Sonntag, 20. Juli 2014

Welches Geheimnis steckt in „True Detective“?

Rezeptionsästhetische Aspekte einer ausgeklügelten TV-Serie

In „True Detective“ gibt es Elemente, die eigentlich völlig unfilmisch sind: Zwei Männer sprechen mit einer Videokamera. Es sind die ehemaligen Cops Rust Cohle und Marty Hart. Beide sitzen jeweils allein vor einer Videokamera und berichten von Ereignissen, die der Zuschauer auf die eine oder andere Weise sieht. Später demonstrieren Gegenschüsse dem Zuschauer, dass es sich um eine Verhör- oder Befragungssituation handelt. Zwei sehr schweigsame Cops bedienen sich der Videotechnik, um ihre Gespräche mit Cohle und Hart  aufzuzeichnen. Die Befragung wird im Folgenden immer wieder von Sequenzen unterbrochen, in denen die Ereignisse, über die Cohle und Hart berichten, zu sehen sind. Doch im Verlauf der Episoden merkt der Zuschauer rasch, dass es sich dabei keineswegs nur um Flashbacks (1) handelt.
 

Bei einer Analepse unterstellt der Rezipient, besonders beim Film, dass er „tatsächliche“ Ereignisse sieht. In „True Detective“ erleben wir auch, was passiert ist, aber man sieht auch die Lügen und taktischen Umdeutungen dieser Ereignisse durch die Erzähler, z.B. dann, wenn Cohle und Hart mündlich einen gemeinsam begangenen Mord so wiedergeben, wie er in den Polizeiberichten festgehalten wurde (als Notwehr), während der Zuschauer durch die Kamera eine objektivierende Darstellung der Ereignisse angeboten bekommt (es war eine Hinrichtung).
 

Aber die Erzählung in „True Detective“ wird durch dieses „Wahrheitsangebot“ der Kamera keineswegs objektiver (was in einem fiktionalen Sujet ohnehin ein problematischer Begriff ist). Der Zuschauer spürt vielmehr, dass er seinen Augen eigentlich nicht trauen darf und so muss er fortan allen Flashbacks von Cohle und Hart (und später auch Harts Frau) skeptisch begegnen und diesen bis zu einem gewissen Grad misstrauen. „True Detective“ ist, so gesehen, ein „unreliable narrator“, ein Erzähler, dem man nicht ganz trauen darf.

Dadurch bekommt die Erzählung eine gewisse Unschärfe, was generell in allen Erzählungen der Fall ist, die sich unterschiedlicher rhetorischer Mittel bedienen und dabei rätselhafte oder sogar widersprüchliche Sichtweisen anbieten. Man kann dies formal und in Hinblick auf die rhetorischen Mittel untersuchen, aber auch wirkungsgeschichtlich. Die beobachteten Lücken in der formalen und inhaltlichen Bauweise einer Erzählung nennt man in der Rezeptionsästhetik auch „Leerstellen“.


Dieser Begriff aus der Literaturtheorie hat mittlerweile auch in der Medienforschung und damit auch in der Analyse von Filmen und TV-Serien ein besonderes Gewicht erhalten hat. Zum Beispiel dort, wo man die Änderung von Erzählperspektiven beschreiben will (objektive Kamera, subjektive Wiedergabe von Erinnerungen, absichtlich gefälschte Wiedergabe von Erinnerungen wie in „True Detective“) oder die zeitliche und inhaltliche Verzahnung unterschiedlicher Erzählstränge.

Leerstellen sind Teile oder Segmente des Inhalts, die lückenhaft, diffus oder ambivalent sind. Beispiel: Man sieht in einem Film einen Mann, der aus dem Fenster schaut, aber nur von hinten. Die Mimik bleibt im Verborgenen und der Zuschauer darf rätseln, was die Figur gerade denkt oder fühlt (2).


Die Rezeptionsästhetik geht grundsätzlich davon aus, dass der Rezipient (Leser/Zuschauer) die jeweilige Leerstelle zu schließen hat, wenn er Sinn herstellen will - z.B. durch seine Phantasie, durch Vermutungen und Annahmen oder durch die Deutung versteckter Hinweise. Wichtig an dieser Theorie ist aber, dass Kunstwerke als offen beschrieben werden und unterschiedliche Deutungsangebote machen, was sehr einfach bei jedem von uns zu beobachten ist, wenn er nach Jahren ein Buch noch einmal liest oder einen Film erneut anschaut.



