mit der Frage auf, ob man über Hitler lachen darf. Die Antwort hat bereits Charlie Chaplin gegeben. Und der deutsche Kinogänger sowieso: der lässt sich nur ungern vorschreiben, über wen oder was er lachen darf.

Die Frage sollte aber nicht sein, ob man über Hitler lachen darf, sondern eher, ob man es kann. In dem Kino, in dem ich saß, lachte kaum jemand. Nur einmal, als Oliver Masucci (exzellente Performance als
Hitler) in der tiefsten deutschen Provinz einen stromgeladenen Weidezaun anfasst und danach wie wild gewordener Gartenzwerg durch die Gegen hüpft, tobt der Saal. Ja, der Deutsche und die Komödie. Nun fehlen nur noch die Torten, die man sich ins Gesicht wirft, dachte ich. Davon nimmt David Wnendt („Kriegerin“, Feuchtgebiete“) aber Abstand. Zum Glück.

Wie gesagt: Ansonsten wurde kaum gelacht. Und je länger der Film lief, desto leiser wurde es im vollbesetzten Kinosaal. Und wenn der Gröfaz (Größter Feldherr/Führer aller Zeiten) am Ende im offenen Wagen durch Berlin fährt, unterlegt von Bildern, in denen ‚besorgte Bürger’ wie auch militante Rechte aufmarschieren, Flüchtlingsheime brennen und Straßenschlachten zu sehen sind, sagt „Hitler“: „Damit lässt sich arbeiten!“
 

Er scheint Recht zu haben. Dabei ist die Flüchtlingskrise in „Er ist wieder da“ nicht einmal das Hauptthema in Wnendts Film. Die im Film genannten Zahlen über den Flüchtlingszustrom sind von der Realität bereits überholt worden. In den deutschen Foren haben die Rechten die Meinungshoheit übernommen, während einige Idioten auf Facebook posten, dass die Öfen in Auschwitz bereits vorgeheizt werden.
Darauf lässt sich ein neues Deutschland aufbauen, meint auch
der Gröfaz. In „Er ist wieder da“ gelingt es dem wiederauferstandenen Adolf Hitler zwar nicht, die Rechten um sich zu scharen (die aktuellen sind in seinen Augen ohnehin nur unfähige Kretins), aber er wird ein gefeierter Medien-Star – und das ist in der digitalen Mediengesellschaft schon mal der wichtigste Schritt. 

Fiktion und Realität verschwimmen

Timur Vermes Debütroman erreichte vor drei Jahren Platz 1 der Bestsellerliste – und verharrte dort im SPIEGEL für lange Zeit. Bei der Kritik löste dies Reaktionen zwischen Naserümpfen und verhaltener Zustimmung aus. „Erschütternd plausibel“ resümierte DIE ZEIT, „Klamauk“ und „schal“ befand DIE WELT. 
Richtig in Rollen kam Vermes’ Bestseller erst durch die kongeniale Hörbuchfassung, in der Christoph Maria Herbst („Stromberg“) nicht nur dem Ich-Erzähler Adolf Hitler eine Stimme gab. Herbst brillierte und das Hörbuch war danach ebenfalls schnell auf Platz 1.

David Wnendt hat gut daran getan, keine eng an das Original angelehnte Adaption des Stoffes folgen zu lassen. Natürlich wacht auch seine Hauptfigur in einem Berliner Park auf und ist, wie aus dem Nichts erschienen, plötzlich „wieder da“. Oliver Masucci als Gröfaz bekommt es wie im Buch mit respektlosen „Hitlerjungen“ zu tun und wundert sich, dass es den Deutschen so gut geht, habe er doch alles getan, um deren Überleben im Angesicht der Kriegsniederlage zu verhindern. In Wnendts Film taumelt er dann aber in voller Montur durch Berlin, wird zum Objekt unvermeidlicher Selfies, erntet Grinsen und gespielte Begeisterung. Am Ende landet er verstört, aber wissbegierig beim „Kioskbesitzer“ (Lars Rudolph) und liest sich erst einmal durch den Blätterwald.

Danach aber sucht sich David Wnendt seinen eigenen Weg. Der Gröfaz lernt Fabian Sawatzki (Fabian Busch)
kennen, einen freien Mitarbeiter des TV-Senders MyTV. Und Sawatzki, Fabian Busch ist großartig in seiner völligen Naivität, nimmt den Gröfaz mit auf eine Reise durch Deutschland. Wnendt konfrontiert die Menschen mit seinem Darsteller und sprengt damit die Diegese. „Er ist wieder da“ konfrontiert in diesen dokumentarischen Sequenzen seinen Darsteller im Outfit Hitlers mit dem, was man heute „Dunkeldeutschland“ nennt. Und Oliver Masucci, der zum Glück kein bekanntes TV- oder Filmgesicht parat hat, wird tatsächlich ernst genommen. Menschen schildern ihm ihre Ängste und Nöte und wenn ihm unbeholfen der Wunsch nach „Arbeitslagern“ angetragen wird, verspricht er verständnisvoll, sich darum zu kümmern. Richtig gruslig wird es dann, wenn Hitler in einem NPD-Büro seine schlaffen Epigonen zusammenfaltet. Ist das Mockumentary à la „Borat“ oder bereits Scripted Reality? 
Fiktion und Realität verschwimmen in Wnendts Film und das schwemmt verborgene Sedimente aus, die lange verborgen in den abstrakten Zahlen irgendwelcher Statistiken über Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit schlummerten. Wnendt befördert sie aus den Untiefen des ‚völkischen Unbewussten’ ans Tageslicht und das verstört.
Natürlich ist Montage im engeren Sinne immer etwas Manipulatives, denn der Zuschauer sieht nie das, was weggelassen worden. Heute gibt es für das am Schnitttisch Entsorgte ein ‚Making of’, aber das ist vorerst nicht zu sehen. Und so liefert Wnendt nicht ganz frei von Zynismus die Allerdümmsten und die Bösartigsten dem Spott der Nation aus. Erstere werden es vielleicht nicht verstehen und ihre Follower bekommen, die anderen allerdings schon.

