Samstag, 21. März 2015

Stonehearst Asylum

In bester „Haunted House“-Manier setzt Regisseur Brad Anderson in „Stonehearst Asylum – Diese Mauern wirst du nie verlassen“ auf nostalgische Gruseleffekte. Doch auf den Besucher warten nicht Gespenster, sondern Irre. Wer allerdings wahnsinnig ist und wer nicht, muss erst noch herausgefunden werden.
 
Inmitten dunkler und nebelgeschwängerter Wälder liegt ein Schloss, das Stonehearst Asylum. Die morbide Architektur mit ihren endlosen labyrinthischen Gängen erscheint genauso unheilvoll wie die knarzenden Dielen und die unheimlichen Geräusche, die nächstens aus den Kellerverliesen nach oben drängen. Doch noch angsteinflößender sind die Bewohner von Stonehearst. 

In Edgar Allen Poes Kurzgeschichte „The System of Doctor Tarr and Professor Fether“ muss der Besucher einer Irrenanstalt entsetzt feststellen, dass die Patienten die Macht an sich gerissen haben. Mehr noch: die Insassen haben die alten Behandlungsmethoden über Bord geworfen und durch humanere ersetzt.
Die Enthüllung des „Systems“ – ein Schock und ein genüsslicher Tabubruch, besonders in der amerikanischen Literatur des 19. Jh. Dort wurde nicht nur in der seriösen Belletristik, sondern auch in der aufkommenden Horrorliteratur über den Wahnsinn geschrieben. Ein attraktives Thema, war doch das von der Romantik entworfene Bild des Künstlers als gesellschaftlicher Außenseiter nicht weit dem des normverletzenden Geisteskranken entfernt, leben beide doch eher auf der Schattenseite der etablierten Vernunft. Edgar Allen Poe (1809-1849) hat dies gewusst und offenbar besser verstanden als andere – ein Schriftsteller zwischen Poesie und tougher Genrekost, in der Poe exemplarisch vorführte, wie man Leser in Angst und Schrecken versetzt. Die titelgebend Short Story gehört zu seinen weniger bekannten, aber der amerikanische Pionier der Schauerliteratur wusste lange vor den Erfindung des Kinos, was schockierende Plot Points und furchterregende Final Twists sind. Heutzutage wird dies immer schwerer.


Psychiatrie des Grauens

In Brad Andersons Adaption der Poe-Geschichte ahnt der Zuschauer nämlich bereits nach wenigen Minuten, was für ein Geheimnis im Stonehearst Asylum gehütet wird. Dazu muss man die Poe-Geschichte nicht kennen, die Hinweise sind unübersehbar. Der Protagonist der Geschichte ist da deutlich naiver.

Der junge Arzt Edward Newgate (Jim Sturgess) besucht im Jahre 1899 Stonehearst, um die Methoden der Anstalt zu studieren. Geleitet wird sie von Dr. Silas Lamb (Ben Kingsley) und der zeigt sich über die Ankunft eines potentiellen Assistentsarztes erfreut und demonstriert dem Besucher das Leben in der reformierten Einrichtung: alle Patienten bewegen sich zur Verblüffung des Besuchers ungezwungen und frei, sie sind weder fixiert noch mit Drogen ruhiggestellt. Lamb ist zwar skeptisch, was die Heilungschancen betrifft, glaubt aber, dass man den Irren lediglich ihre Würde zurückgeben muss, um sie gesellschaftlich einigermaßen zu rehabilitieren. Newgate ist irritiert und überrascht, zeigt sich aber besonders fasziniert von der „Hysterikerin“ Eliza Graves (Kate Beckinsale), die am Klavier alle verzaubert. Alles wäre schön und gut, wäre da nicht der Hausverwalter Mickey Finn (David Thewlis), dessen ungehobeltes und rüdes Auftreten von Dr. Lamb nur selten in die Schranken gewiesen wird. Etwas stimmt nicht in Stonehearst.


Brad Anderson gehörte vor zwanzig Jahren zu den großen Hoffnungsträgern der Unabhängigen US-Kinos. „The Machinist“ (2004) wurde von der Kritik zu Recht positiv aufgenommen. Späteren Filmen Andersons fehlte dagegen trotz guter Ansätze der letzte Biss, etwa „Transsiberian“ (2008). Stimmung und Atmosphäre gehören allerdings zu den Stärken des Regisseurs und Drehbuchautors. Auch „Die Herrschaft der Schatten“ (Vanishing on 7th Street, 2011) lebte mehr von der Bildästhetik als von der Qualität des Scripts, Anderson spielt gelegentlich ein wenig zu selbstverliebt mit bekannten Genremustern herum. Mittlerweile ist der Regisseur endgültig im Mid-Budget-Bereich angekommen. „The Call“ (2013) wurde mit 13 Mio. Dollar produziert, spielte trotz mäßiger Resonanz bei der Kritik immerhin das Fünffache ein. „Stonehearst Asylum“ lief dagegen nur in wenigen US-Kinos und ist in Deutschland sofort in die Direct-to-DVD-Vermarktung gerutscht, obwohl Brad Anderson es erneut geschafft hat, mit Kate Beckinsale, Jim Sturgess, Ben Kingsley, Michael Caine und Brendan Gleeson eine illustre Darstellerriege um sich zu scharen.
 

