Mittwoch, 26. November 2014

Die Bücherdiebin

Wenn ein Kinder- und Jugendfilm das Nazi-Deutschland ohne deprimierende Schonungslosigkeit und weitgehend auch ohne die bekannten Grausamkeiten nachzeichnet, dann wird der politisch korrekte Zuschauer hellwach. Darf man den deutschen Faschismus poetisch fiktionalisieren, nur um zu zeigen, dass für Kinder auch in dieser Welt die Phantasie und das Bücherlesen lebensrettend sein können? „Die Bücherdiebin“ polarisiert, überzeugt aber durch die Glaubwürdigkeit der kindlichen Erzählperspektive.

Erzählt wird die Geschichte vom „Tod“, ausgerechnet. Im Off tritt als diskreter Beobachter auf und hört sich an wie Ben Becker: Ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs werden die 9-jährigen Liesel Meminger (Sophie Nélisse) und ihr Bruder zur Pflegefamilie Hubermann nahe München gebracht. Der entkräftete Junge überlebt die Reise nicht. Liesel muss sich nun allein in einer fremden Welt zurechtfinden. Die resolute Rosa Hubermann (Emily Watson) zwingt das Kind, sie „Mutter“ zu nennen und ihren Mann Hans (Geoffry Rush) „Vater“. Hans ist es, der dem Mädchen mit seiner immerwährenden Freundlichkeit die Scheu nimmt und der Analphabetin (dieser Umstand wird nicht weiter erklärt) das Lesen beibringt. Als Hans den Juden Max (Ben Schnetzer) im Keller versteckt, weil er damit eine alte Schuld einlösen kann, entwickelt sich zwischen Liesel und dem jungen Mann eine Freundschaft, über der die Gefahr der Entdeckung wie ein Damoklesschwert schwebt.

„Die Bücherdiebin“ ist die Verfilmung des Jugendbestsellers Bestsellers „The Book Thief“ von Markus Zusak. In der deutschen Übersetzung erhielt das Buch den Deutschen Jugendliteraturpreis 2009. Dass sich die Verfilmung ebenfalls an Kinder und Jugendliche richtet, liegt in der Natur der Sache und ist nicht zu übersehen. Aber wie der Film das schwierige Thema umsetzt, ist spannend, gefühlvoll und akzeptabel.
Das Buch habe ich leider nicht gelesen, was nicht ganz unproblematisch ist. In den Foren verorten sich die Reaktionen der Zusak- Fans auf den Film irgendwo zwischen Kitsch und Rührung. Auch das ist nicht unproblematisch, denn Überwältigungskino ist mir nie geheuer. Aber diese Debatte findet in meiner Kritik nicht statt, weil mein Interesse der Konnotierung der Erzählorte gilt. Und die Nebenbedeutungen sind gelegentlich wichtiger als die plakative Message eines Films.

Liesels Erleben der fahnenumwehten Nazi-Kultur zeigt die „Bücherdiebin“ nicht frei von melodramatischen Gefühlsmomenten, bleibt aber sehr glaubwürdig, wenn es darum geht, die Binnenwelt einer anfangs Neunjährigen in Bilder zu fassen. Liesel versucht das für sie unbegreifliche historische Geschehen mitsamt seiner merkwürdigen Bedrohungen zu ordnen und sich selbst einen Überlebensraum darin zu verschaffen. Der Not gehorchend, könnte man sagen. Das ist für ein Kind, das von der Mutter (Heike Makatsch in einem Kurzauftritt) in fremde Obhut gegeben wurde, sich wenig später in einer BDM-Uniform wiederfindet und als Analphabetin einen schweren Stand hat, mit einer erwachsenen Perspektive nicht zu bewältigen. Kindliche Reaktionen fallen daher magisch und/oder symbolisch aus. Dies setzt der Film überzeugend um.