Natürlich kehrt Wnendt immer wieder zur erfolgreichen Vorlage zurück. „Hitler“ landet beim skrupellosen Sender MyTV, bei dem sich die neue Programmchefin Katja Bellini (Katja Riemann) und ihr abgezockter, aber nicht sonderlich befähigter Stellvertreter Christoph Sensenbrink (Christoph Maria  Herbst, der auch diese Rolle gut hinkriegt) einen intriganten Rosenkrieg liefern. Im Gegensatz zu Sensenbrink erkennt Bellini in dem Wiedergänger, den sie für einen Method-Acting-Comedian hält, das komödiantische Potential. Und so darf der Gröfaz in der Show „Krass, Alter“ des peinlichen Komikers Michael Witzigmann (Michael Kessler) seinen ersten Auftritt absolvieren. Der Gröfaz überwältigt das Publikum. Durch Schweigen. Dann legt er los.
Die Show wird zum Quotenhit, der Gröfaz lernt die unglaublichen Möglichkeiten des „Internetz“ kennen, wird in Talkshows herumgereicht, landet sogar bei Frank Plasberg. Aber dann wird ein Video publik, in dem „Hitler“ einen Hund erschießt. Spätestens hier vergeht den Deutschen, wie wir wissen, das Lachen endgültig. Ist dies das Ende für den Gröfaz?




„Damit lässt sich arbeiten!“

Als Mediensatire funktioniert „Er ist wieder da“ genauso gut wie das Buch. David Wnendts Film gelingt es zudem recht überzeugend, jene Beklemmung auszulösen, die man bereits im Buch und erst recht im Hörbuch erleben konnte. Dort, wie auch im Film, ist „Hitler“ kein tumber Clown, sondern jemand, der kalt analysieren kann und seine Chance realistisch auslotet. Jahrzehnte nach Ende des Krieges deckt diese fiktive Figur schonungslos auf, was in der Post-Moderne und der neuen schönen digitalen Welt so alles schief läuft. Und hat er nicht gelegentlich Recht mit seinen Feststellungen?
Timur Vermes hat bereits mit diesen ‚bösen Gedanken’ gespielt, David Wnendt tut dies auch – und in seiner Verfilmung präsentiert er dank seiner dokumentarischen Feldversuche noch bedrückender, wie schnell man in die Falle laufen kann. Zwischen post-moderner Beliebigkeit, in der alles nur großer Ulk ist, und rationalem Diskurs sind nicht nur die Bildungsfernen und Minderbemittelten hoffnungslos gestrandet und warten auf einfache Erklärungen.
Aber Wnendt schiebt in einer Schlüsselszene allen Versuchungen einen Riegel vor. Als der Gröfaz aufgrund des Hunde-Videos bei MyTV rausfliegt, kommt er bei seiner Sekretärin Vera Krömeier (Franziska Wulf mit starken Auftritten) unter. Deren demente Großmutter (Gudrun Ritter) erwacht angesichts der Inkarnation des Bösen aus ihrer Umnachtung, erinnert sich an das Grauen, das sie während des Krieges erlebte - und wirft den Gröfaz aus der Wohnung. Spätestens nach dieser Szene erstarb in Kinosaal endgültig das Lachen.

Doch ein „Hitler“ lässt sich auf dem Weg zur Weltherrschaft nicht lange aufhalten. Er schreibt ein Buch, das bald darauf verfilmt wird, und das Quotendesaster bei MyTV führt bei dem mittlerweile zum Programmchef ernannten Christoph Sensenbrink zur Erkenntnis, dass er nicht länger auf den TV-Star seiner Vorgängerin verzichten kann. „Er“ ist wieder da.

Am Ende hat sich der Gröfaz erfolgreich durch den grenzdebilen deutschen Medienmarkt gearbeitet, er weiß, wie der Hase läuft („Goebbels würde sich freuen!“).
Sawatzki, der ihn wie Oma Krömeier erkannt hat und nun weiß, dass Adolf Hitler tatsächlich auferstanden ist, träumt sich dessen Ermordung – aber auch im Traum kehrt der tote Hitler zurück: „Ich bin ein Teil von Dir!“
Aber der Traum ist nur ein Chroma-Key-Effekt, der als vielsagende Metapher in Millionen Pixel zerfällt, und führt dann auch prompt in die Gummizelle.
David Wnendts „Er ist wieder da“ verortet sich treffsicher zwischen galliger Mediensatire und Widerspiegelung des Zeitgeists. Natürlich darf man darüber lachen. Man kann es aber nicht, es fällt schwer. Im Kinosaal ging das Licht an, aber die Zuschauer blieben lange schweigend sitzen. Etwas Besseres lässt sich über den Film nicht berichten.

Note: BigDoc = 1,5

Er ist wieder da – Deutschland 2015 – Regie und Drehbuch: David Wnendt – Laufzeit: 116 Minuten – D.: Oliver Masucci, Fabian Busch, Katja Riemann, Christoph Maria Herbst, Franziska Wulf, Michael Kessler.

Dienstag, 6. Oktober 2015

„Fear The Walking Dead“ mit ordentlichem Staffelende

In der letzten Episode von „Fear The Walking Dead“ sind alle in der Welt der „lebenden Toten“ angekommen. Nicht jeder, aber die meisten. Robert Kirkman und Showrunner Dave Erickson haben auch im Spin-Off der Erfolgsserie „The Walking Dead“ ihren Figuren keine Safe Zone gestattet und sie auf die Straße geschickt. Nach langem Anlauf landen die Überlebenden in einer Welt, die den Zuschauern nur allzu vertraut sein dürfte.

Es gehört zu den eisernen Gesetzen im „Walker“-Kosmos, dass man sich die Weggefährten nicht aussuchen kann. Auch in „Fear The Walking Dead“ (FTWD) werden über die Familienbande hinaus Zweckallianzen geschmiedet, die nicht immer auf Sympathie basieren, sondern auf Notwendigkeit und Zufall. Beide sind an sich absolute Gegensätze. In „The Walking Dead“ (TWD) und dem neuen Spin-Off gehören sie als Katalysator jedoch zusammen und sie entscheiden über Sicherheit, Leben und Tod. Das Notwendige muss getan werden, die Zufälle kommen ganz von selbst, so lautet die lapidare Einsicht. Überzeugen kann
„Fear The Walking Dead“ nur in der zweiten Staffelhäfte.

Etwas dröge, aber das mit Konzept

Das erste Bild der letzten Episode The Good Man zeigt das untergegangene nächtliche Los Angeles: Es gibt keinen Strom, die Skyline ist in finsteres Schwarz gehüllt, nur einige Brände sorgen für eine flackernde Restbeleuchtung. Die Stadt ist tot. Die Episode endet, das überrascht, mit einer langen Kamerafahrt über das offene Meer. Draußen liegt eine Yacht, die für die vor der Zombie-Apokalypse fliehende Notgemeinschaft die Rettung sein könnte. Kein Cliffhanger, keine finale Volte. Nur das weite Meer. Alles ist offen, mehr Allegorie geht nicht.

