Seit 1952 veröffentlicht das
British Film Institute (BFI) alle zehn Jahre in der Hauszeitschrift „Sight & Sound“ ein
Ranking, das besonderen Kriterien folgt. Nicht die Einspielergebnisse
entscheiden, sondern der künstlerische und filmhistorische Wert des jeweiligen
Films.
Über die Zusammenstellung
der Top 50 Greatest Films of All Time
entschieden 846 Kritiker, Wissenschaftler und Mitarbeiter der Filmwirtschaft
(u.a. in der Spalte BFI All Time), während die 2012 Sight & Sound Directors’ Top Ten insgesamt Mitglieder
dieser illustren Personengruppe befragte: 358 Regisseure, u.a. Woody Allen, Nuri Bilge Ceylan, Quentin
Tarantino, the Dardenne Brothers, Terence Davies, Guillermo del Toro, Martin
Scorsese, Olivier Assayas, Michael Mann, Guy Maddin, Francis Ford Coppola, Mike
Leigh, Aki Kaurismäki, legten Zeugnis ab. Sight & Sound existiert übrigens
seit 1932 und die exklusiven Qualitätsmaßstäbe brachten der Gazette häufig den
Vorwurf ein, ziemlich elitär zu sein.
Alfred Hitchcock ist der Größte
Am 4. August
schlugen die Briten dann so heftig zu, dass sogar der deutsche Blätterwald
rauschte: Orson Welles’ „Citizen Kane“, der seit 1962 unangefochten Platz 1
belegt hatte, wurde gestürzt. Der Fall war aber nicht tief: der Klassiker
belegt nun immerhin noch Platz 2.
Der eigentliche
Coup war allerdings die neue Nr. 1: Alfred Hitchcocks „Vertigo“.
Wer
in dem Blog einen Blick auf die The
Incredible Top Sixty plus wirft, sieht dort – Überraschung! – eben diesen
Hitchcock-Klassiker, der seit nunmehr 28 Jahren meine Nr. 1 ist. 1984 habe ich
ihn nämlich zum ersten Mal gesehen – und schon damals war ich steinalt. Zur
Feier des Tages gibt’s meine 1984er-Kritik im nächsten Blog-Beitrag.
Aber die neue Sight &
Sounds-Liste möchte ich zuvor noch auf Herz und Nieren checken. Und zwar habe
ich die aktuelle IMDb-Liste All-Time Worldwide
Box office mit den beiden britischen Listen abgeglichen. Und natürlich
mit meinen eigenen Incredible Top Sixty. Das Ergebnis überrascht
nicht wirklich: in meiner Filmclub-Liste taucht kein einziger Box Office Hit auf,
bei den Briten sowieso nicht. Im Vergleich Filmclub vs. BFI gibt’s aber
wenigstens vier Gemeinsamkeiten.
Rankings sind in erster Linie natürlich eine tolle Spielerei, aber sie helfen einigen Filmfreunden durchaus, sich und ihren Geschmack zu verorten. Wesentlich interessanter ist aber die Frage, warum Hunderte Millionen Filmfreunde auf der ganzen Welt mit Hingabe andere Filme sehen und lieben als die Filmkritiker.
Das hat einen einfachen
Grund: Filmkritiker sind bereits in jungen Jahren vertrocknete Knacker, sie
haben keinen Humor und können deshalb auch keinen Spaß haben, sie sind elitär
und damit überheblich, sie wollen pausenlos anderen die Welt und noch lieber
das Kino erklären, können aber daheim keinen Nagel unfallfrei in die Wand
schlagen, was allerdings auch nicht ihre ästhetische Urteilsfähigkeit
beeinträchtigt.
Zudem sind sie rachsüchtige
Gesellen, denn mit Filmkritiken kann man sich heutzutage nicht einmal die
Zigaretten verdienen, die man beim Schreiben ununterbrochen verpafft.
Wer die letzten Zeilen
abgenickt hat, hat schon ziemlich viel von meinem Text gelesen (Glückwunsch!),
aber nun sollte er Schluss machen. Was jetzt folgt, ist die Wahrheit, und wer
kann das schon von sich behaupten, dass er sie weiß? Natürlich – der
Filmkritiker.