Der Keller als Insel

So entdeckt Liesel das Buchstabieren und dann im Laufe der nächsten Monate das Lesen (etwas zu schnell?). Die Wände des Kellers, in dem auch Max schließlich landet, bezeugen diese Kulturisation. Liesel schreibt die Wörter (im Film, der für den internationalen Markt produziert wurde, ist alles in Englisch, was ich nicht als glücklich empfinde), die sie von Hans lernt, an die Wand. Sie übt das Lesen ausgerechnet mit einem Handbuch für Totengräber (Achtung: Symbolik!) und erfährt später von dem (selbstverständlich?) gebildeten Max, was das Lesen für ein zivilisiertes Wesen bedeutet. Und als Max dann im dunklen und feuchten Verlies bedrohlich erkrankt, liest das Mädchen dem Todkranken aus H.G. Wells „The Invisible Man“ vor.

Das inselartige Refugium des Kellers wird in Brian Percivals Film zu einem Topos der Menschlichkeit. Dort, im Keller, triumphiert der Raum über die Zeit, der Ort des Lesens über die Bedrohungen des Alltags. Was von einigen Kritikern als versimplifizierendes „Märchen“ gedeutet wurde, kann auch als universelles Erzählmittel gedeutet werden. Nämlich als Fluchtraum oder soziales Experimentierfeld, so wie er immer wieder in der europäischen und amerikanischen Literatur, etwa bei Thomas Morus oder Aldous Huxley, auftaucht. In der Marginalität der Insel, nämlich etwas Kleines und Bedrohtes zu sein, zeigt sich auch auf andere Weise ihre besondere Funktion: nämlich nicht so schnell entdeckt zu werden und damit Freiheit zur Verfügung zu stellen.

„Die Bücherdiebin“ erzählt dies exemplarisch in einer Szene, in der die Entdeckung droht. Als die NSDAP-Ortsgruppe die Keller der Einwohner prüft, kann Max nur im letzten Moment in Sicherheit gebracht werden. Aber gesucht werden nicht etwa versteckte Juden, sondern Kellerräume, die sich als Luftschutzräume eignen. Die Insel der Hubermanns ist ausgerechnet für diesen Zweck ungeeignet.
So ist der Keller als Insel trotz oder wegen seiner fehlenden Funktionalität für das herrschende Regime ein Raum des Erprobens und Einübens der zivilisatorischen Restbestände. Und damit auch ein Erkenntnisraum, in dem die bedrohlichen Erscheinungen der Außenwelt überschaubar werden, auch wenn man sie nicht beherrschen kann. Diese Symbolik kann man auch ohne Bildungswissen intuitiv erfassen und wer sich an die eigene Kindheit erinnert, der findet vermutlich sehr schnell die eigenen Inseln.


Die Außenwelt als Alptraum

Die Flucht in die Welt der und der Phantasie ist der Versuch, sich selbst immer noch als fühlendes und erkennendes Wesen zu erleben. Die Außenwelt ist aber ein anderer Erzählort als der Keller. Dies zeigen die kleinen, aber nicht leichten Schritte Liesels, wieder Vertrauen in Dinge wie Vertrauen und Freundschaft zu finden. Außerhalb des Kellers ist dies per se gefährlich. 
Liesel entdeckt in dem Nachbarsjungen Rudi (Nico Liersch) einen Gleichgesinnten, auch weil der partout nicht verstehen kann, warum die Bewunderung für den farbigen Sprinter Jesse Owens in einer rassistischen Gesellschaft gefährlich ist. So stellt sich die gefährliche Außenwelt als das Gegenteil eines Erkenntnisraums dar: sie ist kalt und erstarrt und bedrohlich. In dieser Welt kann man sich nur misstrauisch an eine Freundschaft herantasten. Die Regeln dieser Welt werden nicht verhandelt, es gibt ‚richtige’ und ‚falsche’ Bücher und die falschen werden verbrannt. Die Kinder schreien zwar heimlich im Wald, dass sie Hitler hassen, aber ob der Name mehr als eine Chiffre für die Angst und die seltsamen Verbote ist, kann man nur vermuten.