Auch in „Stonehearst Asylum“ zeigt Andersons ein Händchen für gutes Production Design, passenden Look und konventionelle, aber bewährte Strickmuster. In der ersten halben Stunde wirkt der Film aber ein wenig wie eine Travestie, so dick wird die Gothic-Ästhetik aufgetragen, zu sehr erinnert der Film an Kinogeschichten der 1960er und 1970er Jahre. Allerdings rettet die Substanz der literarischen Vorlage den Film vor dem Verdacht, lediglich handwerklich beeindruckende Dutzendware abzuliefern.

Als Newgate das Geheimnis von Stonehearst entdeckt, erfährt er nämlich Ungeheuerliches: der echte Anstaltsleiter Dr. Benjamin Salt (Michael Caine), der mit seinem eingesperrten Personal in ranzigen Kellerverliesen vegetiert, hat mit seinen barbarischen Behandlungsmethoden einen durchaus moralisch folgerichtigen Anteil an seiner drakonischen Bestrafung: morphininduziertes Koma, Sturzbäder mit eiskaltem Wasser, der Einsatz eines Drehstuhls bis zum völligen Zusammenbruch sind hingegen nicht einem kranken Hirn entsprungen, sondern waren in der Psychiatrie des 19. Jh. verbreitete Standardverfahren bei der Behandlung von Geisteskranken. Beinahe logisch erscheint es da, dass ein Wahnsinniger bessere Ergebnisse erzielt: unter dem Regime von Silas Lamb wirken die Irren wie verwandelt. Statt katatonischer Starre aktive Teilnahme, statt Folter nunmehr Heiterkeit.


Zwischen Grusel und historischer Anamnese

Ben Kingsley spielt den ‚Anstaltsleiter‘ wie in Scorseses „Shutter Island“ nicht nur mit gewohnt guter Routine, sondern brilliert streckenweise sogar als traumatisierter Ex-Militärarzt, der erlebte Kriegsgräuel mit einer Verzweiflungstat beantwortete und danach dem Wahnsinn verfiel. Dass sein humanitäres Konzept am Ende zur Anwendung ‚moderner‘, aber nicht weniger grauenhafter Behandlungsmethoden wie dem Elektroschock führt, ist eine intelligente Plotwendung, die durchaus als sarkastischer Kommentar zur Geschichte der Psychiatrie gelesen werden kann. 

Jim Sturgess spielt den jungen Arzt als zaudernden und mit geringem Selbstbewusstsein ausgestatteten Anti-Helden, der sich umgehend in die „Hysterikerin“ Eliza Graves verliebt, dabei allerdings von Kate Beckinsales differenzierter Studie einer Angstkranken glatt an die Wand gespielt wird. 
Michael Caine als distinguierter Irrenarzt verkörpert den beruflich bedingten Sadismus seiner Rolle mit gewohnt doppelbödiger Eleganz, während Brendan Gleesons Nebenrolle als „Alienist“ (veraltete Bezeichnung für Irrenarzt) im Prolog zeigt, wie sich medizinische Vorlesungen im viktorianischen England in eine empathiefreie Freakshow verwandeln.


„Stonehearst Asylum – Diese Mauern wirst du nie verlassen“ ist sorgfältig komponiertes und entschieden konventionelles Kino, das sich zwischen altbekanntem Grusel und reflektierter historischer Anamnese verortet. Wer beim Fazit „gepflegter Durchschnitt“ voreilig den Daumen senkt, verpasst einen unterhaltsamen und durchdachten Genrefilm, exzellente Darsteller und eine angenehm altmodische Betulichkeit, die nicht mehr ganz ins moderne Erzählkino zu passen scheint, aber alles andere als langweilig ist. Dass der u.a. von Mel Gibson produzierte Film nach all den Schrecken am Ende noch einen unerwarteten Plot Twist und ein versöhnliches Ende zu bieten hat, ist kein narrativer Trick. Anderson zeigt lediglich, dass angesichts des alltäglichen Wahns die Definition des Normalen unter Umständen nicht ganz leicht fallen wird.


Noten: BigDoc =2,5


„Stonehearst Asylum – Diese Mauern wirst du nie verlassen“ (Stonehearst Asylum) – USA 2014 – Regie: Brad Anderson – Laufzeit: 112 Minuten – FSK 16 – D.: Kate Beckinsale, Jim Sturgess, Ben Kingsley, Michael Caine, Brendan Gleeson, David Thewlis