Das Filmmagazin „Sight & Sound“ hat den neuen
besten Film aller Zeiten gekürt. Grund genug, eine alte Kritik aus der
Schublade zu holen.
Vertigo - Aus dem Reich der Toten
Regie: Alfred Hitchcock - Buch:
Alec Coppel, Samuel Taylor - Kamera: Robert Burks (Farbe) - Musik: Bernard
Herrmann - Darsteller: James Stewart (John "Scottie" Ferguson), Kim
Nowak (Madeleine Elster / Judy Burton), Barbara Bel Geddes (Midge), Tom Helmore
(Gavin Elster), Henry Jones (Leichenbeschauer), Raymond Bailey (Arzt) -
Produktion: USA (Paramount Pictures Corp., New York) 1958 - Länge: 128 Min. -
Verleih: UIP (35 mm, synchronisiert und OrnU/16 rnrn, synchronisiert) - FSK: ab
12 Jahren.
Vertigo" besitzt mittlerweile einen mythischen
Ruf bei Kritikern und Cineasten. Dass der Film aus verleihtechnischen Gründen
lange Zeit nicht in den Kinos zu sehen war, hat diesen Ruf eher noch
gesteigert. Der langentbehrte Film ist endlich in einer kleinen
Hitchcock-Retrospektive zu sehen, die insgesamt fünf seiner Arbeiten vorstellt:
„Rope“ (1948 - Cocktail für eine Leiche), „Rear Window“ (1954 – Das Fenster zum
Hof), „The Trouble with Harry“ (1955 - Immer Ärger mit Harry) „The Man Who Knew
Too Much“ (1956 - Der Mann, der zuviel wußte), und eben „Vertigo“.
„Vertigo“ ist ein formal perfekt durchkonstruiertes
Stück Kino, das dank seiner visuellen und thematischen Komplexität eine
frappierende Wirkung auf den Zuschauer ausübt. ,Cinema pur', kein Realismus,
keine beruhigende, alles erklärende ,Message'. Dafür aber eine Lektion in
Sachen Phantasie und Imagination, wie man sie nur ganz selten im Kino zu sehen
bekommt. Die eigentliche Faszination, die „Vertigo“ auslöst, besteht darin,
dass der Film nicht in der Summe seiner Interpretationen aufgeht. Außer bei
Hitchcock habe ich diese Eigenschaft nur noch bei John Ford entdecken können.
Zur Geschichte und zu ihrer Inszenierung
Bei einer nächtlichen Verfolgungsjagd über den
Dächern von San Francisco stürzt ein Polizeibeamter zu Tode. Für seinen
Kollegen wird dies zum Trauma: John "Scottie" Ferguson (James
Stewart) leidet von nun an unter Akrophobie, also Höhenangst. Kurz nachdem er
aus dem Polizeidienst ausgeschieden ist, bittet ihn ein alter Freund um die
Beschattung seiner Frau. Madeleine Elster (Kim Novak) scheint merkwürdig von
einer Toten angezogen zu werden. Sie besucht das Grab einer gewissen Charlotta
Valdez, dereinst Edelmätresse und tragische Selbstmörderin, sitzt stundenlang
im Museum vor einem Gemälde der Toten und scheint mehr und mehr einer tiefen
Melancholie zu verfallen. Ferguson, der sie beschatten soll, fühlt sich bald
von ihr magisch angezogen. Als er sie zum ersten Mal heimlich beobachtet,
wendet er fast schüchtern den Blick ab. Eins wird bald klar: Was Scottie und
Madeleine verbindet, ist abgrundtiefe Angst vor dem Leben.
Die Angst vor dem Leben scheint von einer
allgemeinen Tristesse begleitet zu werden, die fast alle Figuren in „Vertigo“
umgibt. Selbst der Bösewicht Gavin Elster (Tom Helmore), der wie fast alle
Mörder in Hitchcocks Filmen einen merkwürdigen Charme besitzt, ist eher
melancholischer Natur. Gleich zu Anfang versichern sich Elster und Ferguson,
dass San Francisco auch nicht mehr das sei, was es einmal war. Man fühlt sich
fremd. So überrascht es nicht, dass die Handlungen in „Vertigo“ weniger von der
äußeren als vielmehr von der inneren Realität der Figuren motiviert werden.