Die versteckte Mythologie in „True Detective“

Symbole, die Ikonographie oder Metaphern sind tendenziell ebenfalls gute Kandidaten für „Leerstellen“. In „True Detective“ gibt es aber noch weitere, und die sind ziemlich raffiniert. 
So finden Cohle und Hart an den Tatorten nicht nur merkwürdig geflochtene Objekte und merkwürdige spiralförmige Zeichen (auch als Tattoo), sondern erhalten auch geheimnisvolle Hinweise auf einen „König in Gelb“ oder den „Gelben König“ und das unheilvolle Reich „Carcosa“.
Nun könnte man meinen, dass die beiden Cops clever genug sind, um wenigstens einmal vernünftig zu googeln. Doch ausgerechnet dies tun sie nicht. Warum?

Und weiter: Wenn Cohle in der finalen Episode einen kosmischen Wirbel sieht, den der Killer Errol Childress zuvor als „infernalische Öffnung“ beschrieben hat, die immer größer wird, weiß der Zuschauer nicht, ob Cohle eine seiner berüchtigten Halluzinationen hat oder „tatsächlich“ etwas gesehen hat. Vermutlich Letzteres, sonst hätte Childress das Phänomen nicht erwähnen müssen. Aber das ahnt nur der Zuschauer, die beiden Helden der Serien wissen es nicht. Aber warum spekulieren Cohle und Hart  in der Schlusssequenz über Metaphysisches oder Mythologisches wie den Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, was eine Metapher für Gut und Böse ist?
Hier haben wir es mit Leerstellen zu tun, mit inhaltlichen Fragmenten, die unvermittelt auftauchen, mit Begriffen, die nicht erklärt werden, und den Zuschauern geht es nicht besser als den beiden Hauptfiguren. Im Gegensatz zu diesen können sie aber etwas tun, und dabei ist nicht Phantasie gefragt, sondern konkrete Recherche und etwas Literaturkenntnis. 


Die Erzählung in „True Detective“ stellt die dafür erforderlichen Hinweise aber nur sparsam bereit, sie lässt auch in voller Absicht nicht zu, dass den Protagonisten die Auflösung gelingt. Der Rezipient muss diese externen Elemente auftreiben und in seine Deutung einbeziehen, da sonst die Lücken nicht geschlossen werden können. Und das ist die gewünschte Wirkung einer Leerstelle.

Wohin führt das alles? Im vorliegenden Fall gehen die Verweise in eine Richtung: Alles zeigt mit einem dicken Finger auf die Weird Fiction, jene Gattung, die auch unter dem Begriff Supernatural Horror subsumiert werden kann.
Fangen wir bei Robert W. Chambers (1865-1933) an, der 1895 in seiner Short Story-Sammlung „The King in Yellow“ wunderliche Horrorgeschichten publizierte, in denen es immer wieder um ein Theaterstück geht, dessen erster Akt harmlos ist, dessen zweiter Akt bereits nach kurzer Lektüre in den völligen Wahnsinn führt. Dabei drehen sich dunkle Andeutungen um ein altes mächtiges Wesen, den „König in Gelb“, und die geheimnisvolle Stadt Carcosa. Eben jenes Carcosa, das auch bei Ambrose Bierce erwähnt wird („An Inhabitant of Carcosa“, 1886). 

In Carcosa befindet sich am Ende auch Rust Cohle, zumindest ist der Killer Errol Childress davon überzeugt, der sich sein Reich Carcosa in den Verließen eines geheimnisvollen Gebäudes eingerichtet hat. Hält sich der Bösewicht etwa für den „King in Yellow“? Ist das, was Cohle dort sieht und was ihn einen entscheidenden Moment lang ablenkt, möglicherweise die Pforte zu einer anderen Dimension? Auf jeden Fall greift „True Detective“ tief in den Fundus der Weird Fiction.