„Fear The Walking Dead“ hat einen langen Anlauf benötigt, um sich mit den letzten drei Episoden vom Fluch aller Spin-Offs zu befreien: dem Vergleich mit der Mutterserie. Es war und ist ein Dilemma: Entweder macht man alles gleich (was einige hartgesottene Fans sicher erwartet haben) oder man macht alles anders. FTWD liegt genau dazwischen. 

Dave Erickson hatte es angekündigt: Es ginge, so der Showrunner, um eine Parallelgeschichte zu TWD, in deren Mittelpunkt eine „dysfunktionale Familie“ stehen soll (vgl. auch meine Besprechung der 1. Episode). 
Gemutmaßt wurde auch, dass die Staffeln des Spin-Offs (das AMC übrigens nicht als solches bezeichnet, weil man sich immer noch mit Frank Darabont, dem Schöpfer von TWD, über mögliche Rechte an themenverwandten Nachfolgeprodukten streitet (1)) sich eher an thematischen Schwerpunkten als an Figuren orientieren sollten. Das gilt auch für die einzelnen Episoden der ersten Season von FTWD. Dennoch: „Fear The Walking Dead“ blieb über weite Strecken eine Zombie-Serie, die gefühlt ohne Zombies daherkam. Dazu gehört Mut.
In der ersten Staffelhälfte sah FTWD wie ein Dramolett aus, also ein Kurz- oder Minidrama, das nur mit äußersten Anstrengungen auf Laufzeiten zwischen 41 und 51 Minuten aufgeblasen werden konnte. Die auch in den USA nach dem Serienstart bemängelte Spannungsarmut lässt sich in den Konflikten der Patchwork-Family bis über die Staffelhälfte hinaus durchaus nachempfinden. Viele Dialoge befanden sich Leerlauf, die Protagonisten agierten dümmer als es dramaturgisch zumutbar war. 



Schwächen bei der Figurenentwicklung

Bereits nach der 1. Epsode hatte ich kritisiert, dass FTWD Probleme damit hat, auf Anhieb fesselnde Figuren einzuführen. Frank Darabont ist dies gelungen, aber er besaß ja auch den Zugriff auf eine gut entwickelte Comicserie. FTWD brauchte etwas mehr Zeit.
Spannend ist die Entwicklung des zögerlichen Lehrers Travis Manawa (Cliff Curtis), der erkennbar als friedfertiger und aufreizend gutgläubiger Gegenentwurf zum waffenerprobten Rick Grimes aus der Originalserie entworfen wurde. Beinahe vorhersehbar wird am Ende der letzten Episode Blut an seinen Händen kleben. Dass diese Wendung auch fatale Nebenwirkungen hat, werde ich später im Zusammenhang mit der letzten Episode
„The Good Man" genauer untersuchen.
Lebensgefährtin Madison (Kim Dickens) passt sich deutlich schneller den Regeln in Zeiten der Apokalypse an und wird auch Folter dulden, wenn es dabei hilft, die Familie zu retten. Kim Dickens könnte die neue ‚starke Frau’ in der Serie werden.

Ihre Kinder Nick (Frank Dillane) und Alicia (Alycia Debnam-Carey) gewinnen eher stotternd ein eigenes Profil, was mit Abstrichen auch für Chris (Lorenzo James Henrie), Travis’ Sohn aus erster Ehe gilt. Travis’ Ex-Frau Liza Ortiz (Elisabeth Rodriguez) wird dagegen nicht nur als mutige Krankenschwester eine besondere Rolle in der Serie erhalten. Den ersten drei Episoden gelingt es allerdings nicht, den Supporting Actors ein überzeugendes Profil zu geben.

Stärker ist FTWD, wenn es um die Einführung neuer Figuren und Side-Kicks geht. Rubén Blades entwickelt sich als salvadorianischer Migrant mit dunklem Hintergrund zu einem stoisch-brutalen Überlebenskünstler. Daniel Salazar tut wirklich alles, um seine Frau und seine Tochter Ofelia zu retten – nicht nur vor den Untoten. 
Und dann taucht in Episode 5 auch noch der geheimnisvolle Victor Strand (Colman Domingo) auf, der so zynisch, rhetorisch schlagfertig und selbstbeherrscht auftritt, als wäre der Zusammenbruch der zivilen Gesellschaft genauso spannend wie das Braten eines Spiegeleis.
Die gute Durchmischung der Gruppe, die am Ende in ein ungewisse Zukunft aufbricht, kann als gelungen beurteilt werden. Ansonsten haben die Macher von FTWD ihre Spielchen mit dem Zuschauer getrieben. Deren Vorwissen über das Überleben in eine zombifizierten Welt ist das Benzin, dass den narrativen Motor zum Laufen bringen sollte. Und es wurde ziemlich kalkuliert eingesetzt, um Emotionen, Sympathien und Aversionen für und gegen die Figuren zu schüren. Denn eins muss klar sein: auch in FTWD wird von einer post-apokalyptischen Sozialisation erzählt, in der die Protagonisten ein Regelwerk lernen müssen, wenn sie überleben wollen. Wer dann trotz aller Vorbehalte bis zum Schluss durchgehalten hatte, musste einräumen, das hinter den sechs Episoden der knapp bemessenen ersten Staffel tatsächlich ein Konzept steckte, das eng mit thematischen Schwerpunkten verknüpft ist.