Als Liesel bei der Frau des Bürgermeisters Hermann (Rainer Bock als Vorzeige-Nazi) eine große Bibliothek entdeckt, erlaubt ihr Ilsa Hermann (Barbara Auer) so viel zu lesen, wie sie möchte. Doch irgendwann entdeckt Hermann diese heimliche Verabredung und verbietet dem Kind weitere Besuche. Rosa Hubermann, die als Wäscherin den Unterhalt der Familie bestreitet, verliert ihren wichtigsten Kunden. Liesel, und das ist natürlich ein Märchen, verschafft sich aber weiterhin Zugang zur Bibliothek und „leiht“ sich dort Bücher: Die Bücherdiebin weiß sich zu helfen.

Aber die Außenwelt bleibt ein Alptraum, in der es auch Bullying gibt, ausgeübt durch den jungen Franz Deutscher, der mit Rudi und Liesel auf die gleiche Schule geht und der in „Die Bücherdiebin“ stellvertretend für die Deformierung durch Ideologie, also Hass, Missgunst und Denunziantentum steht. Das kann man verkürzt als Schulmobbing rezipieren, aber auch als symbolische Fokussierung.
Alptraumhaft ist auch eine andere Szene: Als Max die Familie verlässt, um sie nicht zu gefährden, wird Liesel Zeugin der ersten Judendeportationen. Die Juden werden von Soldaten durch die Straßen getrieben. Verzweifelt läuft Liesel den endlosen Zug der Menschen entlang und ruft „Max?“, bis sie von einem Uniformierten zu Boden geschleudert wird. Aber was da geschieht, wird nicht erklärt, der Film wirkt indifferent. Was der erwachsene Zuschauer wissen sollte, wird für die eigentliche Zielgruppe des Films nicht unmissverständlich adressiert.

Hier entdeckt man aber auch eine Schwäche des Films: er ist im Kern unpolitisch. Die symbolische Erzählweise des Films verdichtet weitgehend den herrschenden Ungeist am Beispiel des klassischen Bösewichts, der ausgerechnet „Deutscher“ heißt, schafft es aber nicht, den Holocaust zu benennen. Sicher, es brennen Bücher und SA-Männer verwüsten jüdische Geschäfte und misshandeln Juden auf offener Straße. Aber dass ein Großteil der Deutschen bis in die späten Kriegsjahre nicht nur aus Mitläufern bestand, sondern halt auch aus begeisterten Claqueuren bestand, die ihren Profit aus den herrschenden Verhältnissen zogen, bleibt unerzählt. 
Das kann man, vielleicht muss man es sogar, auch Kindern und Jugendlichen zumuten.
Michael Petronis Drehbuch (The Chronicles of Narnia: The Voyage of the Dawn Treader, 2010; The Rite (2011) hält sich zwar an die Vorlage, spiegelt aber mit dieser Weichzeichnung den Mythos von den verführten Deutschen wider, die von einer Bande unheimlicher Monster in die Irre geführt worden sind. Nach Kriegsende weiter kolportiert, wurde dies als Geschichtsumdeutung auch von der Politik instrumentalisiert.
„Die Bücherdiebin“ strickt die Legende weiter, aber der Film sollte, wie Petroni einräumte (s.a. Pressespiegel), auf Wunsch der Produktionsgesellschaft halt ‚familienfreundlich’ werden. Ein schlimmer Euphemismus.

In Percivals Film gibt es für meine Geschmack einfach zu viele ‚rechtschaffene’ Deutsche – angefangen bei Hans, der sich gegen die Verschleppung eines ‚guten Juden’ wehrt und danach auf der Liste der Gestapo steht. Auch die Bürgermeisterin bleibt ein schimärenhaftes Wesen, dessen gute Motive unergründlich sind. Das wird zwar der kindlichen Perspektive der Filmerzählung gerecht, das Geschichtliche wird aber nivelliert.


