Dienstag, 6. Oktober 2015

„Fear The Walking Dead“ mit ordentlichem Staffelende

In der letzten Episode von „Fear The Walking Dead“ sind alle in der Welt der „lebenden Toten“ angekommen. Nicht jeder, aber die meisten. Robert Kirkman und Showrunner Dave Erickson haben auch im Spin-Off der Erfolgsserie „The Walking Dead“ ihren Figuren keine Safe Zone gestattet und sie auf die Straße geschickt. Nach langem Anlauf landen die Überlebenden in einer Welt, die den Zuschauern nur allzu vertraut sein dürfte.

Es gehört zu den eisernen Gesetzen im „Walker“-Kosmos, dass man sich die Weggefährten nicht aussuchen kann. Auch in „Fear The Walking Dead“ (FTWD) werden über die Familienbande hinaus Zweckallianzen geschmiedet, die nicht immer auf Sympathie basieren, sondern auf Notwendigkeit und Zufall. Beide sind an sich absolute Gegensätze. In „The Walking Dead“ (TWD) und dem neuen Spin-Off gehören sie als Katalysator jedoch zusammen und sie entscheiden über Sicherheit, Leben und Tod. Das Notwendige muss getan werden, die Zufälle kommen ganz von selbst, so lautet die lapidare Einsicht. Überzeugen kann
„Fear The Walking Dead“ nur in der zweiten Staffelhäfte.

Etwas dröge, aber das mit Konzept

Das erste Bild der letzten Episode The Good Man zeigt das untergegangene nächtliche Los Angeles: Es gibt keinen Strom, die Skyline ist in finsteres Schwarz gehüllt, nur einige Brände sorgen für eine flackernde Restbeleuchtung. Die Stadt ist tot. Die Episode endet, das überrascht, mit einer langen Kamerafahrt über das offene Meer. Draußen liegt eine Yacht, die für die vor der Zombie-Apokalypse fliehende Notgemeinschaft die Rettung sein könnte. Kein Cliffhanger, keine finale Volte. Nur das weite Meer. Alles ist offen, mehr Allegorie geht nicht.

„Fear The Walking Dead“ hat einen langen Anlauf benötigt, um sich mit den letzten drei Episoden vom Fluch aller Spin-Offs zu befreien: dem Vergleich mit der Mutterserie. Es war und ist ein Dilemma: Entweder macht man alles gleich (was einige hartgesottene Fans sicher erwartet haben) oder man macht alles anders. FTWD liegt genau dazwischen. 

Dave Erickson hatte es angekündigt: Es ginge, so der Showrunner, um eine Parallelgeschichte zu TWD, in deren Mittelpunkt eine „dysfunktionale Familie“ stehen soll (vgl. auch meine Besprechung der 1. Episode). 
Gemutmaßt wurde auch, dass die Staffeln des Spin-Offs (das AMC übrigens nicht als solches bezeichnet, weil man sich immer noch mit Frank Darabont, dem Schöpfer von TWD, über mögliche Rechte an themenverwandten Nachfolgeprodukten streitet (1)) sich eher an thematischen Schwerpunkten als an Figuren orientieren sollten. Das gilt auch für die einzelnen Episoden der ersten Season von FTWD. Dennoch: „Fear The Walking Dead“ blieb über weite Strecken eine Zombie-Serie, die gefühlt ohne Zombies daherkam. Dazu gehört Mut.
In der ersten Staffelhälfte sah FTWD wie ein Dramolett aus, also ein Kurz- oder Minidrama, das nur mit äußersten Anstrengungen auf Laufzeiten zwischen 41 und 51 Minuten aufgeblasen werden konnte. Die auch in den USA nach dem Serienstart bemängelte Spannungsarmut lässt sich in den Konflikten der Patchwork-Family bis über die Staffelhälfte hinaus durchaus nachempfinden. Viele Dialoge befanden sich Leerlauf, die Protagonisten agierten dümmer als es dramaturgisch zumutbar war. 



