Samstag, 24. Januar 2015

Gone Girl - Das perfekte Opfer

Tagebucheinträgen, die das reine Glück beschreiben, sollte man misstrauen. Vielleicht nicht im richtigen Leben, aber auf jeden Fall im Kino. Dort darf man dem Glück wenigstens in der leichten Komödie über den Weg trauen. In allen anderen Filmen, das hat das Kino von den griechischen Tragödien gelernt, beschwört das Glück schicksalhaft das Verhängnis herauf. Meistens ist die Botschaft simpler: Der Glückselige hat ernste mentale Probleme. David Fincher hat daraus einen Film gemacht.

Mal ganz ehrlich: Würden Sie sich einen Film anschauen, in dem die Figuren pausenlos glücklich sind? Nein? Ich auch nicht. Dabei denken wir uns reichlich Anlässe aus, um das Glück zu beschwören, zum Beispiel an Hochzeitstagen. Das misslingt öfter, als man glaubt.
Über die Trivialität von Hochzeitstagen erfährt man in „Gone Girl“ gleich zu Anfang einiges. Nick Dune (Ben Affleck) weiß an seinem fünften Hochzeitstag davon zu berichten: die Geschenke, die man sicht macht, werden immer unaufmerksamer, Banalität übernimmt in der Ehe das Regiment. Und am Ende kann man froh sein, wenn es eine Krawatte gibt.
Etwas anders hören sich die Tagebucheinträge seiner Frau Amy (Rosamund Pike) an, im Off dokumentieren sie das pure Glück. Zumindest am Anfang. Amy erzählt dem Zuschauer wie ein naiver Engel von ihrem Glück und es folgen Flashbacks, die dies beweisen. Sie erzählen davon, wie sich Nick und Amy in New York kennengelernt haben. Nick, der erfolgreiche Journalist, Amy, der Medienstar, eine bildschöne, gebildete Frau, die bereits als Kind von den Eltern (Psychotherapeuten!) als Kinderbuchfigur „Amazing Amy“ vermarktet wurde. Es gibt guten Sex an merkwürdigen Orten und Nick lernt von der klugen Amy einige Wörter, die er vorher nicht kannte.
Nur ist es leider so, dass „Amazing Amy“ in den Büchern alles gelingt, während ihr Alter Ego keineswegs diesem bizarren Perfektionswahn genügt. Das ist nicht amazing, das ist eine aus dem Ruder gelaufenen Upper Class-Fantasie, die sich zwangsläufig dissoziierend auf die Persönlichkeit auswirken muss.

Eine zeitlang mag das gut gehen, aber David Fincher zeigt in seinem neuen Film, wie schnell die Idylle zerbricht. Auch in Amys Tagebuch ziehen dunkle Wolken herauf. Das Paar verlieren in der Rezession seine Jobs und Nick verfrachtet sich und seine Frau, ohne groß zu fragen, in die Provinz nach North Cathage in Missouri, wo er sich mit seiner Schwester Margo eine Bar kauft und bei der Pflege der krebskranken Mutter hilft. 
Und Amy? Was macht sie den ganzen Tag, wenn Nick nicht da ist? Nick wird später nur vage Antworten geben können. Amy gehört zu den desperate houseswives, deren Identität sich langsam auflöst. Und dann ist Amy plötzlich verschwunden und die Verwüstungen in der Wohnung lassen keinen anderen Schluss zu: „Amazing Amy“ ist entführt worden. Bald weisen eine merkwürdige Botschaften, eine rätselhafte Schnitzeljagd und viele andere Ungereimtheiten daraufhin, dass es nicht der große Unbekannte, sondern Nick gewesen ist, der seine Frau beseitigt hat.