Dass jenseits von Zeit und Raum grauenhafte Wesen existieren, die in unser Universum eindringen können, hat schließlich H.P. Lovecraft (1890-1937) in seiner Cthulhu-Mythologie weiterentwickelt. Lovecraft, der erst in späteren Jahren berühmt wurde, fabulierte sich ein Reich voller grauenhafter Gestalten zusammen, die alle darauf warten, auf die Erde zurückzukehren, um dort wie bereits in grauen Vorzeiten erneut die Herrschaft zu übernehmen.
Bahnbrechend für die Exemplare dieser Gattung, die überwiegend in „Pulp Magazinen“ veröffentlicht wurden, war Lovecrafts Kurzgeschichte „The Call of Cthulhu“ (1928, dts. „Der Ruf des Cthulhu“). Hier hatte Lovecraft nicht nur alle Elemente seines Stils und seiner Erzählstrategie bereits perfekt entwickelt, sondern er führte auch eine Horrorfigur ein, die exemplarisch für die Weird Fiction ist, später regelrecht zur Pop-Ikone wurde und bis heute ihren enormen Einfluss auf Autoren und Filmregisseure behalten hat: Cthulhu, ein gewaltiges Wesen mit Flügeln, dessen Gesicht einem Tintenfisch ähnelt und aus dem tentakelbesetzte Fangarme herunterhängen. Cthulu, ein Sprössling der „Großen Alten“, einer interstellaren Rasse, schläft seit Millionen von Jahren in R’hley, einer im Meer versunkenen Stadt, wird von Zeit zu Zeit erweckt, dann wieder mit einem Bann belegt. Wie auch immer: Begegnungen mit ihm sind nicht ratsam, sie enden entweder tödlich oder – bei Lovecraft (wie zuvor bei Chambers) besonders beliebt – in völligem Wahnsinn.


Und was zum Teufel hat dies mit „True Detective“ zu tun?
 Spannend ist, dass Nic Pizzolatto auf bisher nie dagewesene Weise eine Cop-Serie mit genreübergreifenden Zutaten ausgestattet hat, die nicht einmal ansatzweise aufgeklärt werden. Selbst „Akte X“ war da auskunftsfreudiger. Es sind Verweise, die auf Erzählbestände jenseits der Serie verweisen und die der Zuschauer entweder vorrätig hat oder nicht. Der Zuschauer schließt so die Leerstellen, wozu die Protagonisten offenbar nicht imstande sind. Oder besser im Konjunktiv: Er könnte!


Die Verweise beginnen mit Chambers „The King in Yellow“ und Carcosa und führen über Lovecraft zu den geheimnisvollen Sekten tief im Inneren Louisianas, die in „The Call of Cthulu“ als eine bestialische Jüngerschaft der „Großen Alten“ beschrieben werden. Menschen, die ihre Opfer entführen, rituell vergewaltigen und danach töten und auf die Rückkehr ihrer Götter hoffen – oder wie der irre Errol Childress darauf warten, sich verwandeln zu können oder an der Öffnung der „infernalischen“ Raum-Zeit-Spalte mitwirken zu dürfen.
Der Cop Rust Cohle ist so gesehen eine sehr mehrdeutige fiktive Figur, deren psychische Verfasstheit von ihrem Autor so konstruiert worden ist, dass seine philosophische Einlassungen entweder als Rekurs auf traditionelle Philosophie (Nietzsche) oder auf den irren Kosmos der Weird Fiction verstanden werden können. Dazu gehört auch Cohles Suada über die in sich geschlossene Struktur der Zeit, in der wir alle immer wieder das Gleiche tun, weil wir wieder und wieder geboren werden und ständig das Immergleiche geschieht und sich nervtötend wiederholt, während es eine Instanz gibt, die in der Lage ist, „aus einer vierten Dimension“ (Cohle) alles, was gewesen ist und geschehen wird, gleichzeitig zu erfassen und zu erkennen, in einer Dimension, in der sich nichts verändert und die in der Ewigkeit existiert.


Kennen wir das? Es ist nicht Einstein, auch nicht Nietzsche, nein, es ist das uralte Wesen Yog-Sothoth, das laut Lovecraft außerhalb des uns bekannten Universums lebt und die Raum-Zeit als Ganzes sieht. Er ist Wächter des Tores, er ist das Tor, durch das die Großen Alten zurückkehren werden. Und wenn sie wieder über die Erde herrschen, werden sie die Menschen von jeglicher Moral befreien, sie die Lust am grenzenlosen Töten lehren: „... and the world flame with holocaust of ecstasy and freedom“ (H.P. Lovecraft, The Call of Cthulhu).


