Mittwoch, 15. August 2012

Prometheus - Dunkle Zeichen


USA 2012 - Originaltitel: Prometheus - Regie: Ridley Scott - Darsteller: Noomi Rapace, Michael Fassbender, Guy Pearce, Idris Elba, Logan Marshall-Green, Charlize Theron, Rafe Spall, Sean Harris - Prädikat: wertvoll - FSK: ab 16 - Länge: 124 min. 

Am Anfang ist man nicht im All. Ein Raumschiff gleitet elegant über eine Landschaft, die durchaus unsere Erde sein könnte. Oder auch nicht. Nahe eines Wasserfalls steht ein humanoides, aber bleichgesichtiges Wesen, das ganz sicher nicht Mitglied unserer Spezies ist. Der Mann trinkt aus einem kleinen Behälter und zerfällt unter Krämpfen in seine molekularen Bestandteile, die vom Wasser davon gespült werden. In einer Großaufnahme sieht man Fetzen des ursprünglichen DNA-Stranges durchs Wasser trudeln.
So kam also Leben auf unseren und wohl auch andere Planeten? Dank eines rituellen Opfer und durch den Tod des Schöpfers? Ein paar genetische Fragmente, von denen man sicher nicht wissen kann, was so alles aus ihnen hervorgeht? Genesis als Experiment ... Eine Schöpferrasse, die auf das Prinzip Zufall setzt? Das kann in die Hose gehen, da muss man schon mal nachbessern dürfen.

"Big things have small beginnings" (David)
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ (Hermann Hesse)

Elizabeth Shaw (Noomi Rapace) muss Hesse gelesen haben. Sie ist eine spirituelle, eigentlich schon tief religiöse Frau, die an beseelte Ursprünge der menschlichen Existenz auf diesem Planeten glaubt. Charlie Holloway (Logan Marshall-Green) ist da ein Stück pragmatischer. Im Jahre 2089 entdecken die beiden Archäologen in einer Höhle imposante Wandmalereien, auf denen die Ureinwohner der schottischen Isle of Skye und, wie Shaw glaubt, riesige „Besucher“ aus einer anderen Welt zu sehen sind. Sie nennt die Riesen „Konstrukteure“, während Hinweise an den Höhlenwände auf das 40 Lichtjahre entfernte Sonnensystem Zeta Reticuli[1] hindeuten.
Vier Jahre später fliegt das von der Weyland Industries gebaute Raumschiff Prometheus zum erdähnlichen Mond LV-223. Mit an Bord sind neben Shaw und Holloway und einem Dutzend Besatzungsmitgliedern die Expeditionsleiterin Meredith Vickers (Charlize Theron), Janek (Idris Elba), der Kapitän des Schiffs, und der Androide David (Michael Fassbender). Während der fast 100-jährige Unternehmens-Tycoon Peter Weyland per Holo-Botschaft auf die Missionsziele einstimmt, ist Shaw nach wie vor davon überzeugt, auf LV-223 den Konstrukteuren der menschlichen Rasse gegenübertreten zu können. Und natürlich, um Fragen zu stellen: Wo kommen wir her? Und wer hat die Konstrukteure erschaffen?

„Prometheus“ legt mit den ersten Bildern den bekannten mythologischen und auch genretopologischen Kern der Alien-Saga fest: die verhängnisvolle Reise von mehr oder weniger unfreiwilligen Entdeckern, die allerdings nicht ins Gelobte Land, sondern in den Tod führt und dabei eine Monstrosität heraufbeschwören wird, die schlimmer ist, als man sich es in den schlimmsten Träumen vorzustellen vermochte.
Zu dieser Mythologie gehören selbstverständlich auch Täuschung und Verrat, Rätsel und Geheimnisse sowie schäbige wirtschaftliche Absichten oder sonstwie eigennützige menschliche Egoismen, die den Triumph des Grauens erst ermöglichen. Das hat bereits Ridley Scotts „Alien“ (1979) durchdekliniert und die nachfolgenden Filme von James Cameron (Aliens, 1986), David Fincher (Alien³, 1992) und Jean-Pieree Jeunet (Alien: Resurrection, 1997) haben mit unterschiedlicher Qualität die Geschichte bis zum bitteren Ende ausgesponnen und ein geschlossenes Universum geschaffen, das bis heute die visuellen Parameter für die Art und Weise, wie wir uns Monster im Weltall vorzustellen haben, festgelegt hat.

Dass er nicht im falschen Universum ist, wird dem geschulten Publikum schnell klar, nachdem ein Expeditionsteam in ein dunkles Tunnelsystem eindringt, das unter gigantischen Pyramidenbauten liegt. Das Team entdeckt nicht nur eine riesige humanoide Gesichtsskulptur, die an den Konstrukteur aus der Pre-Title-Sequence erinnert, sondern später auch eine Abbildung, die den berüchtigten Xenomorph darstellt, jenes tödliche Alien, das später die „Nostromo“ verwüsten wird. Eins ist klar: hier geht es nicht mit rechten Dingen zu.

Kryptischer Plot 
Doch was ist hier vor Jahrtausenden geschehen? Nach der kurzen Exposition breitet Ridley Scott im Hauptteil ein labyrinthisches Geflecht von Andeutungen und Rätseln aus, das sehr viel Dunkel ins Licht bringt: in einer holografischen Aufzeichnung sieht man die vermeintlichen Konstrukteure vor einer unbekannten Gefahr fliehen, man findet einen Enthaupteten, dessen Tod auf 2000 Jahre zurückdatiert werden kann. Und in riesigen Fässern ist ein geheimnisvolles Öl eingelagert (Akte X lässt auch hier grüßen), das offenbar völlig unterschiedliche Wirkungen besitzt und rasch Würmer zu gefährlichen Monstern und achtlose Besatzungsmitglieder zu entstellten Killermaschinen mutieren lässt. Und als Untersuchungen zeigen, dass die DNA der auf geheimnisvolle Weise ausgerotteten Konstrukteure zu hundert Prozent menschlich ist, wird zumindest dieser Teil der Vision von Elisabeth Shaw bestätigt.
Je länger man versucht, die dunklen Andeutungen in „Prometheus“ zu entschlüsseln, desto verrätselter wird der Plot. Und dies scheint kein Zufall zu sein, sondern Kalkül, denn der serienerfahrene Drehbuchautor Damon Lindelof („Crossing Jordan“, „Lost“), der das erste Script von Jon Spaihts („The Darkest Hour“) in die von Scott gewünschte Richtung lenkte, dürfte nicht zuletzt dank der Zusammenarbeit mit J.J. Abrams genau wissen, wie man eine Geschichte in einen Mix aus Mystery, Sci-Fi und Actiondrama verwandelt und mit ein paar philosophischen Häppchen so anreichert, dass sich dank eines ausgefeilten Metaplots die Story beliebig verlängern lässt, ohne dass alle Rätsel gelöst werden müssen. „Prometheus“ ist daher auch in gewisser Hinsicht „Fringe“, bloß nun für’s große Kino.
Warum findet man in den Höhlen eine riesige Skulptur des Xenomorph, wenn dieser doch erst am Filmende zum ersten Mal auftaucht? Sind die anderen Monster neue Aliens oder Vorläufer des „Chestburster“? Ist das in tausenden Behältern eingelagerte dunkele Öl eine Massenvernichtungswaffe, mit der die Konstrukteure die menschliche Rasse auslöschen wollen, so glaubt es jedenfalls Janek, oder hat es ganz andere Funktionen und die Hypothese vom großen Genozid an unserer Spezies durch ihre eigenen Schöpfer ist ein verhängnisvoller Irrtum, der am Ende zudem noch für ein tödliches Finale verantwortlich ist.