Schwächen bei der Figurenentwicklung

Bereits nach der 1. Epsode hatte ich kritisiert, dass FTWD Probleme damit hat, auf Anhieb fesselnde Figuren einzuführen. Frank Darabont ist dies gelungen, aber er besaß ja auch den Zugriff auf eine gut entwickelte Comicserie. FTWD brauchte etwas mehr Zeit.
Spannend ist die Entwicklung des zögerlichen Lehrers Travis Manawa (Cliff Curtis), der erkennbar als friedfertiger und aufreizend gutgläubiger Gegenentwurf zum waffenerprobten Rick Grimes aus der Originalserie entworfen wurde. Beinahe vorhersehbar wird am Ende der letzten Episode Blut an seinen Händen kleben. Dass diese Wendung auch fatale Nebenwirkungen hat, werde ich später im Zusammenhang mit der letzten Episode
„The Good Man" genauer untersuchen.
Lebensgefährtin Madison (Kim Dickens) passt sich deutlich schneller den Regeln in Zeiten der Apokalypse an und wird auch Folter dulden, wenn es dabei hilft, die Familie zu retten. Kim Dickens könnte die neue ‚starke Frau’ in der Serie werden.

Ihre Kinder Nick (Frank Dillane) und Alicia (Alycia Debnam-Carey) gewinnen eher stotternd ein eigenes Profil, was mit Abstrichen auch für Chris (Lorenzo James Henrie), Travis’ Sohn aus erster Ehe gilt. Travis’ Ex-Frau Liza Ortiz (Elisabeth Rodriguez) wird dagegen nicht nur als mutige Krankenschwester eine besondere Rolle in der Serie erhalten. Den ersten drei Episoden gelingt es allerdings nicht, den Supporting Actors ein überzeugendes Profil zu geben.

Stärker ist FTWD, wenn es um die Einführung neuer Figuren und Side-Kicks geht. Rubén Blades entwickelt sich als salvadorianischer Migrant mit dunklem Hintergrund zu einem stoisch-brutalen Überlebenskünstler. Daniel Salazar tut wirklich alles, um seine Frau und seine Tochter Ofelia zu retten – nicht nur vor den Untoten. 
Und dann taucht in Episode 5 auch noch der geheimnisvolle Victor Strand (Colman Domingo) auf, der so zynisch, rhetorisch schlagfertig und selbstbeherrscht auftritt, als wäre der Zusammenbruch der zivilen Gesellschaft genauso spannend wie das Braten eines Spiegeleis.
Die gute Durchmischung der Gruppe, die am Ende in ein ungewisse Zukunft aufbricht, kann als gelungen beurteilt werden. Ansonsten haben die Macher von FTWD ihre Spielchen mit dem Zuschauer getrieben. Deren Vorwissen über das Überleben in eine zombifizierten Welt ist das Benzin, dass den narrativen Motor zum Laufen bringen sollte. Und es wurde ziemlich kalkuliert eingesetzt, um Emotionen, Sympathien und Aversionen für und gegen die Figuren zu schüren. Denn eins muss klar sein: auch in FTWD wird von einer post-apokalyptischen Sozialisation erzählt, in der die Protagonisten ein Regelwerk lernen müssen, wenn sie überleben wollen. Wer dann trotz aller Vorbehalte bis zum Schluss durchgehalten hatte, musste einräumen, das hinter den sechs Episoden der knapp bemessenen ersten Staffel tatsächlich ein Konzept steckte, das eng mit thematischen Schwerpunkten verknüpft ist.


