Mittwoch, 10. November 2010

Harry Brown


GB 2009, Originaltitel: Harry Brown Regie: Daniel Barber Drehbuch: Gary Young Darsteller: Michael Caine, Emily Mortimer, David Bradley, Charlie Creed-Miles, Ben Drew, Liz Daniels.
 

Vigilanten-Movies leben davon, dass die Bösewichter und Übertäter auf fast transzendentale Weise zur Verkörperung des Bösen schlechthin werden. Daniel Barber lässt in seinem ersten Spielfilm in dieser Hinsicht nichts anbrennen. Diesmal sind es britische Jugendgangs, die satanisch unter einer wehrlosen Bevölkerung wüten.
Gleich am Anfang wird in typischer Handy-Wackel-Ästhetik die brutale Initiation eines Jugendlichen vorgeführt, die in der Just-for-Fun-Ermordung einer jungen Mutter gipfelt. Auch sonst lässt sich Barber nicht lumpen, wenn er zeigt, was in der Londoner Plattenbausiedlung Heygate Estate tagtäglich abgeht: Drogen- und Waffenhandel, Schlägereien und brutale Gewaltexzesse, zügelloser Sex und die völlige Abwesenheit moralischer und sozialer Essentials. Wer oder was für den extremen Grad an Verkommenheit verantwortlich ist, wird nicht thematisiert: wie in John Carpenters Assault on Precinct 13 ist das Übel einfach da und ständig gegenwärtig.
Dass ausgerechnet in diesem Vorhof der Hölle der Royal-Marines-Veteran Harry Brown (Michael Caine) seinen Lebensabend verbringen muss, wirkt zwar nicht gerade sehr glaubwürdig, aber egal: der wegen eines Lungenemphysems eigentlich zu wackelige Nord Irland-Veteran muss ran, um dem Bösen die Stirn zu bieten.
 

Kampf gegen das absolut Böse
Heygate Estate liegt im Londoner Vorort Walworth, der auf einen gewissen Ruf in Hinblick auf kriminelle Traditionen besitzt: die wuchtige und trostlose Betonklotz-Architektur ist schon lange eine beliebtes Ziel bei Filmteams. Immer wenn es darum, die finsteren Bedingungen der britischen Unterschicht, der Transferempfänger, der Dealer und Junkies auf einen vertrauten ästhetischen Look herunterzubrechen, finden die Dreharbeiten in Heygate Estate statt. Und wenn es dort nicht klappt, geht man woanders hin und nennt den Schauplatz anschließend Heygate Estate.
Brown, dessen Frau im Krankenhaus im Koma liegt, verbringt seine freie Zeit in einem Pub, wo er mit seinem Freund Leonard Schach spielt. Als seine Frau stirbt und wenig später seiner Freund von einer Gang brutal ermordet wird, wird der Veteran auf dem nächtlichen Heimweg überfallen. Brown tötet den Angreifer mit dessen eigenem Messer und stellt dabei verblüfft fest, dass sein Nahkampf-Drill offenbar immer noch sitzt. Diese Erfahrung ist ein Wendepunkt: Brown will sich bewaffnen und muss dazu in die Tiefen der Unterwelt hinabsteigen.


Daniel Barber nimmt sich Zeit, um seine Hauptfigur aufzubauen: er zeigt sorgfältig das triste Milieu, die ständig in der Luft liegende Gewalt, die Harry und seinen Freund deprimieren, aber er zeigt auch die Zerbrechlichkeit und zunehmende Vereinsamung seines Helden. Den menschlichen Trash, den die Jugendbanden repräsentieren, baut er gleichzeitig in ruppigen Szenen zur Verkörperung des absolut Bösen auf: Noel, der Gangleader, darf nach einer Verhaftung die verhörenden Polizeibeamten aufs Übelste beschimpfen und bedrohen, ohne dass die Folgen hat. Die Polizei, so Barber, kann nur noch ohnmächtig Phrasen dreschen, hat aber längst die Kontrolle verloren und beschränkt sich darauf, die Leichen einzusammeln und zu katalogisieren. Nur die junge DI Alice Frampton (Emily Mortimer) will sich ernsthaft auf Ermittlungen einlassen, wird aber eher von Ihren Vorgesetzten behindert als unterstützt. Und als Harry zu seinem Ein-Mann-Rachefeldzug aufbricht, ahnt die als Erste die Zusammenhänge.
 

Gute Darsteller, stilsicher, aber konventioneller Racheplot
„Harry Brown“ funktioniert also durchaus im Rahmen der Vigilanten-Movies à la „Death Wish“ und „Death Sentence“ (James Wan, 2007), die in mittlerweile völlig vorhersehbarer Weise die Selbstjustiz als letztes Residuum bürgerlicher Notwehr zelebrieren, ohne dabei die inneren Gesetze des Genres in ihren psychologischen und gesellschaftlichen Dimensionen zu erfassen. Eastwoods „Gran Torino“ und selbst der nicht gerne gelittene „The brave One“ (Die Fremde in dir, Neil Jordan, 2007) wirken im Vergleich dazu wie sorgfältig austarierte Sozialdramen.
Barber, der keineswegs einen schlechten Film gemacht hat, setzt dagegen auf biblischen Zorn und massive Vergeltung. Brown, der von Michael Caine mit souveräner Kraft gespielt wird, findet zunehmend eine tiefe Befriedigung bei dem, was er tut. Sein genau geplanter Amoklauf beginnt mit der Ermordung zweier jugendlicher Waffenhändler, die sich während des Verkaufsgesprächs genüsslich ihre letzte Vergewaltigung als Video anschauen, während das Opfer im Drogenrausch auf dem Sofa vor sich hin röchelt. Klar, dieser Abschaum muss weg und Harry erledigt den Job mit der spürbaren Zufriedenheit eines Profis, der einem der beiden nach einem letalen Bauchschuss in aller Ruhe erklärt, welche Fehler er zuvor begangen hat.
Auch danach ist Harry nur noch schwer zu bremsen: er foltert und liquidiert Gangmitglieder, bis ihm kurz vor dem brutalen Show-down ein wenig die Puste ausgeht. Draußen auf den nächtlichen Straßen tobt bereits der Bürgerkrieg zwischen dem bewaffneten Mob und der als auffallend hilflos dargestellten Polizei-Streitkräfte – eine durchaus sehr demagogische Szene, die in ihrer Instrumentalisierung des Plots nur eine von vielen versteckten Suggestionen und Legitimierungsversuchen Barbers ist.
Später, als die Bösewichter tot im Dreck liegen, rühmt sich die örtliche Polizei ob ihrer gewieften Polizeimethoden und leugnet alle Verdachtsmomente über Selbstjustiz in Heygate Estate. Am Ende geht Harry wieder durch sein Viertel. Der Zuschauer weiß nun, wie man dem Bösen beikommt.
 

„Harry Brown“ ist zweifellos sehr stilsicher inszeniert. Barber gelingt es, mit zunehmender Präzision, die zunächst noch recht unverfänglichen Außenansichten systematisch zu dekonstruieren: je tiefer Harry herabsteigt, desto mehr verwandeln sich die Architektur, die Straßen und Häuser in Innenansichten der Fäulnis. Hier spiegelt sich das Innere im Äußeren und umgekehrt. Auch die darstellerischen Leistungen sind bis in die Nebenrollen über jeden Verdacht erhaben, Caine zeigt alle Facetten und Finessen und gibt seine Figur nicht als omnipotenten Racheengel, sondern als verletzlichen alten Mann, der lediglich das tut, was er kann und was er gelernt hat: Menschen töten.
Letztlich funktioniert auch "Harry Brown" nach einem soliden und äußerst wirkungsvollen Schema: er zeigt uns animalische Bestien, die mit allen Mitteln beiseite geschafft werden müssen. Und er deutet an, dass die Zivilgesellschaft, ähnlich wie in "The brave One", Selbstjustiz tolerieren muss. In seiner brutalen Durchdeklinierung dieses Sujets liefert Barber jedoch keinen Beitrag ab, der etwas Neues zu sagen hat.
Noten: Mr. Mendez = 4, Klawer = 4, BigDoc = 3

Freitag, 17. September 2010

Moon


Großbritannien 2009 - Regie: Duncan Jones - Darsteller: Sam Rockwell, Dominique McElligott, Kaya Scodelario, Benedict Wong, Matt Berry, Malcolm Stewart, Adrienne Shaw, Rosie Shaw, Matt Berry, Robin Chalk - FSK: ab 12 - Länge: 97 min.

Als Rutger Hauer am Ende von Blade Runner seinen Rachefeldzug beendet und seinen unerbittlichen Verfolger am Leben lässt, schafft dies auch den nötigen Erzählraum für eine der schönsten Szenen des Sci-Fi-Genres: während der Regen an ihm herunterläuft, ziehen Bilder an dem sterbenden Replikanten vorbei, die nicht nur der von Harrison Ford gespielte Blade Runner noch nie gesehen hat. Auch der Zuschauer kann sich bestenfalls ahnungsvoll ein Bild von dem Unerhörten machen, dass in den Tiefen des Alls wartet. Es sind seltsam schöne Bilder, an die der Replikant sich erinnert, Bilder, in denen eine singuläre sinnliche Fülle gespeichert ist, für die es im Kantschen Sinne keine apriorischen Begriffe gibt.

Ridley Scott gelang ein buchstäblich billiger Effekt mit großer Tiefenwirkung. Obwohl seine Replikanten mit verkürzter Lebensdauer und künstlichen Erinnerungsimplantaten ausgestattet sind, erwerben sie etwas, was man auch ohne tiefschürfenden philosophischen Diskurs sofort versteht: die künstlichen Wesen sind vielleicht keine Menschen, aber ihr ästhetisches Urteil ist im Gegensatz zu Kant keineswegs interesselos, sondern steht ein für das, was ihre emotionale Identität ausmacht. Sie sind Personen.
Blade Runner hat die Topologie des Genres auf erstaunliche Weise erweitert und so konsequent durchdekliniert, dass viele Sci-Fi-Filme, die in den Jahren nach 1982 erschienen, wie thematische Trittbrettfahrer aussehen. Auch Moon ist da keinen Deut anders.

Widergänger
Die Erde kann ihren hohen Energiebedarf nur mit dem auf dem Mond abgebauten Helium-3 befriedigen (Schätzings Limit lässt grüßen). Für die Überwachung des Abbau- und Transportwesens ist der recht einsame Astronaut Sam Bell (Sam Rockwell) zuständig. Er ist allein auf der Station und sein einziger Partner ist der mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Roboter GERTY (in der Originalfassung spricht er mit der Stimme von Kevin Spacey). Nachdem Bell, der zunehmend unter Halluzinationen leidet, während einer Routinefahrt zu einer der Erntemaschinen einen Unfall baut, wacht er fast unbeschadet in der Krankenstation der Basis auf und wundert sich, dass ihm GERTY nicht mehr gestattet, an die Oberfläche zurückzukehren. Doch Bell gelingt es, den Roboter zu überlisten. Am Unfallort erwartet ihn jedoch eine Überraschung, denn in dem havarierten Mondfahrzeug liegt immer noch der verunglückte Astronaut, der den Crash überlebt hat. Es ist Sam Bell.

Duncan Jones’ erster Spielfilm ist alles andere als originell. Man ahnt schnell, dass in Moon das Genre variiert wird: der profitorientierte Konzern ist selbstredend amoralisch (Alien) und hält auf der Mondstation in einer verborgenen Kältekammer im Dutzendpack Klone bereit, die nach der Terminierung verbrauchter Exemplare „geweckt“ werden; der Roboter mit dem samtweichen Stimme ist ein empathischer und damit kerngesunder Antipode des paranoiden HAL (2001 – A Space Odyssee), der spartanische Ein-Mann-Plot erinnert an Silent Running (Douglas Trumbull, 1972) und die existenzialistische Grenzsituation, in der sich beide Klone rasch wiederfinden, deutet Qualitäten an, die allerdings nicht ganz an die Lem’schen Visionen heranreichen (Solaris). Alles ist eine Nummer kleiner, aber dennoch kann Moon unter dem Strich überzeugen, weil Jones seiner filmischen Fingerübung eine schlüssige und kompakte Erwählweise verordnet, die ohne großes Abschweifen Schritt für Schritt und Szene für Szene die Klone an die unvermeidliche Konfrontation mit ihren Schöpfern heranführt.
Getragen wird der konzentrierte Film durch die außergewöhnliche darstellerische Leistung Sam Rockwells (Frost/Nixon), der eher als veranlagter Supporting Actor gilt und in Moon eine Zwei-Mann-Show hinlegt, die den Film zu einem spektakulären Event macht. Wenn Männer sich kurz vor dem dramatischen Ende fast liebevoll und tief bewegt eine gemeinsame Episode aus ihrer Vergangenheit erzählen, wissen beide, dass sie lediglich ein identisches Gedächtnisimplantat abrufen, dass sie faktisch nie erlebt haben. Zweifel an der Berechtigung ihrer Gefühle kommen jedoch nicht auf.
Was die Bells sich am Ende ausdenken, um dem bösartigen Konzern die Leviten zu lesen, soll hier nicht verraten werden. Dass sich GERTY auf die Seite der Missbrauchten schlägt, darf allerdings erwähnt werden, denn eine große Überraschung ist es nicht. Dass Duncan Jones schlussendlich einige Eulen nach Athen trägt, in dem er Bell zu Gerty sagen lässt „We are persons!“ wirkt indes wie intellektuelle Nothilfe, die auch schlichtere Gemüter kaum benötigen werden.
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass man Moon besser nicht systemkritische Aussagen unterstellt. Das Sujet des gewinngeilen Konzerns, der buchstäblich über Leichen geht, ist ein Topos im wahrsten Sinne des Wortes, ein locus communis, ein Gemeinplatz, dem durch ständige Widerholung die kritische Schärfe abhandengekommen ist. Jedenfalls dann, wenn man wie der Rezensent vier Jahrzehnte Kinoerfahrung auf dem Buckel hat. Dagegen spricht allerdings die  Erfahrung, dass die Realität derartige Behauptungen heutzutage mühelos übertreffen kann.