Mittlerweile ist auch das Internet voll mit spekulativen Theorien über die Veränderungen, die „Prometheus“ in die Mythologie[2] eingeführt hat. Ridley Scott hat diesen Hype durch einige durchaus spannende Andeutungen[3] über Kreationismus und Darwinismus angeheizt und durch Überlegungen zu John Miltons „Paradise Lost“ abgerundet. Natürlich gibt „Prometheus“ keine endgültige Antwort auf all diese Fragen, verweist aber mit einem riesigen Zeigefinger auf eine mögliche Fortsetzung. Wetten, dass uns auch dieser Film keinen Schritt weiterbringen wird?
Am Ende ist es ein wenig wie bei „Fringe“: man interessiert sich mehr für die Schrulligkeiten Walters und das Love Interest von Olivia und Peter und weniger für die mysteriösen „Beobachter“ und die Zeitlinienverschiebungen innerhalb der Paralleluniversen.

Der Androide und die Spirituelle
In „Prometheus“ gibt es Love Interest nur am Rande. Dafür wird ein seltsames Paar zusammengeschmiedet, das am Ende in eine ungewisse Zukunft davonfliegt: es sind David, der Androide, und Elizabeth, die gläubige Wissenschaftlerin.
David (exzellent von Michael Fassbender gespielt) ist auf seine ganz eigene Weise ein Freak: während die Besatzung auf der langen Hinreise im Kälteschlaf liegt, schaut sich der intelligente, aber emotionslose (?) Roboter mit Hingabe (!) David Leans „Lawrence of Arabia“ an, stylt sich à la Peter O’Toole und übt indogermanische Sprachen, um mit den Konstrukteuren kommunizieren zu können. David wird es als Teil einer allzumenschlichen Intrige gelingen, der eigentlich unfruchtbaren Elizabeth zu einer Schwangerschaft der morbiden Art zu verhelfen , indem er Charlie Holloway einen Tropfen des schwarzen Öls ins Getränk mischt. Nachdem dieser mit der Archäologin geschlafen hat, wächst rasch etwas Beunruhigendes in deren Bauch heran.
Die Szene, in der sich Elizabeth in einem vollautomatischen Operationstank einen krakenähnlichen Fötus aus dem Leib schneiden lässt, lässt folgerichtig Erinnerungen an die ambivalente Natur der Mutterrolle von Sigourney Weaver hochkommen, zeigt aber auch, dass der Body Horror, den wir aus „Alien“ kennen, durchaus gesteigert werden kann.
Mit David und Elizabeth ist Lindelof und Scott auf jeden Fall ein denkwürdiges Paar gelungen. Während David mit elegantem Charme und eiskalter Berechnung das vorbereitet, was die zynische Expeditionsleiterin Meredith Vickers und ihr größenwahnsinniger Vater Peter Weyland (Guy Pearce) geplant haben, sucht Elizabeth mit der unerschütterlicher Gläubigkeit eines Fox Mulder die Ursprünge der menschlichen Existenz. Beide werden, jeder auf andere Weise, missbraucht, um den Wunsch nach ewigem Leben zu erfüllen, der alleiniger Grund der Reise ist und – wen wundert’s – natürlich in den Tod führt. 
Am Ende kommt es zu einem der schönsten Dialoge im Film: Peter Weyland liegt sterbend auf dem Boden, neben ihm der abgerissene Kopf von David, und der Tycoon, der Gott sein wollte, murmelt mit einem prophetischen Blick ins Jenseits: "Da ist nichts!" Und David, genauer gesagt sein Kopf, antwortet mit einem charmanten Lächeln: "Ich weiß."

Handwerklich überragend
Scott gelingt es trotz der enigmatischen Plotstruktur tatsächlich, die Figurenzeichnung einigermaßen im Griff zu behalten und die Charaktere so auszuarbeiten, dass sie mehr sind als Stichwortgeber in einem ruhelosen Actionspektakel, aber eine emotionale Bindung des Zuschauers an das Motivgemenge will dennoch nicht recht gelingen. Vielleicht liegt dies auch an den 25 Minuten, die Scott für die immer noch über zwei Stunden lange Kinofassung herausgeschnitten hat. Ein Director’s Cut ist nicht vorgesehen, aber was heißt das schon? Immerhin hat die 20th Century Fox die Strategie aufgegriffen, erfolgreiche TV-Serien durch spezielle Webisodes (kurze zusätzliche Episoden, die im Internet gestreamt werden) zu ergänzen und eine ziemlich sehenswerte Website kreiiert, in der sich überraschend aufwendig die fiktiven „Weyland Industries“ vorstellen dürfen.[4]
Dass der Film nicht aus den Gleisen fliegt, liegt aber auch der unaufgeregten Inszenierung Ridley Scotts, der weitgehend offene Einstellungen bevorzugt und auf ein starkes Team zurückgreifen konnte: der zweimalige OSCAR-Gewinner und Cutter Pietro Scalia arbeitet regelmäßig mit Scott zusammen (u.a. Gladiator, Hannibal, Black Hawk Down, American Gangster) und hat zuletzt „The Amazing Spider-Man“ geschnitten. Der in Polen geborene Kameramann Dariusz Wolski war u.a. für alle Teile von „Pirates of the Caribbean“ verantwortlich und hat durchaus auch ein Faible für düstere Settings. Herausgekommen ist ein in handwerklicher Hinsicht absolut überragender Sci-Fi-Film, der einige Schauwerte abliefert, wie man sie von gutem Genrekino erwarten darf.

Die Büchse der Pandora: Drei Jahrhunderte Darwinismus – ein Witz?
Dass ausgerechnet das Raumschiff den Namen einer mythischen Figur trägt, diente Scott sicher als wichtiger Baustein im Puzzle seiner Themenwelt. In der griechischen Mythologie ist Prometheus ein Titan, der die Menschen aus Ton formte und die olympischen Götter betrog, als sie von den Menschen ein angemessenes Opfer verlangten. Für diesen Fehltritt wurden aber die Menschen bestraft: ihnen wurde das Feuer vorenthalten. Als Prometheus gegen den Willen der Götter den Menschen das Feuer dennoch schenkt, werden die Götter endgültig sauer und schicken eine reizende Jungfrau auf die Erde, die den Menschen eine geheimnisvolle Büchse schenkt. Als sie geöffnet wird, schweben alle denkbaren Übel heraus und verwüsten den Planeten. Nur die Hoffnung (!) bleibt in der eilig verschlossenen Büchse. Und Prometheus? Der wird im Kaukasus an einen Felsen gefesselt, wo ihm tagtäglich ein riesiger Adler die Leber aus dem Leibe hackt[5]. Das ist schon eine ziemlich steile Vorlage für einen Film.