Schweigen und Konfusion

Themen anstatt Figurenentwicklung. Um welche Themen geht es in „Fear The Walking Dead“? Es handelt sich um den Erstkontakt, die Konfrontation, die Erkenntnis, Sicherheit und Freiheit, die Wahrheit und die Regeln der Apokalypse.
  • Thema: Erstkontakt (in Ep 1 „Gute alte Zeit“, engl. „Pilot“): 
Der drogenabhängige Nick Clark wacht in einer Kirche auf und sieht, wie seine Freundin eine Leiche auffrisst. Seine Mutter Madison Clark und deren Lebensgefährte Travis Manawa, beide Lehrer an einer Highschool, bringen ihren Sohn ins Krankenhaus. Niemand glaubt seine Geschichte. Im Fernsehen sieht man allerdings, dass einer ‚Infizierter’ durch den Kugelhagel von Polizisten nicht aufzuhalten ist. Als ein Dealer versucht, Nick umzubringen, kommt er in dem Handgemenge durch einen tödlichen Schuss selbst ums Leben. Nick führt seine Mutter und Travis zum Tatort, wo die Drei von dem toten Dealer angegriffen werden. Nick überfährt ihn mehrmals. Der Erstkontakt: Die Familie ist ratlos.
  • Thema: Konfrontation (in Ep 2 „So nah und doch so fern“, engl. „So Close, Yet So Far“): 
In L.A. verbreiten sich Gerüchte über ‚Infizierte’. Die Familie spricht, und das verblüfft, nicht über das Erlebte, beschließt aber die Stadt zu verlassen. Zuvor will Madison in der verlassenen Highschool Medikamente besorgen, um etwas gegen Nicks Entzugssymptome zu unternehmen. Sie wird von dem infizierten Rektor angegriffen. Madison tötet ihn mit einem Feuerlöscher. 
Travis sucht nach seiner Ex-Frau Liza Ortiz und dem gemeinsamen Sohn Chris. Sie finden ihn inmitten einer Demonstration und alle werden Zeugen der Erschießung einer infizierten Frau durch die Polizei. Die Drei flüchten in einen Friseursalon und lernen dort den Inhaber Daniel Salazar und seine Familie kennen. Draußen tobt und plündert der Mob. Wieder einmal werden die Protagonisten in der Zombie-Welt von Robert Kirkman damit konfrontiert, dass die Untoten lediglich ein Brandbeschleuniger für völlig andere Fragen und Konflikte sind.
  • Thema: Erkenntnis (in Ep 3 „Der Hund“, engl. „The Dog“): Travis, Liza und Chris müssen zusammen mit den Salazars fliehen. Auf den Straßen feiern (!) und toben die Menschen, Gangs verwüsten die Geschäfte und mittendrin fressen vereinzelte Walker ihre Opfer. Daniel Salazars Frau Griselda wird verletzt. Die Gruppe verlässt in einem Pick-Up die City und sieht, wie kurz hintereinander in allen Stadtteilen der Strom ausfällt. Madison und ihre Kinder Nick und Alicia warten zuhause auf die Vermissten. Sie lassen den Hund ihres Nachbarn Peter in die Wohnung. Peter hat sich bereits verwandelt und nähert sich dem Haus. Panisch suchen die Drei bei einem Nachbarn nach einem Gewehr, während gleichzeitig Travis mit der Gruppe auftaucht. Im allgemeinen Chaos frisst Peter seinen Hund auf und greift Travis an. Dieser versucht die Situation mit dem Untoten vernünftig auszudiskutieren. Dies scheitert jedoch. Salazar erschießt Peter aus nächster Nähe. Als Alicia ihren Vater fragt, was draußen geschieht, antwortet dieser „Menschen werden krank“. Nick wirft ein: „Sie sind tot“. Im Garten starren alle am nächsten Morgen das Hausmädchen Susan an. Sie hat sich ebenfalls verwandelt. Madison will sie töten, Travis verhindert es: "Das ist Susan!" Die schwer verletzte Griselda wird versorgt, wenig später stürmen Soldaten das Gelände und stellen alles unter Quarantäne. Travis schöpft Hoffnung, doch Daniel Salazar erkennt lapidar: „It’s to late.“

