Frauen sollten lernen, dass charmante und gutaussehende Männer, die kultiviert auftreten, aber keinen ironiefreien Satz über die Lippen bringen und zwanghaft witzig sein wollen, entweder unsichere Kantonisten oder manipulative Narzissten sind. Letzteres ist dann lebensgefährlich, wenn sich der Traummann bereits beim ersten Date als Serienkiller entpuppt. Die romantischen Gefühle verfliegen rasch, wenn der Bösewicht seinem Opfer mit Hammer und Meißel die Zähne herausschlägt und dabei keineswegs seine vorzüglichen Manieren aufgibt.
Wer sich die neue Amazon Prime Video-Serie „Alex Cross“ anschaut, kann also eine Menge über toxische Männer lernen. Figuren, die man nicht zum ersten Mal in einem Thriller sieht. Überzeichnet man sie, werden sie zu Karikaturen. Auch Showrunner Ben Watkins verzichtet nicht auf dieses Genreklischee. Vielmehr fügt er der Story noch weitere hinzu. Erstaunlich: Obwohl die meisten Plot Points vorhersehbar sind, ist „Alex Cross“ weniger als Thriller, sondern mehr als Charakterdrama durchaus spannend und kann zum Bingen an einem verregneten Wochenende uneingeschränkt empfohlen werden.
Ein beschädigter Mann
Alex Cross ist forensischer Polizeipsychologe bei der Mordkommission in Washington, D.C. Kein anderer kann sich analytisch so präszise in die Köpfe von Mördern einschleichen wie Cross. Aber der hat genug von seinem Job. Seine Frau Maria (Chaunteé Schuler Irving) wurde vor einigen Jahren das Opfer eines Heckenschützen und starb in den Armen ihres Mannes. Cross ist seither schwer traumatisiert und bleibt mit seinen zwei Kindern Damon und Janelle zurück, die von seiner Großmutter Regina (Juanita Jennings) aufgezogen werden.
Als Cross seine Freistellung vom Job plant, wird der Black Lives Matter-Aktivist Emir Goodspeed umgebracht. Cross‘ Chefin Chief Anderson (Jennifer Wigmore) will die Tat entweder als Suizid oder als Mord unter verfeindeten Gangs möglichst schnell abhaken und zu den Akten legen. Wieder einmal wird die Polizei als eine aus politischen Gründen korrupte Institution inszeniert.
Cross deutet den Fall anders. Dem Opfer wurden die Haare geschoren und im Magen des bekennenden Muslims findet die Forensik die Reste von Schweinekoteletts. Das kann kein Gangmord sein. Cross übernimmt den Fall zusammen mit seinem Kollegen und best friend John Sampson (Isaiah Mustafa) und findet sich bald in der Hölle wieder. Ein beschädigter Mann, der immer wieder die Beherrschung verliert und nachts beim geringsten Geräusch mit gezogener Waffe durchs Haus stürmt und dann doch nur seine kleine Tochter vor dem Kühlschrank entdeckt.
Logiklöcher und Klischees
1993 erschien James Pattersons erster Krimi über den genialen Ermittler in „Along Came A Spider“, der Krimi wurde global ein Bestseller. 31 Folgeromane erschienen, Nr. 32 im Oktober dieses Jahres. Dreimal wurden Pattersons Romane verfilmt. 1997 spielte Morgan Freeman den Polizeipsychologen. In „…denn zum Küssen sind sie da“ (Kiss the Girls) kommt er zwei Psychopathen auf die Spur, die Frauen entführen und sich dabei einen perfiden Wettkampf liefern. Die Kritiker waren nicht amused: der Thriller sei zu klischeehaft. 2001 folgte „Netz der Spinne“ (Along Came A Spider), ebenfalls mit Freeman in der Hauptrolle. Der routinierte Thriller wurde überwiegend durch Freemans Performance gerettet. Allerdings bemängelte die Kritik zahlreiche Logiklöcher. Die dritte Verfilmung mit Tyler Perry in der Hauptrolle floppte 2012 an der Kasse.
Die Adaptionen von Pattersons Romanen standen bislang also nicht unter einem guten Stern. Die Übertragung ins Serienformat war daher eine Herausforderung. Die Hauptrolle in der achtteiligen Serie (Amazon Prime Video) übernahm Aldis Hodge („City on a Hill“). „Ich habe das Gefühl, im coolsten Psychothriller aller Zeiten dabei zu sein“, erklärte Hodge in einem Interview. Hodge macht seiner Sache nicht schlecht, aber auch nicht besser als der coole und charismatische Morgan Freeman. Und das ist als Lob zu verstehen.