Als die Prometheus über LV 223 schwebt und die Crew von Shaw über ihre Mission informiert wird, bemerkt ein Exo-Geologe zynisch: „Drei Jahrhunderte Darwinismus – ein Witz?“ Wenn es ein zentrales Thema in „Prometheus“ gibt, dann ist dies weniger die Frage nach der Herkunft des Xenomorph, sondern die nach den Grenzen eines Genrefilms. Wie weit kann man das Genre ausreizen, wann wird es überdehnt?
Ridley Scotts „Alien“ zog einen Großteil seiner Wucht aus der vergleichsweise straight gestrickten Story, ihrer klaustrophobischen Atmosphäre und dem brillanten Set-Design H-R. Gigers. „Prometheus“ will dagegen gute Mainstream-Kost bieten, dabei aber auch die Kohärenz unsere kulturellen Mythen auf den Prüfstand stellen und dabei einen Blick auf unsere materialistische Wissenschaftsgläubigkeit werfen. Im enigmatischen Plot von „Prometheus“ wird daher einiges durchgekaut, was bereits Stanley Kubrick in „A Space Odyssee“ zu einem bildgewaltigen Rätsel geführt hat. Und dabei offenbart uns der Film Ridley Scotts eher eine deutlich skeptischere Einsicht: entweder ist die Evolution ein verblüffender Zufall oder man tut gut daran, die Büchse der Pandora nicht zu öffnen.

Alien: Prometheus
Ein Spagat, der einiges abverlangt. Auch in Hinblick auf die Geschlossenheit des „Alien“-Universums.
Ist „Prometheus“ ein richtiges Sequel oder nicht?
Es ist eins: Scott bietet trotz einiger anderlautender Aussagen in „Prometheus“ nicht im Geringsten ein Standalone-Movie. Der Film ist ein völlig schlüssiges Alien-Prequel, das alle Ingredienzien des Alien-Universums bereit hält: eine fatale Erkundungsreise zu einem mysteriösen Planeten; technologische Hybris und weitgehende Amoralität werden erneut durch einen Großkonzern repräsentiert, die Weyland Industries; wie in Alien 1-4 steht eine Frau im Mittelpunkt, die erneut eine fast letale Mutterrolle übernehmen muss; auch ein allen anderen intellektuell überlegener Androide darf nicht fehlen (ihm wird am Ende konsequent der Kopf von den Schultern gerissen), und selbstverständlich gibt es auch die „Facehugger“ und „Chestburster“, jene monströsen Viecher, die sich unterschiedlicher Wirtskörper bedienen, um das Alien zu gebären.
Mit anderen Worten: eigentlich hätte der Filmtitel „Alien: Prometheus“ heißen können und nichts wäre daran falsch gewesen. Aber Ridley Scott hatte da zumindest bei den Vorplanungen ganz anderes im Sinn, denn sein Film trug ursprünglich den Arbeitstitel „Paradise“ – und das mit einer gewollten Anspielung auf John Miltons „Paradise Lost“, jenem Epos, das zu einem gewaltigen Baustein der abendländischen Kultur wurde und dessen Hauptfiguren Satan und seine Schar der gefallenen Engel waren, jene „Dark Angels“, mit denen Scott die über-menschlichen „Konstrukteure“ in „Prometheus“ flapsig auf einen metaphysischen Punkt bringen will:
"In a funny kind of way, if you look at the Engineers, they're tall and elegant… they are dark angels. If you look at 'Paradise Lost,' the guys who have the best time in the story are the dark angels, not God." [6]

Ursprünglich war sogar angedacht, die geplante Vernichtung der Menschheit als Vergeltung für die Kreuzigung Jesu Christi zu zeigen. Jesus war demnach ein „Konstrukteur“, der die Menschheit reparieren sollte und stattdessen gekreuzigt wurde. Ridley Scott hat gut daran getan, darauf zu verzichten, weniger aus religiösen Gründen, sondern auch, weil auf diese Weise die Schmerzgrenze der Überdehnung des Plots schnell erreicht worden wäre.

Es ist so: an manchen Regisseuren kleben die guten Taten wie Pech und Teer. „Alien“ war ein Masterpiece. Man erwartet mehr davon. Ridley Scott kann das, das Potential ist auch nach vielen Jahrzehnten nicht verschwunden. Doch diesmal verfehlt er den großen Wurf ganz knapp. Vieles wirkt in „Prometheus“ so, als hätte er brillante Szenen in letzter Minuten zusammengeschnitten und gekürzt, während die Reste als Andeutungen im filmischen Raum schweben.
David: ein paar nuancierte Dialogpassagen mehr und aus der Figur hätte ein Genremythos werden können.
Aber vielleicht sind es die falschen Zeiten für Filme, wie sie Scott eigentlich machen kann. Es ist eine Zeit, in der man den zynisch-intellektuellen Clown kurz feiert, dann aber auf die bewährte Kampfmaschine setzt. Es ist die Entwicklung des Mainstream, die am Ende doch lieber Bane sieht und nicht den Joker. Aber vielleicht ist „Prometheus“ auch der Beginn einer Trilogie und auf den ersten Teil folgt wie bei Nolan ein blendender Höhepunkt vor dem Abstieg.

