Samstag, 4. August 2012

"Vertigo" ist neuer bester Film aller Zeiten


Das Filmmagazin „Sight & Sound“ hat den neuen besten Film aller Zeiten gekürt. Grund genug, eine alte Kritik aus der Schublade zu holen.

Vertigo - Aus dem Reich der Toten
Regie: Alfred Hitchcock - Buch: Alec Coppel, Samuel Taylor - Kamera: Robert Burks (Farbe) - Musik: Bernard Herrmann - Darsteller: James Stewart (John "Scottie" Ferguson), Kim Nowak (Madeleine Elster / Judy Burton), Barbara Bel Geddes (Midge), Tom Helmore (Gavin Elster), Henry Jones (Leichenbeschauer), Raymond Bailey (Arzt) - Produktion: USA (Paramount Pictures Corp., New York) 1958 - Länge: 128 Min. - Verleih: UIP (35 mm, synchronisiert und OrnU/16 rnrn, synchronisiert) - FSK: ab 12 Jahren.

Vertigo" besitzt mittlerweile einen mythischen Ruf bei Kritikern und Cineasten. Dass der Film aus verleihtechnischen Gründen lange Zeit nicht in den Kinos zu sehen war, hat diesen Ruf eher noch gesteigert. Der langentbehrte Film ist endlich in einer kleinen Hitchcock-Retrospektive zu sehen, die insgesamt fünf seiner Arbeiten vorstellt: „Rope“ (1948 - Cocktail für eine Leiche), „Rear Window“ (1954 – Das Fenster zum Hof), „The Trouble with Harry“ (1955 - Immer Ärger mit Harry) „The Man Who Knew Too Much“ (1956 - Der Mann, der zuviel wußte), und eben „Vertigo“.
„Vertigo“ ist ein formal perfekt durchkonstruiertes Stück Kino, das dank seiner visuellen und thematischen Komplexität eine frappierende Wirkung auf den Zuschauer ausübt. ,Cinema pur', kein Realismus, keine beruhigende, alles erklärende ,Message'. Dafür aber eine Lektion in Sachen Phantasie und Imagination, wie man sie nur ganz selten im Kino zu sehen bekommt. Die eigentliche Faszination, die „Vertigo“ auslöst, besteht darin, dass der Film nicht in der Summe seiner Interpretationen aufgeht. Außer bei Hitchcock habe ich diese Eigenschaft nur noch bei John Ford entdecken können.

Zur Geschichte und zu ihrer Inszenierung
Bei einer nächtlichen Verfolgungsjagd über den Dächern von San Francisco stürzt ein Polizeibeamter zu Tode. Für seinen Kollegen wird dies zum Trauma: John "Scottie" Ferguson (James Stewart) leidet von nun an unter Akrophobie, also Höhenangst. Kurz nachdem er aus dem Polizeidienst ausgeschieden ist, bittet ihn ein alter Freund um die Beschattung seiner Frau. Madeleine Elster (Kim Novak) scheint merkwürdig von einer Toten angezogen zu werden. Sie besucht das Grab einer gewissen Charlotta Valdez, dereinst Edelmätresse und tragische Selbstmörderin, sitzt stundenlang im Museum vor einem Gemälde der Toten und scheint mehr und mehr einer tiefen Melancholie zu verfallen. Ferguson, der sie beschatten soll, fühlt sich bald von ihr magisch angezogen. Als er sie zum ersten Mal heimlich beobachtet, wendet er fast schüchtern den Blick ab. Eins wird bald klar: Was Scottie und Madeleine verbindet, ist abgrundtiefe Angst vor dem Leben.
Die Angst vor dem Leben scheint von einer allgemeinen Tristesse begleitet zu werden, die fast alle Figuren in „Vertigo“ umgibt. Selbst der Bösewicht Gavin Elster (Tom Helmore), der wie fast alle Mörder in Hitchcocks Filmen einen merkwürdigen Charme besitzt, ist eher melancholischer Natur. Gleich zu Anfang versichern sich Elster und Ferguson, dass San Francisco auch nicht mehr das sei, was es einmal war. Man fühlt sich fremd. So überrascht es nicht, dass die Handlungen in „Vertigo“ weniger von der äußeren als vielmehr von der inneren Realität der Figuren motiviert werden. Alles, was ihnen Lust bereiten könnte, ist schon von einer traurigen Ausweglosigkeit angekränkelt. So ist die letzte Einstellung des Films nicht zufällig eine langsame Kamerafahrt, die sich von James Stewart, dem fatalen Helden der Geschichte, entfernt. Wie so oft hat sich Hitchcock seinen intimen Figuren intim genähert, um die im Moment des Desasters wieder zu verlassen.