Kühl inszenierter Noir-Thriller

David Fincher hat bei der Verfilmung des gleichnamigen Erfolgsromans von Gillian Flynn den Plot der Vorlage weitgehend übernommen. Zusammen mit Flynn, die auch das Drehbuch geschrieben hat, wurde ein raffiniertes narratives Gebilde entwickelt, das den Zuschauer in ein verwirrendes Geflecht von Erzählperspektiven zieht. „Gone Girl“ wird in der ersten halben Stunden auf drei verschiedenen Zeitebenen erzählt: die Gegenwart wird mit Flashbacks unterwandert, die zum Teil Nicks, überwiegend aber Amys Sicht der Dinge nacherzählen. Die non-lineare Erzählung suggeriert trotz der unübersehbaren Subjektivität dem Zuschauer, dass alles, was er hört und sieht, der Fall gewesen ist. Man traut halt Bildern mehr als dem geschriebenen Wort. Aber langsam spürt man, dass etwas nicht stimmt. Wer erzählt hier eigentlich was? Und vor allen Dingen: Wem?

Sympathische Figuren sucht man in „Gone Girl“ vergeblich. Fincher seziert unterkühlt auf welche Weise Menschen hinter der Fassade der bürgerlichen Existenz ganz andere Lebensentwürfe entwickeln oder die Außenansicht ihres Lebens solange auf Hochglanz polieren, bis die Finger wund sind. Der Zuschauer sucht in dieser Noir-Version eines verlogenen American Dream vergeblich nach einer moralischen Integrationsfigur. 
Das liegt auch an den exzellenten Darstellern. Ben Affleck spielt den liebenden Gatten so unangestrengt cool und sympathisch, dass man ihm die Lockerheit nicht allzu lange abkauft. Das Doppelbödige und Ambivalente Nicks, der seine ihm intellektuelle überlegene Frau angeblich gerade wegen dieser Eigenschaft liebt, wird sichtbar, die Fassade bekommt auf eine Weise Risse, wie es eigentlich nur Ben Affleck glaubwürdig spielen kann: immer eine Spur zu gelackt, zu clever. 

Rosamunde Pike, die zu Recht bei den Academy Awards als Beste Hauptdarstellerin nominiert wurde, steht dem in nichts nach: wie sie mit manischer Energie ihren Glücksentwurf kitten will, führt in Abgründe, die den Zuschauer frösteln lassen. Rosamunde Pike spielt das zum Angsthaben grandios: ihre lapidare Feststellung „Ich habe den Mann meiner Träume geformt“ öffnet schließlich Türen zu finsteren Räumen, die besser geschlossen bleiben sollten.

Wenn es überhaupt eine sympathische Figur gibt, dann ist es die ermittelnde Polizeibeamtin Rhonda Boney (toll von Kim Dickens gespielt), die lange auf der Seite von Nick steht. Ihr moralischer Instinkt und ihre pragmatische Lebensklugheit wirken beinahe naiv. Sie sind es aber nicht.
Es sind harte Fakten, die den Cop auf schleichende Weise misstrauisch machen: zum Beispiel die Tatsache, dass Nicks Bar auf den Namen seiner Frau läuft, da ist auch die plötzlich erhöhte Lebensversicherung der verschwundenen Amy, Nicks verschwenderisch überzogene Kreditkarte, die Hinweise auf eine zerrüttete Ehe, schließlich die Entdeckung, dass Nick eine Affäre mit einer jungen Studentin hat. Dass Amy einen Großteil ihres Millionenvermögens den wirtschaftlichen ruinierten Eltern überlässt, rundet die Suche nach einem Motiv schließlich ab. 
Und so dauert es nicht lange, bis Nick zum beinahe logischen Opfer einer medialen Hetzkampagne der skrupellosen TV-Journalistin Ellen Abbott (Missi Pyle) wird. Fincher setzt in „Gone Girl“ beiläufig der ehemaligen CNN-Moderatorin Nancy Grace ein hässliches Denkmal. Grace wird bis zum heutigen Tag beschuldigt, mit ihren Court TV-Shows unschuldige Menschen ohne greifbare Beweise in den Tod getrieben zu haben und Missi Pyle sieht aus wie ihr reales Vorbild.