Remake ein Klassikers?
Was also haben wir gesehen? Zunächst einen fast schon tradionalistischen Science-Fiction-Film, der verblüffende Parallelen zum großen MGM-Klassiker Forbidden Planet" aufweist: auch dort gab es eine Mission zu einer unbekannten Welt, auf der eine überlegene Technologie tief unter der Erde auf die Besucher wartet. In beiden Filmen gibt es Raumschiffe, deren Namen aus der griechischen Mythologie stammen (in Forbidden Planet" wird nach dem verschollenen Raumschiff Bellerophon gesucht). In Prometheus" ist der Größenwahnsinnige bereits an Bord, in „Forbidden Planet" wartet er auf dem Heimatplaneten der Krell auf das Missionsteam. In beiden Filmen ist eine fragile Vater-Tochter-Beziehung ein zentrales Plot-Element, in beiden Filmen gibt es Roboter: „Robby the Robot" vs. David der Androide. Und: in beiden Filmen gibt es ein fürchterliches Monster, das seine Schöpfer komplett auslöscht.
Forbidden Planet" gibt es auf einer ausgezeichnet gemasterten Bluray zum Ramschpreis. Es lohnt sich, dort noch einmal die aus der 50th Anniversary DVD übernommene Dokumentation Watch the Skies: Science-Fiction, the 1950s and Us anzuschauen, um zu erfahren, wie Steven Spielberg, George Lucas, James Cameron und Ridley Scott über diesen Film erzählen, der 1956 im Sci-Fi-Genre die Schnittstelle zwischen B-Movie und superteurem A-Movie markierte. Man lernt dabei zumindest eins: die Kernplots des Genres liegen bereits seit Jahrzehnten vor und so gesehen ist „Prometheus" ein heimliches Remake der großen Klassikers, ohne den es „Star Wars" und „Star Trek" so nicht gegeben hätte.   
Wem dies zu filmhistorisch ist, den erwartet in „Prometheus" immerhin ein visuell außergewöhnliches, fast klassisch erzähltes Mystery Movie mit exzellentem Set-Design, mit der fälligen Portion Body Horror, angereichert mit delikaten metaphysischen Anspielungen und einem Skeptizismus, der Ridley Scott weder an die darwinistischen Evolutionstheorie noch an ein gelungenes göttliches Intelligent Design glauben lässt. Ein Film, der trotz einiger Ecken und Kanten und vieler Lücken einige spannende Figuren in das Alien-Universum eingeführt hat, die in Erinnerung bleiben werden und die hohe Erwartungen an das Sequel zum Prequel wecken. Und am Ende erwartet uns eine kurze Erinnerung an die „Nostromo“, die 33 Jahre später auf einem unsäglichen Planeten landen wird. Eins ist klar: „Alien“ wird man von nun an mit etwas anderen Augen sehen.

Noten: Klawer = 2, BigDoc = 2


[1] Hier lässt nicht nur Erich von Däniken grüßen, sondern auch Akte X: Zeta Reticuli spielt auch in einer der bekanntesten Entführungsgeschichte der Ufologie Anfang der 1960er Jahre eine Rolle, als ein amerikanisches Ehepaar behauptete, von Außenirdischen aus diesem Sternensystem entführt worden zu sein.
(hier untersucht der US-Kritiker Brad Brevet tiefschürfend die wahre Natur der Konstrukteure und ihre mögliche Nähe zu Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, allerdings mit einem Bierernst, die zumindest bei mir erstauntes Kopfschütteln ausgelöst hat, aber auch einigen Lesespaß!)
[5] Gedeutet wurde der Mythos unterschiedlich. Von Goethe bis Karl Marx haben unterschiedliche Dichter und Denker unterschiedliche Deutungen abgeliefert, aber es war der deutsche Philosoph Hans Jonas, der eine der interessanteren Lesarten lieferte: neue Technologien bringen auch neue Übel in die Welt (Büchse der Pandora) und erfordern somit ein neue Ethikkonzept im Umgang mit der entfesselten prometheischen Technik.

Sonntag, 12. August 2012

Bluray-Review: Dame, König, As, Spion


Großbritannien 2011 - Originaltitel: Tinker, Tailor, Soldier, Spy - Regie: Tomas Alfredson - Darsteller: Gary Oldman, Colin Firth, Tom Hardy, Mark Strong, John Hurt, Toby Jones - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 127 min.

"Man muss den Film zweifellos mehrmals sehen, um diese komplexe Konstruktion und den artistischen Witz, der darin steckt, zu erfassen." Das schrieb der Tagesspiegel. Allerdings nicht über Tomas Alfredsons „Tinker Tailor Soldier Spy“, sondern vor ungefähr drei Jahrzehnten über Chris Markers Filmessay „Sans Soleil“.
Ähnlich dürfte es den meisten Kinogängern nach „Tinker Tailor Soldier Spy“ ergangen sein. Mainstream-Fans mussten sich mit der Erfahrung auseinandersetzen, dass der mehrfach OSCAR-nominierte und von der Kritik gefeierte Agententhriller auf den ersten Blick schwere Kinokost ist, auf den zweiten Blick aber immer mehr von der cleveren Konstruktion offenlegt, mit der Alfredson die erneute Verfilmung des berühmten Klassikers von John le Carré ins Bild gesetzt hat. Für den zweiten Blick gibt’s jetzt die „Limited Edition“ auf Bluray.

Die betrogenen Betrüger
Natürlich geht es in einem Agentenfilm um Geheimnisse, Spionage und Gegenspionage, um das Spiel mit doppeltem Boden, das Betrügen des Feindes, aber auch das Intrigieren in den eigenen Reihen. In „Tinker Tailor Soldier Spy“ steht Control (John Hurt), der Leiter des britischen MI6, gleich zu Anfang vor seinem ganz persönlichen Scherbenhaufen: sein Verdacht, dass in den eigenen Reihen ein Maulwurf Geheimnisse an die Russen verscherbelt, wird allerdings von den elitären Mitarbeitern seiner Führungscrew im "Circus“, der Londoner Zentrale des MI6, nicht geteilt. Nach einem fehlgeschlagenen Einsatz in Budapest, bei dem ein Agent vermeintlich ums Leben kommt, wird Control in die Rente geschickt – und mit ihm auch Smiley (Gary Oldman), seine langjährige rechte Hand. Aber keine Intrige ohne Gegenintrige: der für das MI6 zuständige Staatsekretär beauftragt heimlich den ausgemusterten Smiley mit der Suche nach dem Maulwurf.
John le Carré hat nach dem Zweiten Weltkrieg als aktiver Mitarbeiter ausgiebig Erfahrungen im britischen Geheimdienst gesammelt. Seine Skepsis angesichts der Praktiken während des Kalten Krieges löste seinen anfänglichen Enthusiasmus bald ab. Historiker mögen das anders sehen, aber letztendlich ist die Geschichte des britischen MI6 eine durchaus wechselhafte: Man verdankte herbe Rückschläge einem berüchtigten Maulwurf (Kim Philby), konnte ab den 1960er Jahren aber selbst eine Reihe sowjetischer Hochkaräter umdrehen. In den Ups und Downs führen aufgedeckte Geheimnisse allerdings nur zur Konstruktion neuer Rätsel: „Aber wenn man die letzte Tür und den letzten Safe öffnet, findet man nur Leere“, resümierte John le Carré.

