Donnerstag, 22. März 2012

Bluray-Review: The Thing (2011)


USA / Kanada 2011 - Regie: Matthijs van Heijningen Jr. - Darsteller: Mary Elizabeth Winstead, Eric Christian Olsen, Joel Edgerton, Adewale Akinnuoye-Agbaje, Ulrich Thomsen, Kim Bubbs, Jonathan Walker - FSK: ab 16 - Länge: 102 min.

Zur Welle der Remakes und Neu-Adaptionen im US-Kino gehört auch Matthijs van Heijningens gleichnamiges Prequel zu John Carpenters „The Thing“ (USA 1982, D: Das Ding aus einer anderen Welt). Herausgekommen ist ein fast klassisch anmutendes B-Picture, das seine enorme physische Präsenz daraus bezieht, dass es dem Sujet nichts Neues hinzufügt.

Die Entdeckung des „Dings“ ist purer Zufall: als die Mitglieder einer norwegischen Forschungsstation in der Antarktis mit ihrem Schneefahrzeug in eine Gletscherspalte stürzen, entdecken sie unter dem Eis ein gigantisches Raumschiff und nicht weit entfernt davon ein eingefrorenes Alien. Natürlich bringt man es in die Forschungsstation und dort passiert genau das, was zu erwarten war: das Alien ist ein Monster, das die menschlichen Wirtskörper perfekt reproduziert und wie ein Virus unter den Forschern wütet. Wie in John Carpenters „The Thing“ setzt auch die Neuadaption mit sujetgerechter Akribie das Zehn-kleine-Negerlein-Prinzip um, das die um ihr Überleben kämpfenden Forscher konsequent dezimiert, bis nur noch Drei übrig bleiben.
Kann ein Film, bei dem von Anfang an weiß, dass sein Personal ihn kaum überleben wird, überhaupt noch Spannung erzeugen?

Die Erzählung kann diese Frage eher nicht beantworten: Matthijs van Heijningens Neuadaption rekonstruiert den Plot von Carpenters Film minuziös und fügt dem Ablauf lediglich neues Personal hinzu. Als Heldin tritt nun eine Frau in der rauen Männerwelt auf – die Paläontologin Dr. Kate Lloyd (Mary Elizabeth Winstead) reist mit einem amerikanischen Forscherteam unter Leitung von Dr. Sander Halvorsen (Ulrich Thomsen) zur norwegischen Station, um die Kreatur im Eis näher zu untersuchen. Als Erste erkennt sie die tatsächliche Beschaffenheit des Monsters und muss sich zudem in der isolierten Männerwelt behaupten. Dieses aus „Alien“ (1979) bekannte Subthema erhält aber keine zentrale Gewichtung, genauso wenig wie die zahlreichen Männerrollen, die sich als tragend erweisen könnten, es aber nie sind, da das Monster alle sehr rasch umwandelt und dadurch im Gegensatz zu Carpenters Version für eine dramaturgische Nivellierung der Protagonisten sorgt. Nur der von Joel Edgerton ("Warrior") gespielte Sam Carter ragt aus der Männercrew heraus, für die van Heijningen einige der aktuell bekanntesten skandinavischen Darsteller gecastet hat. Beim tragisch-zynischen Ende des Films, das ähnlich wie bei Carpenter die Möglichkeit eines Sequel offen lässt, geht die Heldin verloren, was natürlich Spekulationen zulässt, aber van Heijningen arbeitet bereits an einem anderen Sequel, nämlich an einer Fortsetzung von Zack Snyders "Dawn of the Dead", ein Film, der bekanntlich selbst ein Remake ist.
Alles klar?

Einen neuen Subtext wird man in van Heijningens Film ebenfalls vergeblich suchen.
Den hatte noch das große Vorbild geliefert: „The Thing from Another World“ (Das Ding aus einer anderen Welt, 1951) von Christian Nyby und Howard Hawks war nur oberflächlich an die Science Fiction-Erzählung „Who goes there?“ von John W. Campell Jr. angelehnt, setzte den Horror aber so beängstigend um, dass bis heute die exemplarischen Interpretationen des Kultfilms den Schrecken dadurch zu bannen versuchen, dass sie den Film als politische Parabel auslegten -  die Angst vor dem Monster war als Angst vor dem Kommunismus zu deuten. Beruhigend wirkt das aber nicht…

Solche Analogien passten bereits nicht mehr, als der große Meister des B-Picture John Carpenter mit seinem „The Thing“ (Das Ding aus einer anderen Welt, USA 1982) eine Splatter-Variante vorlegte, die aus dem blutsaufenden Nyby-Monster einen genetischen Attentäter machte, der beliebige Formen annehmen konnte und fast unaufhaltsam eine kleine soziale Gemeinschaft unterwanderte. Damit wurde Carpenters „Ding“ deutlich blutrünstiger, hielt sich aber auch genauer an die literarische Vorlage Campbells, was in den 1980er Jahren leider nicht gewürdigt wurde. Persönlich schätzte ich Carpenters Versuch als überragenden Genrebeitrag – Paranoia-Horror par excellence. Leider wurde „The Thing“ damals überwiegend ablehnend rezipiert und 1984 in Deutschland sogar indiziert, bis er 2009 nach neuerlicher Prüfung mit einer Altersfreigabe „ab 16 Jahren“ freigegeben wurde und mittlerweile in einer technisch exzellenten Bluray-Edition vorliegt.
Van Heijningens Film dekliniert das Thema weitgehend genauso durch wie Carpenter: Körper explodieren regelrecht und verwandeln sich in bizarre Monstrositäten, der Blick mit dem Mikroskop zeigt Zellen, die sich wie Formwandler auf ihre humanoiden Antipoden stürzen und wie bei Campbell und Carpenter gibt es einen nervenzerreißenden Test, der die Kopien von den Menschen unterscheiden soll.
 
Campbell war sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hatte seine Kreatur mit telepathischen Fähigkeiten ausgestattet und offen gelassen, ob die Wirtskörper wussten, was mit ihnen geschehen war – der Horror bestand in der Frage „Wer bin ich?“.
Ganz so weit ging John Carpenter nicht, auch van Heijningen tut es nicht. Sein Film endet dort, bereits als Teil des Abspanns, wo Carpenters Film beginnt, nämlich mit der Jagd auf den Schlittenhund: „The Thing“ (2011) will also ein Prequel sein und tatsächlich wurde dies von dem niederländischen Filmregisseur bis ins kleinste Detail umgesetzt, sodass viele Beobachtungen, die Kurt Russell in Carpenters Film in der norwegischen Station macht, haarklein in ihrer Vorgeschichte aufgebröselt werden.