An der Serie war James Patterson als Executive Producer beteiligt. Entsprechend begeistert war er vom Ergebnis. Showrunner war der weitgehend unbekannte Ben Watkins (als Executive Producer: „Hand of God“, „Burn Notice“). Watkins formulierte seine Ambitionen so: Er wolle „eine starke schwarze Familie und Freundschaften abbilden und sicherstellen, dass die schwarze Community repräsentiert wird.“
Letzteres wird bereits in der ersten Episode „Hero Complex“ überdeutlich, denn Rückhalt in den farbigen Viertel erfahren Cross und seine Kollegen nicht im Geringsten. Für die Community ist der Tote ein weiteres Opfer eines rassistischen Systems. Das trifft den Zeitgeist und man kann den Machern von „Alex Cross“ nicht vorwerfen, dass sie an stimmigen Milieustudien gescheitert sind. Im Gegenteil.
In Sachen Klischees hat sich allerdings wenig geändert. Die Serie ist kein Whodunit-Thriller, sondern präsentiert recht schnell die Identität des morbiden Serienmörders. Es handelt sich um den stinkreichen Ed Ramsey (Ryan Eggold, u.a. „The Blacklist), der zur gesellschaftlichen Upper Class von Washington, D.C. gehört und ein effektives Netzwerk von Kontakten aufgebaut hat. Und die lassen es als unmöglich erscheinen, ihm etwas nachzuweisen.
Nach einigen Vertuschungsmorden kommen Cross und Sampson dem Killer, den sie „Fanboy“ nennen, trotzdem auf die Spur. Der definiert sich als „Künstler“. Ramsey hat bereits 11 Menschen umgebracht, die er zuvor mit gesichtschirurgischen Eingriffen in berühmt-berüchtigte Serienmörder verwandelt hat. Die Metamorphose dokumentiert er in einem Buch, das seine ganz persönliche Bibel ist. Die Nr. 12, die den Mordzyklus abschließen soll, ist die kunstinteressierte Shannon Witmer (Eloise Mumford). Sie wird von dem dauerironischen Ramsey um den kleinen Finger gewickelt und wacht danach in einem schallisolierten, unterirdischen Labor auf. Nach ihrem Tod wird Ramsey ein Mitglied im Pantheon der Götter. Glaubt er jedenfalls. Ein Irrer mit einem Gott-Komplex.
Die frühzeitige Präsentation des Killers, die differenzierte Erklärung seiner Motive und die überlangen Szenen im Folterkeller des Psychopathen machen aus Ramsey eine langweilige und überzeichnete Figur, die meilenweit von der moralischen Ambiguität von Serienmördern wie Hannibal Lecter oder dem von Kevin Costner gespielten „Mr. Brooks“ entfernt ist. Stattdessen adressiert die Serie jene Zuschauer, die sich im Genre des Torture Porn à la „Saw“ zuhause fühlen. Spannend ist das nicht. Vielmehr folgen Ben Watkins und sein Team dem Motto: Was früher originell war, kann heute nicht schlecht sein.
Folgerichtig lässt die Dramaturgie der Serie kein Klischee aus. Natürlich wurde Ramsey so sadistisch, weil seine Eltern ihn nicht liebten. Natürlich kann Shannon ihren Peiniger überwältigen, tötet ihn aber nicht und wird prompt wieder von ihm gefangen. Natürlich wird jede Figur, die zu einer frühzeitigen Aufklärung der Mordserie führen könnte, rechtzeitig umgebracht. Kein Wunder, denn Ramsey kann beinahe jeden in Washington D.C. manipulieren, erpressen oder bezahlen. Und natürlich ist Ramsey, der sich durch Suizid einer Verhaftung entzieht, nicht wirklich tot, sondern erhebt sich, eingehüllt in ein weißes Tuch, wie ein Untoter vom Tisch der Leichenhalle, um sofort den Forensiker zu erwürgen. Und natürlich kommt es zu einem Zerwürfnis zwischen Cross und seinem Freund John Sampson, ein Zwist, der natürlich dank einer emotionalen Katharsis der Hauptfigur beendet wird. Aber natürlich ist daran nichts.
Ärgerlich ist auch, dass man nicht ausreichend erfährt, welche Fans und Anhänger Ed Ramsey um sich geschart hat. Seine Morde zelebriert der Serienmörder offenbar online. Immerhin informiert sein Handlanger Bobby Trey (Johnny Ray Gill) die FBI-Agentin Kayla Graig (Alona Tal) über ein Dossier Ramseys, das ausreichend Material enthält, um die Elite der Stadt nach Belieben erpressen zu können. Gill soll in der zweiten Staffel eine Hauptrolle erhalten, sodass sich dieses Logikloch möglicherweise als verkappter Cliffhanger entpuppt.