Die Erzählung ist nicht leicht zu verdauen
Diese düstere Grundstimmung prägt auch „Tinker Tailor Soldier Spy“. Ausgerechnet ein schwedischer Regisseur wirft hier einen fiktiven Blick auf ein ur-englisches Thema und ein Zugpferd des Genrekinos. Tomas Alfredson („So finster die Nacht“) macht seine Sache gut. Alfredson erzählt Smileys Jagd nach dem Feind in den eigenen Reihen in einer sehr elliptischen Formsprache, die allerdings gewöhnungsbedürftig ist und hohe Aufmerksamkeit verlangt. Kurze Szenen lösen sich abrupt ab, verstecken ihre Information eher als dass sie diese offenlegen. Übergänge enthüllen erst viel später ihren Sinn, längere Sequenzen sind eher die Ausnahme und wenn sie auftauchen, haben sie eine entscheidende Bedeutung. Zudem unterbrechen nicht immer leicht nachvollziehbare Zeitsprünge die Erzählung, die komplex verschachtelt ist. Besonders die ambivalenten Flashbacks sorgen immer wieder für Irritation. Waren dies nun Fakten, die man gesehen hat, oder ist alles nur die Erinnerung eines der Beteiligten oder etwa eine neue Täuschung? Getäuscht werden also nicht nur die Figuren, auch der Zuschauer befindet sich ständig auf dünnem Eis. Enträtseln lässt sich alles nur durch die exakte Rekonstruktion des bereits Geschehenen und weniger durch neue Ereignisse und neue Fakten. Leider büßen einige Figuren dabei die erforderliche Differenzierung ein, die notwendig gewesen wäre, um den Zuschauer auch emotional im kühlen Kosmos des Circus zu faszinieren.

Mit wilden Actionszenen darf der Zuschauer nicht rechnen. „Tinker Tailor Soldier Spy“ ist kein James Bond-Film und auch keine Fortsetzung des Jason Bourne-Universums. Fast altmodisch findet das Puzzlespiel in Büros und dunklen Wohnungen statt, Dialoge treten an die Stelle physischer Aktionen. Aber gerade dieses Durchkreuzen der Erwartungen trägt dazu bei, dass sich schleichend Spannung entwickelt. Sie besitzt (leider) nur selten psychologische Natur, denn Alfredson zeigt seine Figuren weitgehend aus der Distanz, fast schon als Marionetten der geheimen Regeln, an deren Fäden alle im „Circus“ hängen. Ein Blick hinter die kalten Außenansichten der Figuren kann daher nur bedingt stattfinden und es ist ausgerechnet einer der jüngeren Agenten (Tom Hardy als Ricki Tarr), der noch in der Lage ist, seine Gefühle zu zeigen.

In diesem Eishaus spielt Gary Oldman die Rolle seines Lebens: sein Smiley ist ein Mann, der nur einmal die Miene verzieht, nämlich als er herausfindet, mit wem seine Frau ihn betrügt. Trotz seines maskenhaften Misstrauens und seiner höflich-unterkühlten Distanz zu den Regungen seiner Gesprächspartner sind es die dezenten mimischen Akzente, mit denen Oldman knapp das Wechselspiel von innerer Leere und ausgehärtetem Durchsetzungswillen eines alternden Spions skizziert. Wenn Smiley lapidar über seine erste Begegnung mit Karla, seinem großen sowjetischen Gegenspieler berichtet, erreicht Oldman eine Intensität, die man selten im Kino sieht. Allein diese Szene hätte einen OSCAR verdient. Am Ende wird Smiley in den Circus zurückkehren und in einem leeren Raum seine Aktentasche auf den Platz des toten Control legen. Und erneut wird man in seinem Gesicht nichts lesen können.

Großartige Mitspieler in dem düsteren Agententhriller sind nicht nur John Hurt, sondern auch Toby Jones als „Tinker/As“, Colin Firth als „Tailor/König“, Ciarán Hinds als „Soldier/Dame“ und David Dencik als „Poorman/Bube“ – Decknamen, die sowohl mit Kartenspielen als auch mit Schach zu tun haben. In überzeugenden Nebenrollen sind Benedict Cumberbatch und Batman-Gegenspieler Tim Hardy zu sehen.
Auch dank eines exzellenten Scores kann der Thriller punkten. Komponiert hat die Filmmusik Alberto Iglesias (2006 Europäischer Filmpreis für „Volver“, 2007 Golden Globe Award für „Drachenläufer“), der Hauskomponist von Pedro Almodóvar.

Bild und Ton und Extras
Freunde von referenzverdächtigen High Def-Filmen werden enttäuscht sein. Alfredson hat sich bei seiner Inszenierung auf natürliche Lichtquellen verlassen, die dem Bild einen überwiegend naturalistischen Charakter verleihen, aber gelegentlich milchig aussehen. Stimmig ist das schon, auch das unübersehbare Filmkorn und die grau-braunen Farben passen zur Atmosphäre des Films.
Allerdings gibt es technische Probleme mit einer zu prägnanten Helligkeit und dem geringen Kontrast und in dunklen Szenen bricht der Schwarzwert ein. An der Schärfe gibt es wenig zu bemängeln, allerdings stellt sich ein plastisches HD-Feeling nur dann ein, wenn es nach draußen und damit ins Tageslicht geht. Wer nicht aus Gewohnheit zur Bluray greift, kann hier mit gutem Gewissen die DVD kaufen.

Die DTS HD 5.1.-Tonspur kann sich hören lassen: der Mix ist sehr präsent, besonders die Dialoge sind auch in feineren Nuancen klar zu hören.
Noten: Bild = 3, Ton = 2.

Fazit: die Literaturverfilmung von Tomas Alfredson bietet eine neue Lesart der Vorlage an, die überwiegend von der Atmosphäre der Settings und dem exzellenten Hauptdarsteller lebt. Obwohl „Tinker Tailor Soldier Spy“ im Kern eine klassische Who dunit-Geschichte ist, sollte man diesen Film besser zweimal sehen. Freunde einer komplexen Narration werden deshalb auf ihre Kosten kommen.

Gesamtnoten: BigDoc = 2, Melonie = 3.

Samstag, 4. August 2012

"Vertigo" ist neuer bester Film aller Zeiten


Das Filmmagazin „Sight & Sound“ hat den neuen besten Film aller Zeiten gekürt. Grund genug, eine alte Kritik aus der Schublade zu holen.

Vertigo - Aus dem Reich der Toten
Regie: Alfred Hitchcock - Buch: Alec Coppel, Samuel Taylor - Kamera: Robert Burks (Farbe) - Musik: Bernard Herrmann - Darsteller: James Stewart (John "Scottie" Ferguson), Kim Nowak (Madeleine Elster / Judy Burton), Barbara Bel Geddes (Midge), Tom Helmore (Gavin Elster), Henry Jones (Leichenbeschauer), Raymond Bailey (Arzt) - Produktion: USA (Paramount Pictures Corp., New York) 1958 - Länge: 128 Min. - Verleih: UIP (35 mm, synchronisiert und OrnU/16 rnrn, synchronisiert) - FSK: ab 12 Jahren.