Nicht sehr originell, aber sehr spannend
Bei so viel Hingabe an ein großes Vorbild kann schon mal die Originalität verloren gehen. Tatsächlich ist „The Thing“ (2011) auch eher als Hommage zu sehen, die besonders durch die Übernahme der Plotstruktur so nah der Vorlage verhaftet bleibt, dass man eher von einem Remake sprechen kann. Das gilt auch für den Score von Marco Beltrami, der unüberhörbar an den von Carpenters Film anknüpft und wer genau hinsieht, wird im Abspann auch einen Verweis auf Ennio Morricone finden.

Dass „The Thing“ dennoch eine soghafte Spannung aufbaut, liegt wohl daran, dass der Film fast vampiristisch das Spannungspotential der 1982er-Vorlage aufgesaugt hat, was witzig ist, weil der der Film damit die Eigenschaften des Monsters übernimmt: er ist eine (fast) perfekte Kopie seines Wirts. Dabei entpuppt sich Matthijs van Heijningen als Regisseur mit einem sicheren Gespür für die B-Film-Ästhetik, bei der es um eine präzise naturalistische Sichtweise geht, die Überflüssiges ausspart, um sich ganz auf die physischen Elemente der Geschichte zu konzentrieren. Der  Film ist ähnlich wie Sci-Fi- B-Movies der 1950er Jahre dabei sehr nah am Horrorfilm angesiedelt, aber der Body Horror des „Dings“ erinnerte bereits bei Carpenter und nun auch bei van Heijningen noch stärker an die Themenwelt von David Cronenberg.

Dabei drängen sich politische Konnotationen nur bedingt auf. In „The Thing from Another World“ (1951) besitzt das Monster, das sich wie eine Pflanze reproduziert, weder Sexualität noch Gefühle und droht seinen Opfern mit Körper-Exploitation, ohne ihnen wie in „Invasion oft the Body Snatchers“ einen Diskurs über eine Welt ohne Sex, Liebe und Gefühle anzubieten. Carpenters Film nahm die Exploitation dagegen sehr wörtlich.
In den monströsen Prozessen der Körperaneignung und  Körperverwandlung kann man natürlich nach politischen Subtexten suchen, aber auch eine Lesart, die sich der psycho-sexuellen Dimensionen des Sujets annimmt, erscheint mir legitim zu sein – immerhin zeigte bereits der klassische Horrorfilm oft sehr unverhüllt, dass die Rätsel des Körperlichen möglicherweise unbekannte Schrecken bereithalten und uns im schlimmsten Fall der völlige Kontrollverlust droht – oder das Aufgefressenwerden. Und so ist auch der Beitrag eines Kritikers filmhistorisch falsch, der in einer aktuellen Kritik des 2011er-Prequels der Carpenter-Adaption eine anti-kommunistische Symbolik untergejubelt hat. Richtig ist, dass dies eher für die 1951er-Adaption der Campell-Novelle durch Christian Nyby und Howard Hawks gilt und noch mehr für "The Invasion of the Body Snatchers" zutreffend ist, während es auch nach längerem Nachdenken nicht nachvollziehbar wird, wie eine Lebensform, die perfekt das Aussehen ihres Feindes annimmt, in diesen ideologiekritischen Kontext passen sollte.

Wie gesagt: viel Neues erfährt man in van Heijningens Version nicht. Im direkten Vergleich mit dem 1982er-Kultklassiker schneidet der Film sogar etwas schlechter ab, weil Carpenter seinen Figurenpark deutlich differenzierter präsentiert hat und – was angesichts geringerer technischer Möglichkeiten vielleicht überraschend ist – seinen Body Horror weitaus beängstigender zur Schau stellte als sein Nachfolger. Damals, in den achtziger Jahren, verschaffte Carpenters Film der sich bereits abzeichnenden Steigerung  der Gewaltdarstellung in Genrefilmen einen vorläufigen Höhepunkt, und auch heute noch erzeugt der Film eine eisig-paranoide Atmosphäre, die sein Nachfolger nie ganz erreicht. Und so hat das Prequel wenigstens erreicht, dass man sich dem großen Vorbild deutlich respektvoller nähert und vielleicht auch mal Campells Story in die Hand nimmt, die bis heute als eine der besten Science-Fiction-Erzählungen aller Zeiten gilt (1).

Respektable Bildqualität
„The Thing“ liegt als Steelbook und im Amaray-Case vor. Die nachfolgenden Angaben beziehen sich auf die Steelbook-Edition, die die Region Codes A, B und C aufweist. Der im Bildformat 1920x1080p (2.35:1) vorliegende Film besitzt eine deutschsprachigen DTS 5.1-Ton, das englische Original liegt in DTS-HD MA 5.1 vor. Universal hat dem Steelbook eine Digital Copy auf DVD beigefügt. Die Bildqualität ist angemessen, ohne dass man von Referenzqualität sprechen kann. Im direkten Vergleich mit der Neuauflage des 30 Jahre älteren Films schneidet "The Thing" (2011) sogar etwas schlechter ab.

Das Bonusmaterial hat diesmal einiges zu bieten, wenngleich auch hier die Bluray-Edition von Carpenters Film allein schon wegen eines informativen 90 min-Features in einer ganz anderen Liga spielt. Immerhin: Den Filmfreunden, die sich kenntnisreich in Foren über die „hollywood-typischen“ CGI-Effekte aufgeregt haben, darf tröstend erwidert werden, dass in „The Thing“ (2011) der Body Horror als Mischung aus klassischem Special Effects (SFX: also jenen Effekten, die man am Set mit Modellen, Latex-Masken etc. in Szene setzt) und Visual Effects (VFX: hierbei handelt es sich um Effekte, die in der Post-Production realisiert werden) entstand. Wenn also der Flammenwerfer zum Einsatz kommt, dann wurden am Set tatsächlich Stuntmen und Darsteller (!) mit Anti-Feuer-Gel etc. präpariert und anschließend „abgefackelt“. Alles also recht altmodisch. Und leider überwiegend kein CGI, sorry. In solchen Fällen hilft ein gutes Filmlexikon.