Schweigen und Konfusion

Themen anstatt Figurenentwicklung. Um welche Themen geht es in „Fear The Walking Dead“? Es handelt sich um den Erstkontakt, die Konfrontation, die Erkenntnis, Sicherheit und Freiheit, die Wahrheit und die Regeln der Apokalypse.
  • Thema: Erstkontakt (in Ep 1 „Gute alte Zeit“, engl. „Pilot“): 
Der drogenabhängige Nick Clark wacht in einer Kirche auf und sieht, wie seine Freundin eine Leiche auffrisst. Seine Mutter Madison Clark und deren Lebensgefährte Travis Manawa, beide Lehrer an einer Highschool, bringen ihren Sohn ins Krankenhaus. Niemand glaubt seine Geschichte. Im Fernsehen sieht man allerdings, dass einer ‚Infizierter’ durch den Kugelhagel von Polizisten nicht aufzuhalten ist. Als ein Dealer versucht, Nick umzubringen, kommt er in dem Handgemenge durch einen tödlichen Schuss selbst ums Leben. Nick führt seine Mutter und Travis zum Tatort, wo die Drei von dem toten Dealer angegriffen werden. Nick überfährt ihn mehrmals. Der Erstkontakt: Die Familie ist ratlos.
  • Thema: Konfrontation (in Ep 2 „So nah und doch so fern“, engl. „So Close, Yet So Far“): 
In L.A. verbreiten sich Gerüchte über ‚Infizierte’. Die Familie spricht, und das verblüfft, nicht über das Erlebte, beschließt aber die Stadt zu verlassen. Zuvor will Madison in der verlassenen Highschool Medikamente besorgen, um etwas gegen Nicks Entzugssymptome zu unternehmen. Sie wird von dem infizierten Rektor angegriffen. Madison tötet ihn mit einem Feuerlöscher. 
Travis sucht nach seiner Ex-Frau Liza Ortiz und dem gemeinsamen Sohn Chris. Sie finden ihn inmitten einer Demonstration und alle werden Zeugen der Erschießung einer infizierten Frau durch die Polizei. Die Drei flüchten in einen Friseursalon und lernen dort den Inhaber Daniel Salazar und seine Familie kennen. Draußen tobt und plündert der Mob. Wieder einmal werden die Protagonisten in der Zombie-Welt von Robert Kirkman damit konfrontiert, dass die Untoten lediglich ein Brandbeschleuniger für völlig andere Fragen und Konflikte sind.
  • Thema: Erkenntnis (in Ep 3 „Der Hund“, engl. „The Dog“): Travis, Liza und Chris müssen zusammen mit den Salazars fliehen. Auf den Straßen feiern (!) und toben die Menschen, Gangs verwüsten die Geschäfte und mittendrin fressen vereinzelte Walker ihre Opfer. Daniel Salazars Frau Griselda wird verletzt. Die Gruppe verlässt in einem Pick-Up die City und sieht, wie kurz hintereinander in allen Stadtteilen der Strom ausfällt. Madison und ihre Kinder Nick und Alicia warten zuhause auf die Vermissten. Sie lassen den Hund ihres Nachbarn Peter in die Wohnung. Peter hat sich bereits verwandelt und nähert sich dem Haus. Panisch suchen die Drei bei einem Nachbarn nach einem Gewehr, während gleichzeitig Travis mit der Gruppe auftaucht. Im allgemeinen Chaos frisst Peter seinen Hund auf und greift Travis an. Dieser versucht die Situation mit dem Untoten vernünftig auszudiskutieren. Dies scheitert jedoch. Salazar erschießt Peter aus nächster Nähe. Als Alicia ihren Vater fragt, was draußen geschieht, antwortet dieser „Menschen werden krank“. Nick wirft ein: „Sie sind tot“. Im Garten starren alle am nächsten Morgen das Hausmädchen Susan an. Sie hat sich ebenfalls verwandelt. Madison will sie töten, Travis verhindert es: "Das ist Susan!" Die schwer verletzte Griselda wird versorgt, wenig später stürmen Soldaten das Gelände und stellen alles unter Quarantäne. Travis schöpft Hoffnung, doch Daniel Salazar erkennt lapidar: „It’s to late.“

Nach der ersten Staffelhälfte fragte man sich nicht ganz ohne Kopfschütteln, was man eigentlich gesehen hatte. Gut, die Hauptfiguren wurden routiniert in die Handlung eingeführt, aber die Mitglieder der Familie Clark sind nicht in der Lage, über das zu reden, was offensichtlich ist: Es geschieht etwas, was gegen die bekannten Naturgesetze verstößt und man schweigt gemeinsam oder vertraut darauf (Travis), dass die Ordnungskräfte alles schon richten werden. 
Alle Spekulationen über eine seltsame Krankheit und deren Eindämmung dürften dem gesunden Menschenverstand zufolge aber völlig überflüssig sein, wenn Tote sich erheben und Menschen anfallen. Doch in FTWD schweigt man, so als gelte es, etwas zu verdrängen.

Nun ist Plausibilität bei der Plotentwicklung nicht immer möglich. Aber es wirkte schon irritierend, dass Madison und ihre Kinder sich inmitten der kollabierenden Zivilgesellschaft die Zeit für ein entspannendes Würfelspiel nehmen, anstatt den Fernseher anzumachen oder Google darüber zu befragen, warum denn da draußen die Welt untergeht.

Störend ist dabei weniger die vermeintlich fehlende Spannung (die gibt es durchaus), als vielmehr die gewaltige Verdrängungsarbeit, die den fiktiven Figuren von einem Script mit geringer psychologischen Plausibilität aufgezwungen wird. Die ersten drei Episoden der Serie gehen am Stock, weil die Macher wohl beschlossen hatten, den Wissensvorsprung der zombie-erfahrenen Zuschauer gnadenlos gegen die hilflosen Figuren in Stellung zu bringen. Dramaturgisch ist das nachvollziehbar, in der Umsetzung besitzt dies aber einen zynischen Grundton. Angst und Unsicherheit werden als Naivität diskreditiert. Nur wer seine Empathie rasch über Bord wirft, wird überleben.

Damit wurde ein fragwürdiger Mehrwert geschaffen. Ob dies oder andere Gründe dazu geführt haben, dass FTWD rasch Zuschauer einbüßte, muss offen bleiben. Nach „The Dog“ hatte FTWD in den USA laut Nielsen ein Drittel seiner Zuschauer eingebüßt. Rechnet man die Gruppe der zeitversetzt zuschauenden Konsumenten hinzu, fällt die Kurve allerdings nicht mehr ganz so steil ab. Immerhin startete FTWD mit 13 Mio. Zuschauern und sank auf stattliche 11 Mio. Dies sind natürlich im Vergleich mit der Mutterserie konkurrenzfähige Werte und insgesamt ist dies in relativen Zahlen natürlich immer noch ein Mega-Erfolg auf dem US-TV-Markt. Dennoch zeigt der Trend nach unten.

Was könnte der Grund sein? „Fear The Walking Dead“ will davon erzählen, wie eine zivile Ordnung zugrunde geht. Und davon, dass inmitten der Zombie-Apokalyse die Familie die letzte bewahrenswerte Instanz ist. Egal, ob sie kohärent funktioniert oder völlig disparat ist. Das ist der Stoff, aus dem viele Dramen gesponnen werden und der auch in der Mutterserie permanent durchdekliniert wird. Lohnt es sich, in andere Menschen zu investieren? Kann man jenen trauen, die nicht zur kleinsten sozialen Zelle eines Gemeinwesens gehören, der Familie? Dies drängt andere Fragestellungen in den Hintergrund. Wo ist eigentlich die Administration in FTWD, was tun Politiker und Behörden? Wie reagieren die Medien auf etwas, was sich offenbar zu einer globalen Pandemie entwickelt? Außer einigen TV-Einspielern: Fehlanzeige.


