Dienstag, 31. März 2015

The Walking Dead – Season 4 & 5

Die Zombie-Plage als Endlosgeschichte - nach dem Willen ihrer Schöpfer wird sie nie zu Ende erzählt. Ruhelos durchstreifen die Überlebenden das, was einst ihre Heimat war, immer auf der Suche nach einem neuen „Home“.
Bis sie von den Walkern erwischt werden - oder von den Menschen. Wie sie sich dabei verändern und dann sterben, davon erzählen die Staffeln 4 und 5 von „The Walking Dead“ mit neuen raffinierten Plot-Ideen. Ein Rückblick.


An die Kette gelegt

Niemand weiß, wie eine Post-Apokalypse aussieht. Als im März dieses Jahres im Berliner Friedrichshain-Kreuzberg nachts die Lichter ausgingen, nutzten Vermummte den Stromausfall sofort. Innerhalb weniger Minuten brannten Barrikaden und Autos, die Geschäfte wurden geplündert und die Polizei wurde frontal und extrem gewalttätig attackiert. Alles ohne Zombies, aber dennoch mit einem Schuss „Walking Dead“ und „Purge Anarchy“.

Auch die US-TV-Serie bietet im Kern keine anderen Bilder, nur regiert in der Fiktion die Post-Apokalypse noch erbarmungsloser. Die Untoten sind vom Stammhirn gesteuerte Idioten, die eigentliche Gefahr geht von den Menschen aus.
Daran wird sich nichts ändern: Die Vision des „Dead“-Schöpfers Roland Kirkman sieht eine Endlosgeschichte vor, in der die Überlebenden niemals zur Ruhe kommen werden. „Fight the dead, fear the living“ lautet daher das Gesetz des Überlebens.

 

Die Gesetze des Storytelling legen die Geschichte um Rick und seine Family dabei sehr eng an die Kette. Die Walker sind eine kalkulierbare Bedrohung, die Menschen müssen immer unberechenbarer und schlimmer werden. Der Governor war noch ein halb-ziviler Bürgermeister, vergleicht man ihn mit den Terminus-Kannibalen. Und wenn der Superschurke Negan in „The Walking Dead“ (TWD) irgendwann auftaucht, wird auch die Barbarei einen neuen Höhepunkt finden. Nie war eine Dystopie finsterer als die in „The Walking Dead“.


Was TWD bis jetzt von einer Splatter-Horror-Show unterscheidet, ist die Qualität der Charakterdramen. Nur darf man dies nicht als Weg ins Licht deuten. Erhaben ist längst nichts mehr. Der Serie wird trotzdem hierzulande immer noch als moralische Schaubühne interpretiert: „Die Serienmacher spielen sehr bewusst mit den Versatzstücken des Genre-Films, mit Elementen aus dem Splatter- und Horror-Genre, aber auch aus Action- und Gangsterfilmen. Damit schaffen sie einen sehr populären Erzählrahmen, in dem sie dann plötzlich und unerwartet tief greifende Fragen von Humanität und Moralität verhandeln. (…) Der einzelne Mensch, der überlebt hat, kann – so will es The Walking Dead zeigen – weiterhin moralischen Standards folgen. (…) So präsentiert die Serie auch im weiteren Verlauf immer wieder überraschende Varianten im Verhalten der Figuren, um letztlich moralisch integer die dargestellten Extremsituationen meistern zu können“ (1).


Geschrieben wurde dies vor einigen Wochen und über die 1. Staffel ging die Betrachtung der fsf (Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen) nicht hinaus. Dass deutsche Medienpädagogen fünf Jahre nach Beginn der Serie ihre Deutungen immer noch an den ersten Folgen festmachen, deutet nicht nur ein verzögertes Rezeptionstempo an. Es ist ein Zeichen der Ignoranz und ein Indiz dafür, dass hierzulande großräumige Untersuchungen einer der erfolgreichsten TV-Serie aller Zeiten weitgehend fehlen.
In den USA ist die Mediendiskussion aktueller, breiter und vielfältiger. 
Wenn ein deutscher Medienschützer also nicht mehr mitbekommt, in welche Richtung sich die Protagonisten einer Serie entwickeln, dann liest man dies staunend und mit offenem Mund. Zwar wird TWD in den deutschen Feuilletons zur Kenntnis genommen, aber wenn in regionalen Tageszeitungen aus der Not eine Tugend gemacht wird und ein hipper Praktikant im Medienbereich ‚lustig‘ und ironisierend über die Zombie-Serie schreiben darf, kann dies auch als Ausdruck der medialen Fassungslosigkeit gesehen werden. Die dauerte bereits bei „Lost“ einige Jahre, bis die Medienexperten mitbekommen hatten, dass da etwas die Menschen mit ungeheurer Wucht in ihren Fernsehsesseln erreicht hatte.


Ob in 4. und 5. Season die Figuren „moralisch integer die dargestellten Extremsituationen meistern“, wird ein Thema dieses Aufsatzes sein. Ich habe da große Zweifel. Vielmehr deutet sich an, dass wir es in TWD mit einer zynischen Variante von „Breaking Bad“ zu tun haben, in der die Überlebenden die permanenten Gewaltexzesse eben nicht mehr verdauen und sich schleichend verändern. Sie werden böse. Nicht jeder und auch nicht alle. Aber bitte nicht vergessen: die großen Moralisten der Serie, Dale und Hershel, sind tot und Nachwuchs ist nicht in Sicht. Die Frage ist also, ob TWD in Zukunft zivilisiertes Handeln weiterhin als Option verteidigt oder langsam dem Zynismus verfällt.


Gleich eine Warnung zu Beginn: Vor Spoilern wird im Folgenden nicht gewarnt (2). 
Mein Standpunkt: Nach der TV-Uraufführung (auch wenn es im Pay TV gewesen ist) darf geschrieben werden. Wer liest, der liest immer auf eigene Gefahr. Außerdem füttern Online-Fanseiten ihre Leser ständig mit Andeutungen, Vermutungen und halben Fakten an – ein Kokettieren mit der Lust der Fans, die insgeheim doch ein wenig hinter die Kulissen blicken wollen.
 Im folgenden Text gilt die Regel: Das Staffelfinale von Season 5 wird natürlich nicht verraten, dies gilt aber nicht für dramaturgische und stilistische Details, für Besonderheiten des Plots und auch nicht für die Psychologie der Figurenentwicklung.


Budgets, Quoten und die Moral von der Geschicht‘

Nachdem die 3. Staffel in den USA regelmäßig von mehr als 10 Mio. Zuschauern gesehen wurde, setzte der Auftakt der Season 4 eine neue Duftmarke: über 16 Mio. Zuschauer wollten wissen, wie es Rick und seine Family nach dem Woodbury-Plot schaffen, die zahlreichen Neuzugänge zu integrieren und dabei gleichzeitig Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Das Drehbuch für die Startepisode „30 Days Without An Accident“ wurde von Scott Gimple geschrieben, der nun auch als Showrunner für die Serie verantwortlich war. Mit Frank Darabont und Glen Mazzara hatte AMC bereits zwei erfolgreiche und gute Showrunner verbrannt, nun sollte es der seit der 2. Staffel als Autor beschäftigte Gimple als neuer Guru richten.

Erinnern wir uns: Nach der 1. Staffel wurde zunächst Frank Darabont gefeuert. Die Vorstellungen von AMC über die zukünftige Budget-Gestaltung passten nicht zu seinen Vorstellungen: „I don’t understand the thinking behind, ‘Oh, this is the most successful show in the history of basic cable. Let’s gut (Anm.: ausweiden) the budgets now.’“ 
Während „Mad Men“ und „Breaking Bad“ sogenannte „High-Profile-Shows“ für AMC waren, sollte ausgerechnet die quotenstärkste Serie im Fundus auf Diät gesetzt werden. Das hätte schnell zum Rohrkrepierer werden, denn TWD hat die beiden Aushängeschilder von AMC bereits mit Staffel 1 überholt und schlug sie mit Beginn der 3. Staffel um Längen.
Tatsächlich wurde die 2. Staffel dann auch dialogzentrierter, um die erhöhte Anzahl von Episoden ohne ein entsprechendes Budget umsetzen zu können. Insider berichteten, dass die doppelte Anzahl Episoden für ein deutlich geringeres Budget produziert werden sollten. Und Darabont hasste es aus sozialen Gründen, mit einem unterbezahlten und frustrierten Team zu arbeiten (3). Das alles also, obwohl TWD nunmehr die einzige Show war, die AMC besaß: „Mad Men“ wurde von Lionsgate produziert, AMC war Lizenznehmer, und „Breaking Bad“ gehörte mittlerweile SONY.


2011 übernahm dann Glen Mazzara als Showrunner mitten in der zweiten Hälfte von Season 2 die Serie (4), aber nach der dritten Staffel war auch für ihn Schluss (5). Neben künstlerischen Differenzen sollen auch für Mazzara die Budgetvorstellungen von AMC nicht tragbar gewesen sein.
Dies war ein Einschnitt, denn insgesamt war Mazzaras Arbeit zuvor über den grünen Klee gelobt worden. Ob dies an den Quoten oder an seiner Arbeitsweise lag, ist unklar. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die AMC-Bosse Mazzara dafür feierten, dass er Viktor Frankls KZ-Drama „Man’s Search for Meaning“ („…trotzdem Ja zum Leben sagen“) als Pflichtlektüre für seine Autoren festlegte (6). Immerhin entstanden unter Mazzaras Leitung Highlights der 2. Staffel wie „18 Miles Out“ (S 2 Ep 10) und „Judge, Jury, Executioner“ (S 2 Ep 11).


Aber Darabont und Mazzara waren nicht die einzigen Showrunner, die an den AMC-Gewaltigen scheiterten. Der permanent schwelende Konflikt hatte auch andere Auswirkungen. So ließ sich der Darsteller des „Dale“ nach dem Rauswurf seines Freundes Darabont aus der Serie schreiben und wurde prompt in „Judge, Jury, Executioner“ von einem „Walker“ gebissen. Und Ende 2012 griff dann auch noch der „Sons of Anarchy“-Schöpfer Kurt Sutter die AMC-Chefetage frontal an, nachdem sein Freund Glen Mazzara TWD verlassen hatte. Sutter prophezeite der Serie ihr baldiges Ende (7).