(1) Wer John W. Campbells „Who Goes There?“ lesen möchte, kann dies hier tun: http://nzr.mvnu.edu/faculty/trearick/english/rearick/readings/manuscri/Who%20Goes%20There/Who%20Goes%20There%20Index.htm

Noten: BigDoc = 3

Samstag, 17. März 2012

Bluray-Review: The Deer Hunter


Exzellenter Bluray-Transfer zum Schnäppchenpreis
D: Die durch die Hölle gehen, USA  1978, Länge, Länge 175 Minuten FSK 16, Regie: Michael Cimino,  Drehbuch: Michael Cimino, Deric Washburn. D: Robert de Niro, Christopher Walken, John Savage, Meryl Streep, John Cazale, George Dzundza

Michael Ciminos mit fünf Oscars (1979: u.a. „Bester Film“, „Beste Regie“) ausgezeichneter Klassiker ist in den letzten dreißig Jahren differenziert gedeutet und interpretiert worden. Fast wundert man sich, wie es dem Film gelingt, auch heute noch einen überwältigenden Eindruck zu hinterlassen, während man immer wieder neue Facetten entdeckt.
Drei junge patriotische Männer, die als Stahlarbeiter in einer russischen Gemeinde in Pennsylvania arbeiten und leben, ziehen 1968 in den Vietnam-Krieg, aber nur zwei kehren lebend zurück: Steven (John Savage) hat beide Beine, Michael (Robert de Niro) dagegen seine Identität verloren. Der Dritte, Nick (Christopher Walken), verliert erst seinen Verstand und danach auch sein Leben bei illegalen „Russisches Roulette“-Veranstaltungen in Saison. Er wird am Ende von der Gemeinde seiner Heimatstadt zu Grabe getragen.

Dreieinhalb Jahrzehnte später stellt man fest, dass nur einer so anmaßend, ungezügelt und provozierend Filme gemacht hat wie Michael Cimino: Terrence Malick. Allein Ciminos Prolog in „The Deer Hunter“ ist ein Schlag ins Gesicht des normalen Kinogängers: sechzig Minuten lang sieht man den Männern bei nichts anderem als der Arbeit im Stahlwerk, beim Saufen in der Kneipe und auf der Hochzeit ihres Freundes John und schließlich beim Jagen in den Bergen zu. Erst dann schneidet Cimino hart auf die Kriegsgeschehnisse in Vietnam, auf die legendären „Russisches Roulette“-Szenen der drei Freunde, die in vietnamesische Gefangenschaft geraten sind. Und ganz am Ende des dreistündigen Epos, wenn Michael es nicht geschafft hat, seinen Freund aus Saigon herauszuholen, landen wir wieder in dem schmutzigen Industriekaff und alle singen „God bless America“. Beschädigte Patrioten in einem Homeland, das nie wieder so sein wird wie es war.

Immer noch ein wenig rätselhaft und politisch garantiert nicht korrekt
„The Deer Hunter“ wurde ambivalent rezipiert. Für einen Anti-Vietnam-Film waren seine Helden zu patriotisch, für ein Heldenepos zu kaputt. Auf der Berlinale 1979 sorgte der Film für einen Skandal, Cimino wurde Rassismus und dazu auch Verunglimpfung der Vietcong (!) vorgeworfen. Auch die berühmten Jagdszenen, in denen de Niro, untermalt von pathetischer russischer Folklore, einen Hirsch erlegt, irritierten. Das tun sie noch heute.
Mit anderen Worten: „The Deer Hunter“ ist politisch nicht korrekt und wird es wohl nie sein. Und Michael Ciminos Film ist zudem kontraproduktiv, wenn es um Ideologie und Psychologie geht: die Männer reden nicht über ihre Motive und Gefühle, höchstens im Angesicht des Todes. Sie tun sich trotz eines unübersehbaren Machismo schwer mit Frauen, sie sind Waffennarren. De Niros brillant gespielte Figur ist die eines anti-intellektuellen erzkonservativen Stoikers, ein Außenseiter mit einem Wertecodex, der dunkel bleibt und nicht verhandelbar ist und dessen Bruchstellen erst dann sichtbar werden, wenn Michael nach seiner Rückkehr unfähig ist zu jagen.
Und wie bei Malick bleibt die Verbindung zwischen dem qualvollen Töten im Krieg und den ästhetisch überhöhten Jagdszenen der Deer Hunter in einer nicht weniger mythisch überhöhten, unberührbaren Natur zutiefst rätselhaft.

Auch nach über 30 Jahren beeindruckt die visuelle Pracht des Films.
Hier geht es nicht um konventionell Schönes, sondern um die ästhetischen Mittel, mit denen Cimino seine „Welt“ erschaffen hat. Ähnlich wie später in „Heavens‘ Gate“ braucht er dafür unendlich viel Zeit; lange, kaum durch Schnitte unterbrochene Einstellungen, ein genaues Hinschauen, ein Verweilen, bei dem Film narrativ auf der Stelle zu treten scheint und einfach nicht vom Fleck kommt. Dazu die überwältigend präzise Musik von Stanley Myers, dessen „Cavatina“ immer noch zum Besten gehört, was im Kino zu hören war und ist. Jenseits aller ideologischen Deutungen hat Ciminos Stil einen Mikrokosmos erschaffen, der den Zuschauer sogartig anzieht und ihn eine ungeheure emotionale Tiefe erleben lässt.

Bluray herausragend
Auf Bluray liegt der Film in der ungekürzten US R-Rated Fassung mit einer Laufzeit von 183 Minuten vor. Der MPEG 4/AVC-Transfer im Bildformat 1920x1080p (2.35:1) ist nicht nur gemessen am Alter des Films, sondern auch im Vergleich mit aktuellen Referenzfilmen überwiegend herausragend gelungen. Die Farben sind eher kühl gehalten, die Schärfe ist im Fokusbereich makellos und gibt nur zu den Rändern hin gelegentlich nach. Filmkorn ist nicht erkennbar. Nur in den Vietnam-Szenen sieht man, dass gelegentlich mit anderem Filmmaterial gearbeitet wurde, auch unter Verwendung von dokumentarischem Material.
Die Originalfassung liegt in DTS-HD MA 5.1 vor, die deutsche Synchronspur wie nicht anders zu erwarten in DTS-HD MA 1.0, also mono. Die Bluray besitzt deutsche Untertitel.
Besprochen wurde die von Studio Canal Ende 2010 aufgelegte Single-Bluray, die im Gegensatz zu anderslautenden Beschreibungen, kein Bonusmaterial enthält und bei AMAZON GB aktuell für unglaubliche £ 6,29 (= € 7,56) zu erhalten ist.
Preiswerter wird man diesen überragend restaurierten Klassiker wohl kaum bekommen.

Postscriptum: Vergnügen bereiten die junge Meryl Streep und besonders der leider zu früh verstorbene John Cazale (erkrankte während der Dreharbeiten an Knochenkrebs), der wie kein anderer dem Typus des extravertierten, sich dennoch unterlegen fühlenden und "schwachen Mannes" ein Gesicht verlieh.