Nach der ersten Staffelhälfte fragte man sich nicht ganz ohne Kopfschütteln, was man eigentlich gesehen hatte. Gut, die Hauptfiguren wurden routiniert in die Handlung eingeführt, aber die Mitglieder der Familie Clark sind nicht in der Lage, über das zu reden, was offensichtlich ist: Es geschieht etwas, was gegen die bekannten Naturgesetze verstößt und man schweigt gemeinsam oder vertraut darauf (Travis), dass die Ordnungskräfte alles schon richten werden. 
Alle Spekulationen über eine seltsame Krankheit und deren Eindämmung dürften dem gesunden Menschenverstand zufolge aber völlig überflüssig sein, wenn Tote sich erheben und Menschen anfallen. Doch in FTWD schweigt man, so als gelte es, etwas zu verdrängen.

Nun ist Plausibilität bei der Plotentwicklung nicht immer möglich. Aber es wirkte schon irritierend, dass Madison und ihre Kinder sich inmitten der kollabierenden Zivilgesellschaft die Zeit für ein entspannendes Würfelspiel nehmen, anstatt den Fernseher anzumachen oder Google darüber zu befragen, warum denn da draußen die Welt untergeht.

Störend ist dabei weniger die vermeintlich fehlende Spannung (die gibt es durchaus), als vielmehr die gewaltige Verdrängungsarbeit, die den fiktiven Figuren von einem Script mit geringer psychologischen Plausibilität aufgezwungen wird. Die ersten drei Episoden der Serie gehen am Stock, weil die Macher wohl beschlossen hatten, den Wissensvorsprung der zombie-erfahrenen Zuschauer gnadenlos gegen die hilflosen Figuren in Stellung zu bringen. Dramaturgisch ist das nachvollziehbar, in der Umsetzung besitzt dies aber einen zynischen Grundton. Angst und Unsicherheit werden als Naivität diskreditiert. Nur wer seine Empathie rasch über Bord wirft, wird überleben.

Damit wurde ein fragwürdiger Mehrwert geschaffen. Ob dies oder andere Gründe dazu geführt haben, dass FTWD rasch Zuschauer einbüßte, muss offen bleiben. Nach „The Dog“ hatte FTWD in den USA laut Nielsen ein Drittel seiner Zuschauer eingebüßt. Rechnet man die Gruppe der zeitversetzt zuschauenden Konsumenten hinzu, fällt die Kurve allerdings nicht mehr ganz so steil ab. Immerhin startete FTWD mit 13 Mio. Zuschauern und sank auf stattliche 11 Mio. Dies sind natürlich im Vergleich mit der Mutterserie konkurrenzfähige Werte und insgesamt ist dies in relativen Zahlen natürlich immer noch ein Mega-Erfolg auf dem US-TV-Markt. Dennoch zeigt der Trend nach unten.

Was könnte der Grund sein? „Fear The Walking Dead“ will davon erzählen, wie eine zivile Ordnung zugrunde geht. Und davon, dass inmitten der Zombie-Apokalyse die Familie die letzte bewahrenswerte Instanz ist. Egal, ob sie kohärent funktioniert oder völlig disparat ist. Das ist der Stoff, aus dem viele Dramen gesponnen werden und der auch in der Mutterserie permanent durchdekliniert wird. Lohnt es sich, in andere Menschen zu investieren? Kann man jenen trauen, die nicht zur kleinsten sozialen Zelle eines Gemeinwesens gehören, der Familie? Dies drängt andere Fragestellungen in den Hintergrund. Wo ist eigentlich die Administration in FTWD, was tun Politiker und Behörden? Wie reagieren die Medien auf etwas, was sich offenbar zu einer globalen Pandemie entwickelt? Außer einigen TV-Einspielern: Fehlanzeige.