Anmerkung: Besprochen wurde die englischsprachige GB-Bluray, die besonders bei den Außenaufnahmen durch glasklare Detailfreudigkeit besticht. Da der überwiegende Teil der Handlung im blendendem Weiß der fast steril wirkenden Raumstation spielt, kann das Medium Bluray nicht immer seine Qualitäten ausspielen. Zur DVD sollte man aber nur greifen, wenn diese die gleiche Ausstattung aufweist - und dazu gehört Jones' interessanter Kurzfilm Whistle aus dem Jahre 2002. Der 28-minütige Kurzfilm ist eine sehenswerte Stilübung. Jones erzählt vom Familienleben eines Auftragsmörders, dem weniger ein Missgeschick zum Verhängnis wird als vielmehr die Tatsache, dass seine Frau seine Auffassung von Professionalität teilt. Ein bitter-böser Plot Twist beendet die nicht immer rund erzählte Geschichte, die immerhin zeigt, dass ihr Macher schon damals ein unübersehbares Interesse an klassischen Genres hatte. 
Angeblich plant Duncan Jones eine Moon-Trilogie. Spannend wird es allemal, besonders wenn man das Gefühl hat, dass Duncan seine Geschichte eigentlich auf den Punkt "auserzählt" hat.

Noten: BigDoc = 2,5 

Sonntag, 12. September 2010

DVD- Review: Legend Diary - Gregory Peck / James Stewart


Etwas hat der Filmfreund in der letzten beiden Jahren gelernt: DVDs, die teurer als € 10,- sind, gelten als anrüchig. Diese Regel kann mittlerweile als Naturkonstante verlässliche Gültigkeit beanspruchen und verdankt sich wohl dem enormen Preisdruck, der durch die technisch überlegene Bluray ausgeübt wird.
Diese wurde nämlich in den beiden letzten Jahren ebenfalls deutlich preiswerter, was nicht nur für die immer noch relativ teuren Erstveröffentlichungen gilt, sondern mehr noch für die Schnäppchen. Nennen wir einfach mal ein Beispiel: der Online-Anbieter AMAZON führt über 600 Bluray-Titel auf, die € 10,- oder weniger kosten.
In diesem Markt DVDs zu platzieren, ist nicht einfacher geworden, auch wenn Millionen Haushalte garantiert noch keinen Bluray-Player besitzen. Besonders schwierig dürfte es sein, so ahnt man ziemlich skeptisch, technisch angestaubte Filmklassiker in einen Box-Set zu packen und gutes Geld für Filme zu kassieren, die möglicherweise in ein paar Jahren sorgfältig restauriert und mit exzellenten Extras versehen zu einem interessanten Preis als Bluray angeboten werden.
Und genau das hat SONY vor vier Jahren versucht. Unter dem Titel Legend Diary veröffentlichte  der Mediengigant die vermeintlich besten Filme von Gregory Peck, Anthony Quinn, James Stewart, Walter Matthau, William Holden, Alec Guinness, Rita Hayworth und Gary Grant und warf sie im Preissegment 40 – 75 Euro auf den Markt. Je nach Zusammensetzung der Box musste der Sammler 6 – 9 Euro pro Film berappen, wobei sich Geduld rechnete, denn der geschulte Schnäppchenjäger fand bald darauf einige der teuren Boxen für € 9,95 in der Resteecke wieder. Ein Preis von weniger als € 2,- pro Film ist auch bei fallenden Preisen spektakulär und Grund genug, um sich zwei Boxen einmal gründlicher anzuschauen: die Gregory Peck- und die James Stewart-Box.

Ausstattung
Alle Boxen werden im Pappschuber geliefert, aus dem man eine hochwertige aufklappbare Box im Buchformat zieht, die der jeweiligen DVD links ein Bild des deutschen Original-Filmplakats sowie einige Szenenfotos hinzufügt. Das sieht nicht nur gut aus, es ist auch stabil und liebevoll gemacht und somit sammeln beide Box-Sets hier ihren ersten fetten Pluspunkt.

Inhalt Legend Diary - Gregory Peck
Best of ist immer heikel, besonders dann, wenn man für einen richtigen Kracher keine Lizenz besitzt. Ist das auch bei Legend Diary der Fall? Schauen wir uns das mal näher an.
In der Gregory Peck-Box sucht man das Justizdrama Wer die Nachtigall stört vergeblich, also den Film, für den einer der größten Hollywood-Stars der 40er, 50er und 60er einen Oskar erhielt. Überhaupt werden die 50er und 60er links liegen gelassen, also keine Hitchcock-Klassiker und auch nicht John Houstons Moby Dick.

Der Rest aber kann sich sehen lassen: J. Lee Thompsons Die Kanonen von Navarone (The Guns of Navarone, 1960) ist ein stilprägender Klassiker des Kriegsfilms, der in direkter Linie zu Tarantinos Inglorious Basterds führt: ein Team aus Spezialisten kämpft hinter den feindlichen Linien für eine gute Sache – hart, humorlos und auch heute noch spannend anzuschauen, definierte der Film ein Subgenre, das besonders in den 60zigern sehr populär war.

Eine echte Entdeckung ist das weitgehend unbekannt gebliebene Drama Deine Zeit ist um (Behold a Pale Horse, 1963) von Fred Zinnemann. Obwohl Peck einen alt gewordenen Guerillakämpfer aus dem Spanischen Bürgerkrieg ganz in Sinne seine Images durchaus überzeugend als aufrechten, etwas kantigen, aber integren Mann spielt, ist dieser Film wohl eher eine Entdeckung für Zinnemann-Fans und –Kritiker. Für mich war es ziemlich spannend zu sehen, wie Zinnemann den mit Anthony Quinn und Omar Sharif auch in den Nebenrollen gut besetzten Film auf radikale Weise entpolitisierte und in ein existenzialistisches Seelendrama verwandelte, in dem nicht ein einziges Mal das Wort „Spanischer Faschismus“ fällt. Besonders das Ringen des von Sharif gespielten Priesters zwischen moralischer Verantwortung und Treue gegenüber der Obrigkeit wirkt fast 50 Jahre später altbacken und lebensfremd. Für alle, die nur 12 Uhr Mittags kennen, aber auch für jene, die Zinnemann nie so recht über Weg getraut haben, ist dieser  technisch exzellent gemasterte Film sicher ein Muss. Alle, die noch Alain Resnais’ Meisterwerk La guerre est finie im Kopf haben, werden eben diesen wohl lange schütteln.

Geradezu stinklangweilig kommt zunächst Verschollen im Weltall (Marooned, 1969) von John Sturges daher – ein semi-dokumentarischer Mix aus Sci-Fi und Drama, in dem alle erzählerischen Parameter des Kinohits Apollo 13 bereits voll entwickelt vorliegen. In Marooned, der einen Oscar für die besten visuellen Effekte erhielt, erzählt Sturges die Geschichte eines Astronauten-Teams, das in einer beschädigten Kapsel mit zu wenig Treibstoff und noch weniger Sauerstoff den sicheren Tod erwartet. Der Film ist durch konsequenten Realismus geprägt und Peck als Chef der Weltraumbehörde spielt nur eine der Hauptrollen in dem Film. Obwohl einige Kritiker dem Film vorwarfen, er sei kaum besser als NASA-Werbefilm, zeigt der zunehmend spannende Plot eine ideologisch vorurteilsfreie Last-Minute-Rettung mit sowjetischer Beteiligung, was nicht unbedingt dem Zeitgeist entsprach. Für Sturges-Fans sicher ein Schmankerl.

Der Edel-Western MacKenna’s Gold (Mackennas Gold, 1969) ist eine weitere Arbeit von Routinier L. Jee Thompson. Ein grässlicher Western, der immerhin zeigt, wie man mehr als eine Handvoll Stars auf ein Filmplakat bekommt und die meisten davon in einer Kurzszene verheizt (Lee J. Cobb, Raymond Massey, Edward G. Robinson). Peck spielt hier erneut mit Omar Sharif zusammen, George Lucas war als Praktikant am Set, aber das bleibt das einzig Erwähnenswerte an einem Film, dessen einziger Zweck es wohl war, grandiose Bilder und Effekte für die Super-Panavision-Fotografie zu produzieren. Hollywood befand sich Ende der 60er im Umbruch, aber Mackennas Gold atmete immer noch die miefige Luft ausgeleierter Studio-Blockbuster.

Entschieden sehenswerter ist Old Gringo (Old gringo, 1989) von Luis Puenzo, der zusammen mit Co-Regisseur Jaoqin Calatayud 1986 für den Politthriller Die offizielle Geschichte (La historia oficial) den Oscar als Bester Fremdsprachiger Film erhielt. Peck spielt in Old Gringo den alternden Schriftsteller Ambrose Bierce, der sich angeekelt von der literarischen Szene zurückzieht und als ausgesprochener Womanizer eine letzte, allerdings platonische Liebesgeschichte mit Jane Fonda als altjüngferlicher Lehrerin erlebt. Alles vielleicht eine Spur zu warmherzig, aber tatsächlich weiß man nur wenig über die letzten Tage des berüchtigten Zynikers Bierce, der sich Pancho Villa anschloss und vermutlich standrechtlich erschossen wurde. Bei der Kritik war der opulente Film umstritten und tatsächlich verblüfft es den geneigten Rezensenten immer wieder, dass die mexikanische Revolution im amerikanischen Kino immer wieder als folkloristische Kulisse für Kinoplots herhalten muss, die sich einen Dreck um die sozioökonomischen und politischen Hintergründe scheren. Auch die in ideologischer Hinsicht vermeintlich härteren Spaghetti-Western sollte man da besser nicht überschätzen. Trotzdem: Gregory Peck überzeugt in dem Film als fantastischer Charmeur, auch wenn die Motivation einiger Figuren eher wirkt, als sie sie an den Haaren herbeigezogen.

Fazit: Die Gregory-Peck-Box ist ein überwiegend interessanter, aber nicht durchgehend überzeugender Kompromiss, der immerhin einige Perlen aufzuweisen hat (Die Kanonen von Navarone, Deine Zeit ist um). Technisch ist die Qualität der DVDs bestenfalls durchschnittlich, eine Ausnahme ist wie erwähnt Zinnemanns s-w-Drama. Allein das Preis-Leistungsverhältnis relativiert alle Vorbehalte, so dass abschließend eine klare Kaufempfehlung ausgesprochen werden muss.

Inhalt Legend Diary – James Stewart
 In einer anderen, nämlichen höheren Liga, spielt dagegen die exzellente Zusammenstellung der James Stewart-Box. Natürlich muss man Abstriche machen und es sicher schade, dass die Box keinen der bekannten Filme von Alfred Hitchcock enthält. Ich hätte mich sehr über Cocktail für eine Leiche (Rope, 1948) oder Anthony Manns Winchester ´93 (Winchester ´93, 1950) gefreut, aber dafür wird Stewarts Zusammenarbeit mit Frank Capra vorzüglich präsentiert.

Eine echte Entdeckung ist die hierzulande weitgehend unbekannt gebliebene Screwball-Comedy Lebenskünstler (You Can´t Take It With You, 1938), in der sich der wie üblich etwas zögerliche, aber am Ende standfeste James Stewart mit der verrückten Familie seiner Zukünftigen herumschlagen muss. Ver-rückt ist der Haufen herrlicher Spinner dank der Hartnäckigkeit, mit der sich alle einer harten, vom Geld regierten Gesellschaft entziehen, um nur das zu machen, was ihnen Spaß macht. Der anarchistische, fast anti-kapitalistische Swing des Films zeigt sehr schön die ideologische Libertinage, die sich einige Regisseure in den 30zigern (noch) erlauben durften, ist aber auch ein für Stewarts erste Schaffensphase sehr exemplarischer Film – und last but not least auch ein wirklich sehenswerter Mosaikstein aus dem Werk Frank Capras, der (nicht nur) für diesen Film einen Oscar für die Beste Regie erhielt.
Es ist durchaus konsequent, dass in der Box auch Mr. Smith geht nach Washington (Mr. Smith Goes To Washington, 1939) enthalten ist, ein Film, mit dem Capra zeigen wollte, dass er den Erfolg von Mr. Deeds Goes To Town übertreffen kann. Capra, der politisch eher zu den Konservativen zählte, ließ sich das Drehbuch von Sidney Buchman schreiben, dessen Karriere in der McCarthy-Ära endete, nachdem er zu geben musste, dass er Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war. Mr. Smith war an der Kasse an großer Erfolg, führende Politiker griffen Capra aber massiv an. Aus kinohistorischer Sicht zeigt Capras Film bereits viele Ingredienzien der Politthriller, die in den nächsten Jahrzehnten folgen sollten, berühmt wurde er allerdings durchs Stewarts Filibuster, eine bis heute legendäre Szene, die wie keine zeigt, dass der Kampt um die Wahrheit auch zu einer extremen physischen Erfahrung werden kann.