Donnerstag, 15. März 2012

Die eiserne Lady


Großbritannien 2011 - Originaltitel: The Iron Lady - Regie: Phyllida Lloyd - Darsteller: Meryl Streep, Jim Broadbent, Alexandra Roach, Harry Lloyd, Olivia Coleman, Anthony Head, Richard E. Grant - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 6 - Länge: 105 min.

Dass Meryl Street für „The Iron Lady“ ihren dritten OSCAR erhielt, ist zweifellos die berechtigte Würdigung einer grandiosen darstellerischen Leistung.  Die 63-Jährige spielt seit geraumer Zeit mit subtilen Performances ihre jüngeren Kolleginnen mühelos an die Wand und auch ihr jüngster Film ist großes Star-Kino, das sich darum bemüht, die Schwächen des filmischen Konzepts auszubügeln. Leider ist die Lebensgeschichte der berühmt-berüchtigten Vorreiterin des britischen Neo-Liberalismus über weite Strecken dann doch nur eine belanglose Nummernrevue geworden.

Das Beste sieht man gleich am Anfang. In einer zeitlich nicht näher verorteten Gegenwart sitzt Margaret Thatcher mit ihrem Ehemann Denis (eindrucksvoll: Jim Broadbent, Another Year, zuletzt Harry Potter and the Deathley Hallows: Part 2) am Frühstückstisch. Man liest Zeitung und Denis soll sich gefälligst nicht so viel Butter auf den Toast schmieren. Alles ist etwas kühl, aber dennoch herzlich, wenn man den gehörigen Schuss Understatement abzieht. Upper-Class-Rituale eines eingespielten Paares. Dann der Schnitt auf die Totale.
Die Kamera zeigt nun eine alte Frau am Frühstückstisch, allein, um Contenance bemüht. Ihr Mann: eine Halluzination, bereits 1983 verstorben. Die ehedem mächtigste Politikerin des 20. Jh. ist dement.

Der dramatische Konflikt von Phyllida Lloyds Biopic wird in der Eingangsszene festgezurrt und er besitzt durchaus eine narrative Logik. Später wird uns der Film zeigen, dass die Führerin der britischen Konservativen Partei und Premierministerin von 1979-1990 zeit ihres Lebens eine Frau gewesen ist, die es gewohnt war nach vorne zu schauen. Sich nicht in der Vergangenheit aufzuhalten, so erzählt uns "The Iron Lady", sondern das Mögliche aus dem Bestehenden und Gegenwärtigen herauszudestillieren – natürlich hin zum Positiven – ist für sie Programm. Aber wenn der Film als Narrativ ähnlich wie in Ken Russells grellem „Mahler“ (GB 1974) eine Serie von Flashbacks aneinanderreiht, dann ist dies nicht nur ein Rückgriff auf gängige Erzählmuster des biografischen Films. Thematisch erhält der Film durch seinen Beginn, der seinen Ursprung in eben jener Frühstücksszene hat, seine Eindeutigkeit: Margaret Thatchers Lebensphilosophie wird quasi konterkariert. Denn immer weiter geht ihr Blick zurück, bis an die Anfänge ihrer politischen Karriere und ihrer Ehe. Der vertraute Blick nach vorne ist verstellt, er gibt nichts mehr her. Das könnte spannend sein, aber man versteht bald: hier ist nicht die Auseinandersetzung mit einem politischen Leben geplant, sondern das große Charakterdrama, in dem die Szenen einer Ehe zum finalen Zustandsbericht eines einsamen Lebens führen.

Das Biopic als Nummernrevue
Natürlich sind Biopics immer etwas problematisch, wenn es um noch lebende Zeitgenossen geht.
Zu frisch ist das Faktische im Gedächtnis abgelegt und jede Aussparung und Verkürzung muss notwendigerweise auf Unmut beim informierten Zuschauer stoßen. Zumal die Konsequenzen aktueller politischer Entscheidungen meistens nicht in vollem Umfang absehbar sind. Der weniger gut Informierte will wenigstens schlüssige Informationen, bevor er sich den künstlerischen Aspekten zuwendet. So bewegen sich Biopics häufig zwischen Schulfunk und Drama.
Andererseits ist die filmische Biografie ein Kinogenre par excellence: Politiker, Künstler, Gangster, Sportler gehören seit Beginn des Kinos zu den beliebtesten Themen und so verwundert es auch nicht, dass dieses Sujet gleich eine Reihe von Subgenres herausgebracht hat. Sportler-Biopics wie „The Fighter“ gehören aufgrund ihres authentischen und dramatischen Potentials nach wie vor zu den beliebtesten Exemplaren ihrer Art.
Vielleicht ist gerade der Wunsch, dem  Fiktionalen mithilfe eines authentischen Stoffes ein besonderes Qualitätssiegel zu verliehen, auch Ausdruck eines Bedürfnisses nach Realismus, aber damit auch nach Deutung und Erklärung des Historischen. Im günstigsten Fall erfährt man dann auch wirklich etwas, in minder schlimmeren Fällen bloße Außenansichten und wenn es richtig übel wird, werden Ideologie und Mythologisierung aufgetischt. Tatsächlich scheinen Biopics erhebliche ästhetische und formale Herausforderungen zu stellen, die aber dann auf erheblichen Widerstand stoßen, wenn die Balance zwischen Drama und solider  Darstellung des Faktischen nicht stimmt. Eben dies ist in "The Iron Lady" der Fall.

Die Flashbacks der „eisernen Lady“ erzählen von den Erinnerungen an die Luftschlacht um England und wie hingetupft erscheint die prägende Beziehung zu ihrem Vater, einem konservativen Lokalpolitiker, den die junge Margaret vergöttert. Dass Menschen sich nicht auf den Staat verlassen dürfen, sondern das, was in ihnen steckt, mit harter Arbeit aus sich herausholen können, wenn sie denn nur wollen, erscheint ihr plausibel.
Ein Studienplatz in Oxford markiert den Beginn des Aufstiegs. Und nach ersten Gefechten in der Lokalpolitik wird die „Krämerstochter“ aus dem britischen Mittelstand in die hermetisch erscheinende politische Obersicht eindringen: eine Männergesellschaft, die die konservativen Grundtugenden des Polit-Rokkies anfangs als weibliche „Haushaltwirtschaft“ belächelt. Nach einer gescheiterten Wahl für einen Parlamentssitz heiratet Margaret den wohlhabenden Geschäftsmann Denis Thatcher, der gleich zu Beginn das Primat des Politischen vor dem Privaten akzeptieren muss. Und sie macht es wahr: später wird Margaret Thatcher nicht einmal die Abwesenheit ihres Mannes bemerken, der eine lange Geschäftsreise unternommen hat.