Eine kleine Bemerkung am Rande: Ihr werdet alle sterben!

Der Tod, der in „Die Bücherdiebin“ als zurückhaltender Erzähler fungiert und von Ben Becker gesprochen wird, findet inmitten des nur dezent dargestellten Grauens zwar reichlich Arbeit, ist kein allwissender Alleserklärer. Für ihn bleiben die Menschen ebenso rätselhaft wie für Liesel und Rudi die historischen Ereignisse. 
Er studiert die Menschen, aber eher unter ferner liefen, weil auch andere Dinge sehr interessant sind. Er ist erstaunt über sie, findet ihr Leben gelegentlich berührend und ihr Sterben gelegentlich auch, aber er bleibt machtlos, obwohl er mythologisch die mächtigste Instanz ist, die man kennt und fürchtet. Gelegentlich heilt er die Seelen der Sterbenden, manche drängen sich ihm auf. Ihm laufen die Menschen nach, stellt er resigniert fest. Aber auch die, die es nicht tun, müssen am Ende sterben.

Von Auferstehung ist dabei nicht die Rede, der Tod ist im Film (über Buch kann wie ausgeführt nichts sagen) nicht der Tod des Christentums, also eine Verkörperung des durch den Sündenfall erfahrenen Verlustes des ewigen Lebens, sondern ein Zaungast, der nur das vollzieht, was er vorfindet. Er bestraft nicht die Sünde, er vollzieht das Ende. Wäre man zynisch, dann könnte man ihn unparteiisch nennen. 
Mit diesem Tod bin ich nicht warm geworden, aber so viel steht fest: Es ist nicht der Tod, den alle Faschisten glorifizieren und idealisieren. Es ist ein Tod, der eher bestürzt ist über die Anträge, die man ihm macht. Und am Ende, und das ist für den ans Happyend gewöhnten Zuschauer nicht leicht zu verdauen (erst recht nicht für Kinder), wird er alle holen, die Liesel lieb und teuer sind. Er hat es angekündigt: Ihr werdet alle sterben!

„Die Bücherdiebin“ verwandelt sich so am Ende trotz der humanistischen Botschaft in ein trauriges Mysterium. Vielleicht ist das in einem Film, der als Melodram nachdrücklich auf Symbolismen, Überhöhungen und universelle Erzähltopoi setzt, irgendwie auch realistisch. Aber wie immer segelt das Melodram dabei hart am Wind und muss den Kitschvorwurf aushalten. Nicht nur aus meiner Sicht ist das gelungen, auch die überragenden Noten im Filmclub sind sicher kein Zufall.

Das abschließende Urteil fällt daher trotz eines gelegentlichen Unbehagens positiv aus. Brian Percivals Film ist eine stilsichere Adaption des Jugendbuches gelungen, die mit einem ausgezeichneten Darstellerensemble und aufwändigen Settings punktet. Geoffrey Rush, Emily Watson und besonders die junge Sophie Nélisse spielen wirklich vorzüglich und damit hat sich auch der Verzicht auf deutsche Darsteller in den Hauptrollen gelohnt. Dass Florian Ballhaus mit seinen Bildern schon ein wenig an seinen prominenten Vater erinnert, sei nur am Rande erinnert. John Williams hat für seine pathetische Filmmusik einige Preise und Nominierungen abgeholt – ich hätte mir dagegen einen minimalistischen Score gewünscht.

Und wenn die einleitende Frage lautete „Darf man das?“, so lautet die Antwort: Ja, das darf man, auch wenn in dem Kampf zwischen einer humanistischen Botschaft und einer nihilistischen Weltordnung für den skeptischen Betrachter der Humanismus häufig den naiven Part einnimmt. Diese Skepsis ist angebracht und möglicherweise wird die Menschlichkeit am Ende den Kürzeren ziehen. Man darf aber trotzig das Gegenteil beteuern.