Danach macht die Box einen Sprung in die 50er Jahre: Der Mann aus Laramie (The Man from Laramie, 1955) ist einer der Western, die Stewart mit Anthony Mann drehte. Stewart hatte hier bereits einen Imagewandel vollzogen und spielte Figuren, die weiterhin zwar integer waren, aber härter und gewalttätiger um das Recht kämpften, auch wenn es dabei etwas dreckiger zuging. Ich persönlich halte diesen Western eher für eine durchschnittliche Arbeit, aber Der Mann aus Laramie zeigt sehr schön den Versuch, das Genre durch theatralische Plots und aufdringliche Psychologisierung aus dem B-Picture-Mief in die erste Reihe zu befördern: hier ist es ein beinahe psycho-analytisch aufgeladener Vater-Sohn-Konflikt, in den Stewart als zunächst Unbeteiligter hineingerät. Western, die sich bei Shakespeare bedienen, habe ich eher zurückhaltend genossen und wer sich etwas auskennt, weiß sehr genau, welche ausgezeichneten Western James Stewart sonst vorzuweisen hat.

1958, im selben Jahr drehte Stewart mit Alfred Hitchcock Vertigo, entstand Meine Braut ist übersinnlich (Bell, Book and Candle), eine vergleichsweise harmlose Komödie des späteren TV-Regisseurs (Columbo) Richard Quine. Hier geht es um Magie und Liebe, eine Mischung mit viel Sprengstoff. James Stewart war zu diesem Zeitpunkt bereits 50, was leichten Stoff mit charmanten Liebhaber-Rollen eigentlich nicht erwarten ließ, aber der Veteran macht in dem Streifen eine ordentliche Figur.

Dafür sorgen zwei Perlen für das große Finale der Stewart-Box. 1959 drehte Stewart mit Otto Preminger den Justizthriller Anatomie eines Mordes (Anatomy of a Murder, 1959), in dem Stewart mit einer wirklich tollen darstellerischen Leistung den finanziell etwas heruntergekommenen Anwalt Paul Biegler als gelassen-lakonisches Rhetorikgenie gibt, das alle Register ziehen muss, um für seinen Klienten (Ben Gazzara) einen Freispruch zu erwirken. Premingers exzellenter Film ist ein früher Höhepunkt des Genres und ein frivoler dazu: unvergessen bleibt die Szene, in dem sich Richter, Staatsanwalt und Verteidiger semantisch darüber Klarheit verschaffen, in welchem Umfang im Gerichtssaal über ein Damenhöschen gesprochen werden darf. Überhaupt ist der Film in den 50zigern auch durch seine sexuelle Thematik und viele unterschwellige Anspielungen ein „heißes Thema“ gewesen, besonders auch, weil man auch am Schluss nicht weiß, ob Gazzara unschuldig ist oder nicht, aber seinen Pfiff bezieht er dann doch eher aus den gut gezeichneten Charakteren, schlagfertigen Dialogen und einem Schuss Film Noir, was durch den treibenden Score Duke Ellingtons noch forciert wird.

Als Finale wartet die Box schließlich mit John Fords Zwei ritten zusammen (Two Rode Together, 1960) auf. Hier teilte sich Stewart mit Richard Widmark die Hauptrolle, aber der Film zeigt deutlich, wie sehr sich Stewarts Image in den späteren Filmen entwickelt hatte: in Fords Film spielt er den US-Marshal McCabe, der zynisch und moralisch unbeteiligt die Pfründe seiner Position genießt, bis er sich auf den Deal einlässt, bei den Comanchen entführte Weiße freizukaufen. Ein lukratives, aber riskantes Geschäft, bei dem Widmark den moralisch konsistenten Part spielt. Das Interessante an Two Rode Together sind seine inhaltlichen Schwächen: obwohl das Buch aus der Feder des genialen Frank Nugent stammt, sieht der Film eher wie eine Parodie auf Fords sonstige Western aus: liebenswürdige Raufbolde mit gutem Herz unter rauer Schale, der übliche trinksüchtige und kauzige Sergeant, das jungenhaft-wilde Mädchen, das am Ende handzahm wird – alles bekannt, aber diesmal ohne Gespür für Timing und Thema. Dort, wo der Film ernst genommen werden soll, wirkt der Stimmungswechsel wie erzwungen und die Figuren wie Karikaturen - wobei die Indianer oft genauso gierig, gewalttätig und verschlagen sind wie einige Weiße. Und so endet der Film, der wie eine Westernkomödie beginnt, mit einem einem nicht näher kommentierten Lynchmord an  Indianer und einem weitschweifigen Plädoyer gegen soziales Mobbing. Diesem keineswegs uninteressanten Film von John Ford ist nicht anzusehen, dass nur zwei Jahre später sein Masterpiece The Man Who Shot Liberty Valance (mit John Wayne und James Stewart in den Hauptrollen) entstehen sollte.

Fazit: die technisch und inhaltlich gelungene Box ist für Filmfreunde eindeutig ein Muss. Das betrifft sowohl die Auswahl der Regisseure als auch die Berücksichtigung der Genres. Und ganz zuletzt ist das Preis-Leistungsverhältnis kaum anders als konkurrenzlos zu bezeichnen. Hervorragend!

Montag, 9. August 2010

Inception

USA / Großbritannien 2010 - Regie: Christopher Nolan - Darsteller: Leonardo DiCaprio, Ken Watanabe, Joseph Gordon-Levitt, Marion Cotillard, Ellen Page, Tom Hardy, Cillian Murphy - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 148 min.

Es sind immer die gleichen Fragen, die den Menschen quälen. Ist die Realität so beschaffen, wie es uns die Sinne vermitteln? Oder gibt es eine ´wirkliche` Realität jenseits unserer Wahrnehmung? Ist unser Wirklichkeits-Konzept letztlich nur eine Kopfgeburt oder gibt es in unseren subjektiven Universen tatsächlich Gemeinsamkeiten, über die wir uns verständigen können?
Um solchen versponnenen Fragen nachzuspüren, muss man wahrhaftig nicht ins Kino gehen. Ein Ausflug in die Philosophiegeschichte reicht schon. Man fängt mit Platons Höhlengleichnis an, geht schnell weiter zum deutschen Idealismus und gönnt sich zum Abschluss ein ernüchterndes Kontrastprogramm, beispielsweise mit dem Studium des dialektischen Materialismus oder den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung, die ganz anders an unserer selbstgefälligen Sicherheit nagen will.

Wir können oft kaum noch unterscheiden, ob wir Traum-Bilder sehen oder Film-Bilder träumen (Christopher Nolan)
Aber schöner ist das alles im Kino. Dort herrscht mittlerweile jene unbegrenzte Macht über Zeit und Raum, die es vermag, all das in Szene zu setzen, was die alten Kinomacher noch mit unbeholfenen Symbolismen und unfertigen Tricks zu vermitteln versuchten. In Christopher Nolans „Inception“ wölbt sich als leichte Fingerübung ein kompletter Straßenzug über den Köpfen der Protagonisten und ohne mit der Wimper zu zucken gehen sie in einem rechten Winkel eine Wand hoch, so als gäbe eine kein Gesetz der Schwerkraft. Und alles nur, um einer Novizin en passant zu zeigen, wie man die Architektur eines Traums gestalten kann. Sie möge allerdings nicht so dick auftragen, erklärt Dominic „Dom“ Cobb (Leonardo DiCaprio) abgeklärt und professionell der jungen Ariadne, die er als Architektin für sein Extractor-Team angeheuert hat. Sonst nämlich könnten sich die Projektionen gegen sie wenden.

Man ahnt: die Motive der Figuren in Christopher Nolans („Memento“, „Batman begins“, „The Dark Knight“) sind keineswegs philosophisch inspiriert, sondern wesentlich handfester. Cobbs illegal operierendes Team ist darauf spezialisiert, Zielpersonen unter Drogen zu setzen, ihnen ein Traumszenario vorzugaukeln, in dem das Team sich wie in einem luziden Traum bewegen kann, nachdem es sich eingeloggt hat. Nur, um dort Ideen für einen Auftraggeber zu klauen. Meistens handelt es sich also um banale Wirtschaftsspionage, inszeniert mit der Dramaturgie eines ganz normalen Heist-Movie. Diebe werden immer raffinierter, wobei das Risiko berechenbar ist, denn zurückgeholt wird man mit einem Kick (kaltes Wasser wirkt da Wunder) oder indem man stirbt. Anders als in „The Matrix“ führt der virtuelle Tod lediglich dazu, dass man in der Realität unversehrt aufwacht, es sei denn, man ist so stark sediert, dass man im "Limbus" landet, dem Vorhof der Hölle, der dunkelsten Seite des Unterbewußtseins.

In einer furiosen Eingangssequenz setzt Cobbs Team einen Auftrag in den Sand, nämlich aus dem Kopf des japanischen Geschäftsmannes Saito (Ken Watanabe) eine Idee zu stehlen. Doch alles war nur ein Test des Japaners, denn Saito hat ein ganz anderes Ziel: er will die Extractors davon überzeugen, im Kopf des industriellen Großerben Robert Fischer jr. eine Inception vorzunehmen. Dies ist eine eingepflanzte Idee, die dem Opfer nach dem Erwachen als so selbstverständlich erscheint, als wäre sie schon immer die eigene gewesen.
Das Ziel, nämlich Fischer jr. den Konzern seines sterbenden Vaters zerschlagen zu lassen, ist ein McGuffin im besten Sinne. Denn Nolan geht es um etwas ganz anderes und wie schon in "Memento" ist es der Verlust der Identität in einer fragilen Realität. Wie in vielen Heist-Movies hat der Held eine Schwäche, ein Achillesferse, die alles zunichte machen kann. In Cobbs Fall ist es seine tote Frau Mal, die er als ewiger Widergänger seines vor Schuldgefühlen zergrübelten Unterbewusstseins nicht aus den virtuos durchgeplanten Traumlandschaften heraushalten kann. Mit anderen Worten: Mal taucht immer wieder auf, mischt sich ein und gefährdet als destruktive Kraft sowohl das Team als auch den Plan.

Alles nur ein Traum? Virtuelle Welten in Kino und Literatur
Natürlich ist Nolans Film kein Film über Träume, denn Träume sehen anders aus und sie sind nur selten vollständig luzid. Das, was in den Köpfen der Extractors und ihrer Opfer geschieht, sind drogeninduzierte halluzinatorische Trips mit überwältigendem Realitätscharakter, virtuelle Welten, über die die Eindringlinge mehr oder weniger die Kontrolle ausüben, während das Opfer sich nur dann wehren kann, wenn es vermittels eines speziellen Abwehr-Trainings ganze Armeen aus seinem Unterbewusstsein aufmarschieren lassen kann, um die Extractors abzuwehren. Folglich wird in Inception kräftig geballert und das über drei Traumebenen hinweg, denn der gut vorbereitete Fischer kann nur ausgehebelt werden, wenn man ihn in einer raffinierten Traum-im Traum-im Traum-Konstruktion austrickst. Es geht letztendlich um nichts anderes als darum, wer in den virtuellen Welten das Sagen hat.

Das hat Tradition. Wenig zimperlich ging Paul Verhoeven in Total Recall (1990) mit Arnold Schwarzenegger um, der sich Gedächtnisimplantate einer Agentenstory auf dem Mars einpflanzen lässt, was die Nerds bis heute darüber rätseln lässt, ob die folgende Geschichte nur eine wild gewordene Psychose oder die ´wirkliche` Realität ist.

Ganz unverhüllt präsentierte sich das Virtualisierungs-Konzept in Alejandro Amenábars Film Abre los ojos (Open your eyes, 1997) und dem umstrittenen Remake Vanilla Sky von Cameron Crowe aus dem Jahre 2001. Trotz unterschiedlicher Qualitäten geht es in beiden Filmen um einen Helden, der sich aus einem misslungenen Leben in einen Traum versetzen lässt, bis ihm das Unterbewusstsein einen Streich spielt und die eskapistische Konstruktion ins Wanken bringt. Auch hier lautet am Ende die Frage: Wie komme ich zurück und will ich das überhaupt?