Alles nur ein Fake

Aber Finchers Film ist kein Justizdrama und auch keine Mediensatire. „Gone Girl“ ist ein Psychothriller im Stile Hitchcocks, ein Film, der sich elegant der Suspense-Technik des Altmeisters bedient. Vieles weiß der Zuschauer, bevor es die Ermittler herausfinden. 
Amy erzählt in ihrem Tagebuch von der Angst vor ihrem gewalttätigen Mann, sie will sich eine Waffe besorgen, sie ist überzeugt, dass ihr Mann sie umbringen will. 
Und als dann tatsächlich ihr fast verbranntes Tagebuch gefunden wird, stehen auch den Ermittlern diese Informationen zur Verfügung und alles fügt sich scheinbar zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammen. Amy ist das perfekte Opfer. Auch die von Nicks Anwalt Tanner Bolt (Tyler Perry) eingefädelte Medieninitiative scheint dem vermeintlichen Gattenmörder keine Pluspunkte mehr einzubringen. Nick wird verhaftet.

Wirklich überraschen kann das aber nicht und wer regelmäßig den Tatort sieht, weiß, dass der Täter selten derjenige ist, auf den alle mit dem Finger zeigen. Fincher dröselt dann auch nach einer Stunde das Ganze im Stil von Hitchcocks „Vertigo“ auf. James Stewart findet vor dem letzten Akt heraus, wie er aufs Kreuz gelegt worden ist. In „Gone Girl“ wird dem Zuschauer bereits nach 60 Minuten die Auflösung präsentiert, die Hauptfigur muss noch rätseln. 
In den folgenden anderthalb Stunden wird der Rosenkrieg zwischen Nick und Amy mit einem verblüffenden Wechsel der Erzählperspektive in eine völlig neue Richtung geführt, die dann zielsicher auf einen schockierenden Plot Twist hinausläuft. 
Nicht immer ist dies effizient, Fincher gestattet sich einige überflüssige Längen, besonders gegen Ende des Films. Aber „Gone Girl“ ist trotz einiger Holperer ein beachtlicher Thriller, der meisterhaft beginnt, um dann mit solidem Handwerk auf den entscheidenden Plot Twist zuzusteuern. Der soll vermutlich so ähnlich funktionieren wie die Duschszene In „Psycho“. Tut er auch, garantiert.


Postmoderne Charakterstudie

Am Ende sind die vermeintlichen Tatsachen raffinierte nur Täuschungen. Fincher führt wie Hitchcock den Zuschauer solange erfolgreich an der Nase herum, bis er reif für die blutige Pointe ist. Tagebüchern kann man eben nicht trauen, besonders dann wenn der Verfasser nicht glaubwürdig ist. Man hätte es wissen können.
Den ‚Unreliable Narrator’ hat David Fincher bereits in „Fight Club“ als Clou eingesetzt – in „Gone Girl“ wird dem Zuschauer erneut die Zuversicht genommen, dass er das sieht, was der Fall ist. Wer hier aber eine soziologisch aufschlussreiche Analyse des weißen Mittelstands in den Film hineinlesen will, täuscht sich gewaltig. „Gone Girl“ ist ein elegantes Vexierspiel, ein kühler Noir-Thriller, aber keine Sozialstudie. Er ist nicht so subtil und intellektuell wie „Seven“ und auch nicht so subversiv wie „Fight Club“, doch wenn ich mir einen gutsitzenden Anzug von der Stange kaufen wollte, würde ich ihn bei David Fincher kaufen.
Und in einem Punkt ist Fincher dem Meister des Suspense einen Schritt voraus. Dieser kannte die Leiden der postmodernen, hippen und schönen Reichen noch nicht, die trotz gewisser Probleme in „Gone Girl“ nicht darben müssen. Hitchcock musste noch umständlich erklären, was Norman Bates zusammenhielt. Fincher analysiert die Geschichte einer Persönlichkeitsstörung deutlich eleganter, indem er die verschachtelte Erzählung dem tiefschwarzen Puzzle eines komplexen bedrohten Ichs anpasst.