Das beherrschende inhaltliche Motiv in „Vertigo“ besteht in der Verwandlung realer in emotionale Katastrophen. Ferguson, der Madeleine zunächst heimlich beschattet, muss seine Beobachterrolle bald aufgeben, denn sein Schützling springt in die Golden Gate Bridge Bay. Die Rettung aus dem Wasser ist der endgültige Beginn einer Leidenschaft, die beide immer wieder an Orte der Vergangenheit führen wird. Ferguson, der Madeleine von ihrer Angst heilen will, kann schließlich nicht verhindern, dass sie sich vom Glockenturm eines alten spanischen Klosters stürzt. Seine Höhenangst hat ihn im entscheidenden Moment handlungsunfähig gemacht.
Nach der Entlassung aus einem Sanatorium, in dem sein tiefer emotionaler Schock oberflächlich kuriert wurde, sucht er wie besessen jene Orte auf, an denen er der toten Geliebten begegnet ist. Tatsächlich läuft ihm eines Tages ein Mädchen über den Weg, dessen Ähnlichkeit mit Madeleine überwältigend ist. Dieses Mädchen, sie heißt Judy Barton, und Madeleine sind allerdings ein und dieselbe Person, was der Zuschauer in einer erklärenden Rückblende erfährt: Judy hat Madeleine Elster lediglich gespielt, um einen Mord als Selbstmord zu kaschieren. Vom Turm stürzte die echte Madeleine, von ihrem Mann ermordet, während Ferguson die unfreiwillige Rolle eines Selbstmordzeugen zu übernehmen hatte.
Hitchcocks „Suspense“-Technik, die dem Zuschauer immer einen minimalen Informationsvorsprung vor den handelnden Figuren gewährt, lüftet an dieser Stelle den kriminalistischen Teil des Geheimnisses vollständig; ein Kunstgriff, der gestattet, die Figuren in psychologische Versuchskaninchen zu verwandeln. Ferguson zumindest wird für den Zuschauer zu einem Studienobjekt, das bei seinen bizarren Versuchen, die tote Geliebte ins Leben zurückzurufen, mehr oder weniger genüsslich beobachtet werden kann. „Scottie“ Ferguson setzt mit sanfter Gewalt einen seltsamen ,Wiederbelebungsversuch' durch: er staffiert Judy als Madeleine aus, bis die vermeintlich Tote als Reinkarnation wieder vor ihm steht. Judy indes gibt sich völlig auf und harrt bei Ferguson aus. Immerhin hat sie ihn als Madeleine geliebt und liebt ihn als Judy - doch dererlei kaputte Beziehungsakrobatik kann am Ende nicht gut ausgehen.
So kommt, was kommen muss: Judy / Madeleine verrät sich. Ferguson, der doppelt Betrogene, zwingt sie, an den Ort des Verbrechens zurückzukehren, angeblich, weil er sich von einer minuziösen Re-Inszenierung seines traumatischen Versagens, einen erneuten Schock und damit Heilung von der Höhenangst verspricht. Er zerrt Judy / Madeleine die Stiegen des Turms empor und hält der Angst stand. Das Mädchen indes stürzt, von einer plötzlich auftauchenden Nonne erschreckt, in die Tiefe.