Dystopien beginnen aus gutem Grund immer mit dem neuen Status Quo, in den die Figuren brutal hineingeworfen werden. Die Vorgeschichte wird nicht erzählt. Die Macher von „Fear The Walking Dead“ hatten sich offenbar ein anderes Ziel gesetzt, sie wollten eben diese Vorgeschichte erzählen. Aber wenn die Serie die Studie eines zivilisatorischen Zusammenbruchs sein sollte, so wurde zunächst nur heiße Luft geliefert.
Zum Schweigen der Protagonisten gesellte sich zudem ein gähnendes Logikloch in den Scripts: Medien wurden kaum genutzt, um sich zu informieren. Ein paar Zombies, einige Straßenkämpfe und der untote Nachbar im Hinterhof, das war alles in punkto Informationserwerb. Manchmal hatte man den Eindruck, als würden sich Madison und Travis konsequent gegen das immunisieren, was augenfällig ist. Und so konnte man in den marodierenden Gangs, die in Episode 3 den Untergang von L.A. markieren, auch die diffuse bürgerliche Angst vor dem Verlust der privilegierten gesellschaftlichen Rolle, der Sorge und Vermögen und Haus erkennen, die bekanntlich die Mittelschicht schon immer beunruhigt hat. Inmitten der unbekannten Seuche kriecht der Mob als amorphe Masse aus seinen Löchern, lange in den Ghettos der Stadt ferngehalten, und gibt mit seinem Vandalismus wütend der Stadt den Todesstoß. Ob man diese Bilder mit den zurzeit bei uns grassierenden Ängsten kurzschließen kann, überlasse ich dem Leser. Als Metapher der diffusen Angst funktionieren die Bilder des untergehenden L.A. allerdings ganz gut.

Am Ende der dritten Episode hatte man also den Eindruck, dass die Welt untergeht, aber keiner darüber reden möchte. Wäre da nicht der Friseur Salazar mit seinen düsteren Prophezeiungen. Dies hatte die letzte Episode der ersten Staffel von TWD eleganter und glaubwürdiger gelöst. Aus diesem Dilemma konnte sich das Spin-Off nur mit einem harten Schnitt und einem rasanten Zeitsprung retten und so konnte FTWD sich mit grandioser Chuzpe in Sicherheit bringen. Und das führt uns zur 4. Episode, die zweifellos die Wende in einer auf den ersten Blick ziemlich verkorkst erscheinenden Geschichte darstellte.


Die Wende? Die Serie zieht an. Immerhin.