Im Rückblick zeigt sich, dass Scott Gimple und Comic-Schöpfer Robert Kirkman als Executive Producer allen Unkenrufen zum Trotz den Untergang verhindert haben. Die 4. und 5. Season wurde nicht nur ordentlich über die Runden gebracht, einzelne Episoden zeigten ein hohes Talent für dramatische und unerwartete Wendungen. 
Die Quoten blieben hoch und als die Überlebenden am Ende der 4. Staffel Terminus erreichten, saßen über 15 Mio. Amerikaner vor dem Bildschirm.

Beim Start der 5. Season waren es über 17 Mio. und erneut hatte Scott Gimple das Drehbuch für die erste Episode „No Sanctuary“ geschrieben. Im weiteren Verlauf der Season zeigte sich, dass der neue Quotenstandard für TWD bei 13 Mio. plus lag. Schief gelaufen war da also wenig. AMC durfte sich über die Gewinne freuen.


Fazit: TWD ist natürlich auch ein Produkt der Unterhaltungsindustrie, die eine sehr explizite Renditeerwartung hat. So etwas greift oft sehr tief in die Inhalte ein, während der Fan am heimischen Flatscreen den Tod eines beliebten Darstellers allein dramaturgischen Überlegungen zuschreibt (8).


Von Terminus nach Alexandria

Die Kunst des Geschichtenerzählens: Die Story Arc in TWD

Was aber fesselt die Zuschauer nach wie vor an „The Walking Dead“? 

Die exzessiven Kill-Orgien am Zaun, die zu Beginn der 4. Season beinahe schon wie industrielle Fließbandarbeit aussehen, werden es (hoffentlich) nicht gewesen sein. 
Die vielbeschworenen dramaturgischen und thematischen Qualitäten schon eher. Aber etwas anderes spielt aus meiner Sicht eine wichtige Rolle: Die 4. Season unterscheidet sich von den Vorgängern durch deutlich veränderte Strukturen in der Story Arc. Und das überrascht, konterkariert es doch Kurt Sutters Befürchtung, dass TWD von geldgeilen AMC-Bossen ohne Mut zum Risiko nach Schema F ausgeweidet wird.
Bei den Settings sieht es allerdings ganz danach aus. TWD 4 spielt im Gefängnis, Wald, auf Straßen, in Häusern, erst in der 5. Season endlich mal wieder in einer City – das Meiste sieht nach Sparkurs und wenig Aufwand aus. 
Wechselten sich die Settings in Frank Darabonts kinoreifer Show noch rasch ab und sorgten so für eine ungeheure Dynamik, konzentrierte sich die 2. Staffel aus den erwähnten Kostengründen auf das Thema „Farmleben mit Untoten“.
Für viele war dies ein wenig zu viel Soap, aber der Figurenentwicklung hat es gedient. 
In Season 3 wurde dieses doch sehr übersichtliche Szenario durch den Wechsel zwischen Gefängnis und Woodbury aufgebrochen, was aber ebenfalls überschaubar blieb und zu interessanten Lesarten des herbeigesehnten „Home“ führte.
Die 4. Season machte Schluss damit, ging einen Schritt weiter und verschaffte Nebenhandlungen überraschend den Raum eines Main Plots. Das war neu und zeigte, dass man auch ohne aufwendige Drehorte für frischen Wind sorgen konnte.
 Nachdem in den Episoden 1 – 5 die Gruppe um Rick im Gefängnis mit einem tödlichen Schweinegrippevirus zu kämpfen hat, wechselt mit „Live Bait“ (S 4 Ep 6) der Fokus komplett zum Governor. Normalerweise hätte man dies als Nebenhandlung des Main Plots erzählen können, aber Gimple spendierte der Geschichte zwei komplette Episoden, bevor der Governor in „Too Far Gone“ (Ep 8) mit einer neuen Streitmacht vor den Toren des Gefängnisses auftauchte und wieder Teil der Haupthandlung wurde.
Eine weitere Finesse: Nach der Vertreibung aus dem Gefängnis wechselte TWD 4 dann vom horizontalen Erzählen beinahe zur vertikalen Einzelepisode, in der die Geschichten der versprengten Gruppenmitglieder erzählt werden. Das wird nicht jedem gefallen haben, aber auf diese Weise entstanden bemerkenswerte Figurenportraits und brillante Einzelepisoden wie „The Grove“ (Ep 14).


Auf ähnliche Weise wurde die Story Arc auch in Season 5 arrangiert: Mit „Slabtown“ (S 5 Ep 4) beginnt erneut eine Frame Story (was nicht nur Rahmenhandlung bedeuten muss, sondern auch als ‚Geschichte in der Geschichte‘ fungieren kann). Eine ganze Folge lang wird die Geschichte der kurz zuvor entführten Beth erzählt, die in einem Krankenhaus in Atlanta gelandet ist, in dem Cops ein humanitäres Projekt am Leben erhalten, das sich im Kern jedoch als repressiv und selbstsüchtig erweist.
In der Folge werden die Episoden aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. In „Self Help“ (S 5 Ep 5) zeigen kurze Flashbacks die Vorgeschichte Abrahams, „Consumed“ (S 5 Ep 6) nutzt Flashbacks, um zu erzählen, was Carol nach der Bestrafung durch Rick widerfahren ist, ist aber auch gleichzeitig das Prequel von „Slabtown“. Der Atlanta-Plot endet mit „Coda“ (S 5 Ep 8) pünktlich vor der Mid Season-Pause auf dramatische und deprimierende Weise.
Persönlich hat mir die Atlanta-Story nicht gefallen, denn einerseits wurde am Anfang der Staffel der substanziell interessantere Terminus-Plot, der zudem einige offene Fragen zurückließ, zu schnell verheizt, andererseits waren die Scripts der Episoden nicht besonders gut geschrieben: die Cops im Krankenhaus wirkten zu eindimensional, fast schon klischeehaft. Allein der Umstand, dass endlich wieder einmal urbane Settings in TWD auftauchten, war zu begrüßen. Die Backstories der Episoden waren dagegen interessant. Trotzdem erreichte mich 5.1. nicht mehr, obwohl die non-lineare Erzählstruktur formal überzeugte. Nicht nur die „Kannibalen“, auch die „Cops“ wurden zu schnell verkonsumiert. Das sollte sich ändern.


Mit dem Beginn der zweiten Staffelhälfte „What Happened and What’s Going On“ (S 5 Ep 9) besannen sich die Macher und führten TWD zu einer klassischen Erzählweise zurück, die sich ausschließlich und beinahe ohne Nebenhandlungen und ausgelagerte Frames auf die Gruppe um Rick und ihre Reise nach Alexandria konzentriert. Und plötzlich war das Potential der Serie wieder erkennbar. Die Geschichten wurden breiter angelegt und damit auch subtiler, der Spannungs-Quotient stieg sprunghaft an.


Auch wenn diese Veränderungen in der Erzählstruktur für den einen oder anderen unbefriedigend gewesen sind, so zeigten sie sehr gelungen, dass die Macher von TWD nicht den Fehler begehen, angesichts der triumphalen Quoten auf Nummer Sicher zu gehen und alles so belassen, wie es ist. Und es zeigt, dass ihnen offenbar auch die künstlerische Freiheit, dies zu tun, von den AMC-Bossen zugestanden wurde.


Post-Moral in der Post-Apokalypse

TWD ist nach wie vor eine Serie, deren dramaturgische Reize sich erst richtig entfalten, wenn man sie zum zweiten Mal sieht. Wenn man weiß, was passieren wird, werden einige narrative Kniffe erkennbar, die einem beim ersten Mal entgehen können. Auch die Innovationen in der Erzählstruktur sehen dann oft plausibler aus, weil die Konsequenzen bestimmter Ereignisse erst nach vielen weiteren Episoden sichtbar werden. Dabei geht es weniger um den raffinierten Plot-Twist, sondern um die moralischen und emotionalen Konsequenzen von Entscheidungen. 

Stupidity is also a gift of God, but one mustn’t misuse it

 „Ultimately zombie films aren’t about the zombies”, schrieb der amerikanische Filmemacher Matt Zoller Seitz 2009. „In zombie films it’s every man for himself and God against all.“ Mit dieser Prognose (9) erfasste Seitz ein Jahr vor dem Serienstart fast prophetisch den Kern von TWD, besonders auch durch seine provozierende Frage, ob es möglicherweise der ich-bezogene Egoismus sei, der in der Post-Apokalypse die neue Form von Anständigkeit ist.
Das mag zynisch klingen, zumindest aber paradox. Aber Zombies funktionieren eben nicht nur als Projektionsflächen für die eigenen Ängste ganz gut, sondern verlangen von den Figuren eine völlig neue Form der Auslegung dessen, was in diesen neuen Zeiten Zivilisation, Moral, Gesetze und Regeln und Mitgefühl eigentlich sein sollen und können (10).
 

Ein gutes Beispiel ist die Entwicklung von Rick Grimes, der nicht zu Unrecht den Spitznamen „Ricktator“ verpasst bekommen hat. Auch wenn die Fans in den Foren Rick und seine Entscheidungen in der Regel vehement verteidigen, wird ihnen nicht entgangen sein, dass jener Rick, der kurz vor dem Ende der 5. Season in „Try“ (S 5 Ep 15) ausrastet und von Michonne niedergeschlagen wird, schwer traumatisiert ist und sich langsam, aber mit tödlicher Sicherheit zu einem moralisch angeschlagenen Mann entwickelt hat. Aus dem empathischen und integeren Gruppenführer der 1. Staffel, der sich noch bei einem Zombie für den finalen Todesschuss entschuldigte, war bereits in „18 Miles Out“ (S 2 Ep 10) ein Leader geworden, der Grenzen auslotete - immer bereit, moralische Grenzen zu überschreiten, um seine Frau und seinen Sohn zu schützen.

Nach der Begegnung mit dem Governor und den Kannibalen von Terminus scheint es nun, als sei Rick ein paranoider Doppelgänger seines toten Freunds Shane geworden. In Season 5 ist er in Alexandria bereit, einen Mann zu liquidieren, der in den heimischen Wänden Frau und Sohn verprügelt. Die Todesstrafe für häusliche Gewalt? Für den alten Rick ein No-Go.