Vertigo" besitzt mittlerweile einen mythischen Ruf bei Kritikern und Cineasten. Dass der Film aus verleihtechnischen Gründen lange Zeit nicht in den Kinos zu sehen war, hat diesen Ruf eher noch gesteigert. Der langentbehrte Film ist endlich in einer kleinen Hitchcock-Retrospektive zu sehen, die insgesamt fünf seiner Arbeiten vorstellt: „Rope“ (1948 - Cocktail für eine Leiche), „Rear Window“ (1954 – Das Fenster zum Hof), „The Trouble with Harry“ (1955 - Immer Ärger mit Harry) „The Man Who Knew Too Much“ (1956 - Der Mann, der zuviel wußte), und eben „Vertigo“.
„Vertigo“ ist ein formal perfekt durchkonstruiertes Stück Kino, das dank seiner visuellen und thematischen Komplexität eine frappierende Wirkung auf den Zuschauer ausübt. ,Cinema pur', kein Realismus, keine beruhigende, alles erklärende ,Message'. Dafür aber eine Lektion in Sachen Phantasie und Imagination, wie man sie nur ganz selten im Kino zu sehen bekommt. Die eigentliche Faszination, die „Vertigo“ auslöst, besteht darin, dass der Film nicht in der Summe seiner Interpretationen aufgeht. Außer bei Hitchcock habe ich diese Eigenschaft nur noch bei John Ford entdecken können.

Zur Geschichte und zu ihrer Inszenierung
Bei einer nächtlichen Verfolgungsjagd über den Dächern von San Francisco stürzt ein Polizeibeamter zu Tode. Für seinen Kollegen wird dies zum Trauma: John "Scottie" Ferguson (James Stewart) leidet von nun an unter Akrophobie, also Höhenangst. Kurz nachdem er aus dem Polizeidienst ausgeschieden ist, bittet ihn ein alter Freund um die Beschattung seiner Frau. Madeleine Elster (Kim Novak) scheint merkwürdig von einer Toten angezogen zu werden. Sie besucht das Grab einer gewissen Charlotta Valdez, dereinst Edelmätresse und tragische Selbstmörderin, sitzt stundenlang im Museum vor einem Gemälde der Toten und scheint mehr und mehr einer tiefen Melancholie zu verfallen. Ferguson, der sie beschatten soll, fühlt sich bald von ihr magisch angezogen. Als er sie zum ersten Mal heimlich beobachtet, wendet er fast schüchtern den Blick ab. Eins wird bald klar: Was Scottie und Madeleine verbindet, ist abgrundtiefe Angst vor dem Leben.
Die Angst vor dem Leben scheint von einer allgemeinen Tristesse begleitet zu werden, die fast alle Figuren in „Vertigo“ umgibt. Selbst der Bösewicht Gavin Elster (Tom Helmore), der wie fast alle Mörder in Hitchcocks Filmen einen merkwürdigen Charme besitzt, ist eher melancholischer Natur. Gleich zu Anfang versichern sich Elster und Ferguson, dass San Francisco auch nicht mehr das sei, was es einmal war. Man fühlt sich fremd. So überrascht es nicht, dass die Handlungen in „Vertigo“ weniger von der äußeren als vielmehr von der inneren Realität der Figuren motiviert werden. Alles, was ihnen Lust bereiten könnte, ist schon von einer traurigen Ausweglosigkeit angekränkelt. So ist die letzte Einstellung des Films nicht zufällig eine langsame Kamerafahrt, die sich von James Stewart, dem fatalen Helden der Geschichte, entfernt. Wie so oft hat sich Hitchcock seinen intimen Figuren intim genähert, um die im Moment des Desasters wieder zu verlassen.

Das beherrschende inhaltliche Motiv in „Vertigo“ besteht in der Verwandlung realer in emotionale Katastrophen. Ferguson, der Madeleine zunächst heimlich beschattet, muss seine Beobachterrolle bald aufgeben, denn sein Schützling springt in die Golden Gate Bridge Bay. Die Rettung aus dem Wasser ist der endgültige Beginn einer Leidenschaft, die beide immer wieder an Orte der Vergangenheit führen wird. Ferguson, der Madeleine von ihrer Angst heilen will, kann schließlich nicht verhindern, dass sie sich vom Glockenturm eines alten spanischen Klosters stürzt. Seine Höhenangst hat ihn im entscheidenden Moment handlungsunfähig gemacht.
Nach der Entlassung aus einem Sanatorium, in dem sein tiefer emotionaler Schock oberflächlich kuriert wurde, sucht er wie besessen jene Orte auf, an denen er der toten Geliebten begegnet ist. Tatsächlich läuft ihm eines Tages ein Mädchen über den Weg, dessen Ähnlichkeit mit Madeleine überwältigend ist. Dieses Mädchen, sie heißt Judy Barton, und Madeleine sind allerdings ein und dieselbe Person, was der Zuschauer in einer erklärenden Rückblende erfährt: Judy hat Madeleine Elster lediglich gespielt, um einen Mord als Selbstmord zu kaschieren. Vom Turm stürzte die echte Madeleine, von ihrem Mann ermordet, während Ferguson die unfreiwillige Rolle eines Selbstmordzeugen zu übernehmen hatte.
Hitchcocks „Suspense“-Technik, die dem Zuschauer immer einen minimalen Informationsvorsprung vor den handelnden Figuren gewährt, lüftet an dieser Stelle den kriminalistischen Teil des Geheimnisses vollständig; ein Kunstgriff, der gestattet, die Figuren in psychologische Versuchskaninchen zu verwandeln. Ferguson zumindest wird für den Zuschauer zu einem Studienobjekt, das bei seinen bizarren Versuchen, die tote Geliebte ins Leben zurückzurufen, mehr oder weniger genüsslich beobachtet werden kann. „Scottie“ Ferguson setzt mit sanfter Gewalt einen seltsamen ,Wiederbelebungsversuch' durch: er staffiert Judy als Madeleine aus, bis die vermeintlich Tote als Reinkarnation wieder vor ihm steht. Judy indes gibt sich völlig auf und harrt bei Ferguson aus. Immerhin hat sie ihn als Madeleine geliebt und liebt ihn als Judy - doch dererlei kaputte Beziehungsakrobatik kann am Ende nicht gut ausgehen.
So kommt, was kommen muss: Judy / Madeleine verrät sich. Ferguson, der doppelt Betrogene, zwingt sie, an den Ort des Verbrechens zurückzukehren, angeblich, weil er sich von einer minuziösen Re-Inszenierung seines traumatischen Versagens, einen erneuten Schock und damit Heilung von der Höhenangst verspricht. Er zerrt Judy / Madeleine die Stiegen des Turms empor und hält der Angst stand. Das Mädchen indes stürzt, von einer plötzlich auftauchenden Nonne erschreckt, in die Tiefe.