Mal im Ernst: ich habe von
den Box Office Hits insgesamt sechs gesehen, die meisten davon sind ganz großes
Kino und ich freue mich, dass es sie gibt. Nur für die Transformers, die
Spielzeug-Geschichten und (nichts gegen Johnny Depp) auch für die Piraten
konnte und wollte ich mich nicht erwärmen (mir reichte ein Trailer).
Die Filme der beiden
britischen Rankings kenne ich ausnahmslos, nur „Tokyo Story“ ist arg lang her.
Viele der dort angeführten Filme sind auch in meiner Top-Liste, nur eben weiter
hinten. Mit anderen Worten: diese Listen sind nicht aus der Luft gegriffen.
Allerdings finde ich, dass
ff. Filme überbewertet sind: Murnaus „Sunrise“, Dziga Vertovs „Der Mann mit der
Kamera“ (insbesondere, wenn man mal Vertovs Theorien gelesen hat). Carl Dreyers
„Passion der Jungfrau von Orleans“ ist gerade kürzlich in der Arthaus Collection von Kinowelt
erschienen, und wer sich für Filmgeschichte interessiert und auch einige
Kenntnisse hat, sollte sich diesen Stummfilm-Klassiker anschauen.
Das Normalpublikum dürfte über die aus Nahaufnahmen bestehende Montage eher wenig begeistert sein – und bei aller Liebe: der Film gehört nun wirklich in keine Top Ten. Andrei Tarkovskys „Spiegel“ ist eines der hermetischen Meisterwerke des russischen Romantikers – aber ohne ein mehrtägiges Blockseminar in der nächsten VHS gibt es für Kino-Normalos keine Chance. Da empfehle ich eher den in meinen Top Ten aufgeführten „Stalker“. Und ebenfalls auf meiner Streichliste würden die „Fahrraddiebe“ landen, jenes kleine Prachtstück des italienischen Neo-Realismus von Vittorio de Sica aus dem Jahre 1949. Ich garantiere jedem, dass er bei diesem Film garantiert nicht vor Aufregung stirbt.
Das Normalpublikum dürfte über die aus Nahaufnahmen bestehende Montage eher wenig begeistert sein – und bei aller Liebe: der Film gehört nun wirklich in keine Top Ten. Andrei Tarkovskys „Spiegel“ ist eines der hermetischen Meisterwerke des russischen Romantikers – aber ohne ein mehrtägiges Blockseminar in der nächsten VHS gibt es für Kino-Normalos keine Chance. Da empfehle ich eher den in meinen Top Ten aufgeführten „Stalker“. Und ebenfalls auf meiner Streichliste würden die „Fahrraddiebe“ landen, jenes kleine Prachtstück des italienischen Neo-Realismus von Vittorio de Sica aus dem Jahre 1949. Ich garantiere jedem, dass er bei diesem Film garantiert nicht vor Aufregung stirbt.
Und
wie kommt es neben den üblichen subjektiven Geschmacksurteilen zu solchen
Divergenzen unter Kritiker.
Zum einen spiegeln Rankings häufig strategische Interessen wider. Viele Filmemacher würdigen Regisseure, die in ihrer Zeit das Kino, die Filmsprache und –grammatik weiterentwickelt haben. Thematisch gibt es mittlerweile interessantere Filme als „Citizen Kane“, aber da Orson Welles die Filmsyntax der zweiten Generation quasi im Alleingang erfunden hat, verdient dieser Film bis ans Ende aller Tage einen bevorzugten Platz.
Zum einen spiegeln Rankings häufig strategische Interessen wider. Viele Filmemacher würdigen Regisseure, die in ihrer Zeit das Kino, die Filmsprache und –grammatik weiterentwickelt haben. Thematisch gibt es mittlerweile interessantere Filme als „Citizen Kane“, aber da Orson Welles die Filmsyntax der zweiten Generation quasi im Alleingang erfunden hat, verdient dieser Film bis ans Ende aller Tage einen bevorzugten Platz.