Alles, was ihnen Lust bereiten könnte, ist schon von einer traurigen
Ausweglosigkeit angekränkelt. So ist die letzte Einstellung des Films nicht
zufällig eine langsame Kamerafahrt, die sich von James Stewart, dem fatalen
Helden der Geschichte, entfernt. Wie so oft hat sich Hitchcock seinen intimen
Figuren intim genähert, um die im Moment des Desasters wieder zu verlassen.
Das beherrschende inhaltliche Motiv in „Vertigo“
besteht in der Verwandlung realer in emotionale Katastrophen. Ferguson, der
Madeleine zunächst heimlich beschattet, muss seine Beobachterrolle bald
aufgeben, denn sein Schützling springt in die Golden Gate Bridge Bay. Die
Rettung aus dem Wasser ist der endgültige Beginn einer Leidenschaft, die beide
immer wieder an Orte der Vergangenheit führen wird. Ferguson, der Madeleine von
ihrer Angst heilen will, kann schließlich nicht verhindern, dass sie sich vom
Glockenturm eines alten spanischen Klosters stürzt. Seine Höhenangst hat ihn im
entscheidenden Moment handlungsunfähig gemacht.
Nach der Entlassung aus einem Sanatorium, in dem
sein tiefer emotionaler Schock oberflächlich kuriert wurde, sucht er wie
besessen jene Orte auf, an denen er der toten Geliebten begegnet ist.
Tatsächlich läuft ihm eines Tages ein Mädchen über den Weg, dessen Ähnlichkeit
mit Madeleine überwältigend ist. Dieses Mädchen, sie heißt Judy Barton, und
Madeleine sind allerdings ein und dieselbe Person, was der Zuschauer in einer
erklärenden Rückblende erfährt: Judy hat Madeleine Elster lediglich gespielt,
um einen Mord als Selbstmord zu kaschieren. Vom Turm stürzte die echte
Madeleine, von ihrem Mann ermordet, während Ferguson die unfreiwillige Rolle
eines Selbstmordzeugen zu übernehmen hatte.
Hitchcocks „Suspense“-Technik, die dem Zuschauer
immer einen minimalen Informationsvorsprung vor den handelnden Figuren gewährt,
lüftet an dieser Stelle den kriminalistischen Teil des Geheimnisses
vollständig; ein Kunstgriff, der gestattet, die Figuren in psychologische Versuchskaninchen
zu verwandeln. Ferguson zumindest wird für den Zuschauer zu einem
Studienobjekt, das bei seinen bizarren Versuchen, die tote Geliebte ins Leben
zurückzurufen, mehr oder weniger genüsslich beobachtet werden kann. „Scottie“
Ferguson setzt mit sanfter Gewalt einen seltsamen ,Wiederbelebungsversuch'
durch: er staffiert Judy als Madeleine aus, bis die vermeintlich Tote als
Reinkarnation wieder vor ihm steht. Judy indes gibt sich völlig auf und harrt
bei Ferguson aus. Immerhin hat sie ihn als Madeleine geliebt und liebt ihn als
Judy - doch dererlei kaputte Beziehungsakrobatik kann am Ende nicht gut
ausgehen.
So kommt, was kommen muss: Judy / Madeleine verrät
sich. Ferguson, der doppelt Betrogene, zwingt sie, an den Ort des Verbrechens
zurückzukehren, angeblich, weil er sich von einer minuziösen Re-Inszenierung
seines traumatischen Versagens, einen erneuten Schock und damit Heilung von der
Höhenangst verspricht. Er zerrt Judy / Madeleine die Stiegen des Turms empor
und hält der Angst stand. Das Mädchen indes stürzt, von einer plötzlich
auftauchenden Nonne erschreckt, in die Tiefe.
Wirkung und Interpretationsversuche
Die Bewegungen im ersten Teil des Films, die
Autofahrten durch das hügelige San Francisco, die düstere Atmosphäre des
McKittrick-Hotels und die Begegnung im Sequoia-Wald, die korrespondierende
Farbdramaturgie, die Ferguson und Madeleine miteinander verbindet, all dies
erzeugt den Eindruck einer zunehmenden Realitätsferne. Nicht nur die Figuren
verlieren sich in einer Traumwelt, auch der Zuschauer wird von Hitchcock mit
suggestiven Bildfolgen in eine imaginäre Welt hineingezogen, in der alles eine
Bedeutung zu haben scheint, ohne dass man imstande ist, die Symbolik restlos
aufzuschlüsseln.