Erich Fromm hat diese Bedrohung genau beschrieben: die Mühe, die es hat, um seine antagonistischen Persönlichkeitsanteile zu integrieren, das Übermächtige der illusionären Wirklichkeiten, die Wahn sind, aber alles vorübergehend zusammenhalten. Dabei ist die Realität doch so frustrierend, immer wieder muss man von vorne anfangen und immer wieder muss man alles zusammenzuhalten. Man darf die unbedingte Kontrolle über sich und andere nicht verlieren. Es geht um die Bewahrung des Wohlstands, des Lebensstils, des schönen Scheins. 
Es ist das postmoderne Ich, das Fromm beschrieben hat, und es ist nicht gesund, es ist verzweifelt. Es will auch eigentlich nicht geliebt werden, die edle Außenansicht reicht ihm längst. Es täuscht, es trickst und es geht über Leichen und es ist wirklich kein perfektes Opfer. Hört sich irgendwie vertraut an. Vielleicht ist „Gone Girl“ ja doch eine soziologische Studie.

Noten: Klawer =3, BigDoc, Melonie = 2,5

Gone Girl (Gone Girl – Das perfekte Opfer) - USA 2014 - Regie: David Fincher. Buch: Gillian Flynn. Kamera: Jeff Cronenweth. D.: Ben Affleck, Rosamund Pike, Neal Patrick Harris, Kim Dickens, Tyler Perry. Laufzeit: 149 Minuten. Alterfreigabe: ab 16 Jahren.

Freitag, 16. Januar 2015

The Homesman

Mit dem Noir Western „The Homesman“ stellt Tommy Lee Jones erneut sein Talent für existenzialistisch angehauchte und zudem auch skurrile Themen unter Beweis. Entscheidend ist aber ein Plot Point, mit dem der deprimierenden Geschichte eine unerwartete Wendung gegeben wird. Dass dies wie ein Schlag in die Magengrube wirkt, ist ein anderes Thema.

In den Western von John Ford schwiegen die Frauen häufig. Sie standen herum und warteten auf die männlichen Hauptfiguren. Als Silhouetten, oft im berühmten Ford’schen Türrahmen. Und dort standen sie auch schweigend, wenn die Helden wieder davonritten. Man kann das zum Beispiel in „The Searchers“ sehen. Erst ganz am Ende seiner langen Karriere hat Ford, etwa in „Sieben Frauen“ (1966), dem anderen Geschlecht das Sprechen beigebracht. Manfred Bauschulte nannte diesen Film nicht ohne Respekt eine Travestie: Die Heldin in Cowboypose.
Und nun, in „The Homesman“, erzählt Jones die Geschichte einer Frau, die ganz allein auf sich gestellt nicht nur eine Farm bewirtschaftet, sondern auch gebildet ist und reiten und schießen kann, wenn es darauf ankommt.
Auf den Gedanken, dass dies eine Travestie, also eine Persiflage, sein könne, kommt man heute nicht mehr ohne Weiteres. Die soziale Rolle der Frau hat sich geändert, ihre Widerspiegelung in den narrativen Kinoentwürfen zeigt dies nicht nur, sie ist auch als Rückprojektion in ein von Männern dominiertes Genres formal sehr nützlich, um Geschichten zu erzählen, die (Genre-)Erwartungen durchkreuzen.



In der Hölle, jenseits der Zivilisation

Und das sieht so aus: die fromme Farmerin Mary Bee Cuddy (erneut reif für einen OSCAR: Hilary Swank, „Boys Don’t Cry“, „Million Dollar Baby“) ist die einzige Person in einer Gemeinde des Mittleren Westens, die den Mut aufbringt, drei wahnsinnig gewordene Frauen zu einer methodistischen Gemeinde in Iowa zu bringen. Eine Frau wurde von ihrem Mann sexuell misshandelt, eine andere hat ihre Kinder an die Diphtherie verloren, die dritte entsorgte ihr Neugeborenes einfach in der Scheiße des Aborts. In „The Homesman“ befinden wir uns in einer beinahe prähistorischen Hölle jenseits der Zivilisation. 