Deutlich versponnener war David Cronenbergs eXistenZ (1999), aber im Gegensatz zu „Inception“ sind sich die Protagonisten (bis auf die Helden natürlich) nicht bewusst, dass sie sich in der künstlichen Welt eines Computerspiels befinden. Cronenberg Raffinesse besteht ähnlich wie in „Total Recall“ darin, die Zuschauer darüber im Unklaren zu lassen, was sie sehen: Realität oder virtuelle Welt. In „eXistenZ“ muss man sich zudem mit der schwerblütigen Frage auseinandersetzen, ob es für die eigene Identität entscheidend ist, diese Frage endgültig zu beantworten.

Im gleichen Jahr zeigten die Wachowskis mit The Matrix, dass man anders als Cronenberg viel Lärm machen muss, um komplexe Ideen kassenfest an den Mann oder die Frau zu bringen. Zum mittlerweile berühmten „Matrix-Effekt“ gehörte die Frage, wie man in die ´wirkliche` Realität vordringt, nachdem man entdeckt hat, dass man in einer konstruierten Scheinwelt lediglich ausgebeutet wird. Die Matrix-Trilogie hat ihre eigene Mythologie kreiert, mittlerweile gehört es aber, so scheint es mir mitunter, zum guten Ton, über Matrix 1-3 abzulästern. Nicht nur unter Kritikern, sondern auch bei vielen Nerds gilt Teil 1 als Kult und der Rest, na ja. Nun glaube ich nicht, dass ich genauer hingucke als andere, aber man muss den Matrix-Kosmos doch sehr konzentriert durchkauen, um jenseits der Baller- und Kung-Fu-Orgien das verborgene Thema zu entdecken (oder zumindest eines der vielen Themen): es geht nicht um Neo und Trinity, um Initiation und eine alle erlösende spirituell anmutende Jesus-Analogie, sondern um einen trotz seiner milden Freundlichkeit doch ziemlich größenwahnsinnig gewordenen Architekten und seinen Antagonisten, das chaotisch agierende Orakel, das jenen Schuss Empathie und Anarchie in eine kalte Welt einbringt, zu dem der Architekt, der cool und unablässig das Immergleiche in unzähligen Varianten durchspielt, offenbar nicht fähig ist. Hybris eben. Gemessen daran sind Neo - und noch deutlicher Agent Smith – Figuren, denen es schon längst nicht mehr um die wirkliche Wirklichkeit geht, sondern um völlige Beherrschung der physikalischen Gesetze in einem Kosmos, in dem sie wie kirre gewordene Superhelden alles tun können, was sie wollen.

Das verborgene Thema ist in all diesen Filmen ist daher weniger der Traum, sondern die Frage, wer zu welchem Zweck die fremden Welten beherrscht. Dabei sind die phantastischen Konstrukte immer verführerischer als die Realität: ästhetisch überwältigend (selbst für Cronenbergs Schmuddel-Look gilt dies) und tricktechnisch so bombastisch treten sie auf, als müssten sie das profane Abbild der Wirklichkeit auch in den Köpfen der Kinogänger in den Staub treten. Das ist auch in The Cell (2000) von Tarsem Singh nicht anders. Dort dringt eine Traumspezialisten in die krankhafte Phantasiewelt eines Serienkillers ein, deren Grausamkeit nur noch durch die opulente Ausstattungsästhetik übertroffen wird, mit der Singh ähnlich wie David Lynch zeigt, dass das Böse und das Schöne offenbar ganz nah beieinander wohnen. Am Ende gelingt dem Guten nur deshalb der Sieg, weil Jennifer Lopez den mächtigeren und besseren Traum auf Lager hat.

2006 variierte Singh das Konzept in The Fall, der kameratechnisch und dank der Wahl ungewöhnlicher Schauplätze eine bahnbrechende Visualität entwickelte, die sich doch recht deutlich in seiner Theaterhaftigkeit vom Mainstream-Kino entfernte. Eigentlich schade, denn der Plot zeigt, dass Menschen, die sich von kunstfertigen Märchenerzählern in fremde Welten entführen lassen, gelegentlich auch mal bei der Gestaltung der Fabel mitreden wollen. Eine witzige anarchistische Idee und aufgrund einiger filmischer Bonmots ist The Fall auch eine gelungene Hommage an das (Stummfilm-)Kino.

Es ist in diesem Zusammenhang nur gerecht, zwei der literarischen Sci-Fi-Ziehväter der virtuellen Welten zu erwähnen: Herbert W. Franke (geb. 1927), der in seine frühen Romanen Das Gedankennetz (1961) und Der Orchideenkäfig (1961) bereits die Konzepte durchspielte, die uns heute im Kino als originelle Neuschöpfung verkauft werden. Und dazu gehört auch Daniel F. Galouyes intelligenter Roman Simulacron-3 (der 1973 von Rainer Werner Fassbinder in Welt am Draht adäquat fürs TV adaptiert wurde). In Das Gedankennetz wird der vom Staat internierte Held in einen Strudel virtueller Realitäten geworfen, bis auch der fiktionale Text (und damit auch der Leser) von einer Unschärfe erfasst wird, die keine Aussagen über wahr oder erdacht mehr zulässt. Der Orchideenkäfig spielt bereits die Frage durch, wer das omnipotente Sagen hat, allerdings verlassen die Helden nicht die Realität, sondern können virtuelle Alter Egos auf fremde Planeten projizieren, wo sie angesichts ihrer Unsterblichkeit infantile und zuletzt tödliche Machtphantasien ausleben können. Und in gesellschaftskritischer, aber auch philosophischer Hinsicht sehr pointiert war Galouyes Konzept der virtuellen Stadt Simulcron-3, die zu Marktforschungszwecken simuliert wird. Natürlich entdeckt der Held bald, dass auch er möglicherweise nicht in der ‚wirklichen` Realität lebt.

Der ultimative Voyeurismus besteht darin, in die Träume eines Menschen einzudringen (Christopher Nolan)
Dieses Interview-Zitat ist natürlich für einen Briten wie Nolan nur zulässig, wenn man es als ironisches Gedankenspiel durchgehen lässt, denn zur Noblesse britischer Bürgerlichkeit gehört der unbedingte Respekt vor dem Intimleben anderer. Wir stoßen also immer auf Grenzen, in den virtuellen Welten und erst recht in der Wirklichkeit.
Das Freiheitsversprechen der literarischen und kinematogtaphischen Phantasien gerät dabei meistens unter die Räder und wird derb gegen den Strich gebürstet. Auch die Fiktion im Kino ist keineswegs ein Reich der Fantasie, in der das Subjekt sich in neuer Freiheit entfesseln kann, wie das dem Leser fiktionaler Texte nachgesagt wird, der sich angeblich völlig frei seine Kopfbilder zusammenbasteln kann. Das täuscht, denn über die Grammatik der fiktionalen Texte in Literatur und Kino entscheidet nicht der Rezipient allein. Gerade im Kino wird die Phantasie recht rüde an die Kandare gelegt, wie auch jene beklagen, die ihre Herr-der-Ringe- und Harry-Potter-Kopfwelten plötzlich klar definiert vor sich sehen.

Auch „Inception“ ist auf eine gewisse Weise manipulativ, aber in anderer Hinsicht auch sehr intim. Denn je tiefer Cobb in die verwobenen Ebenen der virtuellen Ebenen eindringt, desto deutlicher wird, dass hier ein privates Drama verhandelt wird: Cobb hat jahrelang mit seiner Frau Mal ganz privat virtuelle Welten gebaut und idyllische Jahrzehnte dort verbracht, bis er Mal seine erste Inception einpflanzte, nämlich den unbedingten Wunsch, in die Realität zurückzukehren. Tragisch kehrte sich diese Technik gegen ihn, als seine Frau in der Realität immer noch den Wunsch verspürte, eine weitere Ebene nach oben zu gelangen und daher konsequent aus dem Fenster sprang. Sie irrte sich.

Es ist also nicht nur Hybris und die Angst vor dem Kontrollverlust, sonders auch das gute alte Psychotrauma, das die die Figuren umtreibt und uns bewegen soll. Leonardo di Caprios zerknirschtes Shutter Island-Gesicht signalisiert dabei in jeder Filmminute, dass der Preis, den er für seine Professionalität zahlt, ein zu hoher ist. Das komplizierte Regelwerk, dass Nolan konstruiert hat, um sein Universum zusammenzuhalten, muss von seinen Protagonisten minuziös beherrscht werden, damit nicht alle im Wahnsinn eines völlig entfesselten Unterbewusstseins untergehen. Dies gilt auch für den Zuschauer, der fast das gesamte erste Drittel des Films als Unterweisung in dieses Regelwerk erfährt, damit er nicht in der narrativen Grammatik untergeht, die der Rest des Films dann in einer visuellen Tour de Force durchexerziert.
Dies funktioniert in „Inception“ auf grandiose Weise: Nolan hält die komplexe Story eisern zusammen, verliert nie den Überblick und dürfte sich nur schwer logische Anschlussfehler nachweisen lassen.
Fast atemberaubend sprengt er dabei die Regeln von Raum und Zeit, wobei das Räumliche als Essenz filmischen Erzählens dank unendlich vieler Vorgänger noch den geringsten Schwierigkeitsgrad zu bieten hat, etwa dann, wenn sich in Cobbs Welt die triste Skyline einer Stadt am Meer symbolgeladen und langsam, aber unnachgiebig in ihre Bestandteile auflöst. Da stand wohl Roland Emmerich ein wenig Pate.
Noch überwältigender sind die komplexen Zeitebenen, und zwar um so mehr je tiefer die Traumarchitekten und –projektionisten in die Ebenen der Traum-im-Traum-Konstruktion steigen. Die raffinierte Parallelmontage, die den Höhepunkt des Films bildet, kann im Kopf des Zuschauers nämlich nur funktionieren, wenn er nicht vergessen hat, um welchen Faktor die Zeit im nächsttieferen Level abläuft. Und so können durchaus Stunden, Monate und Jahre vergehen, während in der Realität ein Auto von einer Brücke in den Fluss fällt. Das alles zusammenzuhalten, ohne dass die Zuschauer abschalten, ist formal ein Masterpiece.

Grandios, aber humorlos
Natürlich will das Blockbuster-Kino mit seinen brillanten CGI-Effekten Geld verdienen, es muss unterhalten, das ist die Conditio Sine Qua Non. Nur wer diese Bedingungen erfüllt, darf, falls er nicht mit dem Niveau von Jerry Bruckheimer zufrieden ist, 160 Mio. $ in die Hand nehmen und seine eigenen Welten erschaffen. Christopher Nolan hat dies in Inception auf so sehenswerte Weise getan, dass seine seine Batman-Filme fast wie gut gemachtes Handwerk aussehen lassen, während die Architekturen seiner Traumkontrollfreaks wie ein funkelndes und strahlendes Kunstwerk erscheinen, das man sich zwischen einigen routinierten Auftragsarbeiten gönnt. In diesem Glanz leuchtet aber auch gelegentlich etwas Zwanghaftes auf, wobei sich die professionelle Sucht DiCaprios und seines Teams nach der grenzenlosen Omnipotenz, nämlich alles nach seinen eigenen Gesetzen zusammenbauen zu können, auch in Nolans Film widerspiegelt. Das ist nicht schlimm, es ist sogar intelligent und schlagfertig erzählt und unterhaltsam allemal. Nur halt völlig humorlos.  Deshalb halte ich The Dark Knight für den besseren Film, nicht nur, weil die Figuren in im Gegensatz zu DiCaprios etwas spießigen Familiendrama spannender und vielschichtiger waren, auch nicht wegen ihrer ihrer nachdenklich stimmenden allegorisch-politischen Implikationen, sondern weil Nolan mit Heath Ledgers Joker zwar keinen Humor, aber einem verschlagenen ironischen Zynismus in Spiel brachte, der in seiner Unberechenbarkeit the cream on the coffee war. 

Inception ist ein Film, der zwar mit lautem Getöse daherkommt, aber mit beeindruckender Stringenz seine Geschichte zusammenhält und gemäß der ihr innewohnenden Logik erzählt. Das beeindruckt. Während man in den Jahrmarktsbuden der längst ausgestorbenen Rummelplätze der eigenen Kinder nie wusste, ob man für sein Geld wirklich das 8. Weltwunder zu sehen bekommt, hält Nolan sein Versprechen. Kommt hinein und überzeugt euch: Ich habe für euch eine Welt erschaffen, die ihr noch nie gesehen habt. So in etwa scheint sein Credo zu lauten. Die wirklich unfassbaren Abenteuer warten nicht in der äußeren Realität auf euch, sondern in eurem Unterbewusstsein.

Das reicht mir nicht ganz. Und mal ganz ehrlich: die komplizierte Analyse unserer Seelenlandschaft haben technisch wesentlich schlichtere Filme nicht minder gut erledigt. Hitchcock hat dies in Spellbound ohne Effektgewitter geschafft. Wer es etwas zeitnaher haben möchte, dem sei Terry Giliams Das Kabinett des Dr. Parnassus (2009) empfohlen. Auch hier werden Menschen in einem magischen Theater in virtuelle Welten entführt, in denen sie ganz direkt ihre infantilen, egoistischen und gelegentlich banalen Wünsche ausleben dürfen. Anders als Nolan erzählt Giliam mit seiner überbordenden Phantasie ein Märchen, dessen Effekte nicht überwältigen, sondern in ihrer leicht durchschaubaren Theaterhaftigkeit einen menschlichen Humor besitzen, der uns bei aller Tragik davon erzählt, dass wir auch in unseren Träumen meistens das sind, was wir halt sind. Dies versöhnt ein wenig.

