Montag, 4. November 2024

The Walking Dead: Daryl Dixon Season 1 und 2

Frischen Wind in der Mär von den Untoten, die menschenfressend die menschliche Zivilisation zu Grunde richten, bringen vermutlich nur noch neue Drehorte mit pittoresken Schauplätzen. Das ist der neuen Serie aus dem „The Walking Dead“-Kosmos in den ersten beiden Staffeln gelungen.

Im Sequel „Daryl Dixon“ bewegen sich Norman Reedus als Daryl Dixon und ab Staffel 2 auch Melissa McBride als Carol Peletier nicht mehr in der entvölkerten amerikanischen Provinz, sondern in Paris und auf einer Insel in der Normandie, auf der ein Stück Weltkulturerbe zu besichtigen ist: die spektakuläre Abtei Mont-Saint-Michel. Die entstand im Jahr 708 n. Chr. und niemand konnte damals ahnen, dass sie dereinst von Zombies überrollt werden könnte.

Der neue Messias

Die Umstände, die Daryl Dixon nach Frankreich verschlagen, sollte man besser nicht logisch hinterfragen. Und dass Melissa McBride aus verschiedenen Gründen in der ersten Staffel nur am Rande auftauchte, ist bedauerlich, aber immerhin bekam die zweite Staffel den Titel „The Book of Carol“. Denn Carol bekommt nun mehr Screen Time. Sie lernt den Piloten Ash Patel (Manish Dayal) kennen und belügt ihn nach Strich und Faden, um ihren „Best Friend“ Daryl zurück nach Amerika zu bringen. Ein Flugzeug steht bereit und tatsächlich lässt sich der Pilot Ash dazu überreden, über den großen Teich zu fliegen.
Abgesehen von diesen nicht gerade realistischen Plotidee bewegt sich „Daryl Dixon“, das 2023 an den Start gegangene Sequel des hyperaktiven TWD-Franchise, auf gesichertem Terrain. Denn Schurken gibt es auch im zombifizierten Frankreich. Diesmal sind es eine populistische Lügnerin und ein sektiererischer Heilsbringer.

In Paris greift unter der Führung von Marion Genet (Anne Charrier) die paramilitärische Bewegung Pouvoir des Vivants (Die Macht der Lebenden) nach der Herrschaft über Frankreich. Genet ist eine Populistin, die bei ihren Anhängern den Hass auf die alten Eliten predigt.
In der Abtei Mont-Saint-Michel regiert der sich pazifistisch gebende Sektenführer Losang (Joel de la Fuente) einen Haufen blindlings folgender Anhänger. Seine Union de L‘Espoir (Gemeinschaft der Hoffnung) will mit einem Messias in ein neues Zeitalter aufbrechen.

Der neue Hoffnungsträger der Sekte ist allerdings noch ein Kind. Laurent (Louis Puech Scigliuzzi) ist ein hochintelligenter, sensibler Junge, dessen Aura eine neue, friedliche Zukunft verspricht. Aber nur, wenn man daran glaubt, dass dies die richtigen Fähigkeiten in einer Post-Apokalypse sind.
Vorsichtshalber, aber nicht sonderlich erfolgreich, bringt Daryl daher dem Kind den Gebrauch von Waffen bei, um sich vor den Untoten zu schützen. Und den Menschen. Denn Marion Genet sieht in Laurent eine Bedrohung und will ihn liquidieren, Losang predigt dagegen den Beginn eines Wandels. Und Daryl Dixon? Der will Laurent einfach vor den beiden Irren retten. Als es ihn auf die Insel Mont-Saint-Michel, das sogenannte „Nest“ der Union de L’Espoir, verschlägt, überkommen ihn daher keine metaphysischen oder religiösen Anwandlungen, denn Bekloppte mit Visionen kennt er zur Genüge.

Die Schurken sind wieder einmal völlig irre

Interessant sind die Widersacher in „Daryl Dixon“ trotz der bekannten Erzählmuster. Marion Genet arbeitete als Putzkraft vor der Zombieseuche im Louvre und begann die mittelalterlichen Gemälde der Apokalypse und der Erlösung durch Gott erst dann zu verstehen, als ihre Mitmenschen aufgefressen wurden. Von Religion hatte sie danach genug. Von „denen da oben“ auch, denn die Reichen hatten alle anderen im Stich gelassen. Dass eine Putzkraft zum neuen Robespierre wird, ist schon etwas schräg. Aber warum nicht?