Dystopien beginnen aus gutem Grund immer mit dem neuen Status Quo, in den die Figuren brutal hineingeworfen werden. Die Vorgeschichte wird nicht erzählt. Die Macher von „Fear The Walking Dead“ hatten sich offenbar ein anderes Ziel gesetzt, sie wollten eben diese Vorgeschichte erzählen. Aber wenn die Serie die Studie eines zivilisatorischen Zusammenbruchs sein sollte, so wurde zunächst nur heiße Luft geliefert.
Zum Schweigen der Protagonisten gesellte sich zudem ein gähnendes Logikloch in den Scripts: Medien wurden kaum genutzt, um sich zu informieren. Ein paar Zombies, einige Straßenkämpfe und der untote Nachbar im Hinterhof, das war alles in punkto Informationserwerb. Manchmal hatte man den Eindruck, als würden sich Madison und Travis konsequent gegen das immunisieren, was augenfällig ist. Und so konnte man in den marodierenden Gangs, die in Episode 3 den Untergang von L.A. markieren, auch die diffuse bürgerliche Angst vor dem Verlust der privilegierten gesellschaftlichen Rolle, der Sorge und Vermögen und Haus erkennen, die bekanntlich die Mittelschicht schon immer beunruhigt hat. Inmitten der unbekannten Seuche kriecht der Mob als amorphe Masse aus seinen Löchern, lange in den Ghettos der Stadt ferngehalten, und gibt mit seinem Vandalismus wütend der Stadt den Todesstoß. Ob man diese Bilder mit den zurzeit bei uns grassierenden Ängsten kurzschließen kann, überlasse ich dem Leser. Als Metapher der diffusen Angst funktionieren die Bilder des untergehenden L.A. allerdings ganz gut.

Am Ende der dritten Episode hatte man also den Eindruck, dass die Welt untergeht, aber keiner darüber reden möchte. Wäre da nicht der Friseur Salazar mit seinen düsteren Prophezeiungen. Dies hatte die letzte Episode der ersten Staffel von TWD eleganter und glaubwürdiger gelöst. Aus diesem Dilemma konnte sich das Spin-Off nur mit einem harten Schnitt und einem rasanten Zeitsprung retten und so konnte FTWD sich mit grandioser Chuzpe in Sicherheit bringen. Und das führt uns zur 4. Episode, die zweifellos die Wende in einer auf den ersten Blick ziemlich verkorkst erscheinenden Geschichte darstellte.


Die Wende? Die Serie zieht an. Immerhin.

  • Thema: Sicherheit oder Freiheit (in Ep 4 „Nicht vergehen“, engl. „Not Fade Away“): Einige Wochen später - die Familien Clark, Salazar und Ortiz leben in einer von zwölf Safe Zones, in der sich auch das Haus der Clarks befindet. Das Militär hat die Kontrolle über das Areal, Travis fungiert als Bürgermeister mit geringem Einfluss. Die Army garantiert Versorgung und Sicherheit, die Mitsprache der Bürger ist nicht erwünscht. Außerhalb der Safe Zone gibt es angeblich keine Überlebenden. Madison schleicht sich aus dem Lager und entdeckt, dass die Army außerhalb der Safe Zone sowohl Infizierte als auch Nicht-Infizierte liquidiert.
 Chris entdeckt Lichtzeichen in einem der verlassenen Häuser. Wenig später nimmt eine Einheit der Army gewaltsam die immer noch an ihrer Verletzung laborierende Griselda mit, aber auch Nick, der als Junkie offenbar auf einer Liste steht. Liza schließt sich dem Medteam um Dr. Exner (Sandrine Holt) an, um zu helfen und um die Verschleppten nicht aus den Augen zu verlieren. Daniel Salazar berichtet davon, dass in seiner Heimat Ähnliches geschah, die Verschleppten aber nicht medizinisch versorgt, sondern liquidiert worden sind. 
Travis glaubt immer noch an eine Wende zum Guten, sieht dann aber in dem verlassenen Haus Lichtblitze, die wie das Feuer automatischer Schusswaffen aussehen. Der Preis für die Sicherheit scheint hoch zu sein.
  • Thema: Die Wahrheit (in Ep 5 „Kobalt“, engl. „Cobalt“): Nick ist zusammen mit dem Farbigen Victor Strand in einem Zellentrakt gelandet, aus dem die Soldaten regelmäßig Gefangene abholen. Strand ist ein elegant gekleideter und eloquent auftretender Mann, der Nick geschickt manipuliert und zu einem gemeinsamen Fluchtversuch überredet. Ofelia Salazar legt sich indes mit Sgt. Moyer und seinen Soldaten an, die ihre Mutter verschleppt haben. Salazar foltert einen Soldaten, einen Freund seiner Tochter, um herauszufinden, was die Army plant. Travis überzeugt Moyer davon, mit ihm ins Krankenhaus zu fahren. Unterwegs überredet Moyer ziemlich zynisch Travis zur Liquidierung eines Infizierten, Travis ist aber nicht imstande, die Waffe abzufeuern. Wenig später wird die Einheit von Zombies aufgerieben. Zurückgekehrt in die Safe Zone erfährt Travis von Salazar, dass die Army am nächsten Morgen die Aktion „Kobalt“ durchführen will: alle überlebenden Zivilisten sollen liquidiert werden. Währenddessen hat Madison stillschweigend die Folter des Soldaten toleriert. Griselda stirbt im Hospital und Dr. Exner erklärt Liza, dass alle Toten zurückkehren werden. Liza verhindert die Verwandlung Griseldas mit einem Bolzenschussgerät, während Daniel vor der örtlichen Sportarena steht, in der die Army Nicht-Infizierte und Infizierte ohne weitere Versorgung eingesperrt hat. Im Inneren toben die Zombies.


Homo homini lupus

Kobalt ist ein chemisches Element, das als Bestandteil eines Vitamins für den Menschen überlebensnotwendig ist, in höherer Dosierung aber zu schweren Gesundheitsschäden führt. Natürlich haben Robert Kirkman und Dave Erickson sich etwas bei der Titelwahl gedacht: Kobalt steht für jene Sicherheit, die sich in der Welt der „Walking Dead“ immer wieder als Illusion entpuppt. Einerseits demonstriert die Army, die L.A. räumen will, ein überdosiertes Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle – die Nicht-Infizierten können nicht mehr von den Infizierten unterschieden werden und müssen präventiv liquidiert werden. Andererseits zeigt FTWD, dass der Gesellschaftsvertrag in einer demokratischen Gesellschaft nur so lange hält, bis eine überdimensionale Krise ihn aushebelt. In Wahrheit, und dass ist letztendlich das Hauptthema in „Fear The Walking Dead“, werden diese Illusionen nachhaltig zerstört und die Sehnsucht nach Sicherheit endet in einer brutalen Konfrontation mit jenen, die diesen Gesellschaftsvertrag aufgekündigt haben – der Armee.