Am Ende, wenn man etwas boshaft ist, geschieht in Inception alles nur, damit ein Mann seine Kinder wieder sehen kann. Und weil dies vielleicht etwas zu platt ist, wird ein Plot Twist ans Ende geklebt, der mich an all die Monsterfilme erinnert, deren Ende uns signalisiert, dass das Böse doch nicht besiegt ist, sondern jederzeit zurückkehren kann. Dies kann man prosaisch als Ankündigung eines Prequels deuten oder auch als Wiedergeburt eines schlechten Shyamalan-Gags. Viel zu sagen hat dies nicht und bei aller geneigten Begeisterung für den Kinoartisten Nolan hat dieser mit The Dark Knight eine wesentlich schärfere, boshaftere und politisch konsequentere Allegorie abgeliefert, in dem der subjektive Kosmos nicht von der äußeren Wirklichkeit abgekoppelt wird.

Noten: Klawer = 2, BigDoc = 2

Donnerstag, 22. Juli 2010

The Wolfman

USA 2008 - Originaltitel: The Wolfman - Regie: Joe Johnston - Darsteller: Benicio Del Toro, Anthony Hopkins, Emily Blunt, Hugo Weaving, Art Malik, Geraldine Chaplin, Kiran Shah, Michael Cronin, Sam Hazeldine - FSK: ab 16 - Länge: Bluray "The Wolfman - Extended Version": 119 min.

England, 1891: Der gefeierte Shakespeare-Mime Lawrence Talbot (Benicio Del Toro) kehrt in sein Heimatdorf Blackmoore zurück, um seinen verschwundenen Bruder zu suchen. In den finsteren Wäldern wütet eine geheimnisvolle Bestie. Doch Talbot kommt zwei Tage zu spät: die fürchterlich verstümmelte Leiche des Vermissten liegt bereits aufgebahrt in der Leichenhalle. Lawrence verspricht der Verlobten seines Bruders (Emily Blunt), das geheimnisvolle Verbrechen aufzuklären. Auf dem heruntergekommene Anwesen der Familie warten sein distanzierte Vater (Anthony Hopkins) und dessen Sikh-Diener, der bereits vorsorglich silberne Kugeln gießt.

Universal hat mit The Wolfman den Versuch unternommen, an die glorreiche Horrorfilm-Tradition der 1920-1940er Jahre anzuknüpfen. Ob die Neuauflage von The Wolf Man (1941) mit Lon Chaney jr. nun eine Welle von Remakes auslösen wird, steht nach mageren 61 Mio. Dollar (Box Office IMDb, März 2010) in den Sternen. The Wolfman (2010) verdoppelte die Produktionskosten auf 150 Mio. Dollar und ohne durchschlagenden Markterfolg ist es schwer vorstellbar, dass wir in allzu naher Zukunft Frankenstein, Dracula und The Mummy zu sehen bekommen, zumal die Vampir-Mythologie in den letzten Jahrzehnten bis hin zur moderaten Teenie-Version in Twilight entschlossener durchdekliniert wurde als das Thema der Transformation eines Mannes in einen Wolf. Und auch die Mumie hat bereits das Stadium der Persiflage durchschritten, was schon in den alten Universal Studios der 50er Jahre das Aus für die Veteranen der Horrorgeschichte einläutete.

Überhaupt ist der Werwolf-Mythos eher ein spätes Kind des Horrorfilms. Bereits 1931 hatten Tod Browning (Dracula) und besonders James Whale (Frankenstein) eine neue Ästhetik des Gruselfilms begründet, die thematisch ein ganzes Jahrzehnt lang variiert wurde, ehe mit dem Wolfsmenschen 1941 ein später Nachzügler den Weg auf die Leinwand fand. Glücklicherweise hat Universal zuletzt eine vorzügliche DVD-Edition auf den Markt gebracht, in der die alten Klassiker bestaunt werden können – angereichert mit kinohistorisch überzeugenden Dokumentationen, die den jüngeren Filmfreunden ein guten Einblick in das gewähren, was die Menschen vor 80 Jahren aus der Fassung gebracht hat. Der Blick lohnt sich: man wird sicher überrascht sein, wie wenig explizit die Urahnen des Genres waren, die gemessen an der heutigen Splatter-Ästhetik geradezu als handzahm zu bezeichnen sind. Und doch sind es die Bilder unserer Kino-Kindheit, die sich den meisten von uns unauslöschlich ins visuelle Gedächtnis eingebrannt haben.

Stinkkonservatives Remake - aber bitte nur auf Bluray!
Eine vergleichbar gute Qualität wie die Wolf Man Legacy Collection bietet die in Großbritannien bereits vorliegenden Bluray (mit dts. Tonspur), mit der Universal die sich abzeichnenden Verluste in Grenzen halten will. Sie enthält nicht nur die Kinofassung, sondern auch den über eine Viertelstunde längeren Extended Cut. Die folgende Kritik bezieht sich nur auf diese Version, denn – man staune – der Kinofassung fehlen nicht etwa die expliziten Splatter-Effekte, sondern vielmehr viele Szenen, in denen das psychologische Profil der Hauptfiguren deutlicher gemacht wird. So vermisst man in der Kinofassung die gesamte Einleitung, die unentbehrlich für den Stimmungsaufbau ist, darunter auch eine schöne Szene mit einem Kurzauftritt von Max von Sydow. Auch später wurde geschnippelt, meistens dann, wenn die Figuren im Extended Cut mehr Tiefe erhalten. Was auch immer wen zu diesen Eingriffen bewogen hat: sie gingen gründlich in die Hose.

Schade, denn für das Remake von The Wolf Man hat sich Universal geballte Qualität ins Boot geholt: Benicio del Toro übernimmt Lon Chaneys Part als Lawrence Talbot, Anthony Hopkins beerbt Claude Rains in der Rolle des Vaters, Geraldine Chaplin macht die Rolle der alten Zigeunerin zu einer kleinen Perle (was auch im Original dank Maria Ouspenskaya der Fall war, die nicht aus heutiger Sicht Lon Chaney jr. an die Wand gespielt hat) und der sechsfach oscargekrönte Make-up-Designers Rick Baker verwandelte schon mehrfach gestandene Männer mit innovativer Maskentechnik in Werwölfe, zuerst 1981 in American Werwolf.
Actionspezialist Joe Johnston zeigt gleich zu Anfang, worum es Universal wohl ging: dunkle Moore, in denen der Nebel wabert, verfallene Schlösser, schwarze Kutschen, die durch die Nacht rasen und eine bis ins Detail liebevoll gestaltete Ausstattung lassen die düstere Atmosphäre des Originals wieder auferstehen und steigern den romantischen Gruselflair mit moderner Digitaltechnik, ohne den Charakter der altehrwürdigen Studiokulissen zu verraten. The Wolfman ist so gesehen ein streng konventioneller Film, der keine neue Sehgewohnheiten evozieren will, sondern sich streng an einen vertrauten Kanon hält und in seinen stimmungsvollsten Bildern sogar einen Hauch Hammer Film einfließen lässt, jenes britische Studio, das in den 1950er und 1960er-Jahren die gothic novels mit morbidem und oft auch leicht anzüglichem Charme ins Bild setzte. Filmästhetisch überschreitet The Wolfman also keine Grenzen, er ist in seiner Konventionalität sogar anti-innovativ, aber das, was er zeigt, zeigt er in einer ausgefeilten Perfektion, die mehr als positiv überrascht. Einige Bilder geraten zu so prachtvollen Tableaus, dass man sie am liebsten mit der Fernbedienung einfrieren möchte.

Auch inhaltlich geht The Wolfman keine neuen Wege. Und damit ist vor allen Dingen der Verzicht auf allegorische Umdeutungen des Themas, wie ihn ‚moderne’ Varianten klassischer Themen oft (und nicht immer zu Unrecht) anbieten. Man erinnere sich an From Hell (2001), einen Film, der erkennbar die Dämonen des 20. Jh. in das biedere viktorianische London holte. In The Wolfman gibt es übrigens eine kleine Anspielung auf diesen Film, denn Hugo Weaving spielt den Polizeiinspektor Francis Aberline (eine wirklich sehr schöne Nebenrolle Weavings, der keine Karikatur gibt, sondern einen intellektuell geistreichen Ermittler, dem allerdings Tragisches widerfahren wird), der bereits in Sachen Ripper-Morde ermittelte. Wir erinnern uns: Frederick Abberline hieß der in From Hell von Johnny Depp gespielte Inspektor.

Schöne Hommage ohne Tiefgang
Joe Johnstons Film ist ein Kind der Spätromantik geblieben, eine Hommage, die Aufklärung und kritische Distanz aus dem Film heraushält. Wenn Talbot, der von der aufgebrachten Dorfbevölkerung als Werwolf verdächtigt wird, in einer schaurigen Irrenanstalt landet, werden die mittelalterlichen Foltermethoden der ‚modernen Psychiatrie“ nicht persifliert, sondern in ihrer Grausamkeit todernst genommen: Eisbad und Elektroschock. Wie schon in vielen Universal-Klassikern bleibt der Moderne der Zutritt verwehrt und auch in The Wolfman ist das viktorianische England der einzig denkbare Ort, an dem Mythen, Monster und altmodischer Plüsch ihre berechtigte Existenz haben. Natürlich legt das Remake die Figuren in psychologischer Hinsicht etwas tiefer an und auch ein Schuss unterdrückte Sexualität und eine Prise Ödipus-Komplex wabern in den Film hinein, aber letztendlich geht es den Machern um den Spaß, ein altes Thema nicht allzu gedankenschwer zu einem unterhaltsamen visuellen Vergnügen zu machen. Man sieht es im Bonusmaterial bei Benicio Del Toro, der in den Che-Extras noch dümmlich-verschlossen parlierte, während er in den Makings of’s von The Wolf Man nicht nur als Darsteller, sondern auch als Produzent kaum zu bremsen ist.
Mir hat das Ganze jedenfalls gut gefallen. So ähnlich wie das Verzehren einer verbotenen Frucht. Sie schmeckt, was man allerdings öffentlich nur ungern zugibt.


Noten: BigDoc = 2,5, Klawer = 3, Melonie = 3, Mr. Mendez = 3

Postskriptum: Der Pressespiegel.
Wieder einmal scheiden sich die Geistern, wieder einmal kompromisslos.
Daniel Ronel schreibt auf Bayern3.de: „Es ist ärgerlich, dass Hollywood seine Klassiker ständig neu verfilmen muss. Außerdem wären del Toros Schlafzimmerblick, die Monster-mischung aus Yeti, King Kong und Hulk, sowie eine mäßig originelle Story genügend Gründe, sich über den Film lustig zu machen. Dennoch muss man ihm zugestehen: er verfehlt seine Wirkung nicht und sorgt für ordentlichen Schauer.“
Genre-Spezialist Frank Arnold ist in epd-Film über Johnstons Film begeistert: So „erweist sich sein „Wolfman“ jetzt als eine angenehme Überraschung, ist er doch so klassisch und angenehm altmodisch ausgefallen, wie man es kaum erwarten durfte, und vermag es auch, der Geschichte einige neue Akzente abzugewinnen.“
In „DerWesten“ ist Uwe Mies völlig anderer Meinung: „Die Regie von Joe Johnston ist … Flickwerk. Mit viktorianischem Plüsch und viel Kunstnebel gelingt ihr lediglich vordergründige Atmosphäre und trägt in allem, was Spannung schüren soll, viel zu dick auf. Es ist ein vulgärer Film, der die tragischen Aspekte mit plumpen Blut- und Ekel-Attraktionen übertüncht und damit leichtfertig an die vermeintlichen Erwartungen des Teenagerpublikums verschenkt.“
Michael Kohler in der Frankfurter Rundschau hat indes einen überzeugenden Film mit vielen Sahnehäubchen gesehen: „Genau das ist hier gelungen: Einen Blockbuster zu drehen, der sich vor der Tradition, die er in einer Szene plündert, schon im nächsten Moment wieder verneigt. Man sieht es daran, wie Johnston immer wieder die Kamera kippt, um die schrägen Perspektiven eines Universal-Klassikers nachzuahmen, wie er seinen englischen Schauplatz im festen Griff von fahlem Dämmerlicht und Nebel hält, und dann ist sein Wolfmensch, wenn er nicht gerade die Zähne fletscht, auch noch der verwunschenen Bestie aus Jean Cocteaus "Die Schöne und das Biest" wie aus dem Gesicht geschnitten.“
Eben diese Qualitäten könnenhalt auch zum Verriss führen: „Und natürlich ist Wolfman schrecklich, natürlich ist er blutig, und natürlich ist er kolossal, aber das alleine macht ihn noch lange nicht gut. Zu abgeschmackt sind die kunstnebligen Bilder der düsteren Seite der Romantik, zu kitschig der symbolträchtige Pathos der brennenden Bilder von Vater, Mutter und verlorenem Sohn, zu billig die nervenaufreibenden Schocktricks, die einen mit kalkulierbarer Regelmäßigkeit im Kinosessel zusammenzucken lassen. Der Horror scheint in Wolfman fast gänzlich aus den Zuschauerköpfen in die Postproduktion verlegt: in die schnellen Schnitte, die visuellen Effekte, das unterschwellig dröhnende Sounddesign“ (Sarah Sander, SCHNITT).
Daniel Haas sieht In DER SPIEGEL das Positive für den Zuschauer: „Nach dem ganzen Rummel um "Twilight", dem Märchen über edle Blutsauger, die das Hämoglobin-Zölibat zur Gefühlssteigerung nutzen, war es höchste Zeit für eine scharfe, blutrünstige Auseinandersetzung mit dem Monströsen in uns. Denn das repräsentieren sie ja, die Vampire, Wölfe, Gestaltwandler: das Andere und Fremde, das wir verdrängen, aber nie ganz loswerden.“
Eben, eben.