All das wird allerdings in vielsagenden Details angekündigt. Wenn in „Four Walls and a Roof“ (S 5 Ep 3) der von Beißern verletzte Bob sterbend auf dem Bett liegt und seine letzten Worte an Rick richtet, wirkt dieser zerfahren und fast abgestoßen von dieser intimen und freundschaftlichen Geste. „Alpträume enden“, sagt Bob, „die sollten jedoch nicht Dich verändern!“
Doch dies ist bereits geschehen und in „The Distance“ (S 5 Ep 11) wird Rick einen Mann brutal zusammenschlagen, der Ricks Gruppe nach Alexandria einladen will. Mit anderen Worten: Rick tut Dinge, für die er Carol in Season 4 noch vom Hof gejagt hat, und er ist auf dem besten Wege, sich in einen neuen Governor zu verwandeln.


Das Massaker an den Terminus-Kannibalen, das Rick in der Kirche der gefallenen Engels Gabriel clever inszeniert, besaß bereits lustvolle sadistische Elemente, die die Zombie-Showkämpfe des Governors locker in den Schatten stellen. Bevor das Schlachten in „Four Walls and a Roof“ beginnt, fährt ein Kameraschwenk sarkastisch über einen von Gabriel Stoke an die Wand gepinnten Sinnspruch: „Dummheit ist auch eine Gabe Gottes, aber man darf sie nicht missbrauchen.“
„Das ist ein Haus Gottes“, protestiert Gabriel nach dem Blutbad. „Nein“, erwidert Maggie, „das sind nur vier Wände und ein Dach.“ 
Während Tyreese kurz zuvor noch sagt: „Ich vergebe!“, hat sich bei den anderen Gruppenmitgliedern ein zynischer Gerechtigkeitssinn durchgesetzt. Auch wenn einige Fans in den Foren anschließend gejubelt haben, könnte das bestialische Massaker an der Terminus-Gruppe in einer intakten Gesellschaft nicht ohne Weiteres mit den Unmenschlichkeiten von Gareths Gruppe gerechtfertigt und verrechnet werden. Und so ist das Blutfest der moralische Wendepunkt der Serie, was „Four Walls and a Roof“ zur besten Episode der 5. Staffel macht. 


„We have to eliminate the threat“ (Rick)

Die Frage nach der Post-Moral in der Post-Apokalypse beschäftigt aber auch andere Figuren. Ich behaupte sogar, dass die Liquidierung eines Kindes in „The Grove“ nicht nur die Figur der Carol zu einer der interessantesten des TWD-Universums gemacht, sondern auch Mediengeschichte geschrieben hat. Nicht wegen des Tabubruchs (etwas Ähnliches geschah ja auch in den Comics), sondern wegen der moralischen Ambivalenz der Figuren. Einerseits kann man Lizzies Taten (Fütterung der Walker am Zaun, Tierquälerei, versuchte Säuglingstötung, Wunsch, sich in einen Untoten zu verwandeln, Ermordung der eigenen Schwester) als Verwüstungen einer kindlichen Seelenlandschaft bezeichnen. Andererseits könnte es auch sein, dass sich Lizzies Entwicklung zu einer klassischen Psychopathin lange zuvor bereits angedeutet hatte. 


Post-apokalyptische Moral hält in solchen Fällen keine Therapie bereit, sondern den ‚human‘ aufgesetzten Kopfschuss als Form pragmatischer Rationalität. Was ist aber ‚richtig‘? Was soll man mit einem Kind tun, dass seine Schwester umbringt und nun eine ständige Gefahr für die Lebenden ist? Wird diese Extremsituation noch „moralisch integer“ im Sinne der Menschenwürde gelöst? Werden hier moralische Werte über den Haufen geworfen oder einfach neue geschaffen und durch Taten bekräftigt?

Carol hattte das Problem im einem Gespräch mit Tyreese zuvor auf den Punkt gebracht: Lizzie ist gestört, ihre Schwester Mika „noch schlimmer“ – sie sei nicht böse genug.
Das Script von „The Grove“ ist brillant geschrieben und wird phantastisch gespielt, besonders von den Kinderdarstellern. Die Episode zeigt noch einmal die Sehnsucht nach einem „Home“, stellt dieses Gefühl aber sofort in Frage. Am Ende triumphiert der Wahnsinn und die Entscheidung für die Euthanasie, ein Begriff, der nichts anderes als „der schöne Tod“ bedeutet. 


„The Grove“ ist natürlich ein gut gewählter Euphemismus. Übersetzt bedeutet dies nicht nur ‚Wäldchen‘, sondern auch ‚Hain‘, ein Wort, das bei uns ein literarischer Topos geworden ist (Goethe: „Der heil’ge Hain“). Es kann der unterschiedlich konnotiert werden, z.B. als Friedenshain, aber auch Totenhain, also Stätten, denen eine ausdrückliche Symbolkraft zugewiesen wird.
Wer immer sich den Episodentitel im „Writer’s Room“ ausgedacht hat, wird dies gewusst haben. Das Wäldchen hinter dem Haus markiert also nicht nur den inneren Abschied von dem ersehnten „Home“ (Carol malt sich zuvor aus, dass man an diesem Ort länger bleiben könne), sondern treibt die Figuren ein weiteres Mal an die Grenzen ihrer ganz persönlichen Ethik, die sich nach jeder Tat auf fatale Weise ändern. Ist das in der Serie noch ein ernst gemeinter Diskurs oder bereits ein zynisches Spiel mit den Figuren? Und den Zuschauern? Es
zeigte in der 2. Hälfte der 4. Season, dass es für deutsche Medienschützer sicher noch genug Fragen in TWD zu beantworten gibt.

  

Rezeptionsästhetisch sind die Zuschauer längst nicht mehr passiv. Ähnlich wie bereits bei „Game Of Thrones“ gibt in den USA sogenannte „Reaction Compilations“, die bei YouTube zu sehen sind: Zuschauer lassen sich während der Show filmen, während besonders schockierende Brutalitäten zu sehen sind. Einige Filmemacher haben sich auf derartiges spezialisiert und zeigen die „What the fuck is this?“-Reaktionen gleich mehrfach im Split Screen. Abgesehen davon, dass dabei sicher auch gestelltes Material entsteht, erkennt man, dass die Medienerfahrung längt ihren persönlichen und erst recht ihren intimen Charakter verloren hat. Man wendet nicht mehr berührt den Kopf ab, sondern schreit nach „Must see“-Vervielfachung.

„Home“ und „Family“ im Kosmos von TWD

Iring Fetscher hat vor 40 Jahren in „Reflexionen über den Zynismus als Krankheit unserer Zeit“ den Zyniker als Menschen charakterisiert, der den drohenden Sinnverlust damit begegnet, dass er sich als Mächtigen begreift, der es nunmehr nicht mehr nötig findet, in irgendeiner Form Rücksicht zu nehmen (11).
Dem zynisch Gewordenen ist die Moral aber nicht gleichgültig, er definiert sie lediglich um. 
TWD zeigt dies auf seine Weise: Der Governor ist ein traumatisierter Machtmensch, der in Season 4 noch einmal die Chance erhält, sich seine verschütteten Werte zu besinnen, aber nicht mehr aus seiner ‚neuen Haut‘ herauskommt. Die Terminus-Kannibalen definieren sich dagegen als Opfer der Gewalt, denen der nackte Zwang zum Überleben eine neue Moral diktiert, nämlich ihre Opfer in kleinen Portionen zu vertilgen. Und Carol, deren Leben eine Spirale aus Verlust und Gewalt ist, demonstriert in TWD, dass Empathie und Nihilismus offenbar keine Gegensätze sind.


Inmitten der neuen zynischen Barbarei scheint die Familie nämlich die letzte Enklave zu sein, die Rettung verspricht. Fetscher hat dies bereits so gesehen und in TWD wird dies auf den Punkt gebracht. Je härter Rick und Carol werden, desto mehr trauen sie einander, desto mehr wird die Gruppe als schützenwerte Family zum letzten erhaltenswerten Ziel in der untergehenden post-apokalyptischen Gesellschaft. Nur so erklärt sich Ricks und Carols tiefes Misstrauen angesichts der auf den ersten Blick aufgeklärt-demokratischen Gemeinde, die in Alexandria lebt. Dass die Macher der Serie dann aber mit den folgenden Ereignissen Rick und Carol Recht zu geben scheinen, ist beinahe selbst schon ein zynisches Spiel mit dem Thema. 
Gewiss ist aber eins: Das Zombie-Virus, das ja alle in sich tragen, bedroht in jeder Hinsicht alle Gewissheiten über alte und neue gesellschaftliche Regeln. Standes- und Klassengrenzen werden neu definiert, Cops sind nicht gut, Pfarrer sind es auch nicht. Vermeintlicher ‚White Trash‘ wie Daryl wird dagegen auf seine schweigsame widerwillige Weise zu einem Moralisten.


Bemerkenswert an der erzählerischen Qualität von TWD ist, dass sich derartige Veränderungen lange vor den teilweise fatalen Konsequenzen andeuten. Dies zeigt, dass die Storyline in psychologischer Hinsicht sorgfältig bis ins kleinste Detail geplant und dann folgerichtig umgesetzt wird. Wenn aber TWD etwas Vorhersehbares für die Figuren bereithält, dann ist es die Erkenntnis, dass sie noch nicht so sehr abgestumpft sind, als dass sie nach ihren Taten kein Grauen spüren können.
Nein, sie spüren es. Sie wissen nur nicht, dass die Folgen für sie noch schlimmer sein werden, als sie es sich in ihren schlimmsten Alpträumen vorstellen können.


Fast schon allegorische Qualität erhält die Wechselbeziehung von paranoidem Misstrauen und dem Wunsch nach Home und Family in der zweiten Hälfte der 5. Staffel, als Ricks Gruppe Alexandria erreicht. Die hermetisch von hohen Schutzwällen umgebene saubere und gutbürgerliche Stadt verwandelt sich schnell in einen ‚Traumort‘ für einige Mitglieder der Gruppe. Deanna, die politische Führerin (ja, so etwas gibt es noch) von Alexandria, ahnt, dass die Härte und das Überlebens-Know-how der ‚Neuen‘ für ihre Gemeinschaft entscheidend sein können. Sie weiß, dass nur die wenigsten der Alteingesessenen in Alexandria in der Lage wären, eine Nacht außerhalb des Schutzwalls zu überleben. Und Rick weiß das auch.