Den Männern in Mary Bees Gemeinde fehlt der Mut, die Zerbrochenen wegzubringen, die Frauen halten Mary Bees Unterfangen schlichtweg für unsittlich: Frauen tun so etwas nicht. Immerhin warten unterwegs Indianer.
 Mit einem vergitterten Gefängniswagen, in dem die ‚verrückten’ Frauen sitzen, bricht Mary Bee dennoch auf und trifft unterwegs den Gauner George Briggs (Tommy Lee Jones), der mit einer Schlinge um den Hals auf einem Pferd sitzt. Briggs hat sich den Besitz eines Mannes unter den Nagel gerissen, der in den Osten gereist ist, um sich eine Frau zu suchen. Mary Bee presst dem zum Tode Verurteilten das Versprechen ab, ihr bei der Überführung der kranken Frauen zu helfen. Briggs stimmt zu und wird abgeschnitten. Alles könnte nun auf eine zynische Buddy-Story wie in „Two Mules for Sister Sara“ („Ein Fressen für die Geier“, Don Siegel 1970) hinauslaufen, ein Film, der tatsächliche eine Travestie war. Aber es kommt anders.

Dazu muss man zum Anfang zurück. In einer der ersten Szenen versucht Mary Bee einen benachbarten Farmer, den sie zum Essen eingeladen hat, zur Heirat zu bewegen. Sie ist einsam, klug, erfolgreich und hat zudem Vermögen. Da müsste doch was gehen. Der ungebildete Proll lässt sich aber weder durch gutes Essen noch durch frommen Gesang dazu bewegen, eine ihm intellektuell und kulturell überlegene Frau zu heiraten. Sie sei zu trocken, stellt er fest. Dann sucht er das Weite.

Nun, in den flachen, unendlich erscheinenden Landschaften der Great Plains, findet Mary Bee in dem freiheitsliebenden Mittsechziger einen neuen Kandidaten. Es scheint ein sonderbarer Pragmatismus in den Zügen von Hilary Swank auf, wenn sie in einer bedrückenden, aber grandiosen Szene dem alten Streuner am Lagerfeuer die praktischen und ökonomischen Vorzüge einer gemeinsamen Zukunft in trockenen Worten schildert. Nie sah man eine Frau in einem Western so zielsicher, so abgeklärt, so männlich (!). Doch auch Briggs, der von Tommy Lee Jones nun wirklich nicht als verführerisches Sex-Symbol gespielt wird, lehnt ab. Dann, mitten in der Nacht, steht sie nackt vor dem alten Mann, der beinahe widerwillig der Einladung nachkommt, nicht ohne Mary Bee nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass sie es sei, die dies so gewollt habe. Dann vollzieht er den Beischlaf, anders kann man es nicht nennen.
Am nächsten Morgen findet Briggs die Frau unweit des Lagers. Sie hat sich erhängt.



Ein Selbstmord in einer absurden Welt

Mein Freund Klawer zitierte am nächsten Tag den englischen Philosophen Thomas Hobbes, der über das Leben im rohen Naturzustand geschrieben hat, es sei „einsam, armselig, scheußlich, viehisch und kurz“. Zitiert wurde dies vor einigen Monaten ebenfalls von einem deutschen Journalisten, dem in den USA in letzter Minute das Leben gerettet wurde und der hernach daran erinnerte, dass Menschen in ihrer überwiegenden Mehrzahl eben keine irren islamistischen Terroristen oder durchgeknallten Nazis sind. Sie seien vielmehr freundlich, besonders dann, wenn die Not groß ist. Tommy Lee Jones hat sich in seiner zweiten Regiearbeit eher dazu entschlossen, die misanthropischen Einsichten eines Thomas Hobbes zu bebildern.