Wirkung und Interpretationsversuche
Die Bewegungen im ersten Teil des Films, die Autofahrten durch das hügelige San Francisco, die düstere Atmosphäre des McKittrick-Hotels und die Begegnung im Sequoia-Wald, die korrespondierende Farbdramaturgie, die Ferguson und Madeleine miteinander verbindet, all dies erzeugt den Eindruck einer zunehmenden Realitätsferne. Nicht nur die Figuren verlieren sich in einer Traumwelt, auch der Zuschauer wird von Hitchcock mit suggestiven Bildfolgen in eine imaginäre Welt hineingezogen, in der alles eine Bedeutung zu haben scheint, ohne dass man imstande ist, die Symbolik restlos aufzuschlüsseln.
Für die Psychoanalyse wäre die Figur Fergusons sicher der Modellfall einer narzisstischen Störung. Geradezu frappierend erscheint hier das fiktive Porträt einer Ich-Krise, in der der Bedrohte seine Ängste durch Projektion zu kompensieren sucht. Nämlich durch eine erotische Beziehung, die einmalig ist, in der das Objekt der Wünsche einem idealisierten Bild entspricht. Judy ist, wenn Ferguson seine Verwandlungsarbeit abgeschlossen hat, nahezu vollkommen und ideal - als Individuum ist und fühlt sie sich stattdessen wertlos.
Wenn, nach Freud, der narzisstisch Gestörte nur einen grandiosen Partner an seiner Seite duldet, so ist Fergusons obsessive Liebe zu Madeleine in jeder Hinsicht exemplarisch.
Mit dieser Interpretation deckt man allerdings die cineastische Wirkung von „Vertigo“ nur unvollständig auf. Untersucht man Hitchcocks Filme unter thematischen Gesichtspunkten, so fällt auf, dass Ende der 50er Jahre die Studien diverser Persönlichkeitsdefekte drastisch zunehmen. Psychotische und traumatische Störungen hatten in Hitchcocks Filmen immer schon eine große Rolle gespielt. In „Vertigo“, „Psycho“ (1960) und „Marnie“ (1964) erreicht dieses Interesse seinen Höhepunkt. Hitchcocks Figuren entwickeln zunehmend bedrohliche Züge: schlimmstenfalls sind sie paranoid, meist jedoch werden sie von neurotischen Ängsten gequält, entwickeln seltsame Neigungen oder werden in eine Welt versetzt, in der ihre scheinbar ungetrübte bürgerliche Normalität von obskuren Gefahren bedroht wird („North by Northwest“, 1959, „The Birds“, 1963). Wenn in "Marnie" Sean Connery den Widerstand einer frigiden Kleptomanin zu brechen versucht, so hat dies eine merkwürdige Entsprechung in James Stewarts Wunsch, mit dem Ebenbild einer Toten zu schlafen. 

Hitchcocks Kunst bestand nicht zuletzt darin, dem Publikum männliche Helden zu offerieren, die trotz leichter Tendenz zur Neurose nie unsympathisch wirkten.
Zudem werden diese Männer bei Hitchcock in der Regel von Müttern oder mütterlichen Frauen gefährdet. Dies geschieht manchmal augenzwinkernd und komisch („To Catch a Thief“, 1955), in den meisten Fällen aber sehr handfest. Auch „Vertigo“ ist da keine Ausnahme. Midge‘ Interesse an Ferguson ist eine zwiespältige Mischung aus erotischer Neigung und mütterlichem Instinkt. Wenn sie nach Madeleines ‚Selbstmord‘ den unter Schock stehenden Ferguson mit den Worten „Du brauchst keine Angst zu haben, Jonny, Mutter ist hier!“ in die Arme nimmt, werden unterschwellig Bedrohungen spürbar.

In „Vertigo“ werden die unbewussten Gefühle des Zuschauers überdies noch durch eine Reihe kultureller Schlüsselbilder gekitzelt. Diese Schlüsselbilder, die auch den Erfolg des Films bei europäischen Filmemachern (z. B. Truffaut und Godard) zum Teil erklären, sind beinahe universell verständlich. So wird „Vertigo“ zum Spiegel der Assoziationen. Der literarische Topos der wiedererweckten Geliebten, unter anderem auch ein Kind der deutschen Romantik, führt zur symbolischen Verschlüsselung von Liebe und Tod, Leben und Traum. Dies reicht von Ovids „Pygmalion“ bis hin zu „Tristan und Isolde“ (tatsächlich greift die Filmmusik Bernhard Herrmanns auf Wagner zurück). Die Bedeutungen schwimmen allerdings in „Vertigo“ nicht herum, wie Karpfen im Teich. Der Zuschauer muss sich erst auf das Spiel mit seinen Gefühlen und Gedanken einlassen, um herauszufinden, dass Hitchcocks „Vertigo“ im Grunde (nur?) ein grandioser Bild- und Gefühlsgenerator ist, der die widersprüchlichsten Gedanken im Kopf des Betrachters hervorruft.
April 1984

British Film Institute meldet neuen besten Film aller Zeiten!


Seit 1952 veröffentlicht das British Film Institute (BFI) alle zehn Jahre in der Hauszeitschrift „Sight & Sound“ ein Ranking, das besonderen Kriterien folgt. Nicht die Einspielergebnisse entscheiden, sondern der künstlerische und filmhistorische Wert des jeweiligen Films.
Über die Zusammenstellung der Top 50 Greatest Films of All Time entschieden 846 Kritiker, Wissenschaftler und Mitarbeiter der Filmwirtschaft (u.a. in der Spalte BFI All Time), während die 2012 Sight & Sound Directors’ Top Ten insgesamt Mitglieder dieser illustren Personengruppe befragte: 358 Regisseure, u.a. Woody Allen, Nuri Bilge Ceylan, Quentin Tarantino, the Dardenne Brothers, Terence Davies, Guillermo del Toro, Martin Scorsese, Olivier Assayas, Michael Mann, Guy Maddin, Francis Ford Coppola, Mike Leigh, Aki Kaurismäki, legten Zeugnis ab. Sight & Sound existiert übrigens seit 1932 und die exklusiven Qualitätsmaßstäbe brachten der Gazette häufig den Vorwurf ein, ziemlich elitär zu sein.

Alfred Hitchcock ist der Größte
Am 4. August schlugen die Briten dann so heftig zu, dass sogar der deutsche Blätterwald rauschte: Orson Welles’ „Citizen Kane“, der seit 1962 unangefochten Platz 1 belegt hatte, wurde gestürzt. Der Fall war aber nicht tief: der Klassiker belegt nun immerhin noch Platz 2.
Der eigentliche Coup war allerdings die neue Nr. 1: Alfred Hitchcocks „Vertigo“.
Wer in dem Blog einen Blick auf die The Incredible Top Sixty plus wirft, sieht dort – Überraschung! – eben diesen Hitchcock-Klassiker, der seit nunmehr 28 Jahren meine Nr. 1 ist. 1984 habe ich ihn nämlich zum ersten Mal gesehen – und schon damals war ich steinalt. Zur Feier des Tages gibt’s meine 1984er-Kritik im nächsten Blog-Beitrag.

Aber die neue Sight & Sounds-Liste möchte ich zuvor noch auf Herz und Nieren checken. Und zwar habe ich die aktuelle IMDb-Liste All-Time Worldwide Box office mit den beiden britischen Listen abgeglichen. Und natürlich mit meinen eigenen Incredible Top Sixty. Das Ergebnis überrascht nicht wirklich: in meiner Filmclub-Liste taucht kein einziger Box Office Hit auf, bei den Briten sowieso nicht. Im Vergleich Filmclub vs. BFI gibt’s aber wenigstens vier Gemeinsamkeiten.