Dass die Thematik ‚erfahrene Zombie-Killer vs. biedere Bürger‘ in der Folge anschaulich durchdekliniert wird und zu Toten führt, ist an sich keine Überraschung. Den entscheidenden Drive erhält der Alexandria-Plot dadurch, dass das Aufeinanderprallen von zwei Lebenswelten zu einem Clash of Civilizations führt, in dem sichtbar wird, wie beschädigt Ricks Gruppe in emotionaler Hinsicht tatsächlich ist. 
Während einige voller Zuversicht sind, ist „Fight the dead, fear the living“ bei Rick und Carol zu tief eingebrannt worden. Beide zeigen zwar Integrationsbereitschaft und wollen wohl auch ausprobieren, ob es klappen könnte, haben aber bereits die Machtübernahme als Ultima Ratio im Hinterkopf. 
Ist der Paranoiker auch dann verrückt, wenn er tatsächlich bedroht wird?


„The Walking Dead“ reagiert in der zweiten Staffelhälfte der Season 5 mit einer grandiosen Erzählung auf die Frage, warum komplexe Systeme mit ihren sozialen und kulturellen Identitäten auseinanderbrechen. Qualitativ gehört dies zu den Highlights der gesamten Serie.
Was wird passieren? Ist es die bedingungslose Akzeptanz der Gruppe und ihres „Ricktators“, die man verteidigen muss, wenn man nicht in ein gänzlich barbarisches Zeitalter eintreten möchte? Oder gibt es eine Katharsis, die alle zur Besinnung bringt?
Wie das enden soll, konnte auch das große 90-minütige Staffelfinale der 5. Season nicht beantworten. Aber eins ist nach dem überraschenden Ende klar: Es wurden und es werden weiterhin moralische Entscheidungen getroffen, die man eigentlich nicht erwartet hat. Was weiterhin passiert ist unklar. Enden soll es ja auch nicht. Es muss weitergehen. Immer weiter. Man darf aber eins nicht vergessen: The Walking Dead sind nicht die Beißer, sondern die Lebenden.


Quellen:

(1) Werner Barg: Moralische Diskurse in The Walking Dead. In: tv diskurs 1/2015 (fsf – Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen, S. 80 f.) (abgerufen am 28.03.2015).
(2) Die Spoiler-Hysterie ist mittlerweile zu einer Form der Zensur geworden, die immer drastischer von Fans eingefordert wird. Nicht immer nachvollziehbar: Einerseits wollen Fans interessante Fakten in Erfahrung bringen, andererseits interpretieren sie eine tiefergehende Analysen als Spaßbremse, da die Beschreibung von Zusammenhängen unweigerlich dazu führt, dass Einzelheiten preisgegeben werden. Mittlerweile kann man nicht einmal mehr die Duschszene in Hitchcocks „Psycho“ analysieren, ohne dass nicht jemand empört aufschreit, weil er auch nach einem halben Jahrhundert den Film immer noch nicht kennt und ihm nun der „Spaß“ verdorben wurde. Es ist halt wie bei der Wikipedia: Wer dort am Montag nach der Ausstrahlung freiwillig in die Episodenliste schaut, darf sich nicht wundern, dass dort alles haarklein nacherzählt wird.
(3) The Hollywood Reporter: 'The Walking Dead': What Really Happened to Fired Showrunner Frank Darabont  (abgerufen am 12.07.2012).
Kevin Yeoman: Frank Darabont Discusses ‚The Walking Dead‘ Exit & New Serie ‚L-A. Noir‘  (abgerufen am 27.03.2015).
(4) Bill Gorman (2011): ‘The Walking Dead’ Renewed For A Third Season By AMC' (abgerufen am 27.03.2015).
(5) Jamie Lisa Hebisch (2012): Showrunner Glen Mazzara verlässt Serie. 
Quelle: The Hollywood Reporter  (abgerufen am 27.03.2015).
(6) Scott Meslow (2012): The Post-Apocalyptic Morality of ‘The Walking Dead’
 (abgerufen am 27.03.2015).
(7) Jenny Jecke (2013): Steht The Walking Dead vor Niedergang?  (abgerufen am 27.03.2015).
(8) Die Fans haben mitunter kein Interesse an den produktionsökonomischen Hintergründen ihrer Lieblingsserie. In der immer noch aktuellen Diskussion über die Bildqualität der in Deutschland vermarkteten DVDs und Blurays werden derartige Fakten von Hardcore-Fans geflissentlich ignoriert, auch wenn andere sich begründet über eine lausige Bildqualität der teuren Boxen beschweren. Jede Kritik an TWD ist ein Sakrileg! Dass die Hypothese vom „typischen Zombie-Look“ weiter grassiert, allerdings im Niedergang begriffen ist, überrascht mich daher nicht. Man sollte stattdessen ruhig darüber nachdenken, ob eine technisch ‚preiswerte‘ Produktion der Scheiben durch die Lizenznehmer nicht von ähnlichen Gewinninteressen gesteuert wird, wie ich sie einleitend am Beispiel von AMC beschrieben habe. Der vorliegende Aufsatz bezieht sich jedenfalls auf die VoD-Fassung der 4. Staffel (Amazon) und die Pay TV-Version (SKY) der 5. Staffel, die beide "The Walking Dead" in vorzüglicher HD-Qualität zeigen. Mittlerweile ist die 5. Staffel auch bei YouTube zu sehen und taucht trotz regelmäßiger Löschung immer wieder auf.
(9) Matt Zoller Seitz (2009): Zombie 101 – A Guide to Cinema’s Most Durable Morality Play  (abgerufen am 27.03.2015).
(10) Steven Schlozmann M.D. (2011): The Moral Molasses of The Walking Dead (abgerufen am 27.03.2015).
(11) Michael Heidgen (2013): Inszenierungen eines Affekts – Scham und ihre Konstruktion in der Literatur der Moderne, S. 193 ff.

Samstag, 21. März 2015

Stonehearst Asylum

In bester „Haunted House“-Manier setzt Regisseur Brad Anderson in „Stonehearst Asylum – Diese Mauern wirst du nie verlassen“ auf nostalgische Gruseleffekte. Doch auf den Besucher warten nicht Gespenster, sondern Irre. Wer allerdings wahnsinnig ist und wer nicht, muss erst noch herausgefunden werden.
 
Inmitten dunkler und nebelgeschwängerter Wälder liegt ein Schloss, das Stonehearst Asylum. Die morbide Architektur mit ihren endlosen labyrinthischen Gängen erscheint genauso unheilvoll wie die knarzenden Dielen und die unheimlichen Geräusche, die nächstens aus den Kellerverliesen nach oben drängen. Doch noch angsteinflößender sind die Bewohner von Stonehearst. 

In Edgar Allen Poes Kurzgeschichte „The System of Doctor Tarr and Professor Fether“ muss der Besucher einer Irrenanstalt entsetzt feststellen, dass die Patienten die Macht an sich gerissen haben. Mehr noch: die Insassen haben die alten Behandlungsmethoden über Bord geworfen und durch humanere ersetzt.
Die Enthüllung des „Systems“ – ein Schock und ein genüsslicher Tabubruch, besonders in der amerikanischen Literatur des 19. Jh. Dort wurde nicht nur in der seriösen Belletristik, sondern auch in der aufkommenden Horrorliteratur über den Wahnsinn geschrieben. Ein attraktives Thema, war doch das von der Romantik entworfene Bild des Künstlers als gesellschaftlicher Außenseiter nicht weit dem des normverletzenden Geisteskranken entfernt, leben beide doch eher auf der Schattenseite der etablierten Vernunft. Edgar Allen Poe (1809-1849) hat dies gewusst und offenbar besser verstanden als andere – ein Schriftsteller zwischen Poesie und tougher Genrekost, in der Poe exemplarisch vorführte, wie man Leser in Angst und Schrecken versetzt. Die titelgebend Short Story gehört zu seinen weniger bekannten, aber der amerikanische Pionier der Schauerliteratur wusste lange vor den Erfindung des Kinos, was schockierende Plot Points und furchterregende Final Twists sind. Heutzutage wird dies immer schwerer.


Psychiatrie des Grauens

In Brad Andersons Adaption der Poe-Geschichte ahnt der Zuschauer nämlich bereits nach wenigen Minuten, was für ein Geheimnis im Stonehearst Asylum gehütet wird. Dazu muss man die Poe-Geschichte nicht kennen, die Hinweise sind unübersehbar. Der Protagonist der Geschichte ist da deutlich naiver.

Der junge Arzt Edward Newgate (Jim Sturgess) besucht im Jahre 1899 Stonehearst, um die Methoden der Anstalt zu studieren. Geleitet wird sie von Dr. Silas Lamb (Ben Kingsley) und der zeigt sich über die Ankunft eines potentiellen Assistentsarztes erfreut und demonstriert dem Besucher das Leben in der reformierten Einrichtung: alle Patienten bewegen sich zur Verblüffung des Besuchers ungezwungen und frei, sie sind weder fixiert noch mit Drogen ruhiggestellt. Lamb ist zwar skeptisch, was die Heilungschancen betrifft, glaubt aber, dass man den Irren lediglich ihre Würde zurückgeben muss, um sie gesellschaftlich einigermaßen zu rehabilitieren. Newgate ist irritiert und überrascht, zeigt sich aber besonders fasziniert von der „Hysterikerin“ Eliza Graves (Kate Beckinsale), die am Klavier alle verzaubert. Alles wäre schön und gut, wäre da nicht der Hausverwalter Mickey Finn (David Thewlis), dessen ungehobeltes und rüdes Auftreten von Dr. Lamb nur selten in die Schranken gewiesen wird. Etwas stimmt nicht in Stonehearst.