  • Thema: Sicherheit oder Freiheit (in Ep 4 „Nicht vergehen“, engl. „Not Fade Away“): Einige Wochen später - die Familien Clark, Salazar und Ortiz leben in einer von zwölf Safe Zones, in der sich auch das Haus der Clarks befindet. Das Militär hat die Kontrolle über das Areal, Travis fungiert als Bürgermeister mit geringem Einfluss. Die Army garantiert Versorgung und Sicherheit, die Mitsprache der Bürger ist nicht erwünscht. Außerhalb der Safe Zone gibt es angeblich keine Überlebenden. Madison schleicht sich aus dem Lager und entdeckt, dass die Army außerhalb der Safe Zone sowohl Infizierte als auch Nicht-Infizierte liquidiert.
 Chris entdeckt Lichtzeichen in einem der verlassenen Häuser. Wenig später nimmt eine Einheit der Army gewaltsam die immer noch an ihrer Verletzung laborierende Griselda mit, aber auch Nick, der als Junkie offenbar auf einer Liste steht. Liza schließt sich dem Medteam um Dr. Exner (Sandrine Holt) an, um zu helfen und um die Verschleppten nicht aus den Augen zu verlieren. Daniel Salazar berichtet davon, dass in seiner Heimat Ähnliches geschah, die Verschleppten aber nicht medizinisch versorgt, sondern liquidiert worden sind. 
Travis glaubt immer noch an eine Wende zum Guten, sieht dann aber in dem verlassenen Haus Lichtblitze, die wie das Feuer automatischer Schusswaffen aussehen. Der Preis für die Sicherheit scheint hoch zu sein.
  • Thema: Die Wahrheit (in Ep 5 „Kobalt“, engl. „Cobalt“): Nick ist zusammen mit dem Farbigen Victor Strand in einem Zellentrakt gelandet, aus dem die Soldaten regelmäßig Gefangene abholen. Strand ist ein elegant gekleideter und eloquent auftretender Mann, der Nick geschickt manipuliert und zu einem gemeinsamen Fluchtversuch überredet. Ofelia Salazar legt sich indes mit Sgt. Moyer und seinen Soldaten an, die ihre Mutter verschleppt haben. Salazar foltert einen Soldaten, einen Freund seiner Tochter, um herauszufinden, was die Army plant. Travis überzeugt Moyer davon, mit ihm ins Krankenhaus zu fahren. Unterwegs überredet Moyer ziemlich zynisch Travis zur Liquidierung eines Infizierten, Travis ist aber nicht imstande, die Waffe abzufeuern. Wenig später wird die Einheit von Zombies aufgerieben. Zurückgekehrt in die Safe Zone erfährt Travis von Salazar, dass die Army am nächsten Morgen die Aktion „Kobalt“ durchführen will: alle überlebenden Zivilisten sollen liquidiert werden. Währenddessen hat Madison stillschweigend die Folter des Soldaten toleriert. Griselda stirbt im Hospital und Dr. Exner erklärt Liza, dass alle Toten zurückkehren werden. Liza verhindert die Verwandlung Griseldas mit einem Bolzenschussgerät, während Daniel vor der örtlichen Sportarena steht, in der die Army Nicht-Infizierte und Infizierte ohne weitere Versorgung eingesperrt hat. Im Inneren toben die Zombies.


Homo homini lupus

Kobalt ist ein chemisches Element, das als Bestandteil eines Vitamins für den Menschen überlebensnotwendig ist, in höherer Dosierung aber zu schweren Gesundheitsschäden führt. Natürlich haben Robert Kirkman und Dave Erickson sich etwas bei der Titelwahl gedacht: Kobalt steht für jene Sicherheit, die sich in der Welt der „Walking Dead“ immer wieder als Illusion entpuppt. Einerseits demonstriert die Army, die L.A. räumen will, ein überdosiertes Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle – die Nicht-Infizierten können nicht mehr von den Infizierten unterschieden werden und müssen präventiv liquidiert werden. Andererseits zeigt FTWD, dass der Gesellschaftsvertrag in einer demokratischen Gesellschaft nur so lange hält, bis eine überdimensionale Krise ihn aushebelt. In Wahrheit, und dass ist letztendlich das Hauptthema in „Fear The Walking Dead“, werden diese Illusionen nachhaltig zerstört und die Sehnsucht nach Sicherheit endet in einer brutalen Konfrontation mit jenen, die diesen Gesellschaftsvertrag aufgekündigt haben – der Armee.

„Fear The Walking Dead“ mutiert daher wie die Mutterserie zu einer mehr oder weniger konservativen, skeptischen Studie über den Verlust aller zivilen Regeln. Am Ende können sich die verschreckten Bürger in FTWD nicht einmal mehr mit dem Verzicht auf Freiheit eine Mehr an Sicherheit erkaufen. Sie werden zurückgeworfen in jenen vom englischen Philosophen Thomas Hobbes beschriebenen Naturzustand, in dem der Krieg aller gegen alle herrscht.
Hobbes hat unter diesen Gegebenheiten das Recht auf Sicherung des eigenen Lebens unter allen Umständen und unter Aufwendung aller Mittel als legitim bezeichnet. Dies ist auch in der apokalyptischen Welt der „Walking Dead“ der moralische Minimalkonsens: Jeder Mensch ist des anderen Menschen Feind (Homo homini lupus), man tut, was man tun muss. Hobbes sah in der Unterwerfung unter einen absoluten Herrscher, der unbedingt über Gut und Böse entscheidet, die einzige Möglichkeit, um in relativer Sicherheit leben zu können. Der Preis ist die Freiheit. Diesen Weg ins Ungewisse hat „The Walking Dead“ seit der dritten Staffel bis zur Ankunft der Gruppe in Alexandria nachgezeichnet, denn dort geht es um nichts anderes als um die Verwirklichung eines neuen Gesellschaftsvertrags. In Freiheit! Als Alternative winkt die Unterwerfung und die Inthronisierung eines absoluten Führers. Man wird sehen, wie TWD dieses Problem zu Beginn der neuen Staffel am kommenden Sonntag löst.