Dienstag, 20. Juli 2010

Quick Review: die Halbjahres-Bilanz

Der Umstand, dass unser schöner Blog einige Wochen mit Notstrom gefahren wurde, kann nicht verhindern, dass in einer Quick Review die wichtigsten Filme der letzten Wochen mit galliger Schärfe oder humorvoller Zustimmung vorgestellt werden – je nachdem, was sie verdient haben.

Nicht aktuell im Kino, aber als DVD-Neuerscheinung lief John Crowleys Boy A (2007), ein britisches Drama, das mit 2,6 eine erfreuliche Note erreichte. Der mehrfach preisgekrönte Film erzählt die Geschichte von Jack Burridge (ausgezeichnet: Andrew Garfield), der wegen eines gemeinschaftlich begangenen Mordes bereits mit 14 Jahren in den Knast einwanderte. Nach der Entlassung versucht Jack Fuß zu fassen, scheitert aber an der gandenlosen Hetzjagd der Medien und der Unversöhnlichkeit der Gesellschaft.
Im Club erwies sich der Film immerhin als Auslöser einer der selten gewordenen Debatten, wobei der Chronist bei der Darstellung des Mordes einen Schuss Krzysztof Kieślowski forderte und sich damit mehr Realismus und ein härteres Täterprofil wünschte, um die Hauptfigur nicht nur als Opfer, sondern auch in ihrer Ambivalenz als kindlicher Mörder zu zeigen. Oupps, das fand nur wenig Gehör.

Etwas einstimmiger war die Meinung einige Wochen zuvor, als mit Der fantastische Mr. Fox (englischer Originaltitel: Fantastic Mr. Fox) ein US-amerikanischer Stop-Motion-Animationsfilm aus dem Jahr 2009 bei uns lief. Der Film wurde als Bester Animationsfilm 2010 für den Oscar nominiert und alle waren von der eleganten und geistreichen Tierfabel begeistert. Nach Up (derzeit Platz 1) hat es ein zweiter Animationsfilm mit einer sehr guten Note (2,1) in die Top Ten geschafft. Interessant. Ich werde mir den Film auf jeden Fall noch einmal im Original anschauen. Dort warten folgende englische Sprecher auf mich: Meryl Streep, George Clooney, Jason Schwartzman, Bill Murray, Owen Wilson, Willem Dafoe u.v.a.

Die Note für den geistreichen Fuchs wurde allerdings von Sturm getoppt. Der deutsch-dänisch-niederländischer Spielfilm aus dem Jahr 2009 zeigt meiner Meinung nach, dass Hans-Christian Schmid (Lichter, Requiem) zu den besten deutschen Filmemachern gehört. Schmid findet nicht nur provozierende Themen, sondern verbindet sehr viel Originalität auf authentische Weise mit der gewünschten Nachdenklichkeit. Und so gab es von allen eine Zwei, was bei einem nicht immer ganz einfachen Kriegsverbrecher-Drama am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag keine Selbstverständlichkeit ist. Politische Filme sind halt nicht jedermanns Sache, aber Schmid bringt sie an den Mann und die Frau. Ich hoffe, dass ich in den nächsten Wichen eine ausführliche Kritik hinbekomme.

Natürlich gibt es auch im Filmclub etwas zum Lachen. Jason Reitman hat nach Thank you for smoking und Juno eine spritzige Komödie mit George Clooney auf die Leinwand gebracht, die leider ihr politisch-satirisches Potential nicht ganz ausreizt: Clooney spielt in Up in the air einen Spezialisten, der für seine Auftraggeber die unangenehmen Entlassungsgespräche führt. Das heißt: er feuert Leute. Rhetorisch ansprechend, mit viel Mitgefühl und einem Schuss Lebensweisheit. Und zu diesem Zweck fliegt er pausenlos: Ryans großes Ziel ist es nämlich, die Zehn-Millionen-Frequent-Flyer-Meilen-Schallmauer zu überwinden. Leider verfolgt Reitman nicht den galligen Michael Moore-Ansatz des ersten Filmdrittels weiter, sondern entscheidet sich, das tragikomische Psychogramm eines Mannes zu zeichnen, der zu echten menschlichen Bindungen nicht mehr fähig ist. Das gelingt ihm recht gut, erfüllt aber nicht meine intimsten Wünsche. Muss es auch nicht.

Passend zur Fußball-WM wurde District 9 von Neill Blokamp (Produzent: Peter Jackson) vorgestellt. Mit einer Note von 2,4 schaffte es der im Blog bereits im Vorjahr rezensierte Film in die Top Ten, stieß aber bei einem Mitglied auf großen Widerstand – ungeachtet der Analogien zur Situation in Südafrika. Der auch formal sehenswerte Film hat gewiss seine Schwächen, ist unbestreitbar aber einer der originellsten Sci-Fi-Filme der letzten Jahre. Wenn der Schmuddellook nicht den einen oder anderen abnerven würde.

Gediegener und noch direkter am Thema Südafrika und Sport dran ist Invictus, Clint Eastwoods neuester Film, der sogar auf einer frisch aus Great Britain importierten Bluray präsentiert wurde. Das änderte nichts daran, dass die Lager (wieder einmal) gespalten waren: 2x Top, 1x hop („stinklangweilig) brachten den Film dennoch mit einer Note von 2,4 auf den derzeitigen 6. Platz der Top Ten. Eastwood erzählt etwas betulich die Geschichte vom Gewinn der Rugby-Weltmeisterschaft 1995 durch die bei den Schwarzen verhassten Springboks und darüber hinaus ein Kapitel aus der Geschichte Nelson Mandelas (Morgan Freeman), der mit dem weißen Mannschaftskapitän Francois Pienaar (Matt Damon) einen Pakt schließt, der die neue südafrikanische Nation vereinen soll. Am Ende jubeln auch die Schwarzen über den Turniersieg, aber der stocksolide und politisch korrekte Film stößt immer dann etwas sauer auf, wenn man sich daran erinnert, wie nah Südafrika in den Jahren zuvor am Abgrund der Anarchie stand und welche ups und downs die Nation in den Post-Apartheid-Jahren bis heute erleben musste. Ich erinnere nur an die unselige Leugnung des HIV-Virus durch die Regierung und den Versuch, Aids mit dem regelmäßigen Verzehr von Gemüse zu bekämpfen. So verzieht man beim pathetischen Happy-End doch etwas die Miene, auch wenn Morgan Freeman glänzend schauspielert und Damon regelrecht an die Wand spielt. Invictus ist sicher keines der großen Meisterwerke von Clint Eastwood, aber ein integrer und ordentlich inszenierter Film.
Ich habe nach einem halben Jahr jedoch das Gefühl, dass Invictus auch ein wenig das Filmjahr 2010 repräsentiert. Die ganz großen Kracher fehlen, sieht man mal von Avatar ab, und in der zweiten Jahreshälfte kann es eigentlich nur besser werden.

Klass

Estland 2007 - Regie: Ilmar Raag - Darsteller: Pärt Uusberg, Vallo Kirs, Lauri Pedaja, Karl Sakrits, Mikk Mägi, Riina Ries, Paula Solvak, Virgo Ernits, Joonas Paas, Triin Tenso, Margus Prangel, Tiina Rebane, Marje Metsur - FSK: ab 16 - Länge: 97 min. - Start: 15.10.2009

Die Frage nach dem richtigen Begriff hilft nur bedingt dabei, die Ursachen zu verstehen: Ist es Mobbing oder Bullying, was das Alpha-Männchen Anders (Lauri Pedaja) und seine Clique mit dem unsportlichen und introvertierten Joosep (Pärt Uusberg) anstellen?
Auch dem kann die semantische Trennschärfe egal sein, da es am Ende immer aufs Gleiche hinausläuft: er wird von der Mehrheit der Klasse terrorisiert, die Demütigungen eskalieren zunehmend, gehen in physische Gewalt und schließlich in sexuelle Demütigung über.
Schulleitung und Lehrer wirken in diesem Kosmos der Rohheit wie Aliens. Sie verstehen nichts und wenn sie einschreiten, haben sie nicht einmal ansatzweise die Dynamik begriffen, die in der Klasse herrscht, und verschärfen nichts ahnend die Torturen des Opfers. Auch die Eltern wirken wie Marsianer, die eine andere Sprache sprechen oder gleich die Selbstjustiz anempfehlen, wie dies Jooseps Vater tut.
Der Erstling des estnischen Regisseurs Elmar Raag endet schließlich mit einer Racheaktion, die sich wohl so mancher Zuschauer herbeigesehnt hat, hoffentlich ahnend, dass er in die Falle eines suggestiven Films geraten ist, der provoziert, aber keine Antworten gibt.

Auf der Suche nach der verlorenen Erklärung
Was ist Mobbing? Wer googelt, wird schnell fündig und kann auf qualitativ hochwertigen Websites alle Facetten dieses Phänomens kennen lernen: Mobbing im Alltag, im Beruf, in der Schule. Alles fein säuberlich in Kategorien unterteilt und im Jargon der Sozialpsychologie sprachlich gebändigt, bis hin zur analytisch nachvollziehbaren Beschreibung der Täter mit ihrem extremen Aggressionspotential, der schweigenden und vor Angst gelähmten passiven Zuschauer, die alles tun, um nicht selbst Opfer zu werden, und der garantiert empathiefreien Johler, die einen Heidenspaß beim Zuschauen haben und deren Intelligenzdefizite buchstäblich zum Himmel schreien.
Doch warum Menschen sich in Kindheit und Jugend in mitleidlose Täter verwandeln, bleibt uns ein Rätsel. Sicher, die moderne Hirnforschung ist auch hier um eine Antwort nicht verlegen, aber die Einsicht, dass einige Kinder auf Grund subtiler Hirndefekte, miserabler Familienstrukturen und einer verkorksten Sozialisation schon früh zu Soziopathen mutieren, lässt uns verstört zurück, denn auch hier bleibt die Frage im Raum: Wieso schaffen es die Verkorksten, massenhaft Jünger um sich zu scharen und ein perfektes Terror-Netzwerk aufzubauen?

In Klass gibt eine Sportstunde den Ausschlag. Joosep versaut beim Basketball dem Gruppenleader Anders durch eine Mischung aus Tollpatschigkeit und Provokation den Sieg und wird von nun an fertig gemacht. Raag spielt dabei alle bekannten Mechanismen des Mobbings durch und variiert sie sogar: so wird es Joosep nicht etwa zum Verhängnis, dass er keine Markenklamotten trägt (was häufige Ursache von Ausgrenzungen ist), sondern genau das Gegenteil: er trägt sie und er ist es, wie Anders feststellt, nicht wert. Also werden die Embleme zerstört. Als Joosep im Unterricht ein Schulheft entwendet wird, eskaliert alles, weil der Malträtierte den Diebstahl öffentlich macht und Anders einen Vorwand liefert, die Qualen in ein tägliches Ritual zu verwandeln.

Ein kalter Kosmos ohne Hoffnung
Raag lässt in seiner auch im Detail akribischen Studie keinen Optimismus zu. Hilfe existiert nicht und als Karsten, ein Schüler, der eigentlich zur Clique von Anders gehört, damit beginnt, Joosep zu helfen, geschieht dies weniger aus moralischer Verantwortung als vielmehr aus ganz anderen Gründen: er beendet eine demütigenden Aktion auf Bitte seiner Freundin Thea und zieht sich den Zorn des Alphatieres erst recht zu, als dieser sieht, dass Karsten eine Beziehung zu Thea hat, etwas, was Anders offenbar nicht zustande bringt. Erst nachdem Karsten selbst ins Netz der Mobber geraten ist, findet er zur Aussage „Das ist eine Frage der Ehre“. Das ist natürlich eine Instrumentalisierung der Moral und damit und viel eher ein aus der Not geborener Pragmatismus.