Brad Anderson gehörte vor zwanzig Jahren zu den großen Hoffnungsträgern der Unabhängigen US-Kinos. „The Machinist“ (2004) wurde von der Kritik zu Recht positiv aufgenommen. Späteren Filmen Andersons fehlte dagegen trotz guter Ansätze der letzte Biss, etwa „Transsiberian“ (2008). Stimmung und Atmosphäre gehören allerdings zu den Stärken des Regisseurs und Drehbuchautors. Auch „Die Herrschaft der Schatten“ (Vanishing on 7th Street, 2011) lebte mehr von der Bildästhetik als von der Qualität des Scripts, Anderson spielt gelegentlich ein wenig zu selbstverliebt mit bekannten Genremustern herum. Mittlerweile ist der Regisseur endgültig im Mid-Budget-Bereich angekommen. „The Call“ (2013) wurde mit 13 Mio. Dollar produziert, spielte trotz mäßiger Resonanz bei der Kritik immerhin das Fünffache ein. „Stonehearst Asylum“ lief dagegen nur in wenigen US-Kinos und ist in Deutschland sofort in die Direct-to-DVD-Vermarktung gerutscht, obwohl Brad Anderson es erneut geschafft hat, mit Kate Beckinsale, Jim Sturgess, Ben Kingsley, Michael Caine und Brendan Gleeson eine illustre Darstellerriege um sich zu scharen.
 

Auch in „Stonehearst Asylum“ zeigt Andersons ein Händchen für gutes Production Design, passenden Look und konventionelle, aber bewährte Strickmuster. In der ersten halben Stunde wirkt der Film aber ein wenig wie eine Travestie, so dick wird die Gothic-Ästhetik aufgetragen, zu sehr erinnert der Film an Kinogeschichten der 1960er und 1970er Jahre. Allerdings rettet die Substanz der literarischen Vorlage den Film vor dem Verdacht, lediglich handwerklich beeindruckende Dutzendware abzuliefern.

Als Newgate das Geheimnis von Stonehearst entdeckt, erfährt er nämlich Ungeheuerliches: der echte Anstaltsleiter Dr. Benjamin Salt (Michael Caine), der mit seinem eingesperrten Personal in ranzigen Kellerverliesen vegetiert, hat mit seinen barbarischen Behandlungsmethoden einen durchaus moralisch folgerichtigen Anteil an seiner drakonischen Bestrafung: morphininduziertes Koma, Sturzbäder mit eiskaltem Wasser, der Einsatz eines Drehstuhls bis zum völligen Zusammenbruch sind hingegen nicht einem kranken Hirn entsprungen, sondern waren in der Psychiatrie des 19. Jh. verbreitete Standardverfahren bei der Behandlung von Geisteskranken. Beinahe logisch erscheint es da, dass ein Wahnsinniger bessere Ergebnisse erzielt: unter dem Regime von Silas Lamb wirken die Irren wie verwandelt. Statt katatonischer Starre aktive Teilnahme, statt Folter nunmehr Heiterkeit.


Zwischen Grusel und historischer Anamnese

Ben Kingsley spielt den ‚Anstaltsleiter‘ wie in Scorseses „Shutter Island“ nicht nur mit gewohnt guter Routine, sondern brilliert streckenweise sogar als traumatisierter Ex-Militärarzt, der erlebte Kriegsgräuel mit einer Verzweiflungstat beantwortete und danach dem Wahnsinn verfiel. Dass sein humanitäres Konzept am Ende zur Anwendung ‚moderner‘, aber nicht weniger grauenhafter Behandlungsmethoden wie dem Elektroschock führt, ist eine intelligente Plotwendung, die durchaus als sarkastischer Kommentar zur Geschichte der Psychiatrie gelesen werden kann. 

Jim Sturgess spielt den jungen Arzt als zaudernden und mit geringem Selbstbewusstsein ausgestatteten Anti-Helden, der sich umgehend in die „Hysterikerin“ Eliza Graves verliebt, dabei allerdings von Kate Beckinsales differenzierter Studie einer Angstkranken glatt an die Wand gespielt wird. 
Michael Caine als distinguierter Irrenarzt verkörpert den beruflich bedingten Sadismus seiner Rolle mit gewohnt doppelbödiger Eleganz, während Brendan Gleesons Nebenrolle als „Alienist“ (veraltete Bezeichnung für Irrenarzt) im Prolog zeigt, wie sich medizinische Vorlesungen im viktorianischen England in eine empathiefreie Freakshow verwandeln.


„Stonehearst Asylum – Diese Mauern wirst du nie verlassen“ ist sorgfältig komponiertes und entschieden konventionelles Kino, das sich zwischen altbekanntem Grusel und reflektierter historischer Anamnese verortet. Wer beim Fazit „gepflegter Durchschnitt“ voreilig den Daumen senkt, verpasst einen unterhaltsamen und durchdachten Genrefilm, exzellente Darsteller und eine angenehm altmodische Betulichkeit, die nicht mehr ganz ins moderne Erzählkino zu passen scheint, aber alles andere als langweilig ist. Dass der u.a. von Mel Gibson produzierte Film nach all den Schrecken am Ende noch einen unerwarteten Plot Twist und ein versöhnliches Ende zu bieten hat, ist kein narrativer Trick. Anderson zeigt lediglich, dass angesichts des alltäglichen Wahns die Definition des Normalen unter Umständen nicht ganz leicht fallen wird.


Noten: BigDoc =2,5


„Stonehearst Asylum – Diese Mauern wirst du nie verlassen“ (Stonehearst Asylum) – USA 2014 – Regie: Brad Anderson – Laufzeit: 112 Minuten – FSK 16 – D.: Kate Beckinsale, Jim Sturgess, Ben Kingsley, Michael Caine, Brendan Gleeson, David Thewlis

Samstag, 14. März 2015

Lucy

Man muss Luc Bessons Filme nicht immer mögen. Unbestreitbar ist jedoch der visuelle Einfallsreichtum des französischen Regisseurs, der zuletzt als Produzent populärer Actionware zu einer festen Größe im europäischen Filmbusiness geworden ist. Was sonst in ihm steckt, zeigte er in „Lucy“. Die Melange aus Sci-Fi und Actionkracher ist ein kleines Meisterwerk und auch eine Hommage an den Phantastischen Film.

„Lucy“ ist witzig und intelligent, respektlos und aufreizend banal. Lustvoll werden einige Lieblinge des Arthouse-Kinos zitiert, gleichzeitig lädt Luc Besson den Zuschauer zu einer geradezu höllischen Fahrt mit der Geisterbahn ein, die mitten in eine Ballerorgie und dann zu den Anfängen des Universums führt. Ein visuell beeindruckendes Spektakel, ein Film für den Rummelplatz, völlig größenwahnsinnig und vielleicht einer der besten seiner Art seit „Matrix“.
Ähnlich wie die Wachowskis versucht sich Besson an dem Spagat, seinen Genre-Mix nicht ganz ernst zu nehmen, ihm aber clever einige philosophische und anthropologische Fragen unterzuschieben und diese dann ironisch gegen den Strich zu bürsten. Dabei zeigt er nonchalant, dass er es tricktechnisch mit den Größten aufnehmen und immer noch die besten Shootouts und Autoverfolgungsjagden aus dem Ärmel ziehen kann.

Das polarisiert. In den Foren fallen die Cineasten hämisch über die vermeintlich schlichteren Gemüter her, denen die Kinobildung fehlt, um Spaß an „Lucy“ haben zu können. Diese haben den 27. Teil von „Taxi“ erwartet, vermissen Jason Statham und wissen sich nicht anders zu helfen, als sprachlos mit den üblichen Sprüchen zu reagieren. Aber „Lucy“ ist weder der langweiligste noch der schlechteste Film aller Zeiten. Er ist kein „Schrott“ und auch nicht „unrealistisch“, sondern einfach anders.


Der Anfang ist das ganze Programm

Schaut man sich den Anfang des Films genauer an, so entdeckt man ein Feuerwerk von Montage-Ideen und reichlich viel Filmzitate. In der Main-Title sehen wir zunächst eine Reihe von animierten Zellteilungen. Die erste Sequenz zeigt dann einen frühen weiblichen Hominiden. Sie hockt an einem Gewässer und trinkt ziemlich ungelenk. Es ist „Lucy“, die zur Art des Australopithecus afarensis gehört, einem frühen Vorläufer des Homos sapiens. Das Alter wird auf 3,2 Millionen Jahre datiert. Im Off hören wir Lucys (Scarlett Johansson) Stimme: „Vor einer Milliarde Jahren wurde uns das Leben geschenkt. Was haben wir daraus gemacht?“

Aha, es macht Klick. Es geht um Evolution und so ähnlich begann auch Stanley Kubricks „2001 – A Space Odyssee“. Doch statt des berühmten Match-Cuts, der einen hochgeworfenen Knochen in eine Raumstation verwandelt, fährt Bessons Kamera in das Getümmel einer Mega-City. Menschen und Autos rasen im Zeitraffer in vollgestopften Straßen an uns vorbei. Wir sind in Taipai, und wir sehen, dass die Krone der Schöpfung einige Millionen Jahre später ziemliche Verkehrsprobleme hat.

Vor einem Hotel stehen Lucy und ihr Freund Richard. Richard versucht Lucy davon zu überzeugen, an seiner Stelle einem mysteriösen Koreaner namens Mr. Wang einen Koffer zu übergeben: „Du vertraust mir doch, oder?“
Flashback: Lucy und Richard in einer Disco, sie saufen sich zu. Man kennt sich offenbar erst seit kurzem. Vertrauen? Traut man einem Typen mit Hawaii-Hemd, geschmackloser Sonnenbrille und einem billigen Cowboy-Hut. Eher nicht. Lucy will nach Hause. Richard lässt nicht locker und erzählt, dass er in einem Museum erfahren hat, dass „Lucy“ der Name der allerersten Frau gewesen ist.
Schnitt: wir sehen die ausgestopfte Lucy im Museum. Besson erledigt das mit drei blitzschnellen Einstellungen von nah auf total. Kennen wir das nicht? Richtig, es ist ein saloppes Montagezitat, das an die drei berühmten Löwen in Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) erinnert. 
Metaphorische Montage? Bei Luc Besson? Das kann ja heiter werden.