Punkten kann die Serie dagegen in den Nebenplots, in denen sich der emotional verstörte Alex Cross mit seinen Kindern, seiner Grandma und seiner Freundin Elle Monteiro (Damantha Walkes) auseinandersetzen muss. Auch wenn man sich heimlich fragt, was ein jüngerer Denzel Washington aus der Rolle gemacht hätte, gelingt es Aldis Hodge, seine Traumatisierung und die emotionalen Folgeschäden für seine Familie glaubhaft als komplexen Entwicklungsprozess nacherlebbar zu machen. Das wurde im Writer’s Room gut entwickelt und kann bis zum Ende überzeugen. Aldis Hodge spielt den Polizeipsychologen so zerrissen, dass man gespannt ist, wie sich die Figur in der bereits bestellten zweiten Staffel weiterentwickeln wird.
Alles schon mal dagewesen
Wer hat zum ersten Mal den Butler zum Mörder gemacht? Die Antwort auf diese Frage ist sicher interessant. Noch interessanter ist, dass man diesen Crime Plot nicht beliebig wiederholen kann, ohne sich lächerlich zu machen. Im nächsten Krimi muss es dann halt die Köchin sein. Zumindest dann, wenn die Story in einer britischen Upper Class-Familie spielt.
In der Narrativik nennt man das „Topos“ oder „Tropus“. Gemeint ist, dass fiktive Erzählungen sich sehr oft wiederholen und wiederkehrende Ereignisketten produzieren, so der amerikanische Mythologe Joseph Campbell. Dies ist nicht erzählerische Faulheit, sondern bedient sich Erzählmustern, die oft von Lesern und Zuschauer erwartet werden.
In Fernsehserien gibt es leider die Tendenz, dass solche Elemente irgendwann zu Klischees werden. „Storytelling by the numbers“ nennen das die Kritiker. „Alex Cross“ ist ein Paradebeispiel dafür. Anschauen kann man sich die Serie aber, weil die Geschichte gut und atmosphärisch gefilmt wurde und auch der Soundtrack von Hip Hop und Rap bis zu Debussys „Au claire de la lune“ ein stimmiger Mix ist.
Und originell wird „Alex Cross“ am Ende dann doch. Ramseys Ego wird völlig zerstört, als er von Cross darüber informiert wird, dass er nur wegen eines Mordes angeklagt wird. Also nicht auf Augenhöhe mit John Wayne Gacy oder Ted Bundy. Dass sich die Serie dabei beim Pacing überschlägt und in der letzten Episode im Schnelldurchgang auch noch der Mord an Cross‘ Frau scheinbar aufgeklärt wird, ist dagegen ein Fauxpas. Dieser komplexe Plot, für den ausgerechnet eine der Familie nahestehende Person als Strippenzieher verantwortlich ist, rauscht am Zuschauer im Höllentempo vorbei. Auch wenn dieser Epilog unmittelbar mit dem Prolog zusammenhängt, hätte man dies problemlos auf noch folgende Staffeln verschieben können.
Fazit
„Alex Cross“ ist ein psychologischer Thriller, dessen Hauptfigur permanent am Abgrund steht. Traumatische Flashbacks, erbarmungslose Rachewünsche und eine desolate Inkompetenz in Sachen Beziehungspflege sind nicht das, was man von einem Psychologen erwartet. Aber die Frauen der meisten Psychologen werden halt nicht erschossen. Und wenn man Ulrich Noethen als Psychiater Dr. „Joe“ Jessen gemocht hat, wird man mit einem überzeugenden Aldis Hodge als neuem Alex Cross kein Problem haben.
Ausgezeichnet sind in „Alex Cross“ die Nebenplots. Cross‘ fragiles Familienleben und das ambivalente Verhältnis zu seinem Freund und Kollegen John Sampson werden den Zuschauer nicht kalt lassen.
Sein Potential hat der Auftakt der neuen Serie aber noch nicht ausgeschöpft. Viele Spannungsmomente sind klischeehaft und können vom Zuschauer zu leicht erahnt werden. Punkten kann die Serie aber dank guter und atmosphärischer Kameraarbeit und einem abwechslungsreichen Soundtrack.
Noten: BigDoc = 3
Alex Cross – Amazon Prime Video 2024 – Showrunner: Ben Watkins – nach den Romanen von James Paterson – Buch: Ben Watkins, Aiyana White u.a. – Episoden: 8 – D.: Aldis Hodge, Isaiah Mustafa, Ryan Eggold, Juanita Jennings, Samantha Walkes, Jennifer Wigmore, Eloise Mumford u.a.