Noten: Melonie, Mr. Mendez = 1, BigDoc = 1,5, Klawer = 2,5

Die Bücherdiebin (The Book Thief) - Deutschland, USA 2013 – Regie: Brian Percival – Drehbuch: Michael Petroni – Kamera: Florian Ballhaus – Musik: John Williams - Laufzeit: 125 Minuten – FSK: ab 6 Jahren - D.: Geoffrey Rush, Emily Watson, Sophie Nélisse, Nico Liersch, Ben Schnetzer, Ben Becker (Erzähler), Rainer Bock, Barbara Auer.


Der Film ist seit Mitte September auf DVD und Bluray erhältlich.


Pressespiegel

„Doch so eindringlich die Begegnungen zwischen den Personen im Haus gelingen, so seltsam fad wirken Straßenszenen und Schulsituationen. Es scheint fast, als sei Regisseur Brian Percival durch seine großartige Fernsehserie „Downton Abbey“ auf die intimen Momente spezialisiert. Die Straßen, erbaut im Studio Babelsberg, scheinen leer und rein, auch wenn sie bevölkert sind. Die Bücherverbrennung ist nicht nur historisch zu spät angesetzt, sie wirkt auch steril und befremdet“ (Cornelia Geissler, Frankfurter Rundschau)

„Drehbuchautor Michael Petroni bekannte kürzlich in einem Interview , dass das Studio 20th Century Fox und der Regisseur Brian Percival seine ursprüngliche, dem magischen Realismus des Buch stärker verhaftete Drehbuchversion zugunsten einer ‚familienfreundlicheren’ Variante verworfen hätten. So ist der Tonfall nun allzu versöhnlich, und dank der heimeligen Gold- und Brauntöne von Florian Ballhaus' Kamera und der gepflegten Inszenierung von Bombenopfern und Juden-Transporten sind die Ereignisse beunruhigend leicht auszuhalten. Zusaks Buch fesselte mit der Spannung zwischen Liesels kindlichem Blick und der Erbitterung, die sogar den Tod angesichts des Kriegsentsetzens packt, aber der Film scheitert daran, dies zu übersetzen“ (Nina Rehfeld, SPIEGEL ONLINE)

„The pieces of the story, which begins in 1938, are so neatly arranged that the movie has the narrative flow and comforting familiarity of a beloved fairy tale (...) I can’t imagine that the creators of “The Book Thief” were aware of their movie’s underlying message that it really wasn’t that bad. John Williams’s score — a quieter, more somber echo of his music for “Schindler’s List” — lends the film an unearned patina of solemnity, for “The Book Thief” is a shameless piece of Oscar-seeking Holocaust kitsch“
(Stephen Holden, The New York Times).

Mittwoch, 19. November 2014

Im Labyrinth des Schweigens

Mit seinem Spielfilmdebüt packt Giulio Ricciarelli ein Thema an, von dem die Nation in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten nichts wissen wollte und an dem fast 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erneut das Interesse offenbar erlahmt. In dem Kino, in dem ich das „Labyrinth des Schweigens“ sah, saß nur eine Handvoll alter Leute.

„Im Labyrinth des Schweigens“ erzählt die Geschichte von Johann Radmann (Alexander Fehling), der sich trotz völliger Unkenntnis der historischen Zusammenhänge als einziger Staatsanwalt der Frankfurter Justizbehörde mit dem Thema Auschwitz und den NS-Kriegsverbrechen beschäftigen will. Unterstützt wird er dabei nicht nur von dem Journalisten Thomas Gnielka (André Szymanski), sondern auch von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (großartig der nach den Dreharbeiten verstorbene Gert Voss). 
Bauer selbst hat als Jude und Sozialdemokrat ein Lager überlebt und sagt Radmann auf den Kopf zu, dass die Nation kein Interesse an dem Thema hat und zudem in entscheidenden Positionen viele Alt-Nazis sitzen. Radmann wird bei seinen Ermittlungen auf ein Labyrinth stoßen, in dem alle schweigen, so Bauer. Tatsächlich werden sie aber nicht nur schweigen, sondern die von Radmann gesuchten NS-Kriegsverbrecher sogar decken oder aktiv unterstützen. Zu den Netzwerken gehören in Ricciarellis Film nicht nur die Polizeibehörden, sondern auch das BKA. Tatsächlich konnte man aber auch von den deutschen Nachrichtendiensten wenig erwarten. Der BND wurde erst ab Mitte der 1960er Jahre von Nazis gesäubert.