Genets Vision einer autoritären Staatsform wird konterkariert durch Losangs Credo, dass nur der Glaube den Menschen neue Kraft und Zuversicht geben kann. Koste es, was er wolle. Losang spielt den friedlichen Anführer, der Daryls Militanz misstraut, aber ohne moralische Bedenken zum Killer wird, wenn sein Glaube es erfordert.

In Zwei-Augen-Gesprächen sind die beiden Tyrannen durchaus charismatisch. Ihre Taten enthüllen allerdings tiefschwarze Abgründe. Marion Genet bastelt mit einigen Mad Scientists an genetisch veränderten Zombies, die ganze Armeen ersetzen sollen. In der dritten Episode der zweiten Staffel „L’Invisible“ begrüßt sie mit Emphase eine Gruppe von Freiwilligen, die an ihrer Seite kämpfen wollen. Dann lässt sie die zunächst Begeisterten mit einem MG niedermähen. Die Toten erhalten eine Spritze, verwandeln sich in Zombies, können danach aber so schnell rennen wie in Zack Snyders Version von „Dawn of the Dead“. In beiden Staffeln verdichtet sich der Verdacht, dass die Zombie-Plage in Frankreich begann.

Losang dagegen will in einer öffentlichen Zeremonie Laurent von einem Untoten beißen lassen. Eine Nicht-Verwandlung würde endgültig beweisen, dass das Kind der neue Messias ist. Misslänge das Ganze, wäre es das Ende der Bewegung. Man muss „Daryl Dixon“ keineswegs überinterpretieren, aber der Realitätsbezug der Serie ist kaum zu leugnen. Die Frage, warum viele Menschen visionären und verlogenen Verführern nachlaufen, stellt sich in unseren Zeiten aber nicht wirklich.

Überhaupt ist den Menschen im TWD-Kosmos generell nicht zu trauen. Man ist an keinem Ort sicher und selbst die freundlichsten Menschen entpuppen sich entweder als Verräter oder heimliche Monster. So begegnet Carol in der Einöde zwei Wissenschaftlerinnen, die Carols Piloten als Samenspender benötigen und Carol beseitigen wollen. Sie überleben es nicht.
Und da ist noch das freundliche alte Paar, das Carol und Daryl großzügig hilft, bis Grandpa die schlechte Entscheidung trifft, die Gäste an die Oberschurkin zu verraten. Diesmal überlebt es die Grandma nicht.

Neu ist das nicht. Man kann quasi seine Uhr danach stellen, dass die scheinbar Gutmütigsten tatsächlich Monster sind und dem Bösen verfallen sind. Auch das ist nicht neu. Das Franchise präsentiert dem Zuschauer seit fast anderthalb Dekaden gebetsmühlenartig die deprimierende Botschaft „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Anders formuliert: die Zombies sind nicht das Problem.

Differenzierte Darstellung der Hauptfiguren

Das könnte langweilig werden, zumindest ist es vorhersehbar. Aber dem Sequel gelingen trotzdem einige treffsichere Spannungsmomente, die Locations haben einen enormen visuellen Mehrwert zu bieten und die Kameraarbeit ist bis ins kleinste Detail exzellent.

Zudem hatte man im Writer’s Room einen guten Staff zusammengestellt, der die Figuren differenzierter entwickelt hat als in den anderen Sequels. Die gut geschriebenen Dialoge zwischen Daryl und Carol vertiefen das Verständnis der Zuschauer für die beiden ambivalenten Hauptfiguren. Das gilt besonders für Melissa McBride, die noch härter geworden ist und empathische Regungen nur dann zeigt, wenn sie ihren Zielen dienen oder wenn sie traumatische Erinnerungen an die Zombifizierung ihrer Tochter überkommen. Man spürt, dass ihre Freundschaft zu Daryl ihr letzter Rettungsanker vor dem inneren Absturz ist.

Auch Norman Reedus spielt seine Rolle als pragmatische und gelegentlich nihilistische Hauptfigur überzeugend. Ein wenig überraschend ist das schon, denn in der Mutterserie war er jahrelang eher ein Schweiger, der seine White Trash-Vergangenheit hinter sich lassen konnte und für die Gruppe um Rick Grimes unentbehrlich wurde. Im TWD-Sequel schweigt er nicht, aber Überflüssiges oder Emotionales kommt auch in den beiden Staffeln der neuen Serie nicht über seine Lippen. Aber auch er zeigt neue Seiten. Als es sich von Laurent trennen muss, spielt der Junge auf seiner Gitarre und singt den Rolling Stones-Song „Satisfaction“. „You can’t always get what you want“ - Daryl singt mit, dann bricht seine Stimme. So verletzlich sah man den angebrühten Haudegen noch nie. Die Serie zeigt ihre Qualität also nicht durch neue, originelle Action, sondern durch die spannende Entwicklung der beiden Hauptfiguren.