Die verrückten Sektierer, die in „True Detective“ weitgehend nicht gefasst werden, sind ziemlich nah dran am Cthulhu-Mythos. Das muss man nicht mögen, erst recht wenn man weiß, dass 2005 ausgerechnet in Louisiana an christlichen Schulen massenhaft ein rituell organisierter sexueller Missbrauch von Kindern stattgefunden hat, und auch dann nicht, wenn man in einer TV-Serie das Ganze als Wiedergänger einer beinahe vergessenen literarischen Tradition serviert bekommt.
Aber für eine Deutung von „True Detective“ ist es schon entscheidend, dass Hart und Cohle das alles nicht herausgefunden haben. Dabei wäre es doch ganz einfach gewesen. Allein der Hinweis auf den „König in Gelb“ hätte doch gereicht, oder?
Aber Hart und Cohle sind fiktive Figuren, zu deren Disposition die banale Google-Suche nach mysteriösen Zeugenaussagen offenbar nicht gehört. Das hat einen Grund. Nic Pizzolatto hat etwas geschaffen, das zu den essentiellen Bausteinen einer guten Story gehört: das Geheimnis, das innerhalb der sorgfältig durchkonstruierten Diegese nicht völlig entschlüsselt wird. Es ist wie bei der letzten Einstellung in „The Sopranos“: noch heute zerbrechen sich die Fans den Kopf darüber, ob Tony noch lebt oder tot ist.
 

Es bleibt dem Zuschauer überlassen, ob er dem Ganzen trotzdem nachgeht oder nicht. Die Schnitzeljagd ist vorbereitet, man kann der ausgelegten Spur folgen, man kann es auch lassen – dies gehört halt zu den Optionen einer guten Leerstelle! „True Detective“ funktioniert auch ohne dieses Rätsel ganz gut. Dennoch: gute TV-Serien bedienen sich mittlerweile ziemlich cleverer Strategien, um elegante Vexierspiele zu konzipieren, die ohne ihre literarischen Vorbilder nicht vollständig zu genießen sind. „True Detective“ funktioniert als TV-Serie auch deshalb so gut, und auch, weil die Deutungsangebote so vielfältig sind. Aber nicht beliebig.
HBO ist damit endgültig in der Literatur angekommen.


(1) In der Literaturtheorie nennt man dies auch Analepse (im Gegensatz zur Prolepse, die in der Zeit nach vorne springt. 
(2) Schöne Beispiele findet man auch in „Mad Men". Anstatt eines Cliffhangers sieht man oft in der letzten Einstellung ein Gesicht, das ausdrucksleer ist, z.B. wenn Don Draper neben seiner Frau liegt, nicht schlafen kann und auf einen imaginären Punkt in der Ferne starrt. Überhaupt sind die „offenen Enden" in dieser Serie gerade wegen ihre vermeintlichen Leere ein bemerkenswerter dramaturgischer Kniff.

Nachtrag (27.12.2014): Die Serie ist überwiegend positiv aufgenommen worden. Es hat sich aber herausgestellt, dass in einigen Foren die letzte Episode wütend kommentiert wird, einige Zuschauer sind sogar davon überzeugt, dass am Ende die ganze Serie ruiniert wird. Und immer wieder ist der merkwürdige „Strudel" der Auslöser der geballten Wut. Schade eigentlich, denn gerade dies wurde in den USA nachhaltiger und oft kenntnisreicher diskutiert. Wenn man die Serie erneut sieht, dann bemerkt man übrigens, dass Cohle und Hart immer wieder die Hinweise quasi vor die Nase gelegt werden (z.B. das Tagebuch in Ep. 2). Und es ist Hart, der dies ignoriert und zur Tagesordnung übergeht. Man könnte meinen, dass der durch jahrelangen Drogen-Abusus geschädigte Cohle der Einzige ist, der eine Antenne für das Geheimnis in True Detective" hat. 

Eine ausführliche Besprechung der Serie findet man hier.


Literatur/Quellen:

Norbert Neuß: Leerstellen für die Fantasie in Kinderfilmen – Fernsehen und Rezeptionsästhetik, in: Televizion online, 15/2002
The King in Yellow (engl.), in Projekt Gutenberg
H.P. Lovecraft: Der Ruf des Cthulhu, www.hplovecraft.de (als PDF)