In diesen Szenen erzählt Phyllida Lloyd nicht ganz ungeschickt die Geschichte von der Durchsetzungskraft einer politisch engagierten Frau in einer Männergesellschaft, aber leider wird alles Weitere dann als Nummernrevue inszeniert, die auch formal zeigt, dass der Film die Distanz zu den Ereignissen „da draußen auf der Straße“ nicht überwinden kann. Wenn Thatcher als Premierministerin auf dem Höhepunkt ihrer Karriere angelangt ist, zeigt Lloyd das radikal umgestrickte Großbritannien nur aus kühlem Sicherheitsabstand: Inflationsbekämpfung, Deregulierung und Privatisierung tauchen als Worthülsen in Reden und Kabinettssitzungen auf, der Kampf gegen die Gewerkschaften bildet lediglich den filmischen Fundus für einige Redeschlachten mit aufgebrachten Labour-Abgeordneten, während die Proteste auf der Straße und der Bergarbeiterstreik 1984/85 durch Einspieler aus alten Nachrichtensendungen repräsentiert werden.
Und anders als in gelungenen Beispielen dieses Genres fehlt der herausfordernde Gegenspieler als reflexiver Korrektor. Eisern ist die Dame, wenn es um Grundsätze geht, und eisern ist sie, wenn sie Männer wie ungezogene Jungs abkanzelt, etwa ihren Lord President, den sie während einer Kabinettssitzung eines Rechtschreibfehlers überführt. Aber so sind die politischen Gegner Thatchers in "The Iron Lady" nunmal, auch jene in den eigenen Reihen: irgendwie Abziehbilder und meistens namenlos. Die Anekdote tritt an die Stelle der politischen Revision und was die Poll Tax ist, die letztlich zu ihrem Niedergang führt, bleibt der Phantasie des Zuschauers überlassen: die Verbindung zwischen Privatem und Öffentlichen wird im Film zwar pausenlos penetriert, bleibt - gemessen am Ergebnis - aber nur eine Behauptung. Wie man diesem Genre mit biografischen Episoden und trotz einer formalen Konzentration auf dialoglastiges Zimmertheater eine enorme Spannung und ein gewaltiges Informationsbenefit abringt, zeigt uns aktuell ein Biopic der ganz anderen Art, nämlich David Cronenbergs „A Dangerous Method“ (USA, D 2011).
Biopics haben ja alle eine Tendenz zur Episoden-Haftigkeit und zur Nummernrevue, aber in „The Iron Lady“ werden uns politische Ereignisse der jüngeren Vergangenheit wie Abrissblätter eines Tageskalenders präsentiert. Nie wird greifbar, was sich in Großbritannien tatsächlich verändert hat, und für Zuschauer ohne explizite Kenntnisse der jüngeren Geschichte wird die Verweildauer an der Oberfläche in „The Iron Lady“ wohl zum Dauerzustand. Politische Reflexion sieht anders aus, aber das will der Film auch nicht sein.

Nur ein privates Drama
Eine Schlüsselszene zeigt, worum es wirklich geht: als die alte Margaret mit ihrem Arzt spricht, verneint sie entschieden dessen Frage, ob sie denn Halluzinationen habe, und die Frage nach ihren Gefühlen beantwortet sie damit, dass es ihr um Gedanken und Ideen gehe. Bereits in der Demenz gefangen, zeigt uns Lloyd ihre Hauptfigur als stoisch verhärtete Person, die immer noch alles den idealistischen Prägungen ihre Jugend unterordnet, aber wirklich interessiert ist die Regisseurin nur an den privaten Konsequenzen dieser Axiome.
„The Iron Lady“ ist kein politisches Biopic, es hält als Subtext vielmehr das Protokoll einer gescheiterten Ehe bereit. Die Heimsuchungen und Halluzinationen der alten Frau sind die späten Reflexe auf eine Entwicklung, die in tiefe Einsamkeit geführt hat, und in der der tote Denis als lakonischer Stichwortgeber zunächst wie ein guter Freund erscheint, sich dann aber in einen quälenden Dämon verwandelt. Margaret wird am Ende der Tortur verzweifelt die Lautstärke von Fernseher und Radio aufdrehen und alle Küchengeräte anstellen, um durch den Lärm den Geist aus dem Reich der Toten zu bannen. Fast scheint es ein lakonischer Kommentar Phyllida Lloyds zu sein: erst die Krankheit zwingt die harte Frau zum Blick zurück.
Die hingestreuten politischen Fragmente und Einspieler bleiben aber weiterhin an der Oberfläche und eine fatale Oberflächlichkeit erreicht der Film dann endgültig bei der Darstellung des Falklandkrieges. „The Iron Lady“ zeigt uns eine Frau, die prinzipienfest handelt und als toughe Lady gnadenlos ein argentinisches Kriegsschiff versenken lässt.  Formal schiebt Lloyd mehrfach Zwischenschnitte auf eine emotional tief bewegte Frau ein, die sich diese Entscheidung hart abringt. Diese Montage ist aber nur eine Behauptung: Tatsächlich war die Aktion militärisch sinnlos und tatsächlich gewann Thatcher dank ihrer martialischen Haltung ihre gründlich lädierte Popularität bei den Wählern vorübergehend zurück.

Das alles ist aufgrund der nuancierten Spielweise von Meryl Streep und Jim Broadbent streckenweise nicht übel, vermag aber emotional und erst recht intellektuell nicht wirklich zu berühren. Zu ärgerlich ist der Rückzug ins Private, der erzähltechnisch natürlich eine perfekte Positionierung des Stars und eine tolle One-Woman-Show erlaubt. Noch ärgerlicher fallen einige stilistische Patzer ins Gewicht, etwa die pathetische Filmmusik, die sogar vor melodramatischen Operneinlagen nicht zurückschreckt. Das hat inhaltlich den einen oder anderen plausiblen Grund und ist möglicherweise aber ironisch gemeint, aber auch hier geht der Schuss gründlich nach hinten los und sorgt für einige Peinlichkeiten hart am Rande der Verpilcherung.
Der entscheidende Plot Point des Films ist konsequenterweise dann schließlich der Sieg Margaret Thatchers über ihren halluzinierten Mann, dem sie symbolisch die Koffer packt und dem sie dann aber vergeblich nachruft, er möge doch bleiben. Das ist natürlich grandios gespieltes Theater, das aber erkennen lässt, dass wir vorher nur Zettelkastenbilder eines politischen Lebens gesehen haben. Die fehlende Dialektik des Films verstellt konsequent den Blick auf eine Frau, die die britische Europafeindlichkeit gründlich definierte und deren moralisches Sendungsbewusstsein die Briten in eine schöne neue und deregulierte Welt führte, in der man heute etwas mehr als nur moralische Willensstärke benötigt, um „etwas aus seinem Leben zu machen“.