Bereits 2005 legte Jones mit „The Three Burials of Melquiades Estrada“ einen anderen meisterhaften Noir-Western vor, der ebenfalls als moralische Erzählung gelten kann. Damals spielte Jones den schweigsamen Noir-Helden als hartnäckigen Querkopf, diesmal überlässt er als amoralischer Gauner in der ersten Hälfte des Films Hilary Swank das Feld. „The Homesman“, der eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Glendon Swarthout (1988) ist, präsentiert sich allerdings als Film fernab von jeglicher Freundlichkeit. Kaum hat sich das Comic Relief in der Geschichte breit gemacht, wird es ruppig zerstört – selten hat sich die existenzielle Not einer Figur so kraftvoll wie eine schwarzes Nichts über eine Geschichte gelegt wie in „The Homesman“. Der Suizid ist verstörend, grausam - und ratlos bleibt der Zuschauer zurück, dessen Erwartungen nun wirklich durchkreuzt werden.

Sich beim Schreiben einer Filmkritik, die mehr sein will als eine Inhaltsbeschreibung für Verbraucher, an dem ewigen Lamentieren über Spoiler zu orientieren, hieße eben vor diesen Erwartungen zu kapitulieren. Erinnert sei vielmehr an Albert Camus, der nicht nur dem Begriff des Absurden eine neue Bedeutung gegeben hat, sondern auch den Selbstmord für das einzige wirklich ernste Problem der Philosophie gehalten hat. 

„Eine Welt, die sich - wenn auch mit schlechten Gründen - deuten und rechtfertigen lässt, ist immer noch eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusion und des Lichtes beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd. Aus diesem Verstoßensein gibt es für ihn kein Entrinnen, weil er der Erinnerungen an eine verlorene Heimat oder der Hoffnung auf ein gelobtes Land beraubt ist“, schrieb Camus in „Der Mythos von Sisyphos“, und damit benannte er nicht nur das Gefühl der Absurdität, sondern auch die Gewissheit des Verlustes von Heimat, die sich in einer kalten Welt breit macht.

Aber in einem Western, zu dessen Kerndefinitionen auch jene der Heimat gehört, bringt man sich aber nicht um. Das Glücksversprechen, das die Frontiers selbst inmitten tiefster Gesetzlosigkeit angetrieben hat, bleibt in diesem Genre nämlich meist ungebrochen. Man hält an seinen Illusionen fest, es sei denn, man lebt in Deadwood.
Der brutale Plot Point in „The Homesman“ definiert die Spielregeln derartiger Western-Geschichten neu. Briggs, der nun allein mit den drei Frauen ist, will zunächst davonreiten, dann besinnt er sich und bringt sie widerwillig zum Zielort, nicht ohne unterwegs mit einer Handvoll bigotter Bürger abzurechnen, die mit dem Prinzip Nächstenliebe nichts anfangen können. Dies sorgt in einem ansonsten action-freien Western für etwas Rabatz, scheint aber wie in einer Art von Katharsis anzudeuten, dass da jemand auf den letzten Metern seines Lebens wenigstens etwas Moral gelernt hat und noch nicht recht weiß, was er mit ihr anfangen soll.



Sicher kann man sich nicht sein. Ganz am Ende, nachdem sich Briggs von seiner Prämie einige schicke Klamotten gekauft hat und dann auch mitfühlend einem armen Mädchen das erste Paar Schuhe, beschließt er, mit einem hölzernen Grabstein in die Plains zurückzukehren. Dorthin, wo er Mary Bee begraben hat. Als er auf einer Fähre betrunken randaliert und wild um sich schießt, um danach ein fröhliches Solo-Tänzchen zu wagen, befördert ein achtloser Tritt den Grabstein ins Wasser. Tröstendes gibt dieser Film kaum her, das Wenige sucht man lange.

Der Film erhielt die „Goldene Palme“ bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2014.

Noten: BigDoc = 1,5, Klawer, Melonie = 2

The Homesman – USA 2014- Regie: Tommy Lee Jones – D.: Hilary Swank, Tommy Lee Jones, Meryl Streep, James Spader, John Lithgow – Laufzeit: 122 Minuten – Altersfreigabe: FSK 16.