„Fear The Walking Dead“ mutiert daher wie die Mutterserie zu einer mehr oder weniger konservativen, skeptischen Studie über den Verlust aller zivilen Regeln. Am Ende können sich die verschreckten Bürger in FTWD nicht einmal mehr mit dem Verzicht auf Freiheit eine Mehr an Sicherheit erkaufen. Sie werden zurückgeworfen in jenen vom englischen Philosophen Thomas Hobbes beschriebenen Naturzustand, in dem der Krieg aller gegen alle herrscht.
Hobbes hat unter diesen Gegebenheiten das Recht auf Sicherung des eigenen Lebens unter allen Umständen und unter Aufwendung aller Mittel als legitim bezeichnet. Dies ist auch in der apokalyptischen Welt der „Walking Dead“ der moralische Minimalkonsens: Jeder Mensch ist des anderen Menschen Feind (Homo homini lupus), man tut, was man tun muss. Hobbes sah in der Unterwerfung unter einen absoluten Herrscher, der unbedingt über Gut und Böse entscheidet, die einzige Möglichkeit, um in relativer Sicherheit leben zu können. Der Preis ist die Freiheit. Diesen Weg ins Ungewisse hat „The Walking Dead“ seit der dritten Staffel bis zur Ankunft der Gruppe in Alexandria nachgezeichnet, denn dort geht es um nichts anderes als um die Verwirklichung eines neuen Gesellschaftsvertrags. In Freiheit! Als Alternative winkt die Unterwerfung und die Inthronisierung eines absoluten Führers. Man wird sehen, wie TWD dieses Problem zu Beginn der neuen Staffel am kommenden Sonntag löst.

In der Welt der „Walking Dead“ herrscht also zunächst jene zweifelhafte Freiheit, die das Recht des Stärkeren in Kraft setzt. Und ihr können die Überlebenden nur widerstehen, wenn sie selbst die Stärkeren sind - oder den besseren Anführer haben. Ihre Freiheit besteht scheinbar nur noch in der Wahl der Mittel. Es sei denn, sie regulieren das Problem auf andere Weies. Dass sie dabei immer wieder ihren moralischen Kompass ausrichten wollen, ist in beiden Serien ein Verhalten, dass den rigiden Skeptizismus eines Thomas Hobbes zumindest teilweise entkräftet. An der pessimistischen Philosophie Robert Kirkmans ändert das aber nur wenig.

  • Thema: Die Regeln der Apokalypse (in Ep 6: „Der gute Mensch“, engl. „The Good Man“): In der von Robert Kirkman und Dave Erickson geschriebenen Schlussepisode versuchen die Protagonisten zu fliehen, bevor die Aktion „Kobalt“ durchgeführt wird. Zunächst müssen aber Griselda und Nick befreit werden. Daniel Salazar will den gefolterten Soldaten Adams, der nicht mehr „nützlich“ ist, liquidieren. Travis verhindert dies. Um unbemerkt in das Krankenhaus vordringen zu können, öffnet Daniel die Tore des Stadions. Die Untoten überfluten die Stellungen der Soldaten. Nick und Victor Strand ist inzwischen die Flucht gelungen, aber bevor alle aus dem Komplex fliehen können, taucht Adams auf, der sich an seinem Folterer rächen will und dabei Salazars Tochter anschießt. Travis prügelt ihn zu Tode und Adams wird nicht das einzige Opfer bleiben.


Wo sind die Untoten?

Fünf Episoden lang war „Fear The Walking Dead“ gefühlt eine Zombie-Serie ohne Zombies. Dann kamen sie zu Tausenden. Das Grande Finale hinterlässt aber einen zwiespältigen Eindruck. „Fear The Walking Dead“ hat etwas Neues versucht, die Absicht war erkennbar, die Umsetzung konnte nur in der zweiten Staffelhälfte einigermaßen überzeugen.

Dort, wo die Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit angesichts einer nicht vertrauenerweckenden Ordnungsmacht lebensgefährlich wurde, bot FTWD eine intelligente und fast prophetische Reflexion denkbarer Ereignisse. Zumindest ansatzweise. Aber man sollte dies nicht überbewerten, denn das Projekt „Cobalt“ holte den Zuschauer auch dort ab, wo er sich auskennt: Im Zombie-Kosmos von Robert Kirkman sind die Lebenden die eigentliche Gefahr. Von der Staatsmacht ist dabei nur Ungemach zu erwarten, in TWD ist sie ohnehin verschwunden. Und die Imitate einer zivilen Ordnung entpuppen sich wie in der 3. Staffel von TWD als barbarische Gegengesellschaft, die den Menschen Sicherheit bietet, ihnen aber die Freiheit nimmt, oder gleich zu einer Zweckgemeinschaft von Kannibalen mutiert. 

Vergleicht man das Spin-Off mit der Mutterserie, so funktioniert Robert Kirkmans Zombie-Kosmos in TWD auch deswegen so gut, weil dort der moralischer Kompass ambivalenter ist: Trauen kann man in einer Welt, in das Recht des Stärkeren herrscht, bestenfalls der eigenen Familie und einer Handvoll auserwählter Freunde. Die Freiheit in dieser Welt ist die Freiheit, alles tun zu können, was man möchte. 
In diesem Naturzustand à la Hobbes gibt es jedoch keine Sicherheit. Alle Hoffnungen auf eine Safe Zone, auf ein neues Home werden regelmäßig zerschlagen. Größere soziale Strukturen scheitern an der Schwäche ihrer Mitglieder, an ihrer fehlenden Wehrhaftigkeit, an ihrer Naivität oder an der Skrupellosigkeit ihrer Mitglieder. Sterben müssen deshalb die Naiven oder jene, die allzu moralisch sind. Und so bewegen sich Comic-Serie, TWD und FTWD unschlüssig und zaudernd immer wieder zwischen Anarchie und erzkonservativem Führerkult, zwischen Anpassung an eine darwinistische Welt und der Verhandlung der eigenen Werte.
TWD gelingt dies aber besser als dem Spin-Off, das in
„The Good Man“ eine fatale Wendung nimmt. Sie ist an Travis festzumachen. Während Travis zunächst in den Toten noch die Lebenden erkennt, die sie einst waren, sieht er am Ende in den Lebenden nur noch die Untoten, die sie bald sein werden. Sterbehilfe ist angesagt. Und so nimmt „Fear The Walking Dead“ am Ende eine unverhohlen zynische Haltung ein, die nur den ganz Abgebrühten unter den Zuschauern gefallen wird.Gute Menschen sterben erfahrungsgemäß zuerst", prophezeit Daniel Salazar irgendwann. Travis, „The Good Man“, hat die Warnung vernommen und scheint bereit zu sein, sich in der schrecklichen neuen Welt und ihren Spielregeln einzurichten.
 