Ist Kino Kunst oder Unterhaltung - oder beides?
Zum anderen gibt es keinen umfassenden Konsens in der obligatorischen „Ist Kino denn nun Kunst?“-Debatte. Die meisten europäischen Filmkritiker kommen aus dem akademischen Milieu und entscheiden sich eher für die Kunst-Hypothese, aber gelegentlich schaffen es auch Nerds und Buffs, irgendwo gedruckt zu werden. Oder sie bloggen. Das bringt frischen Wind in die intellektuelle Filmkritik.
Das ist gut so, weil die akademisch gut ausgebildeten Kritiker gewisse Traditionen nicht abschütteln können (warum auch?): die System- und Ideologiekritik, die Einflüsse der Semiotik, Strukturalismus und post-moderne Ansätze funken immer wieder dazwischen. Das verkopft ungemein, schadet aber auch nicht, da die Betroffenen sowieso unter sich bleiben. Aber das ist auch ein typisch deutsches Problem, die angelsächsische Filmkritik sieht oft ganz anders aus.
Zum anderen gibt es keinen umfassenden Konsens in der obligatorischen „Ist Kino denn nun Kunst?“-Debatte. Die meisten europäischen Filmkritiker kommen aus dem akademischen Milieu und entscheiden sich eher für die Kunst-Hypothese, aber gelegentlich schaffen es auch Nerds und Buffs, irgendwo gedruckt zu werden. Oder sie bloggen. Das bringt frischen Wind in die intellektuelle Filmkritik.
Das ist gut so, weil die akademisch gut ausgebildeten Kritiker gewisse Traditionen nicht abschütteln können (warum auch?): die System- und Ideologiekritik, die Einflüsse der Semiotik, Strukturalismus und post-moderne Ansätze funken immer wieder dazwischen. Das verkopft ungemein, schadet aber auch nicht, da die Betroffenen sowieso unter sich bleiben. Aber das ist auch ein typisch deutsches Problem, die angelsächsische Filmkritik sieht oft ganz anders aus.
Ich selbst sitze irgendwie
zwischen allen Stühlen. Einerseits kann ich schwer leugnen, dass für das Kino
industrielle Massenprodukte hergestellt werden (dass Filme eine Ware sind, ist
kein Argument, sondern eine Banalität), andererseits sind diese Massenprodukte
mitunter so gut, dass ich unseren Filmhochschulabsolventen die Professionalität
eines TV-Schlachtrosses, das pro Tag eine komplette Folge einer Sitcom raus
haut, wünschen würde. Das hat bei mir dazu geführt, dass ich insgesamt das
US-Kino favorisiere und dann taucht eben kein Fellini bei mir auf. Sorry.
Das eigentliche Problem ist
ein Phänomen, das sich mit einer ‚Zwei-Welten’-Theorie am besten beschreiben
lässt. Normale Kinogänger wollen gut unterhalten werden, und das funktioniert
meistens besser über das Herz als über den Verstand. Mit der emotionalen Seite
eines Kinoerlebnisses können Kritiker, die aus einer anderen Welt kommen,
leider selten etwas anfangen. Man kann Hitchcocks „Vertigo“ psychoanalytisch
sezieren oder stilistisch analysieren – den Mehrwert des Schauens kriegt man
nicht so einfach zu fassen. Das gelingt dem an Filmtheorie nicht interessierten
Kinogänger häufig ohne Mühe.
Ins Boot bekommt man beide
Seiten nicht so einfach. Und ich gebe zu: eine gewisse Filmbildung ist da kein
Hindernis, aber auch die Kritiker sollten ein Gefühl dafür bekommen, dass „Avatar“
die Menschen zu Recht mehr fesselt als „Ladri di biciclette“.
Das hat Gründe. Finden wir
sie heraus. Wenn das gelingt, dann starren die Einen nicht mehr kopfschüttelnd
auf die Top Liste des British Film Institute und die Anderen verfallen bei den
Box Office Hits nicht in Schockstarre.
Viel Spaß!