Lucy fühlt sich nicht geschmeichelt. Richard lässt nicht locker. Im besten Tarantino-Style quatscht er die junge Frau zu. Schnitt auf eine Mausefalle mit einem Stück Käse: eine weiße Ratte tappt heran. Richard selbst möchte aus bestimmten Gründen den Koffer nicht übergeben. Für den Job bekommt er 1000 Dollar und die könne man ja teilen. Überhaupt sei alles ja harmlos.
In einem Forum beschwerte sich ein Filmegucker: Die Mausefalle sei wohl der Scherz des besoffenen Cutters gewesen. Nein. Besson verwendet die Assoziationsmontage (1) ähnlich wie in Alain Resnais „Mein Onkel aus Amerika“ (1980), wo Resnais ebenfalls fiktives und dokumentarisches Material montierte, um den Einfluss archaischer Verhaltensmuster auf das menschliche Verhalten zu demonstrieren. Natürlich auch mit Ratten, was vor 35 Jahren übrigens ziemlich humorlos aufgenommen wurde und sogar Proteste auslöste.

Dann schnappen plötzlich die Handschellen zu. Lucy wurde von Richard überlistet und muss nun doch ziemlich verängstigt ins Hotel. Doch Mr. Jang taucht nicht auf, vielmehr kommt eine Horde grimmiger Yakuza-Typen auf Lucy zu, was Besson mit den Aufnahmen einer Gruppe von Geparden parallel montiert, die erfolgreich Jagd auf Gazellen machen. Lucy wird fortgeschleppt und sie sieht gerade noch, dass Richard draußen von einer Kugel tödlich getroffen zu Boden sinkt.

Es sind noch nicht einmal fünf Minuten vergangen und Luc Besson hat bereits mit aberwitzigem Tempo Kubrick, Eisenstein, Resnais, Tarantino und natürlich auch ein wenig sich selbst zitiert. Und als würde das nicht reichen, wird in einer Parallelmontage der Hirnforscher Samuel Norman (Morgan Freeman) gezeigt, der in einem Vortrag dem staunenden Publikum erklärt, dass der Mensch zwar nur 10 Prozent seiner Gehirnkapazität nutzt, dies aber gereicht habe, um ihn zum evolutionären Gewinner zu machen. Aber, so der skeptische Professor, das habe nur dazu gereicht, dass der Mensch das Haben dem Sein vorzieht.

Was aber passiert, wenn er 20 und dann gar 30 Prozent abrufen kann?
Die Montage springt zwischen beiden Sequenzen hin und her, man ahnt, dass Lucy diese Frage beantworten wird. 
In dem Koffer befindet sich die neue Designerdroge CPH4, die Mr. Jang (Chou Min-sik) einer Handvoll Drogenschmugglern in den Unterleib implantieren lässt, um sie nach Europa zu transportieren. Lucy ist nun eine von ihnen und als sie während der Überfahrt angekettet in einem Container sitzt, tritt ihr einer der Bösewichter in den Bauch, was das CPH4 in Lucys Körper frei setzt. Das hat Folgen.


Stil vor Inhalt: Lucy ist ein anthropologischer Comicfilm

In knapp zehn Minuten hat Besson diesen Prolog abgewickelt, eine Tour de Force, die allein schon ausreichend Stoff für einen abendfüllenden Film abgeben könnte. Aber weder das enorme Tempo noch die vielen Zitate und visuellen Gimmicks verlieren die Geschichte aus dem Auge, der präzise Montagerhythmus ist ein Lehrstück in Sachen Tempo und erzählerischer Konsistenz. Das kriegt nicht jeder so elegant hin und schon lange nicht mehr war der Besson-Stil so ausgefeilt.

Besson wurde in der 1990er Jahren zugeschrieben, dass er ein Repräsentant des „Cinéma du look“ sei. Diese Definition spiegelt aber weniger einen epochemachenden Kinostil wider, sondern war der Versuch eines französischen Kritikers, gewisse Merkmale in den Arbeiten von Jean-Jacques Beineix („Diva“, 1981), Leos Carax („Les Amants du Pont-Neuf“, 1991, „Holy Motors“, 2012) und eben auch von Luc Besson auf einen Begriff herunterzubrechen. Dabei ging es um das Primat des Stils. Inhalt ist nachrangig, es zählt der „Look“.
Von den drei Genannten ist wohl nur Luc Besson heute größeren Kreisen der Kinogänger bekannt. Das liegt nicht nur an seinen stil- und genreprägenden Filmen wie „Léon – Der Profi“ (1994) oder „Das fünfte Element“ (1997), sondern noch mehr an den von ihm produzierten massenkompatiblen Action-Krachern wie der „Taxi“-Quadrologie (1998-2007) oder der „Transporter“-Trilogie (2005-2008). Sie prägten zuletzt das Bild eines Filmemachers, den man danach voreilig mit „Filmmüll“ assoziieren konnte. Von Besson erwartete man nichts mehr. Möglicherweise war dies zu kurz gesprungen, denn Besson produzierte halt auch
The Three Burials of Melquiades Estrada von Tommy Lee Jones (2005) und den experimentellen „Revolver“ von Guy Ritchie (2005). Nun ist Besson mit überbordender Erzähllust und stilistischer Phantasie zu seinen großen Filmen aus den 1990er Jahren zurückgekehrt.

In „Lucy“ sollte man deshalb nicht bierernst die Plausibilität des Inhalts prüfen. Zum Beispiel den sogenannten „10-Prozent-Mythos“. Er wurde von der modernen Hirnforschung umfassend widerlegt. Besson nutzt die Idee nur als Vehikel, um möglichst schnell zum Kern der Geschichte zu kommen. 
Nach der Freisetzung der neuen Droge entfalten sich in Lucy innerhalb weniger Minuten übermenschliche Fähigkeiten. So wie Neo in „Matrix“ die virtuelle Welt beherrschen lernt und dabei nicht die Bedeutung der Martial Arts vergisst, entwickelt Lucy mit unheimlicher Geschwindigkeit eine perfekte Körperkontrolle, dank derer sie perfekte Nahkampftechniken besitzt und beidhändig schießen kann. Ihre geistigen Fähigkeiten steigern sich ebenfalls exponentiell und während kurze Einblendungen im Film auf den jeweiligen Prozentanteil der freigesetzten Hirnkapazitäten verweisen, lernt die plötzlich hochintelligente Kampfmaschine elektromagnetische Wellen zu kontrollieren, Gangster per Telekinese von der Schwerkraft zu befreien, Gedächtnisengramme in 3-D-Holografie zu transkodieren und ganz nebenbei auch noch die Gedanken anderer zu lesen. Und sie hat ein Ziel: Lucy will die drei anderen Drogenpakete haben und sie will ein Teil ihres Wissens mit Samuel Norman teilen.

Scarlett Johansson muss sich in Bessons Film nicht sonderlich anstrengen, denn Lucy büßt mit zunehmender Geisteskraft unübersehbar menschliche Eigenschaften wie Empathie, Freude und Mitleid ein. So kämpft und schießt sich Scarlett Johansson überwiegend mit unbewegtem Gesicht durch die Hundertschaften von Yakuza-Gangstern, die Mr. Jang ausschickt, um die Drogen zurückzuerobern. Staunen darf dagegen Amr Waked als französischer Cop, der als Sidekick
Lucy nicht groß helfen kann und nur wegen des Comic Relief und der „Erinnerungen“, so Lucy, mit von der Partie ist. 
Grenzenloses Staunen darf auch Morgan Freeman mimen, der sein hypothetisches Evolutionsmodell auf eine Weise bestätigt sieht, das ihm Hören und Sehen vergehen. Leider kommt Freeman über eine Nebenrolle nicht hinaus, macht das Wenige aber in bewährter Manier recht gut.
 

Das finessenreiche Spektakel, das Besson in der letzten halben Stunde des knapp 80-minütigen Films ins Bild setzt, hat man in dieser Form wohl noch nie gesehen. Lucy führt sich die restlichen Drogen per Infusion zu und mutiert von einem Comicgirl zu einem Superwesen, das locker ihren Kollegen Dr. Manhattan aus den „Watchmen“ in den Schatten stellt. Mit der Überwindung von Raum und Zeit ist sie in der Lage, die Raumzeit einzufrieren und mit lockeren Handbewegungen wegzuzappen, während sie entspannt in einem Stuhl sitzt, ins Paris des 19. Jh. reist, dann einer Gruppe berittener Indianer gegenübersitzt und anschließend durch die Jahrmillionen kosmischer Geschichte rast. Die Begegnung mit ihrer vorzeitlichen Namensvetterin, die immer noch trinkend am Gewässer sitzt, stellt Michelangelos berühmten Fresko „Die Erschaffung Adams“ hypersymbolisch nach, ehe Bessons Bilderorgie wie in Terrence Malicks „The Tree of Life“ auf den Urknall zurast, während Lucy dabei locker die 100 %-Marke knackt.

Luc Besson serviert dies spielerisch und mit augenzwinkerndem Witz. Stil vor Inhalt. Dass dabei die „Ich will haben“-Spezies nicht gut davonkommt, ist unübersehbar. Ob die drogeninduzierte Allmacht eines neuen Lichtwesens die probate Alternative ist, sei dahingestellt.
Bemerkenswert ist Bessons clevere Doppel-Strategie: einerseits füttert er das Publikum randvoll mit berserkerhafter Action ab, andererseits irritiert er wohl einige seiner Fans mit offenbar nicht leicht zu verdauenden Themen und einer Bildmontage, die sich virtuos durch die Welten der Wissenschaft und der Kunst, der Literatur und des Kinos bewegt. Arthouse meets Pulp.
Am Ende ist Lucy in etwa das, was sich der deutsche Philosoph G.W.F. Hegel möglicherweise unter dem Weltgeist vorgestellt hat, allerdings präsentiert Besson uns seine philosophische Light-Version des Themas. Lucys letzte Mitteilung an Professor Norman ist die lapidare Beschreibung ihrer Allgegenwart. Die erscheint – natürlich – auf dem Display eines Smartphones. Das ist in etwa eine Pop-Version der pantheistischen Vorstellung eines Geistes, der frei von allen durch Raum und Zeit gesetzten Schranken existiert. Zweifellos eine Eigenschaft Gottes. Das wird Slavoj Žižek wohl große Freude bereiten (2). Oder auch nicht.
 