„Fear The Walking Dead“ ist kein Flop, sondern ein Serienstart mit erkennbarem Potential. Victor Strand stellt am Ende fest: „In einer verrückten Welt überlebt man nur, wenn man ihren Wahnsinn anerkennt.“ Dieser gut gemeinte Aphorismus (2) trifft aber nicht den Kern. Das neue Spin-Off ist trotz interessanter Ansätze in Episode 4 und 5 am Ende ein Crashkurs, der – und das ernüchtert wirklich – zaudernden und humanistisch geprägten Highschool-Lehrern beibringt, dass sie gefälligst zu lernen haben, wie man effektiv tötet und wie man danach in Bewegung bleibt. Mit Wahnsinn hat dies nur bedingt zu tun, eher mit den anarchischen Regeln einer prä-zivilisatorischen Gesellschaft. Nur erörtert dies und eben einiges mehr „The Walking Dead“ um eine Klasse reflektierter als es „Fear The Walking Dead“ in seinen besten Momenten gelungen ist.


(Update v. 07.10.2015)

(1) http://www.hollywoodreporter.com/thr-esq/why-walking-dead-creator-gets-816955
(2) In der Originalfassung wird allerdings eine Begriff verwendet, der übersetzt eher 'etwas aktiv begrüßen' oder gar 'umarmen' bedeutet.


Note: BigDoc = 3

Fear the Walking Dead – USA 2015 – 6 Episoden in einer Staffel – Laufzeit: 42-65 Minuten – Idee/Showrunner: Robert Kirkman, Dave Erickson – D.: Kim Dickens, Cliff Curtis, Rubén Blades, Frank Dillane, Alycia Debnam-Carey, Elisabth Rodriguez, Patricia Reyes Spindola, Mercedes Mason, Lorenzo James Henrie, Colman Domingo, Sandrine Holt, Shawn Hatosy - Altersfreigabe: ab 18 Jahren.

Freitag, 2. Oktober 2015

„Weissensee“ sorgt für TV-Sternstunde

Die Zeit zwischen dem Fall der Mauer und dem Sturm auf die Stasi-Zentrale Berlin im Januar 1990 wird in der 3. Staffel der ARD-Serie „Weissensee“ in den Wirren von Familiengeschichten gespiegelt. Und erneut sind es die Kupfers und Hausmanns, in denen die turbulente Wendezeit dramatisch nachgezeichnet wird. Diesmal eher als Polit-Thriller aus Sicht der Stasi. Ganz großes Fernsehen.

„Weissensee“ kann man mittlerweile als Marke bezeichnen. Was immer sich die Öffentlich-Rechtlichen ausgedacht haben, um horizontales Erzählen nach dem Vorbild amerikanischer Serien auf den heimischen Bildschirm zu bringen – in „Weissensee“ gelingt es auf vorbildliche Weise. Die ARD hat zudem gelernt, was Binge Viewing bedeutet. An drei Tagen waren die sechs Episoden der neuen Staffel zu sehen: bild- und sprachgewaltiges TV mit exzellenten Darstellern, einem ausgefeilten Script und einer Binnensicht auf deutsche Geschichte, wie man sie nur selten in dieser Qualität zu sehen bekommt.


Ausbalancierte Schizophrenie: Die Stasi plant die Zukunft

Dass diesmal der Fokus auf die desorientierten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gelenkt wird, ist nur konsequent. Wie ein Erdbeben erschüttern die historischen Ereignisse, mit denen der Niedergang der DDR eingeläutet wird, die selbstgewissen Herrscher über den inneren „Frieden“ eines Landes, das nicht nur ökonomisch am Ende ist. Und so rückt mit Falk Kupfer (Jörg Hartmann) jene Figur in den Mittelpunkt, die bislang souverän und ohne Selbstzweifel die Kunst der Kabale und Zersetzung meisterhaft beherrscht hat. Der zum MfS-Generalmajor aufgestiegene Intrigant muss nicht nur die Fäden ordnen, die er mit seinen vorherigen Machenschaften ausgelegt hat. Er erkennt auch, dass seine Tage gezählt sind. Beinahe folgerichtig agiert er wie ein Chamäleon, stellt sich je nach Bedarf als Hardliner, dann als reformbereit dar und verrät seine Mitstreiter schließlich an einen westlichen Nachrichtendienst. Gegen Geld und Straffreiheit. Es muss ja auch „danach“ irgendwie weitergehen. Dass einer wie er auch in Zukunft immer etwas finden wird, wo er gebraucht wird, bescheinigt ihm sein westlicher Führungsoffizier angewidert. Jörg Hartmann, der ein ambivalentes Verhältnis zu seiner Figur hat, weiß dies auch: Einer wie Kupfer könne mit dem Konsensgelaber nach der Wende nichts anfangen, er müsse sich Nischen mit vertrauten Hierarchien suchen: “Machen wir uns nichts vor, die gibt es im Turbokapitalismus auch.“

Jörg Hartmann spielt diesen Karrieristen grandios. Möglicherweise ist es die Rolle seines Lebens. Hartmann ist erneut reif für den Deutschen Fernsehpreis. Dies verdankt der Mime auch dem ausgezeichneten Script, aber wie er es interpretiert, ist bemerkenswert: keine holzschnittartigen Schablonen, aber auch keine Momente, in denen der Zuschauer Anflüge von Sympathie mit dieser Figur haben könnte. Hartmann spielt diese Stasi-Existenz nicht als „Bestie auf leisen Sohlen“, wie die ZEIT vermutete, sondern als einen Mann, der in einem repressiven und spießigen System sozialisiert worden ist. Es hat ihn gelehrt, die Schizophrenie auszubalancieren, die zwischen dem Glauben an einen humanen Sozialismus und dessen menschenverachtender Umsetzung entsteht. Die ausgesuchte Höflichkeit, die er im Umgang mit seinen Opfern pflegt und die eisige Kälte, mit der er Menschen manipuliert und auch ihren Tod billigend in Kauf nimmt, ist eine Reise ins Herz der Finsternis.
Ein reflexiver Zugriff ist ihm nicht möglich, seinem selbstkritischen Vater Hans, einem MfS-Mann der ersten Stunden, kann er dabei nicht folgen. Dafür macht sein Herz schlapp und auch der Besuch bei einer Prostituierten endet damit, dass er sich weinerlich wie ein Kind im Bett zusammenrollt. Irgendwie eine erschreckende deutsche Existenz, die sich am Ende nach allen Schandtaten in die Tasche lügt und nur noch die eigene Familie retten will. Und natürlich auch sich selbst. Hatten wir alles schon einmal viele Jahrzehnte zuvor.