Noten: BigDoc = 4

Mittwoch, 7. März 2012

War Horse (Gefährten)


USA 2011 - Originaltitel: War Horse - Regie: Steven Spielberg - Darsteller: Jeremy Irvine, Emily Watson, Peter Mullan, Niels Arestrup, David Thewlis, David Kross, Rainer Bock - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 146 min.

Mit der Adaption des Jugendromans „War Horse“ von Michael Morpurgo hat Steven Spielberg nach eigenen Aussagen einen Film für die ganze Familie drehen wollen, weil ihn die Geschichte tief berührt hat. Die Geschichte des Pferdes Joey, das in die Wirren des 1. Weltkriegs gerät und nach dramatischen Ereignissen von seinem treuen Freund Albert zurück in den heimischen Stall geholt wird, ist dann auch großes emotionales Kino, aber auch ein dezent realistischer Film geworden, der zugleich auch eine Hommage an John Ford und die großen Epen der 1960er Jahre sein will. Im Kern ist „War Horse“ ein waschechtes Melodram, das sicher als ordentlicher Genrebeitrag gewürdigt worden wäre, wenn nicht ausgerechnet Steven Spielberg Regie geführt hätte. So aber ergoss sich eine Flut von Häme über den Film, die weder den ästhetischen Qualitäten des Films gerecht wird noch dem zugegeben gelegentlich naiven Humanismus des Regisseurs. 

Hommage an John Ford
Für die Adaption der ersten Romans von Michael Morpurgo hat sich Spielberg mit Lee Hall („Billy Elliot – I Will Dance“) und Richard Curtis (zuletzt „Radio Rock Revolution“) zwei erfolgreiche Autoren ins Boot geholt, die mit melodramatischen Stoffen umzugehen verstehen. Den exzellenten Soundtrack besorgte John Williams, seit Jahrzehnten eine feste Größe im Spielberg-Team, genauso wie Kameramann Janusz Kamiński.

Die Geschichte beginnt im britischen Devon (wo Morpurgo in realita das Projekt „Bauernhöfe für Kinder“ begründet hat) kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges. Der Farmer Ted Narracot (Peter Mullan) ersteigert bei einer Pferdeauktion ein junges Halbblut und sticht beim Bieten seinen Verpächter aus. Love at first sight.
Narracots Sohn Albert (Jeremy Irvine) ist begeistert von dem Pferd, aber bald stellt sich heraus, dass sich sein Vater bei dem Kauf finanziell übernommen hat. Um seine Pachtschulden abbezahlen zu können, muss das Pferd beim Umpflügen eingesetzt werden. Dass dies mit einem Rassepferd nicht gelingen kann, glaubt das ganze Dorf zu wissen, aber Albert gelingt das unmöglich Erscheinende. Als wahrer Pferdeflüsterer bringt er Joey dazu, mit schwerem Joch zu arbeiten. Doch als ein schweres Unwetter die Ernte vernichtet, ist Joeys Schicksal besiegelt: Narracot verkauft das Pferd an die britische Armee, die zu diesem Zeitpunkt bereits in den 1. Weltkrieg eingetreten ist.

Der lange Prolog von „War Horse“ gehört dank Spielbergs subtiler Inszenierung mit zu den schönsten Passagen des Films, die Skizzierung der dörflichen Atmosphäre ist stilistisch stimmig bis ins letzte Detail. Janusz Kamińskis Kameraarbeit (1993 Oscar für Schindler’s List) beschwört in jeder Einstellung durch die Kadrage, die zurückhaltenden Kamerafahrten und die ford-typischen leichten Untersichten bei Halbnah- und Naheinstellungen erkennbar Filme des großen Vorbilds wie zum Beispiel How Green Was My Valley. Das gilt auch für die pointierte Skizzierung der Nebenfiguren, die bereits bei Ford entscheidend für die genaue Beschreibung des Lokalkolorits gewesen sind. Oft sind es dort die etwas skurrilen Figuren, die punktgenaue Kommentare abgeben und damit die humorvollen Facetten der sozialen Gemeinschaft sichtbar machen.
Ähnlich wie in Fords späteren Filmen spürt man eine Konzentration, die aus jeder Einstellung etwas Singuläres machen will. Dies drückt sich auch durch die Spannung aus, die sich ästhetisch zwischen der ausgefeilten Sparsamkeit der Mittel und der visueller Pracht der jeweiligen Einstellung aufbaut. So dreht jemand, der das Kino kennt und lieben gelernt hat und genau die Balance zwischen physischen Details und Emotionen einhält, die trotz aller dramatischen Konflikte durchaus nostalgisch die Wärme, den Humor und Menschlichkeit des Sujets unterstreicht. Spielberg hat übrigens aus seine Intentionen kein Geheimnis gemacht.

Der Hauptteil gerät Spielberg dann zu einer Tour de Force, die ein wenig an Arthur Schnitzlers Theaterstück „Reigen“ erinnert: Joey, das Pferd, wird ‚durchgereicht‘, es wechselt schnell die Besitzer und während Schnitzlers roter Faden ein anderer ist, nämlich die Sexualität, wird das „War Horse“ zum symbolträchtigen Katalysator der herannahenden Katastrophe. Nicht alle werden die Begegnung mit dem Pferd überleben.
Dies beginnt mit seinem ersten Besitzer, jenem Offizier, der Narracott, das Pferd abgekauft hat. Als die britische Kavallerie ein deutsches Heerlager aufreibt, läuft es in die Falle. Am Waldrand warten deutsche MG-Schützen auf die Reiter und mähen die Kompanie nieder. Spielbergs zielgruppengerechte Inszenierung erspart dem jungen Zuschauer dabei grausame Details, aber in einer einzigen Einstellung wird deutlich, was geschehen ist: die reiterlosen Pferde galoppieren voller Panik in den Wald, man ahnt, was den Reitern wiederfahren ist. Erst danach zeigt Spielberg in einer Totale das Schlachtfeld, auf dem Menschen und auch Pferde ihr Leben gelassen haben.
Joey wird von deutschen Soldaten eingefangen, der Abstieg des Tieres zum „War Horse“ beginnt. Zunächst werden sich die jungen Soldaten Günter und Michael (David Kross, „Der Vorleser“, und Leonard Carow) um Joey und einen schwarzen Rappen kümmern, der zu Joeys Begleiter wird. Als Günter versucht seinen Bruder, der noch ein halbes Kind ist, vor dem Fronteinsatz zu retten, werden beide gefasst und wegen Fahnenflucht erschossen.
Für eine kurze Zeit sind die beiden Pferde nun in der Obhut eines Mühlenbesitzers und seiner Tochter, aber der lange Arm der deutschen Armee holt sie erneut ein und am Ende werden Joey und sein tierischer Freund als Zugpferde beim Transport schwerer Kanonen verheizt.