In der Welt der „Walking Dead“ herrscht also zunächst jene zweifelhafte Freiheit, die das Recht des Stärkeren in Kraft setzt. Und ihr können die Überlebenden nur widerstehen, wenn sie selbst die Stärkeren sind - oder den besseren Anführer haben. Ihre Freiheit besteht scheinbar nur noch in der Wahl der Mittel. Es sei denn, sie regulieren das Problem auf andere Weies. Dass sie dabei immer wieder ihren moralischen Kompass ausrichten wollen, ist in beiden Serien ein Verhalten, dass den rigiden Skeptizismus eines Thomas Hobbes zumindest teilweise entkräftet. An der pessimistischen Philosophie Robert Kirkmans ändert das aber nur wenig.

  • Thema: Die Regeln der Apokalypse (in Ep 6: „Der gute Mensch“, engl. „The Good Man“): In der von Robert Kirkman und Dave Erickson geschriebenen Schlussepisode versuchen die Protagonisten zu fliehen, bevor die Aktion „Kobalt“ durchgeführt wird. Zunächst müssen aber Griselda und Nick befreit werden. Daniel Salazar will den gefolterten Soldaten Adams, der nicht mehr „nützlich“ ist, liquidieren. Travis verhindert dies. Um unbemerkt in das Krankenhaus vordringen zu können, öffnet Daniel die Tore des Stadions. Die Untoten überfluten die Stellungen der Soldaten. Nick und Victor Strand ist inzwischen die Flucht gelungen, aber bevor alle aus dem Komplex fliehen können, taucht Adams auf, der sich an seinem Folterer rächen will und dabei Salazars Tochter anschießt. Travis prügelt ihn zu Tode und Adams wird nicht das einzige Opfer bleiben.


Wo sind die Untoten?

Fünf Episoden lang war „Fear The Walking Dead“ gefühlt eine Zombie-Serie ohne Zombies. Dann kamen sie zu Tausenden. Das Grande Finale hinterlässt aber einen zwiespältigen Eindruck. „Fear The Walking Dead“ hat etwas Neues versucht, die Absicht war erkennbar, die Umsetzung konnte nur in der zweiten Staffelhälfte einigermaßen überzeugen.

Dort, wo die Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit angesichts einer nicht vertrauenerweckenden Ordnungsmacht lebensgefährlich wurde, bot FTWD eine intelligente und fast prophetische Reflexion denkbarer Ereignisse. Zumindest ansatzweise. Aber man sollte dies nicht überbewerten, denn das Projekt „Cobalt“ holte den Zuschauer auch dort ab, wo er sich auskennt: Im Zombie-Kosmos von Robert Kirkman sind die Lebenden die eigentliche Gefahr. Von der Staatsmacht ist dabei nur Ungemach zu erwarten, in TWD ist sie ohnehin verschwunden. Und die Imitate einer zivilen Ordnung entpuppen sich wie in der 3. Staffel von TWD als barbarische Gegengesellschaft, die den Menschen Sicherheit bietet, ihnen aber die Freiheit nimmt, oder gleich zu einer Zweckgemeinschaft von Kannibalen mutiert. 