Auch seinem Bruder Martin (Florian Lukas) geht es nach dem Verlust von Frau und Kind nicht gut. Ihm wird in „Weissensee“ immerhin eine neue Liebe spendiert: die herzenswarme West-Journalistin Katja Wiese (Lisa Wagner). Zusammen versuchen beide herauszufinden, wo Martins nach der Geburt vertauschte Tochter lebt und wer für den Tod von Julia Hausmann verantwortlich ist. Seine Figur steht für jene Menschen, die sich auflehnen, ohne dabei politisch zu werden, die verzweifeln, ohne sich von der Amoralität der Anderen infizieren zu lassen. Florian Lukas spielt dies als Fallstudie moralischer Integrität ohne Anflug von Pathos.


Auch die „Chinesische Lösung“ war möglich

Was der von Anne Hess und Regisseur Friedemann Fromm geschaffenen Serie auch diesmal gelingt, ist die Balance zwischen historischen Ereignissen und familiären Befindlichkeiten. Dabei legt das Tempo der 3. Staffel von „Weissensee“ noch einmal kräftig zu. Natürlich wird der Mauerfall gezeigt, aber auch die legendäre Pressekonferenz des SED-Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski, der völlig überfordert die Sperrfrist für die beschlossenen Reiseerleichterungen vergaß und somit dafür sorgte, dass die Grenzübergänge am 9. November 1989 chaotisch, aber friedlich überflutet wurden.
Selbst Erich Mielkes erbärmliche Rede vor der Volkskammer („Ich liebe – Ich liebe doch alle – alle Menschen“) wird in „Weissensee“ gezeigt. Mielkes ungenannter Satz „Hinrichten die Menschen ohne billige Sätze, ohne Gerichtsbarkeit und so weiter“ (MfS-Tonbandprotokoll) zeigt auf, was die ARD-Serie immerhin andeutet: Alles konnte in diesen Tagen und Stunden passieren, auch die „Chinesische Lösung“, die zu einem Blutbad geführt hätte. So aber zeigt „Weissensee“, wie sich die letzten Zuckungen des System nach dem 9.11. darauf konzentrieren, die Oppositionsbewegung und den „Runden Tisch“ mit Unterwanderung, Erpressung und Falschinformation zu zersetzen. Dass in der Berliner Oppositionsgruppe, in der auch Falk Kupfers Ex-Frau Vera (Anna Loos) und die Sängerin Dunja Hausmann (Katrin Sass) mitarbeiten, ausgerechnet ein Stasispitzel den Vorsitz hat und sich selbst als Spitzeljäger profiliert, lässt das Ausmaß der Perfidie noch mehr auf den Magen schlagen als der überraschende Tod der oppositionellen Galionsfigur Robert Wolff (Ronald Zehrfeld) zu Beginn der Staffel. Hier schreckten die „Weissensee“-Macher nicht davor zurück, eine charismatische Figur nicht nur aus dramaturgischen Gründen zu opfern.


Starke Nebenfiguren: Wie man ein gutes Script schreibt

Aber „Weissensee“ unterscheidet sich dann doch ein wenig von den ersten beiden Staffeln. Alles läuft etwas schneller ab, immer stark auf dramatische Plot Points konzentriert. Die Serie bedient dabei genreübergreifend mehrere Formate: Familiensaga, Krimi, Polit-Thriller und Geschichtsdrama. Dass sie sich dabei nicht verhebt, macht sie zu einem Lehrstück in Sachen Drehbuchschreiben. Alle Rädchen greifen verblüffend perfekt ineinander, bis hin zu den gut konturierten Nebenfiguren wie zum Beispiel Heinz Peter Görlitz, der als Vopo Stephan Grossmann für das comic relief sorgt, oder Hansjürgen Hürrig, der als Generalleutnant Günther Gaucke einen Hardliner gibt, der auch nach seiner Degradierung zum Feldwebel eine gefährliche Aura verbreitet. Sie lässt ahnen, dass die alten Seilschaften nicht bereit sind, auch nach der bevorstehenden politischen Wende ihre Macht aufzugeben. Stark ist auch die Rolle von Roman (Ferdinand Lehmann), dem Sohn Falk Kupfers. Er wendet sich angeekelt von seinem Vater ab und geht in Westen, aber nur um zu erleben, dass er in einer Kultur, in der Geld an erster Stelle steht, genauso wenig zu Hause sein kann wie in der Gesellschaft, für deren Niedergang auch sein Vater und sein Großvater verantwortlich sind.

„Weissensee“ endet mit einem großen Cliffhanger und einigen kleinen. Ob es weitergeht, steht in den Sternen. Zwischen den 2010, 2013 und 2015 ausgestrahlten drei Staffeln entstanden immer lange, eigentlich viel zu lange Pausen. Und dass jetzt möglicherweise die Quoten über eine Fortsetzung entscheiden, in der man die Wiedervereinigung und die Jahre der Treuhand erzählt bekommt, aber auch mehr über das Schicksal der Kupfers und Hausmanns erfahren könnte, ist für ein öffentlich-rechtliches Renommierprodukt eigentlich ein Unding. Produzentin Regina Ziegler und ihr Team wollen weitermachen und „drohen“ für den Fall der Fälle bereits mit einem Kinofilm. Das wäre schön. Als neues Kapitel der deutschen TV-Geschichte wäre es Offenbarungseid und Desaster zugleich.
„Weissensee“ gehört ins Fernsehen.
 
„Weissensee“ – Deutschland 2010–2015 – 18 Episoden in 3 Staffeln – Laufzeit: 900 Minuten – Drehbuch: Anette Hess, Drehbuch/Regie: Friedemann Fromm – Darsteller Staffel 3: Jörg Hartmann, Florian Lukas, Uwe Kockisch, Ruth Reincke, Anna Loos, Katja Wiese, Katrin Sass, Stephan Grossmann, Hansjürgen Hürrig, Ferdinand Lehmann, Ronald Zehrfeld.