Raag hat seinen Film in Kapitel unterteilt, die Überschriften haben, die man als zynisch bezeichnen kann, die aber tatsächlich mit eisiger Ironie die stufenweise Eskalation ankündigen, die das folgende Szenarium dann mit fast naturgesetzlicher Gewalt umsetzt. Dieser strengen Struktur stehen immer wieder videoclip-ähnliche Trailer gegenüber, in denen die zentralen Themen Gewalt und Ausgrenzung wie universelle Topoi der Schullandschaft wirken. Dies wirkt etwas kokett, notwendig sind diese formalen Accessoires nur bedingt. Sie führen aber nicht zu einem „Scheitern auf ästhetischer Ebene“, wie der Kritiker Sascha Keilholz zu erkennen glaubte. Dessen Plädoyer für Filme wie Sieben Tage Sonntag (2007) von Niels Laupert oder Weltstadt (2008) von Christian Klandt drückt eher das Bedürfnis aus, dem schwer Erklärbaren mit „formale(r) Strenge“ zu begegnen, so als sei das ästhetisch Innovative und die radikalen Abkehr von jedweder Psychologisierung die Rettung vor der eigenen Sprachlosigkeit und jener der Zuschauer. Und es auch keineswegs so, dass Ilmar Raag die Gefolgschaft Anders’ als „durchweg eindimensional, undifferenziert gezeichnete (n) Antagonisten“ zeichnet. Im Gegenteil: in der Gruppe des Chefmobbers nimmt ausgerechnet der intellektuell überlegene Klassenprimus die Beta-Rolle ein, einer zynischer Jugendlicher, der den infamen Einfall hat, Joosep und Karsten mit ausgeklügeltem Cyber-Mobbing in die Ecke zu drängen.

Suggestivität versus Rationalität
Die Filme von Laupert und Klandt basieren ebenso wie der von Raag und anders als Gus van Sants preisgekrönter Elephant auf tatsächlichen Ereignissen. Reine Fiktion, die gleichwohl tief in der schulischen Realität verankert wäre, erscheint mir als deutlich schwerer zu ertragen. Diese Verzahnung baut den appellativen Wert von „Klass“ begründeter auf, sie lässt kein Ausweichen zu. Dass in diesem kalten Netzwerk der Gewalt auch die Unbeteiligten nicht nur wegschauen, sondern überwiegend lustvoll zuschauen, ist daher das eigentlich Faszinierende an „Klass“. Denn auch der Terror wandelt auf dünnem Eis. Ohne den Mangel an Empathie und ohne das völlige Fehlen von Zivilcourage in einer geschlossenen sozialen Gruppe könnte Gewalt nur schwerlich existieren. Dass auch „Klass“ keine beruhigenden Einsichten liefert, ist weder zu vermeiden noch ist es gewünscht. Und hier hat Sascha Keilholz völlig Recht: „Ein Film in diesem Kontext kann nur Teil des Diskurses ein, muss über sich hinausweisen“. Eben.
Doch worauf kann der estnische Film verweisen? Zeigt er den sozialen Hintergrund der Täter? Nein. Dämonisiert er das Böse, das offenbar leicht in uns freizulegen ist? Nein. Konfrontiert er uns mit einer komplexen und gleichzeitig enigmatischen Analyse wie Haneke. Nein, auch nicht.
Raag macht indes etwas, was Alfred Hitchcock auch getan hat. Er manipuliert emotional den Zuschauer in etwas mehr als 90 Minuten so perfekt, dass dieser am Ende glaubt, dass es keine Alternative zum finalen Racheszenario gibt. Damit reiht sich Klass eher in das Genre der Vigilanten-Filme ein, die den Zuschauer wie Neil Jordans The Brave One (Die Fremde in dir) hineinziehen in die emotionale Ver- und Zerstörung des Opfers. Auch mit Jordans Film hatte die Kritik ihre ganz eigenen Schwierigkeiten und forderte, zweifellos politisch korrekt, eine Suche nach den Ursachen in gesellschaftlichen und/oder politischen Institutionen. Dieser Schrei nach Rationalität scheint mir indes etwas reflexhaft und verzweifelt zu sein, so als könne man mit nachvollziehbaren Gründen das Übel wegexorzieren.
Raag lässt dagegen Joosep und Kasper in der Schulmensa mit Gewehr und Pistole ein Massaker anrichten, dem schließlich auch Anders und einige Mittäter zum Opfer fallen, und konfrontiert fast noch eindringlicher als Jordan den Zuschauer nach kapitelweise dargereichten Exerzitien mit dessen eigener archaischen Triebstruktur, um sie nur wenig später wieder völlig auseinander zunehmen. Ich finde dies durchaus erschreckender als ein rationales Plädoyer für den Kantschen Imperativ, obwohl dieser sicherlich gediegener ist.

„Ich habe ein Mädchen aus der 8. Klasse erschossen“, klagt Karsten nach dem Töten.
Fast noch unerträglicher als dieses Lamento ist die sachlich-funktionale Unterweisung in die technische Handhabung der seinem Vater entwendeten Waffen, die Joosep vor dem Finale vornimmt: man müsse mit der Pistole schon sehr nahe an die Opfer herantreten, um sie sicher zu liquidieren. Später, als beide erschöpft an einer Wand sitzen, inmitten der Leichen, erinnert Joseep nach Karstens Klage an seine Einweisung in die Waffentechnik: er ist ein pervertierter Techniker des Tötens geworden, der gelassen Scheitern und Gelingen der Aktion auswertet, bei der auch unbeteiligte Mitschüler den Tod gefunden haben. Hier verlässt unser Gerechtigkeitsgefühl die Protagonisten.

Das Ende ist (fast) der kollektive Selbstmord. Doch Karsten lässt Joosep allein sterben. Er hat die Pistole an seiner Schläfe, aber er drückt anders als Joosep nicht ab. Er will leben, den Anderen zum Trotz. Mit Winnenden hat dies nichts zu tun.

Noten: BigDoc=2,5

Donnerstag, 20. Mai 2010

Das Massaker von Katyn

Polen 2007 - Originaltitel: Katyn - Regie: Andrzej Wajda - Darsteller: Maja Ostaszewska, Artur Zmijewski, Andrzej Chyra, Jan Englert, Danuta Stenka, Pawel Malaszynski, Magdalena Cielecka, Joachim Paul Assböck - FSK: ab 16 - Länge: 121 min.
Eine seltsame Begegnung mit einer Film-Ikone: fast dreißig Jahre, nachdem ich Andrzej Wajdas „Der Mann aus Marmor“ (1977) und „Der Mann aus Eisen“ (1981) für ein süd-deutsches Medien-Magazin besprach, sehe ich endlich wieder einen Film des großen polnischen Regisseurs, der nunmehr 84 Jahre alt ist. Schon damals, Anfang der 1980er Jahre, hatte Wajda sein Hauptwerk vorgelegt. In den Jahrzehnten danach folgten (nur) noch 12 Filme, „Das Massaker von Katyn“ ist der vorletzte Film eines Mannes, der es einfach nicht sein lässt.
Und meine persönliche Rezeptionsgeschichte? Nichts, Null. Allerdings nicht aus Desinteresse, sondern weil man Wajda nicht zu fassen bekommt – er ist aus der europäischen Filmdistribution verschwunden. Von gelegentlichen TV-Ausstrahlungen abgesehen, ist es fast unmöglich, Wajda-Filme zu sehen oder zu bekommen. Wer bei AMAZON nach den Filmen eines der bedeutendsten Autorenfilmer Europas sucht, findet als deutschsprachige Ausgaben natürlich den „Katayn“-Film (der jetzt endlich auf DVD und Blu-ray erschienen ist) und auch „Die Dämonen“ und „Korczak“, muss sich aber damit abfinden, dass er Wajdas Hauptwerk bestenfalls als Importware aus England oder Polen erhält.

Zerrieben zwischen den Fronten
Mit seinem Historienepos „Das Massaker von Katyn“, das 2008 als Bester Fremdsprachiger Film für den OSCAR nominiert wurde, setzt sich Wajda mit einer schmerzhaften biografischen Erfahrung auseinander: sein Vater gehörte zu den –zigtausenden Offizieren, die 1940 vom sowjetischen NKWD liquidiert wurden. Zwar nicht in Katyn, aber der Name des Wäldchens nahe dem russischen Koselsk wurde in der polnischen Geschichte zum Synonym für eine Gräueltat, die jahrzehntelang im kommunistischen Polen totgeschwiegen werden musste: 20.000 polnische Offiziere, aber auch viele Polizisten und Intellektuelle, wurden an verschiedenen Orten auf Anweisung Stalins, der einer Empfehlung Berias folgte, per Genicksschuss ermordet und in Massengräbern verscharrt. Noch während des Zweiten Weltkriegs exhumierte die Deutsche Wehrmacht die Toten und nutzte die Entdeckung für ihre Propaganda, während die Sowjets 1943 eine eigene Untersuchungskommission aufmarschieren ließ, um die Taten den Deutschen anzulasten. In Polen gab es bis Ende der 1980er Jahre keine Möglichkeit, dem Propaganda-Mythos etwas entgegenzusetzen – erst am 13. April 1990 gestand Gorbatschow die sowjetische Alleinschuld an den Massakern ein.

Wer die DVD startet, sieht zuerst Wajda, der vor dem Film eine kurze Erklärung abgibt, in der seine Betonung der deutsch-polnischen Freundschaft und der Rolle Polens in einem modernen Europa etwas altbacken daherkommt. Auch ich war irritiert. Vielleicht liegt dies daran, dass einem schnell die historische Sensibilität abhanden kommt. Sie ist allerdings gefordert, wenn man sich mit etwas mehr als nur der eigenen Geschichte beschäftigt – wenn dies überhaupt noch geschieht. Für den 84-jährigen Wajda, der nicht nur den Einmarsch der Deutschen in Polen erlebte, sondern auch die bewegte polnische Nachkriegsgeschichte (Wajda wurde als Kandidat der Solidarność in den polnischen Senat gewählt) ein wenig mitgestaltete, dürfte das demokratische Europa einen anderen Stellenwert besitzen als für den (west-)deutschen Kinogänger, der sich heutzutage mehr Gedanken über die Zukunft des Euro als über die Geschichte seines mehrfach überfallenen und geteilten Nachbarn macht.

Geschichte im Fast Forward
„Das Massaker von Katyn“ beginnt mit einer Aufnahme, die plakativ, aber eben auch genau diese polnische Zerrissenheit zeigt: es ist 1939, über ein Brücke hasten hunderte polnische Familien auf der Flucht vor den Deutschen, aus entgegengesetzter Richtung fliehen aber ebenso viele, denn die Russen haben die polnische Schwäche ausgenutzt und sind im Osten einmarschiert. Nur wenig später zeigt Wajda deutsche und russische Offiziere, die in bestem Einvernehmen über die Zerschlagung der polnischen Führungsschicht verhandeln. Die Deutschen schicken die akademische Führungsschicht nach Dachau, die Russen nehmen sich der militärischen Elite an und werden zudem über 100.000 Zivilisten in russische Gulags verschleppen.

Andrzej Wajda erzählt die Geschichte sehr elliptisch, fast jede Szene wird datiert und markiert einen Abschnitt der historischen Gesamtstrecke. Die Zeitsprünge sind oft groß, Überflüssiges wird weggelassen, nichts ist verschlüsselt – was Wajda sagen will, verbirgt sich nicht hinter komplexen psychologischen Konstellationen, fast etwas schulfunkhaft repräsentieren seine Protagonisten wichtige historische Schnittstellen, in denen das Private aufgegangen ist. Charismatische Figuren fehlen, es gibt keine Identifikation mit Helden, es gibt kein Schindler-Feeling. Ein Beispiel: Kurz vor Schluss lernen wir den polnischen Studenten Tadeusz kennen, der für den polnischen Widerstand gekämpft hat und angeekelt die russischen Besetzer provoziert. Fünf Filmminuten später ist er tot. So kappt Wajda alle Erwartungen an eine klassische Dramaturgie und verteilt die Erzählung auf unterschiedliche Schultern: Exemplarisches im Schnelldurchlauf.
So sehen wir am Anfang Andrzej, einen Offizier, der von den Sowjets interniert wird und sich weigert, mit seiner Frau Anna zu flüchten, weil für ihn Eid gegenüber der geschlagenen Armee das Wichtigste ist; in Krakau werden die Professoren von den Nazis gedemütigt und deportiert; die Frau eines Generals versucht, etwas über den Verbleib ihres Mann zu erfahren und wird von den Deutschen zur Kollaboration gedrängt, während in den Straßen über Lautsprecher die Totenlisten aus den Massengräbern verlesen werden.