 

Am Ende also ein mythologischen Treppenwitz. Besson nimmt damit einige todernst gemeinte Vorbilder auf die Schippe und macht aus dem Rätselspiel mit faszinierender Brillanz einen stilistischen Genre-Meilenstein, der atemberaubend ist. Der Film endet nach Lucys letzten überraschenden Offenbarungen über die Natur des Kosmos dann abrupt mit der lapidaren Feststellung aus dem Off: „Vor einer Milliarde Jahren wurde uns das Leben geschenkt. Macht etwas daraus!“
Das hat viele auf die Palme gebracht und natürlich ist diese scheinbar banale Quintessenz etwas spöttisch. Einige Besson-Fans werden wohl sprachlos zurückbleiben, aber eher wegen dem, was sie ganz zum Schluss zu sehen bekommen, wenn der Regisseur ihnen mal eben locker vorführt, dass er sowohl ein „Homme des lettres“ als auch ein Meister des Pulps ist. Schade für die, die nur Bahnhof verstehen.

Luc Besson hat das 40 Mio. $-Budget des Films mittlerweile verzehnfacht. „Lucy“: phantastisches Achterbahn-Kino, das nur wenig Rücksicht auf Logik und Vernunft nimmt. Virtuose erste zehn Minuten: Stilmix und Verzahnung der Themen verblüffen, was den Film allein schon sehenswert macht. Gepflegter wissenschaftlicher Nonsens und anthropologische Skepsis garniert mit grandiosen visuellen Einfällen und phantastischen Visionen. Rotzfrech, aber immer voller Überraschungen. So macht man Filme, die man sich mehr als einmal anschauen wird.

Der Film ist seit Mitte Januar mit unterschiedlichen Alters- und Laufzeitangaben auf DVD (ab 16, 85 min) und Bluray (ab 12, 89 min) erhältlich. Die FSK 12-Fassung soll uncut sein. Die Bluray entspricht der ungekürzten US R-Rated Kinofassung.

Noten: BigDoc, Klawer = 1,5, Melonie = 2, Mr. Mendez = 3

(1) „Assoziationsmontage basiert auf der elementaren Fähigkeit des Menschen, aus signifikativen Bruchstücken höhere Einheiten des Denkens zu synthetisieren: Fügt man Einstellungen aneinander, die keine Handlung gemein haben, keinen gemeinsamen Raum, keine Ähnlichkeit, stellt sich doch der Eindruck eines Zusammenhangs her. Dabei treffen u.U. Bedeutungen aufeinander, die – in Eisensteins Metapher – miteinander kollidieren und dabei Bedeutungsimpulse freisetzen, die zu einem Dritten, Nichtgezeigten voranschreiten“ (Lexikon der Filmbegriffe, 2012).

(2) Slavoj Žižek ist ein Philosoph, der sich mit seinem umstrittenen Buch „Weniger als Nichts“ erneut als profunder Hegel-Kenner präsentiert hat und ebenfalls ein großer Freund des europäischen Kinos ist.

Lucy – Frankreich 2014 – Regie und Buch: Luc Besson – Kamera: Thierry Arbogast – D.: Scarlett Johansson, Morgan Freeman, Choi Min-sik, Amre Waked - Laufzeit: 85/89 Minuten

Donnerstag, 12. März 2015

Predestination

Für Genre-Nerds ist „Predestination“ ein Volltreffer. Der Film der Brüder Michael und Peter Spierig agiert auf Augenhöhe mit Neo-Klassikern des Genres wie „Looper“. Ein sorgfältig inszenierter „Mindfuck“-Film, der den Zuschauer beim Enträtseln vor unlösbare Aufgaben stellt, auch dann, wenn er die Schlusspointe kennt.

Die ungewöhnlichsten Geschichten hört man in der Kneipe. Wir sind im Jahre 1970 in New York. Ethan Hawke steht hinter der Theke und ist der „Barmann“. Ihm gegenüber sitzt John, der sich „The Unmarried Mother“ nennt und von Sarah Snook gespielt wird. Und die ist eine echte Entdeckung mit „Wow“-Effekt. Es geht um eine Flasche Whiskey, die John gewinnen kann, wenn er eine verblüffende Geschichte erzählen kann. Und John legt los: eigentlich sei er ja ein Mädchen, aber als solches hatte er ein hartes Leben, denn Jane, wie er früher hieß, war als Jugendliche wegen ihrer überragenden Intelligenz und ihrer Fähigkeit, sich in Prügeleien zu behaupten, alles anderes als beliebt bei ihren Altersgenossen. Irgendwann wurde sie von einer merkwürdigen Institution namens Space Corps rekrutiert, um ins Weltall zu fliegen. Aber a) wurde sie schwanger und b) von ihrem Lover im wahrsten Sinnes des Wortes sitzen gelassen. Sie fliegt aus dem Programm. 
Nach der Geburt ihres Kindes wird sie von Chirurgen dann ‚korrigiert’ und per Geschlechtsumwandlung in einen Mann verwandelt. Nun schreibt John, der einst Jane war, Bekenntnisgeschichten für anspruchslose Frauen-Magazine und ist alles andere als glücklich. 

Klar, der „Barmann“ verliert die Wette, aber er hat dafür eine ganz andere Geschichte auf Lager. Er schlägt John/Jane vor, dass John/Jane ganz ohne Folgen den treulosen Schuft, den Vater ihres Kindes, töten könne. Sie müsse ihm nur folgen, er würde das schon arrangieren. Und schon reisen beide mit einer kleinen Zeitmaschine für den täglichen Bedarf in die Vergangenheit.


Die Lust an der Verwirrung

Wir sind also mitten drin im temporalen Chaos. Ethan Hawke ist nämlich nicht nur der „Barmann“, sondern auch der „Temporale Agent“. Einen richtigen Namen hat er nicht und wer den Film gesehen hat, weiß auch warum dies so ist und auch halbwegs, warum ihm eine virtuose Portion „Mindfuck“ verabreicht worden ist. Wer die religiöse Bedeutung der Prädestination kennt, ahnt ohnehin, was kommen wird.

Time Travelling gehört zu den beliebtesten Themen in der SF-Literatur und der filmischen Science Fiction. In „X-Men: Days of Future Past“ (2014) soll Wolverine die für die X-Men ziemlich verhängnisvolle Zeitlinie korrigieren. Bryan Singers Film ist eine No-Loop-Story. Ähnlich, aber mit Loops funktioniert titelgebend Rian Johnsons „Looper“ (2012), in dem Kriminelle die Zeitreisen für die Liquidierung unliebsamer Personen nutzen.
Ziemlich viel „Mindfuck“ bekommt man in Duncan Jones’ Klassiker „Source Code“ (2011) geboten, der sich eher am Multiversum-Modell orientiert und dazu einige intelligente Überlegungen anstellt.

Auch in Komödien wird durch die Zeit gereist, etwa in Woody Allens „Midnight in Paris“ (2011) oder in „About Time“ (2013) von Richard Curtis. Dort geht es allerdings um charmantere Fragen als um die gewalttätige Korrektur schlimmer Dinge.
J.J. Abrams hat Zeitreisen und alternative Zeitlinien dagegen aus ganz pragmatischen Gründen genutzt, um in „Star Trek“ (2009) dem konsistenten Trekkie-Universum zu entkommen und die Geschichte ganz neu erfinden zu können.
Selbst im Harry-Potter-Universum konnte Alfonso Cuarón der Versuchung nicht widerstehen. Er verwendete in „Harry Potter and the Prisoner of Azkaban“ eine magische Vorrichtung, den Time-Turner.

Zeitreisen sind also irgendwie unwiderstehlich. Im Kino gibt es sie seit den 1920er Jahren und immer wieder wird gereist, um sich in der Vergangenheit für etwas zu rächen, was in der Zukunft geschehen ist, oder um etwas zu verbessern, was kräftig in die Hose gegangen ist. Überhaupt interessiert sich der fiktive Time Traveller eher für die Vergangenheit als für die Zukunft. Das geht Lesern und Zuschauer ja auch so. Zu groß ist unser Bedürfnis, die eigene Biografie zu verstehen und zu groß ist der Traum, in ihr etwas anders, besser oder ungeschehen zu machen. 

Auch in TV-Serien scheint der Appetit nach entsprechenden Sujets auch nach „Lost“ immer noch nicht gestillt zu sein. Erst wenn man sich anschaut, wie viele Filme und Serien sich direkt oder indirekt mit der lieben Zeit auseinandersetzen, wird man überrascht feststellen, wie viele es tatsächlich sind. 

„Mindfuck“ ist in diesem Erzähluniversum, das seine Gesetze immer wieder neu definiert, kein Subgenre, sondern eine Erzählstrategie, die verschiedene Genres bis hin zum Fantasy kräftig aufmischt: Mindfuck geht zur Not auch ohne Zeitreisen und ist eher an Täuschung (The Sixth Sense, 1999), Desinformation und Identitätsproblemen (Fight Club, 1999) interessiert und legt tückische Fallstricke aus, damit der Zuschauer erst beim zweiten oder dritten Anlauf einsieht, dass er den Trick wohl nie durchschauen wird.


Mehr Erzählkino als Thriller

„Predestination“ ist so ein Mindfuck-Movie. Bemerkenswert ist die Ruhe, mit der Michael und Peter Spierig („Daybreakers“) ihre Geschichte erzählen. „Predestination“ ist eher klassisches Erzählkino als Action, mehr Drama als rasantes Jumpen durch aufwendige Settings. In der ersten halben Stunde gibt es weder knallige Verfolgungsjagden noch sich überschlagende Ereignisse. Die Spierigs nehmen sich Zeit und rollen die Geschichte Janes mit gut sortierten Flashbacks auf, jenen Zeitreisen, die dem Kino ganz legal zur Verfügung stehen und mit denen wir ganz gut klar kommen. Und wenn John/Jane und der Barmann in der Zeit zurückreisen, zeigt sich, dass der geheimnisvolle temporale Agent an jeder einzelnen Station in Janes Leben seine Finger im Spiel hatte. Denn es dreht sich letztendlich alles um den mysteriösen „Fizzle Bomber“. Den gilt es zu fassen, so viel erfahren wir im Prolog, denn im Jahre 1975 wird er Zehntausende töten und danach zu einem der übelsten Terroristen der Gegenwart werden. 