Nicht immer treffsicher
Die epischen Bögen, die Spielberg im Mittelteil entwirft, bedienen sich einer episodischen Struktur und sind als Erzählprinzip, das die Flüchtigkeit der Beziehungen markiert, durchaus angemessen. Sie zeigen, wie Individualität und Menschlichkeit im beginnenden Zeitalter des maschinellen Tötens verloren gehen. Allerdings leiden sie auch spürbar an zwei konzeptionellen Schwachpunkten.
Zwar erspart Spielberg dem Zuschauer zugunsten einer realistischen Perspektive den inneren Monolog des Pferdes, der für die literarische Vorlage charakteristisch gewesen ist, aber er kann sich nicht verkneifen, das Pferd zu vermenschlichen: zunächst hilft Joey seinem schwarzen Gefährten durch Intelligenz und Witz einmal aus der Patsche, als es um das Anlegen des Jochs geht, dann demonstriert er in seinen Reaktionen auf seinen immer schwächer werdenden tierischen Gefährten durchweg menschliche Gefühle wie Treue und Loyalität.
 
Dieser Anthropomorphismus, nämlich die Übertragung menschlicher Gefühle und Verhaltensweisen auf Tiere, gehört zwar zu den bekannten Topoi der Jugendliteratur, ist aber immer dann problematisch, wenn er zur rhetorischen Figur wird, die ein Genre prägt und durch ständige Wiederholung zum Klischee wird.
In „War Horse“ hatte ich das Gefühl, dass die Charakterisierung des Pferdes gelegentlich auch zur ironiefreien Metapher missrät, auch wenn dies bei einer Jugendbuch-Verfilmung nicht völlig das Thema verfehlt. Dass Spielberg den Millionen Pferden, die in den Weltkriegen getötet wurden, ein Denkmal setzen will (vermutlich haben fast zehn Millionen Pferde im 20. Jh. ihr Leben auf den Schlachtfeldern gelassen), ist zwar nobel, aber eben auch nicht mehr als das, auch wenn Spielberg betont, dass dieser Aspekt ein wichtiges Nebenthema für ihn gewesen ist.
 
Um zu verdeutlichen, was gemeint ist, möchte ich an Spielbergs Artificial Intelligence (2001) erinnern, wo der Anthropomorphismus an einem humanoid erscheinenden Roboterjungen durchdekliniert wurde. Nur sorgte dort die ironische Durchzeichnung des Sujets und raffinierte Konterkarierung des Pathos am Filmende für eine kritische Reflexion des eigentlichen Themas, nämlich die Beziehung zwischen programmiertem Verhalten und authentischen Gefühlen zu untersuchen, ohne dabei in die Falle einer etwas faden Romantisierung zu geraten.

Dass Spielberg in „War Horse“ tatsächlich ein wenig die Gäule durchgehen, und das ist der andere Schwachpunkt, zeigt auch der Höhepunkt des Films. Am Ende nämlich, wir schreiben das Jahr 1918, verirrt sich Joey in den blutigen Stellungskämpfen als waidwunde Kreatur, die voller Panik über Hindernisse springt, durch Gräben galoppiert, an Freund und Feind vorbei hetzt und schließlich von den Stacheldrahtzäunen buchstäblich zur Strecke gebracht wird. Schwer verwundet naht dem Tier die Rettung in Gestalt eines britischen und eines deutschen Soldaten, die gemeinsam das Pferd mit Drahtscheren befreien und somit ein Stück Menschlichkeit inmitten des Grauens der Materialschlachten aufzeigen.
Das humane Ideal der Aufbrechung des Feind-Schemas durch die Begegnung in außergewöhnlichen Situationen, in denen der Feind zum Freund werden kann, ist zum einen nun wirklich nichts Neues im Kino und besonders im Kriegsfilm. Und zum anderen ist es, wenn man es als stilistische 08/15-Formel verwendet, leider nur ein Klischee.
Eigentlich kann so etwas nur durch Subtilität unterwandert werden.
Wie man dieses Thema angehen kann, zeigt uns noch heute All Quiet on the Western Front (1930) in der berühmten Granattrichter-Sequenz, in der ein deutscher Soldat das ideologische zementierte Feindbild einbüßt, nachdem einen französischen Soldaten tödlich verwundet und mit dem Sterbenden eine Nacht in einem Granattrichter verbringen muss.
 
An solchen Vorbildern wollte sich Steven Spielberg vermutlich nicht messen, zumal er in seinen „erwachsenen“ Kriegsfilmen ein eigenes Statement zu dem Thema abgegeben hat.
In „War Horse“ gelingt Spielberg die humane Botschaft zumindest in der Stacheldraht-Szene nicht restlos überzeugend. Zu plakativ, zu bruchlos wird hier aufgetragen, wenngleich die moralische Botschaft dadurch nicht ihre Integrität einbüßt. Aber wenn der der Film letztlich ein Melodram ist, dann folgt diese symbolische Überhöhung zumindest der Logik des Films.

Dass zeigt auch das Ende des Filmes. Joey wird in einer dramatisch und emotional überhöhten Szene von Albert, der seinem Pferd in den Krieg gefolgt ist, vor der Erschießung bewahrt. Nach einigen weiteren Wirrnissen reitet Albert dann vor farbsattem Himmel dem heimischen Hof entgegen. Wo bei John Ford die Frauen auf ihre kriegsmüden Helden warten, die nur in der Familie und der Gemeinschaft der Gemeinde Ruhe und Aussöhnung finden, ist es in „War Horse“ Alberts Mutter, die in einer der letzten Einstellungen vor blutrotem Himmel gezeigt wird: Gone with the Wind meets John Ford meets Steven Spielberg. Es ist allerdings zu wünschen, dass Spielberg irgendwann auch Bilder findet, die wie in Fords The Searchers die Dissonanz in diesem versöhnenden Mythos finden.
Unterm Strich wird „War Horse“ keinen Platz unter meinen Spielberg-Lieblingsfilmen finden, aber trotz einiger erzählerischer Laxheiten ist ihm dann doch ein wunderbarer Film gelungen, der besonders älteren Kinogängern, die ihre Kinokultur nicht nur John Ford, sondern auch epischen Erzähler wie David Lean verdanken, sicher mehr bedeuten wird als jüngeren Kinogängern – und Kritikern! Dass Spielberg seine humanistischen Ideale schon reflektierter und fordernder präsentiert hat, steht zweifellos fest. Dennoch bleibt „War Horse“ eine Hommage an ein Kino, dessen Traditionen scheinbar verlorengegangen sind, die uns aber auch die Lücke spüren lässt, die das Verschwinden dieser traditionellen Erzählformen hinterlassen hat.