Während der Film zunächst zwischen dem sowjetischem Gefangenenlager, in dem Andrzej ein Tagebuch führt, und den Schicksalen der männerlosen Frauen in Krakau hin- und herschneidet, zerbrechen im letzten Drittel die narrativen Kohäsionskräfte endgültig, nur noch schlaglichtartig werden Schicksale erzählt: nach der Befreiung Krakaus durch die Rote Armee wird Katyn von der sowjetischen Propaganda den Deutschen in die Schuhe geschoben, während das ‚neue’ Polen bereits mit historischen Aufräumarbeiten beginnt. Historische Zeugen des Massakers verschwinden; Studenten, deren Väter ermordet wurden, müssen ihre Lebensläufe der neuen Lesart anpassen; Jerzy, ein Freund Andrzejs, will sich als einer der wenigen Offiziere, die Katyn überlebt haben, zunächst arrangieren, erschießt sich aber verzweifelt, während eine Überlebende des Warschauer Aufstands ihrem in Katyn ermordeten Bruder einen Grabstein mit dem wahren Todesdatum meißeln lässt und dafür in den Kellern des Geheimdienstes verschwinden. So verschwinden halt die meisten Figuren aus Wajdas Film, so wie sie auch aus der Geschichte verschwunden sind.
Wajda deutet im letzten Drittel des Films die schmale Grenze zwischen Kollaboration und Widerstand in der Volksrepublik Polen nur noch als flüchtige Skizze an und springt dafür abrupt zurück ins Jahr 1940, um zwanzig Minuten lang mit fast dokumentarischer Genauigkeit die Arbeit der Erschießungskommandos zu zeigen, ehe der Film nach diesen schwer zu ertragenden Bildern mit einem langen Schwarzbild und der Musik von Krzysztof Penderecki endet.

Abgesang auf den Realismus
Wer soll sich so einen Film anschauen? Deutsche Schüler und Studenten, die bereits Schwierigkeiten mit den Eckdaten deutscher Geschichte haben, wohl kaum. Ihre polnischen Altersgenossen sollen im Kino geweint haben, aber berührt uns das noch, während wir von den Medien fast täglich mit frischen Grausamkeiten versorgt werden?
Andrzej Wajda hat lange Jahre an seinem Drehbuch gearbeitet und mit fast manischer Akribie Szenen entwickelt, die fast ausnahmslos durch historische Dokumente belegt sind. Nichts Künstliches, nichts Erdachtes sollte in die Fiktion einsickern, die ein Film letzten Endes immer ist und bleibt. Natürlich ist das Manische daran eben auch eine Antwort auf jahrzehntelange Lügen, aber es scheint auch ein trotziges Beharren auf einer Form von filmischem Realismus zu sein, die möglicherweise vor dem Aussterben steht: Ehrlichkeit, Exaktheit der Recherche, keine klassische Dramaturgie mit ihrem Identifikationspotential und den zwangsläufig damit verknüpften Entlastungsangeboten, Sujets, die von uns berichten, unserem Leben, unserer Geschichte, auch wenn Hollywood ein ähnliches Thema dem Publikum in bester 3-D-Qualität untergejubelt hat – falls es dies bemerkt hat.

„Solange es keine Filme und keine Literatur gibt, die die Fakten darstellt, existiert das Ereignis nicht im kollektiven Bewusstsein. Das sollten sie aber“, erklärte Wajda. „Es gibt die Überzeugung, dass eine Gesellschaft ohne Intelligenz eine Gesellschaft ohne Erinnerung, ohne Gedächtnis ist. Ohne Gedächtnis sind wir aber nur ein Sammelsurium, das man jederzeit zerstören kann.“

Der deutschsprachigen Kritik fehlte gelegentlich das Verständnis, aber nicht durchgehend. Es ist immer interessant zu sehen, was in Kritikerköpfen vorgeht und der eine oder andere Einwand kann durchaus ernst genommen werden. Wenn auch nicht jeder.
Rüdiger Suchsland erkennt in dem Film „Polit-Kitsch im Dienst der guten Sache“, Michael Kienzl reibt sich etwas differenzierter auf critic.de an der Narrativik, der es „an einer dramaturgischen Einheit (mangelt). Mehrmals schwankt er zwischen einer linearen, auf ein Einzelschicksal gerichteten Erzählweise und einer episodischen und fragmentarischen Struktur… Häufig...bleiben die Figuren leblose Illustration einer These.“ Und Ekkehard Knörer gehen in der TAZ ganz und gar die Gäule durch: ihm fehlt gar „ein Befreiungsschlag durch kühn kontrafaktische Fantastik, wie er Quentin Tarantino mit seinen "Inglourious Basterds" gelang, (dies) liegt einem Vertreter der Erzmoderne wie Wajda denkbar fern. So wählt er für seine Elegie das realistische Register und damit die naivste bildpolitische Variante.“
Hier hält wenigstens Andreas Kilb in der FAZ dagegen: „Der Film zerfällt in zwei Teile, eine lange Erzählung der Lebenden und eine kurze Erzählung der Toten, und es ist gerade diese Uneinheitlichkeit, diese dramaturgische Unwucht, die Andrzej Wajdas „Massaker von Katyn“ so faszinierend macht.“

Mein Fazit fällt etwas anders aus, zumal ich in einem realistischen Duktus zum Glück immer noch nicht die ihm innewohnende bildpolitische Naivität entdecken kann: den Andrzej Wajda, den ich kannte, habe ich nicht wieder gefunden – den raffinierten, intellektuell herausfordernden Filmemacher von „Der Mann aus Marmor“ und „Der Mann aus Eisen“, der Geschichtslektionen mit formal abgründigen Medienanalysen verknüpft hat und Meisterwerke des europäischen Kinos geschaffen hat.
In „Das Massaker von Katyn“ ist mir ein Filmemacher begegnet, dessen Alter die denkbare Option, nämlich im Kino der Suche nach ästhetischen Innovationen noch Bedeutung beimessen zu wollen, abhanden gekommen ist. „Das Massaker von Katyn“ schert sich nicht darum, der Film ist weder emotional noch pathetisch und ganz gewiss fehlt ihm die auch die gewohnte dramaturgische Einheit. Wajdas Film ist streng und reduziert und verzweifelt. Diese Begegnung von Kino und Purgatorium hat sich mir eingeprägt.

Noten: BigDoc = 2

Mittwoch, 21. April 2010

Die Päpstin

Deutschland / Großbritannien / Italien / Spanien 2009 - Regie: Sönke Wortmann - Darsteller: Johanna Wokalek, David Wenham, John Goodman, Iain Glen, Anatole Taubman, Jördis Triebel - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 148 min.

Synopsis:
Anfang des 9. Jh. wird Johanna in einem kleinen rheinischen Dorf geboren. Das intelligente Kind ist wissbegierig und lernfähig – in den Augen ihres Vaters, des Dorfpriesters, eine Entartung. Trotzdem gelingt es dem Mädchen, das Griechisch lesen und schreiben kann und Protegé des Bischofs ist, der Sprung an die Domschule. Dort begegnet sie Graf Gerold (David Wenham), einem Edelmann am Hofe des Bischofs. Gerold lässt das Mädchen bei sich aufwachsen und verliebt sich später in die junge Frau. Als Gerold gegen die Normannen in den Krieg zieht, tritt Johanna (Johanna Wokalek) unter dem Namen Bruder Johannes Anglicus ins Benediktinerkloster Fulda ein und entwickelt dort beachtliche Kenntnisse der Heilkunde. Doch die Pest bricht aus, ihre weibliche Identität droht entdeckt zu werden. Johanna flieht nach Rom, wo sie zum Leibarzt des Papstes Sergius II. (John Goodman) aufsteigt. Als Kaiser Lothar I. das Papsttum politisch unterwerfen will, rettet Johanna mit einem mechanischen Trick, der wie ein Gottesbeweis auf Lothars Truppen wirkt, den machtlosen Gregorius. Sie begegnet erneut Gerold, entscheidet sich aber gegen ein normales Leben und für ihre Berufung. Als der Papst einer Intrige zum Opfer fällt, wird Johanna völlig überraschend per Akklamation zum Papst gewählt. Erneut droht die Enthüllung, als sie von Gerold schwanger wird.

Kommentar:
Der Weltbestseller von Donna Woolfolk Cross gehört bei den deutschen Lesern zu den beliebtesten Büchern aller Zeiten. Die opulente Saga war eine geschickte Mixtur aus Historienspektakel, Emanzipationsgeschichte und verpilcherter Love Story und konnte durchaus als durchschnittliche Unterhaltungsliteratur durchgehen. Ihr Erfolg machte eine Verfilmung unvermeidlich.
Die Produktionsgeschichte ist bekannt: der als Regisseur vorgesehene Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff beschäftigte sich über acht Jahre mit dem Projekt, wurde aber 2008 von der Constantin Film gefeuert, nachdem er sich in einem Interview kritisch über die Strategie des „Amphibienfilms“ geäußert hatte. Nachfolger wurde Sönke Wortmann („Das Wunder von Bern“), der das gewünschte amphibische Resultat ablieferte: nämlich ausreichend Material für eine gekürzte Kinofassung und auch für die anschließende Auswertung als TV-Mehrteiler abzudrehen.

Das Ergebnis erntete überwiegend Spott und Hohn bei der Kritik. Zu Unrecht, denn „Die Päpstin“ ist ein Artikel, der angesichts der Bilanzerwartungen der Produzenten konsequent auf den kleinsten gemeinsamen Erzählnenner heruntergebrochen werden musste, um sein Verwertungspotential möglichst effektiv auszureizen. Das ist gelungen: Kinozuschauer, die nicht allzu sehr durch historische Kenntnisse der frühen Mittelalters und seiner geistesgeschichtlichen Bedeutung belastet werden und die der sowohl dem Buch als auch dem Film aufgepfropften Gender-Problematik ein gewisses Maß an Political Correctness abgewinnen können, werden mit einem unterhaltsamen szenischen Bilderbogen belohnt, der opulent in Szene gesetzt wurde, trotz einiger Kürzungen die wichtigsten Episoden des Buches enthält und den man problemlos verstehen kann. Alles hat irgendwie vertrautes Schulfunk-Niveau, nur dass man nun auch einige nette illustrative Bilder zu sehen bekommt. Sie bestätigen zudem die Erwartungen, die man vom Mittelalter halt hat: Die Hygiene ist unter aller Sau, die Kleriker halten sich nicht immer ans Zölibat und sind verfressen und machtgeil, die Bösen und die Intriganten sind bildungsfern, gehässig und neidisch, man erkennt sie überwiegend an abstehenden Segelohren, entstellten Gesichtszügen oder schwarzen Bärten. Und die Guten sind edle Ritter und gebildete Kleriker, blond oder weißhaarig, aufgeklärt und tolerant und sie kennen zum Entsetzen ihrer verstockten Umwelt sogar die alten Schriften der Antike. Und auch Johanna, die übrigens von Namensvetterin Johanna Wokalek durchaus gelungen gespielt wird, ist eine widerspruchsfreie und moralisch keimfreie Verkörperung des Gutmenschentums, sodass man nie fragt, warum ihr nicht auffällt, dass die christliche Religion bereits 800 Jahre nach Christi Tod intellektuell und moralisch völlig auf den Hund gekommen ist.
Man sollte sich daher auch nicht darüber aufregen, dass es im 9. Jh. überhaupt keinen Papst gab, sondern nur den ‚Bischof von Rom’ – solche Feinheiten sind nur für Erbsenzähler interessant. Auch ist anzuraten, den wirklich erschreckend salbadernden Off-Erzähler mit Geduld zu ertragen, immerhin sind drei Jahrzehnte Erzählstoff zusammenzuklammern.
Zudem ist Sönke Wortmann künstlerisch keineswegs gescheitert, hier waren einige Kritiker wohl im falschen Film. Wortmann behält konsequent den Stoff im Sinne einer Massenkompatibilität im Griff. Er eckt nicht an, provoziert nicht und geht einigermaßen respektvoll mit seiner Hauptfigur um: ein biederer Erzähler, der jedes Risiko und auch jedwede stilistische Anormalität wie das Weihwasser scheut, aber die 20 Millionen Euro Produktionskosten auch nicht vor die Wand fährt und für die etwas differenzierteren Gemüter in einigen Szenen immerhin andeutet, was in dem Stoff steckt.
Wenn etwa der greise Lehrer Aesculapius mit Johannas engstirnigen Vater über Platos Höhlengleichnis diskutiert, hat dank Wortmann, der auch das Skript geschrieben hat, die heimlich lauschende Johanna ihr rationales Erweckungserlebnis, das der Off-Sprecher auch sofort beflissen erklärt: Gott hat uns die Vernunft geschenkt und Frauen dürfen lesen lernen. Das ist doch eine Ansage.

Synonyme für ‚bieder’ sind übrigens: tugendhaft, ehrenwert und vertrauenswürdig. Für soviel Semantik sollten sich die Kritiker nicht zu schade sein, wenn sie Sönke Wortmann über den Tisch ziehen. Und vielleicht gibt es ja in der TV-Langfassung einen legendären Director’s Cut zu sehen, der alle intelligenten und zum Mitdenken anregenden Dialoge enthält, die aus der Kinofassung herausgeschnitten wurden. Die Constantin hat mit „Der Name der Rose“ gezeigt, wie man mit solchen Stoffen umgeht. So etwas verlernt man nicht.

Noten: BigDoc = 4
Postskriptum: Die Hartleibigen, denen all dies nicht genügt, sollten nicht auf die TV-Version warten, sondern sich in der Wikipedia über den Niedergang des Weströmischen Reiches, die Bücherverluste in der Spätantike und den Niedergang der überlieferten Geisteswissenschaften informieren. Das ist spannend wie ein Krimi, leider ohne Bilder.