Nur am Rande: Über Daryls tiefe Freundschaft mit Carol konnte man rätseln, denn erotisch wurde die Beziehung nie. Dass Daryl in der zweiten Staffel nun eine romantische Beziehung in Skript geschrieben wurde, tut der Figur allerdings gut. Seine große Liebe ist die Nonne Isabelle (Clémence Poésy), deren Schwester Lily die leibliche Mutter von Laurent ist. Der Zuschauer ahnt aber dunkel, dass Daryls Love Affair nicht gut enden wird.

„Homo homini lupus est“ – die Raubgier der Tiere

Thematisch bleibt trotz der neuen Schauplätze und der guten Dialoge alles beim Alten. Die Zombie-Apokalypse ist und bleibt ein Katalysator, der den toxischen Fallout in einer postapokalyptischen Welt schonungslos beschreibt. Die moralischen Gesetze schmelzen wie Schnee an der Sonne und harte Figuren wie Daryl und Carol können nur überleben, weil sie einen Rest Menschlichkeit bewahrt haben, aber auch die Fähigkeit besitzen, ihre Interessen mit Gewalt durchsetzen zu können. In dieser Hinsicht ist die Action in „Daryl Dixon“ eine Spur brutaler als die anderen Sequels.

Auch wenn es die Fans der Serie nicht kümmern wird: „The Walking Dead“ präsentierte von Beginn an philosophische Fragen über den zivilisatorischen Zerfall und die neuen Regeln des Überlebens, über Verrat und Loyalität.
Diese Fragen wurden aber nicht utopisch, sondern dystopisch beantwortet. Egal was passiert: den Hauptfiguren begegnen immer wieder Gegenspieler, die das denkbar Schlimmste tun oder schlichtweg wahnsinnig sind. Der Einzige, der in TWD rational und intelligent handelte, war der zynische und brutale Negan, der ein nahezu perfektes System der Ausbeutung etablierte. In der Mutterserie war diese Figur trotz ihrer später folgenden charakterlichen Veränderung die Verkörperung eines Raubtier-Kapitalismus, der immerhin seine Gefolgsleute zuverlässig versorgte und bei Laune hielt. Er war der Wolf, der über die Schafe herrschte.

„Homo homini lupus est“ (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) ist als anthropologische und philosophische Einsicht so alt wie die Menschheitsgeschichte. Bekannt wurde die Redewendung im 17. Jh. durch den Philosophen Thomas Hobbes, der allerdings nicht immer vollständig zitiert wurde.
Hobbes sah im Bösen den Konflikt zwischen dem Staat und dem Naturzustand des Menschen, also zwischen Ordnung und Anarchie. „Es besteht kein Zweifel, dass beide Formeln wahr sind: der Mensch ist dem Menschen ein Gott und der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, lautet Hobbes‘ vollständige Aussage.

Im Naturzustand haben die Menschen ein Selbsterhaltungsrecht, aber um welchen Preis? „Hier müssen selbst die guten Menschen wegen der Verderbtheit der Bösen, wenn sie sich schützen wollen, auf die kriegerischen Tugenden Kraft und List zurückgreifen, d. h. auf die Raubgier der Tiere“, so Hobbes. Nur die Übertragung dieser Rechte auf den Staat, der auch über moralische Konflikte entscheidet, kann den Naturzustand beseitigen und für Ordnung sorgen. Leisten kann dies laut Hobbes nur ein absolutistischer Herrscher.

Der Haken: universelle Moralstandards kannte der Agnostiker Hobbes nicht. Das Gute an sich gab es für ihn daher nicht. Und wie der Mensch dem Menschen ein Gott werden kann, konnten weder Hobbes noch „The Walking Dead“ beantworten. Und so ist es durchaus interessant, in einer Zombie-Serie zu sehen, welche Folgen Hobbes‘ Vision hat, wenn sie in einer Post-Apokalypse auf den Prüfstand gestellt wird. Keine guten. Es sei denn, man sieht in der unwiderruflichen Loyalität zwischen Daryl und Carol das, was vom Menschsein bestenfalls übrigbleiben kann.

Note: BigDoc = 2

The Walking Dead: Daryl Dixon / The Book of Carol – Season 1 und 2, 2x sechs Folgen – USA 2023-2024 – Showrunner: David Zabel – Regie: Daniel Percival u.a. – Regie: David Zabel u.a. – D.: Norman Reedus, Carol Peletier, Anne Charrier, Joel de la Fuente, Louis Puech Scigliuzzi.