Für die Psychoanalyse wäre die Figur Fergusons
sicher der Modellfall einer narzisstischen Störung. Geradezu frappierend
erscheint hier das fiktive Porträt einer Ich-Krise, in der der Bedrohte seine
Ängste durch Projektion zu kompensieren sucht. Nämlich durch eine erotische
Beziehung, die einmalig ist, in der das Objekt der Wünsche einem idealisierten
Bild entspricht. Judy ist, wenn Ferguson seine Verwandlungsarbeit abgeschlossen
hat, nahezu vollkommen und ideal - als Individuum ist und fühlt sie sich
stattdessen wertlos.
Wenn, nach Freud, der narzisstisch Gestörte nur
einen grandiosen Partner an seiner Seite duldet, so ist Fergusons obsessive
Liebe zu Madeleine in jeder Hinsicht exemplarisch.
Mit dieser Interpretation deckt man allerdings die
cineastische Wirkung von „Vertigo“ nur unvollständig auf. Untersucht man
Hitchcocks Filme unter thematischen Gesichtspunkten, so fällt auf, dass Ende
der 50er Jahre die Studien diverser Persönlichkeitsdefekte drastisch zunehmen.
Psychotische und traumatische Störungen hatten in Hitchcocks Filmen immer schon
eine große Rolle gespielt. In „Vertigo“, „Psycho“ (1960) und „Marnie“ (1964)
erreicht dieses Interesse seinen Höhepunkt. Hitchcocks Figuren entwickeln
zunehmend bedrohliche Züge: schlimmstenfalls sind sie paranoid, meist jedoch
werden sie von neurotischen Ängsten gequält, entwickeln seltsame Neigungen oder
werden in eine Welt versetzt, in der ihre scheinbar ungetrübte bürgerliche
Normalität von obskuren Gefahren bedroht wird („North by Northwest“, 1959, „The
Birds“, 1963). Wenn in "Marnie" Sean Connery den Widerstand einer frigiden
Kleptomanin zu brechen versucht, so hat dies eine merkwürdige Entsprechung in
James Stewarts Wunsch, mit dem Ebenbild einer Toten zu schlafen.
Hitchcocks
Kunst bestand nicht zuletzt darin, dem Publikum männliche Helden zu offerieren,
die trotz leichter Tendenz zur Neurose nie unsympathisch wirkten.
Zudem werden diese Männer bei Hitchcock in der
Regel von Müttern oder mütterlichen Frauen gefährdet. Dies geschieht manchmal
augenzwinkernd und komisch („To Catch a Thief“, 1955), in den meisten Fällen aber
sehr handfest. Auch „Vertigo“ ist da keine Ausnahme. Midge‘ Interesse an
Ferguson ist eine zwiespältige Mischung aus erotischer Neigung und mütterlichem
Instinkt. Wenn sie nach Madeleines ‚Selbstmord‘ den unter Schock stehenden
Ferguson mit den Worten „Du brauchst keine Angst zu haben, Jonny, Mutter ist
hier!“ in die Arme nimmt, werden unterschwellig Bedrohungen spürbar.
In „Vertigo“ werden die unbewussten Gefühle des
Zuschauers überdies noch durch eine Reihe kultureller Schlüsselbilder
gekitzelt. Diese Schlüsselbilder, die auch den Erfolg des Films bei
europäischen Filmemachern (z. B. Truffaut und Godard) zum Teil erklären, sind
beinahe universell verständlich. So wird „Vertigo“ zum Spiegel der
Assoziationen. Der literarische Topos der wiedererweckten Geliebten, unter
anderem auch ein Kind der deutschen Romantik, führt zur symbolischen
Verschlüsselung von Liebe und Tod, Leben und Traum. Dies reicht von Ovids
„Pygmalion“ bis hin zu „Tristan und Isolde“ (tatsächlich greift die Filmmusik
Bernhard Herrmanns auf Wagner zurück). Die Bedeutungen schwimmen allerdings in
„Vertigo“ nicht herum, wie Karpfen im Teich. Der Zuschauer muss sich erst auf
das Spiel mit seinen Gefühlen und Gedanken einlassen, um herauszufinden, dass
Hitchcocks „Vertigo“ im Grunde (nur?) ein grandioser Bild- und Gefühlsgenerator
ist, der die widersprüchlichsten Gedanken im Kopf des Betrachters hervorruft.
April 1984