Vergleicht man das Spin-Off mit der Mutterserie, so funktioniert Robert Kirkmans Zombie-Kosmos in TWD auch deswegen so gut, weil dort der moralischer Kompass ambivalenter ist: Trauen kann man in einer Welt, in das Recht des Stärkeren herrscht, bestenfalls der eigenen Familie und einer Handvoll auserwählter Freunde. Die Freiheit in dieser Welt ist die Freiheit, alles tun zu können, was man möchte. 
In diesem Naturzustand à la Hobbes gibt es jedoch keine Sicherheit. Alle Hoffnungen auf eine Safe Zone, auf ein neues Home werden regelmäßig zerschlagen. Größere soziale Strukturen scheitern an der Schwäche ihrer Mitglieder, an ihrer fehlenden Wehrhaftigkeit, an ihrer Naivität oder an der Skrupellosigkeit ihrer Mitglieder. Sterben müssen deshalb die Naiven oder jene, die allzu moralisch sind. Und so bewegen sich Comic-Serie, TWD und FTWD unschlüssig und zaudernd immer wieder zwischen Anarchie und erzkonservativem Führerkult, zwischen Anpassung an eine darwinistische Welt und der Verhandlung der eigenen Werte.
TWD gelingt dies aber besser als dem Spin-Off, das in
„The Good Man“ eine fatale Wendung nimmt. Sie ist an Travis festzumachen. Während Travis zunächst in den Toten noch die Lebenden erkennt, die sie einst waren, sieht er am Ende in den Lebenden nur noch die Untoten, die sie bald sein werden. Sterbehilfe ist angesagt. Und so nimmt „Fear The Walking Dead“ am Ende eine unverhohlen zynische Haltung ein, die nur den ganz Abgebrühten unter den Zuschauern gefallen wird.Gute Menschen sterben erfahrungsgemäß zuerst", prophezeit Daniel Salazar irgendwann. Travis, „The Good Man“, hat die Warnung vernommen und scheint bereit zu sein, sich in der schrecklichen neuen Welt und ihren Spielregeln einzurichten.
 
„Fear The Walking Dead“ ist kein Flop, sondern ein Serienstart mit erkennbarem Potential. Victor Strand stellt am Ende fest: „In einer verrückten Welt überlebt man nur, wenn man ihren Wahnsinn anerkennt.“ Dieser gut gemeinte Aphorismus (2) trifft aber nicht den Kern. Das neue Spin-Off ist trotz interessanter Ansätze in Episode 4 und 5 am Ende ein Crashkurs, der – und das ernüchtert wirklich – zaudernden und humanistisch geprägten Highschool-Lehrern beibringt, dass sie gefälligst zu lernen haben, wie man effektiv tötet und wie man danach in Bewegung bleibt. Mit Wahnsinn hat dies nur bedingt zu tun, eher mit den anarchischen Regeln einer prä-zivilisatorischen Gesellschaft. Nur erörtert dies und eben einiges mehr „The Walking Dead“ um eine Klasse reflektierter als es „Fear The Walking Dead“ in seinen besten Momenten gelungen ist.


(Update v. 07.10.2015)

(1) http://www.hollywoodreporter.com/thr-esq/why-walking-dead-creator-gets-816955
(2) In der Originalfassung wird allerdings eine Begriff verwendet, der übersetzt eher 'etwas aktiv begrüßen' oder gar 'umarmen' bedeutet.


Note: BigDoc = 3

Fear the Walking Dead – USA 2015 – 6 Episoden in einer Staffel – Laufzeit: 42-65 Minuten – Idee/Showrunner: Robert Kirkman, Dave Erickson – D.: Kim Dickens, Cliff Curtis, Rubén Blades, Frank Dillane, Alycia Debnam-Carey, Elisabth Rodriguez, Patricia Reyes Spindola, Mercedes Mason, Lorenzo James Henrie, Colman Domingo, Sandrine Holt, Shawn Hatosy - Altersfreigabe: ab 18 Jahren.