Rankings sind in erster Linie natürlich eine tolle Spielerei, aber sie helfen einigen Filmfreunden durchaus, sich und ihren Geschmack zu verorten. Wesentlich interessanter ist aber die Frage, warum Hunderte Millionen Filmfreunde auf der ganzen Welt mit Hingabe andere Filme sehen und lieben als die Filmkritiker.
Das hat einen einfachen Grund: Filmkritiker sind bereits in jungen Jahren vertrocknete Knacker, sie haben keinen Humor und können deshalb auch keinen Spaß haben, sie sind elitär und damit überheblich, sie wollen pausenlos anderen die Welt und noch lieber das Kino erklären, können aber daheim keinen Nagel unfallfrei in die Wand schlagen, was allerdings auch nicht ihre ästhetische Urteilsfähigkeit beeinträchtigt.
Zudem sind sie rachsüchtige Gesellen, denn mit Filmkritiken kann man sich heutzutage nicht einmal die Zigaretten verdienen, die man beim Schreiben ununterbrochen verpafft.

Wer die letzten Zeilen abgenickt hat, hat schon ziemlich viel von meinem Text gelesen (Glückwunsch!), aber nun sollte er Schluss machen. Was jetzt folgt, ist die Wahrheit, und wer kann das schon von sich behaupten, dass er sie weiß? Natürlich – der Filmkritiker.

Mal im Ernst: ich habe von den Box Office Hits insgesamt sechs gesehen, die meisten davon sind ganz großes Kino und ich freue mich, dass es sie gibt. Nur für die Transformers, die Spielzeug-Geschichten und (nichts gegen Johnny Depp) auch für die Piraten konnte und wollte ich mich nicht erwärmen (mir reichte ein Trailer).

Die Filme der beiden britischen Rankings kenne ich ausnahmslos, nur „Tokyo Story“ ist arg lang her. Viele der dort angeführten Filme sind auch in meiner Top-Liste, nur eben weiter hinten. Mit anderen Worten: diese Listen sind nicht aus der Luft gegriffen.

Allerdings finde ich, dass ff. Filme überbewertet sind: Murnaus „Sunrise“, Dziga Vertovs „Der Mann mit der Kamera“ (insbesondere, wenn man mal Vertovs Theorien gelesen hat). Carl Dreyers „Passion der Jungfrau von Orleans“ ist gerade kürzlich in der Arthaus Collection von Kinowelt erschienen, und wer sich für Filmgeschichte interessiert und auch einige Kenntnisse hat, sollte sich diesen Stummfilm-Klassiker anschauen.
Das Normalpublikum dürfte über die aus Nahaufnahmen bestehende Montage eher wenig begeistert sein – und bei aller Liebe: der Film gehört nun wirklich in keine Top Ten. Andrei Tarkovskys „Spiegel“ ist eines der hermetischen Meisterwerke des russischen Romantikers – aber ohne ein mehrtägiges Blockseminar in der nächsten VHS gibt es für Kino-Normalos keine Chance. Da empfehle ich eher den in meinen Top Ten aufgeführten „Stalker“. Und ebenfalls auf meiner Streichliste würden die „Fahrraddiebe“ landen, jenes kleine Prachtstück des italienischen Neo-Realismus von Vittorio de Sica aus dem Jahre 1949. Ich garantiere jedem, dass er bei diesem Film garantiert nicht vor Aufregung stirbt.

Und wie kommt es neben den üblichen subjektiven Geschmacksurteilen zu solchen Divergenzen unter Kritiker.
Zum einen spiegeln Rankings häufig strategische Interessen wider. Viele Filmemacher würdigen Regisseure, die in ihrer Zeit das Kino, die Filmsprache und –grammatik weiterentwickelt haben. Thematisch gibt es mittlerweile interessantere Filme als „Citizen Kane“, aber da Orson Welles die Filmsyntax der zweiten Generation quasi im Alleingang erfunden hat, verdient dieser Film bis ans Ende aller Tage einen bevorzugten Platz.

Ist Kino Kunst oder Unterhaltung - oder beides?
Zum anderen gibt es keinen umfassenden Konsens in der obligatorischen „Ist Kino denn nun Kunst?“-Debatte. Die meisten europäischen Filmkritiker kommen aus dem akademischen Milieu und entscheiden sich eher für die Kunst-Hypothese, aber gelegentlich schaffen es auch Nerds und Buffs, irgendwo gedruckt zu werden. Oder sie bloggen. Das bringt frischen Wind in die intellektuelle Filmkritik.
Das ist gut so, weil die akademisch gut ausgebildeten Kritiker gewisse Traditionen nicht abschütteln können (warum auch?): die System- und Ideologiekritik, die Einflüsse der Semiotik, Strukturalismus und post-moderne Ansätze funken immer wieder dazwischen. Das verkopft ungemein, schadet aber auch nicht, da die Betroffenen sowieso unter sich bleiben. Aber das ist auch ein typisch deutsches Problem, die angelsächsische Filmkritik sieht oft ganz anders aus.
Ich selbst sitze irgendwie zwischen allen Stühlen. Einerseits kann ich schwer leugnen, dass für das Kino industrielle Massenprodukte hergestellt werden (dass Filme eine Ware sind, ist kein Argument, sondern eine Banalität), andererseits sind diese Massenprodukte mitunter so gut, dass ich unseren Filmhochschulabsolventen die Professionalität eines TV-Schlachtrosses, das pro Tag eine komplette Folge einer Sitcom raus haut, wünschen würde. Das hat bei mir dazu geführt, dass ich insgesamt das US-Kino favorisiere und dann taucht eben kein Fellini bei mir auf. Sorry.

Das eigentliche Problem ist ein Phänomen, das sich mit einer ‚Zwei-Welten’-Theorie am besten beschreiben lässt. Normale Kinogänger wollen gut unterhalten werden, und das funktioniert meistens besser über das Herz als über den Verstand. Mit der emotionalen Seite eines Kinoerlebnisses können Kritiker, die aus einer anderen Welt kommen, leider selten etwas anfangen. Man kann Hitchcocks „Vertigo“ psychoanalytisch sezieren oder stilistisch analysieren – den Mehrwert des Schauens kriegt man nicht so einfach zu fassen. Das gelingt dem an Filmtheorie nicht interessierten Kinogänger häufig ohne Mühe.
Ins Boot bekommt man beide Seiten nicht so einfach. Und ich gebe zu: eine gewisse Filmbildung ist da kein Hindernis, aber auch die Kritiker sollten ein Gefühl dafür bekommen, dass „Avatar“ die Menschen zu Recht mehr fesselt als „Ladri di biciclette“.
Das hat Gründe. Finden wir sie heraus. Wenn das gelingt, dann starren die Einen nicht mehr kopfschüttelnd auf die Top Liste des British Film Institute und die Anderen verfallen bei den Box Office Hits nicht in Schockstarre.
Viel Spaß!