Spielberg-Bashing: der Kitsch in der Kunst
Ein unvermeidlicher Nachtrag: als älterer Kritiker erinnere ich mich daran, dass das Durchprügeln von Steven Spielberg bereits in den 1980er Jahren mit The Color Purple begann und mit 1987 fortgesetzt wurde, als Spielberg einen seiner besten Filme machte: Empire of the Sun (1987). Das typische Spielberg-Thema, nämlich die Perspektive des Kindes aufzugreifen, trat zum ersten Mal in Erscheinung und wurde teilweise höhnisch abgekanzelt.
Konnte Spielberg, der das New Hollywood mit Blockbustern ad absurdum führte, tatsächlich gute Filme machen?
Man konnte schon damals den Eindruck gewinnen, dass jemand, der E.T. gemacht hatte, bei der Kritik nicht als Autorenfilmer durchgehen konnte. Schindler’s List hat die Spielberg-Rezeption zumindest verändert, aber im Wesentlich wiederholt sich auch heute die Argumentation der 1980er Jahre, auch wenn nunmehr eine jüngere Kritiker-Generation zur Tat schreitet. Zugegeben: zuletzt klaffte zwischen der eleganten Komödie Catch Me If You Can (2002) und der akzeptablen Comic-Adaption The Adventures of Tintin (2011) eine erkennbare Qualitätslücke, aber das war und ist bei Spielberg nun wirklich nichts Neues.
„War Horse“ wurde, und eigentlich war dies keine Überraschung, besonders hierzulande mit massiven Kitsch-Vorwürfen konfrontiert. Das ist deshalb interessant, weil man beobachten kann, wie selten sich Kritiker um eine Definition dieses Begriffes bemühen, wenn sie ihn verwenden. So kann man „War Horse“ in ästhetischer Hinsicht wohlwollend bestimmten Traditionen zuordnen, man kann auch von „Verpilcherung“ sprechen. So einfach ist das aber nicht.
Definitionen für Kitsch gibt es zuhauf. Zählen wir ein paar gängige Formeln auf:
  • Kitsch steht im Gegensatz zum Kunstwerk, das Interpretationen fordert, während Kitsch dies nicht tut;
  • Kitsch verwendet Klischees und dramatische Überhöhungen anstatt echte Gefühle zu repräsentieren;
  • Kitsch ist das, was ständig wiederholt wird und bereits geläufig ist und
  • Kitsch ist – last but not least – Massenware, leicht reproduzierbar und ein Erzeugnis der Unterhaltungsindustrie für die breiten Massen, Werke, die den Erwartungshorizont der Leser oder Kinogänger nicht durchkreuzen.
Erinnert uns dies nicht an eine Menge guter Kinofilme?

Um alles, was am Rande der vermeintlich wahren Kunst sein Schattendasein führt, nicht völlig durch den Rost fallen zu lassen, hat die Kunst- und Filmkritik einige bequeme Ablassregeln erfunden: das Genre, und hier natürlich besonders das Melodram, und die postmodernen Begriffe Trash und Camp, die ein augenzwinkerndes Rezipieren des Grellen, Pathetischen und Selbstreferentiellen gestatteten, während man mit dem Begriff des Genres immerhin erklären konnte, warum das ständige Durchkauen eines festgelegten Themenparks unter Verwendung stereotyp wiederholter Stilelemente doch seine Vorzüge haben kann. Dagegen ist nichts einzuwenden, zumal Kritiker auch einige Leichen im Keller haben, und auf diese Weise wurden wenigstens Filme, die aus dem B-Picture-Bereich kamen, glücklicherweise einer Revision unterzogen, die sie in der Regel auch verdient hatten. Und ohne Trash und Camp würde man sicher auch Quentin Tarantino anders wahrnehmen.
Nun gibt es ganz ohne Zweifel Triviales und ideologisch Verlogenes, aber das Spannende an Suche nach dem Kitsch ist, dass sich gerade im konkreten Nachweis die genannten Kriterien nicht immer bruchlos anwenden lassen. Völlig misslungen erschien mir zum Beispiel der Versuch eines Kritikers, der einem Film vorwarf, mit klar erkennbarer Berechnung beim Betrachter ein intendiertes Gefühl hervorzurufen und dies ausgerechnet an den „Bullet-Time“-Sequenzen in Matrix festmachen wollte.
 
Nun habe ich an einer Kitsch-Debatte wenig Interesse, aber ein zweiter Blick auf die oben angeführten Kriterien zeigt doch immerhin, dass die leicht blasphemische Vermutung, dass gesamte Kino sei möglicherweise Kitsch, vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen ist.
  • Berechnende Manipulation der Gefühle: Alfred Hitchcock.
  • Grelles und Pathetisches: Pedro Almodóvar.
  • Klischees statt echter Gefühle: Douglas Sirk.
Das sind nur einige Beispiele und der eine oder andere der eben Genannten hat zu Lebzeiten sicher sein Fett wegbekommen, aber irgendwie scheint sich der vermeintliche Kitsch und das triviale Klischee dann doch irgendwann und in bestimmten Fällen in Gold zu verwandeln und aus Schund wird über Nacht plötzlich Kunst und meistens wartet der Mythos dann schon an der nächsten Ecke. Also Vorsicht bei der Verwendung der großen Keule.
Ganz aus dem Ruder läuft die Geschichte dann, wenn man nicht ohne Erheiterung lesen muss, dass der zweifellos sehr amüsante und OSCAR-gekrönte Stummfilm „The Artist“ als Hommage ans Kino den frühen Filmen von Ernst Lubitsch und anderen Größen aus der Phase zwischen Stumm- und Tonfilm huldigt. Eben das tut „The Artist“ nicht, denn der Film huldigt bei genauem Hinsehen auf sehr kokette Weise und sentimental veredelt einer uns sehr bekannten Filmgattung: der Filmschmonzette.
Und diese noch nicht ganz ausgestorbene Filmspezies ist wunderschöner Kitsch!

Noten: BigDoc, Melonie = 1,5, Mr. Mendez = 2,5