„Predestination“ ist eine sorgfältige Adaption der Kurzgeschichte „-All you Zombies-“, die der SF-Papst der Time Travels geschrieben hat: Robert A. Heinlein. Es ist eine seltsame Geschichte zwischen Hoffnung und Einsamkeit, der Coming-of-Age-Story einer Highschool-Außenseiterin und ihrer Erlösung durch die große Liebe, der dann der Verrat auf dem Fuße folgt. Nicht einmal, nein, das Ganze wiederholt sich als Ende ohne Schrecken, wobei der Verräter eigentlich keiner ist ... es ist wirklich schwer, bei diesem Film nicht zu spoilern.


Etwas darf der Kritiker aber erzählen: „Predestination“ bedient keine Klischees, sondern besitzt erstaunlich viel erzählerische Substanz, auch dank der guten Performance von Sarah Snook und Ethan Hawke. Die Settings der 1970er sind adäquat, auch die Reisen in die 1940er und 1990er Jahre haben den richtigen Look. Was auch für die exzellente Kameraarbeit von Ben Nott gilt, der die verschiedenen Zeitebenen ein wenig so aussehen lässt wie die Filme der jeweiligen Dekade. In „Predestination“ stimmt filmisch also alles. Ob man sich aber an der Nase herumführen lassen will, ist eine andere Frage.


Zeitreisen: Gibt es das denn wirklich?

Natürlich lohnt sich bei derart chaotischen Arrangements ein Blick in die Welt der Physik. Gibt es Zeitreisen? Ja. In „Interstellar“ werden Reisen in die Zukunft recht ordentlich erklärt. Die Relativitätstheorie wird realistisch dargestellt, die Quantenphysik bleibt eher nebulös.
Im Einsteinschen Kosmos sind Zeitreisen in die Vergangenheit aber nicht vorgesehen. Die Physiker streiten sich vielmehr darüber, ob die Zufallsprozesse der Quantenphysik in einen deterministischen Kosmos passen.
 Aber ausgerechnet dieses Konzept, die Grundlage unserer Naturwissenschaften, verärgert die Laien, glauben sie doch, dass der Determinismus ihnen die Willensfreiheit raubt. Denn auch darum geht es in
Predestination".
 

Determinismus und Willesfreiheit

Tatsächlich klauen uns diese die Hirnforscher, aber wir wollen bei diesem ernsten Thema nicht ironisch werden. Willensfreiheit ist keine biologische Instanz, sondern ein kulturelles Derivat, etwas, das auf Vereinbarung basiert. Das bedeutet, dass ungeachtet zukünftiger biologischer Erkenntnisse, die freie Willensentscheidung für uns gültig bleibt, weil wir wollen, dass es so ist und weil dies eine Konstante in unserem sozialen und kulturellen Leben bleiben soll. Auch und besonders deshalb, weil es zu unübersehbaren Folgen führen würde, wenn wir alle das Gegenteil annehmen würden. Außerdem sind wir ‚Personen’, bei denen der Dualismus von Ich und Gehirn von Philosophen immer wieder als Argument herangezogen wird, sich bei näherem Hinsehen aber als Blödsinn entpuppt. Eine freie Willensentscheidung ist das bewusste Erleben des Moments, in dem sich der mentale Vorgang der Entscheidung vollzieht. Es spielt für eine ‚Person’ keine Rolle, ob dafür der nicht weiter lokalisierbare freie Wille oder vorbewusste Instanzen unseres Hirns verantwortlich sind.

Wichtiger an der heiligen deterministischen Kuh der Naturwissenschaftler ist etwas anderes: Determinismus bedeutet Kausalität und damit auch Vorhersagbarkeit der Ereignisse. Wenn man alle Fakten kennt, dann könnte man wie der berühmte Laplacesche Dämon genau wissen, wie die Zukunft aussieht. Wir könnten an dieser Timeline nichts ändern und auch das Wissen um die Unausweichlichkeit des Geschehens würde nichts ändern, da es von Anbeginn Teil des Prozesses gewesen ist.
Mit diesem Thema beschäftigen sich nicht nur die Physiker, sondern auch die Philosophen, unter ihnen besonders die Logikexperten und Ontologen. Wenn wir also Ethan Hawke in „Predestination“ bei seinen Bemühungen sehen, sollte man schon wissen, was das „Großvaterparadox“ ist und warum es Fälle der sogenannten Prädestinationsparadoxie gibt, in denen es gerade die Korrekturen der Vergangenheit sind, die dafür sorgen, dass alles so abläuft, wie es bereits schon einmal abgelaufen ist. Wissen tun wir’s aber nicht, da es nur wenige kluge Köpfe gibt, die in beiden Wissensgebieten sattelfest sind. Was man übrigens daran erkennt, dass man kein Wort versteht.

Keine schöne Vorstellung, der Determinismus. Aber er wird zäh von den meisten Physikern verteidigt, auch weil sie sonst nicht mehr viel zu erzählen hätten. Und da Physiker ohnehin einen vom Normalsterblichen abweichende Vorstellung von Zeit haben (die es eigentlich gar nicht gibt), haben einige von ihnen sogar die Vorstellung entwickelt, dass die Raumzeit als Summe aller räumlichen und zeitlichen Ereignisse bereits wie ein eingefrorener Block existiert. Deswegen heißt dieses Modell auch Block-Universum. Nur der Laplacesche Dämon wüsste in diesem deprimierenden Kosmos, was er als Nächstes tun wird – und würde prompt etwas anderes machen. Aber das ist kein Trost für uns als freiheitsliebende Spezies. Alles nur eine Illusion?


Für Zeitreisen fehlt uns der Sprit im Tank

Eins scheint für die Experten aber festzustehen: Zeitreisen in die Vergangenheit sind in diesem Universum nicht möglich, zum einen aus thermodynamischen Gründen, zum anderen, weil sie zu Paradoxien führen und schließlich auch, weil sie mehr Energie benötigen würden als im uns bekannten Universum vorhanden ist.
Wieso paradox? Nun, man kann sich als Lebensmüder zwar vorstellen, dass man in die Vergangenheit reist, um seinen Großvater umzubringen, damit dieser nicht den eigenen Vater zeugen kann, aber erstens kann man ja gleich seinen Vater umbringen und zweitens würde man aus der Zeitlinie verschwinden, da man nicht existiert und daher auch keine Zeitreise unternehmen kann. Allerdings würde dann der Großvater den Vater zeugen und den Rest kennen wir - so funktioniert das
Großvaterparadoxon"! 
Es gibt auch weitere Effekte. Normalerweise führt das Ereignis 1 zwangläufig zum Ereignis 2. Ursache und Wirkung können durch Zeitreisende aber quasi auf den Kopf gestellt werden. Sie werden von merkwürdigen Barmännern" so manipuliert, dass gelegentlich die Wirkung der Ursache vorausgeht (die sogenannte Rückwärtskausalität).
Genau das geschieht in „Predestination“. Und das ist eine Verletzung des Kausalitätsprinzips, und weil das Ganze wie in vielen Time Travel-Geschichten häufig in einem Loop landet, einer Endlosschleife, weiß man nie, wer zuerst da war: die Henne oder das Ei. Logiker sprechen hier von einer kausalen Schleife, in der zwar die Ereignisse ihre Ursachen haben, aber die Schleife als Ganzes eben keine. So, und das ist die Grundlage der meisten „Mindfuck“-Geschichten.

In „Predestination“ wird – und das ist durchaus komisch – noch der Hahn als dritte Instanz eingeführt, aber verständlicher macht es das Ganze nicht. Diese Geschichten sind kein Abbild physikalischer Prozesse, sondern halt narrative Modelle. Im „Mindfuck“-Film kann man sich anstrengen, um die logischen Sollbruchstellen zu entdecken, aber in der Regel scheitert man daran, wenn man nicht einige Bögen Papier mit komplizierten Ablaufskizzen vorkritzelt. Und auch dann raucht der Kopf, weil der Geschichtenerzähler jederzeit seine Hauptfigur mit der Zeitmaschine an einen Ort in der Vergangenheit zurückschicken kann, wo er seine eigene Identität und die anderer manipulieren kann.
Also bitte nicht spekulieren und sich abquälen: Man kann Poesie nicht mit mathematischen Modellen abbilden. Umgekehrt geht’s auch nicht. Und einem Film, in dem ein allgewaltiger Erzähler die Herrschaft über den Erzählraum übernommen hat, ist mit Logik sowieso nicht beizukommen.
 

„Predestination“ ist eher eine konservative Variante dieses Genres. Die Hauptfigur (Singular!) macht zwar eine verstörende Entdeckung, aber letztlich läuft alles darauf hinaus, dass die Dinge geschehen wie sie geschehen sollen. 

Eigentlich schade, denn viel faszinierender wäre es, wenn es tatsächlich ganz anders kommt. Aber damit plagt sich der gestandene „Mindfucker“ nicht ab. Sein Ziel ist es, den Zuschauer über das Limit zu heben, denn irgendwann verliert jeder sich in der Kreuz- und Wechselbeziehungen der Zeitlinien. Aber der finale Plot-Twist, dem dann häufig noch ein weiterer folgt, ist zwar hübsch anzusehen, restlos befriedigen kann das aber nicht, denn zur Kunst des Geschichtenerzählens gehört, dass sie verstanden werden können. Oder?
„Mindfuck“-Filmemacher wollen das nicht. Ihre Filme sind komplizierter als Einsteins Relativitätstheorie und abgebrühter als die Quantenphysik. Es kann sogar noch schlimmer kommen: Man muss sich nur noch vorstellen, dass man in einer Zeitreise in einem Parallel-Universum landet. Wo befindet man sich dann aber nach der Rückkehr? Und was bedeutet Rückkehr, wenn es im Kern eigentlich nicht einmal eine Gegenwart gibt, sondern gleich mehrere?

Mit anderen Worten: Mir reicht es. Das Kino selbst ist bereits eine wunderbare Zeitreise. Mehr brauchen wir nicht. Aber nett anzuschauen ist „Predestination“ allemal. Allerdings sollte man sich nie mit einem Barmann auf eine Wette einlassen.

Predestination – Australien 2014 – Regie, Buch: Michael und Peter Spierig – Laufzeit: 94 Minuten – FSK 12 – D.: Ethan Hawke, Sarah Snook, Noah Taylor.