Wirkung und Interpretationsversuche
Die Bewegungen im ersten Teil des Films, die Autofahrten durch das hügelige San Francisco, die düstere Atmosphäre des McKittrick-Hotels und die Begegnung im Sequoia-Wald, die korrespondierende Farbdramaturgie, die Ferguson und Madeleine miteinander verbindet, all dies erzeugt den Eindruck einer zunehmenden Realitätsferne. Nicht nur die Figuren verlieren sich in einer Traumwelt, auch der Zuschauer wird von Hitchcock mit suggestiven Bildfolgen in eine imaginäre Welt hineingezogen, in der alles eine Bedeutung zu haben scheint, ohne dass man imstande ist, die Symbolik restlos aufzuschlüsseln.
Für die Psychoanalyse wäre die Figur Fergusons sicher der Modellfall einer narzisstischen Störung. Geradezu frappierend erscheint hier das fiktive Porträt einer Ich-Krise, in der der Bedrohte seine Ängste durch Projektion zu kompensieren sucht. Nämlich durch eine erotische Beziehung, die einmalig ist, in der das Objekt der Wünsche einem idealisierten Bild entspricht. Judy ist, wenn Ferguson seine Verwandlungsarbeit abgeschlossen hat, nahezu vollkommen und ideal - als Individuum ist und fühlt sie sich stattdessen wertlos.
Wenn, nach Freud, der narzisstisch Gestörte nur einen grandiosen Partner an seiner Seite duldet, so ist Fergusons obsessive Liebe zu Madeleine in jeder Hinsicht exemplarisch.
Mit dieser Interpretation deckt man allerdings die cineastische Wirkung von „Vertigo“ nur unvollständig auf. Untersucht man Hitchcocks Filme unter thematischen Gesichtspunkten, so fällt auf, dass Ende der 50er Jahre die Studien diverser Persönlichkeitsdefekte drastisch zunehmen. Psychotische und traumatische Störungen hatten in Hitchcocks Filmen immer schon eine große Rolle gespielt. In „Vertigo“, „Psycho“ (1960) und „Marnie“ (1964) erreicht dieses Interesse seinen Höhepunkt. Hitchcocks Figuren entwickeln zunehmend bedrohliche Züge: schlimmstenfalls sind sie paranoid, meist jedoch werden sie von neurotischen Ängsten gequält, entwickeln seltsame Neigungen oder werden in eine Welt versetzt, in der ihre scheinbar ungetrübte bürgerliche Normalität von obskuren Gefahren bedroht wird („North by Northwest“, 1959, „The Birds“, 1963). Wenn in "Marnie" Sean Connery den Widerstand einer frigiden Kleptomanin zu brechen versucht, so hat dies eine merkwürdige Entsprechung in James Stewarts Wunsch, mit dem Ebenbild einer Toten zu schlafen. 

Hitchcocks Kunst bestand nicht zuletzt darin, dem Publikum männliche Helden zu offerieren, die trotz leichter Tendenz zur Neurose nie unsympathisch wirkten.
Zudem werden diese Männer bei Hitchcock in der Regel von Müttern oder mütterlichen Frauen gefährdet. Dies geschieht manchmal augenzwinkernd und komisch („To Catch a Thief“, 1955), in den meisten Fällen aber sehr handfest. Auch „Vertigo“ ist da keine Ausnahme. Midge‘ Interesse an Ferguson ist eine zwiespältige Mischung aus erotischer Neigung und mütterlichem Instinkt. Wenn sie nach Madeleines ‚Selbstmord‘ den unter Schock stehenden Ferguson mit den Worten „Du brauchst keine Angst zu haben, Jonny, Mutter ist hier!“ in die Arme nimmt, werden unterschwellig Bedrohungen spürbar.

In „Vertigo“ werden die unbewussten Gefühle des Zuschauers überdies noch durch eine Reihe kultureller Schlüsselbilder gekitzelt. Diese Schlüsselbilder, die auch den Erfolg des Films bei europäischen Filmemachern (z. B. Truffaut und Godard) zum Teil erklären, sind beinahe universell verständlich. So wird „Vertigo“ zum Spiegel der Assoziationen. Der literarische Topos der wiedererweckten Geliebten, unter anderem auch ein Kind der deutschen Romantik, führt zur symbolischen Verschlüsselung von Liebe und Tod, Leben und Traum. Dies reicht von Ovids „Pygmalion“ bis hin zu „Tristan und Isolde“ (tatsächlich greift die Filmmusik Bernhard Herrmanns auf Wagner zurück). Die Bedeutungen schwimmen allerdings in „Vertigo“ nicht herum, wie Karpfen im Teich. Der Zuschauer muss sich erst auf das Spiel mit seinen Gefühlen und Gedanken einlassen, um herauszufinden, dass Hitchcocks „Vertigo“ im Grunde (nur?) ein grandioser Bild- und Gefühlsgenerator ist, der die widersprüchlichsten Gedanken im Kopf des Betrachters hervorruft.
April 1984