Der Nürnberger Prozess wurde von der Öffentlichkeit als ein Prozess der Alliierten wahrgenommen. In der Folge wurden zwar 50.000 weitere NS-Täter vor Gericht gestellt, aber nur wenige Urteile gefällt. Danach wollte die junge Republik nichts mehr von ihrer Vergangenheit wissen. Die Akten von 600.000 SS-Männern lagerten derweil in endlosen Regalgängen der US-Militärverwaltung. 

Ricciarelli zeigt die als Selbstverständlichkeit erlebte Immunisierung in seinem Film anhand von zwei exemplarischen Szenen: der Journalist Thomas Gnielka sucht mit dem Auschwitz-Opfer Simon Kirsch (Johannes Krisch) die Frankfurter Staatsanwaltschaft auf, um einen ehemaligen SS-Mann aus Auschwitz anzuzeigen, dem Kirsch zufällig begegnet ist. Der Mann unterrichtet unbehelligt an einer Schule. Die Staatsanwälte zeigen sich völlig desinteressiert. Die Anzeige landet im Papierkorb. Nur Radmann, der sich ausschließlich mit Verkehrsdelikten herumschlägt, wird zögern und das Schreiben wieder aus dem Abfall ziehen.
Später zeigt Ricciarelli, wie im Gerichtsgebäude zufällig Menschen angesprochen werden, darunter auch sehr junge Mitarbeiter der Justizbehörde: Was ist Auschwitz? Was passierte dort? Man sieht fragende Gesichter. Auschwitz war doch ein Schutzlager, sagt ein Kollege zu Radmann.
Wir sind im Jahr 1958.


Aspekte der Verdrängung

Damit zeigt Ricciarelli gleich am Anfang seines Films, dass die kollektive Verdrängung zwei Seiten hat: Einerseits gab es Täter und Mitläufer, die ein hohes Interesse daran hatten, dass ihre Schuld nicht öffentlich wurde, andererseits haben Ende der 1950er Jahre bereits viele junge Menschen de facto nichts über die Nazi-Verbrechen gewusst. Ist das authentisch? 

Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass ich in den späten 1960er Jahren in der Schule nur spärlich über den Holocaust informiert wurde und erst während des Studiums erfuhr, dass große Teile der Justiz, der Verwaltung und der Ermittlungsbehörden mit ehemaligen Parteigenossen besetzt waren. Sie hatten dank der umfassenden Entnazifizierung kaum etwas zu befürchten.

Andererseits, und das ist eines der größten Themen der Aufarbeitung geworden, sprachen die Väter nicht mit ihren Söhnen.

„Wollen Sie, dass alle Söhne ihre Väter fragen, ob sie Mörder gewesen sind?“, wird Radmann von Oberstaatsanwalt Walter Friedberg (Robert Hunger-Bühler) gefragt. „Ja, genau das will ich!“, antwortet Radmann.
Er wird am Ende der fünfjährigen kräftezehrenden Ermittlungsarbeit fast zusammenbrechen, als er erfährt, dass sein Vater ebenfalls ein Parteimitglied war. Der junge Jurist wusste dies nicht, nein, er konnte es sich nicht einmal vorstellen. Auch das ist eine Form der Verdrängung, die Giulio Ricciarelli psychologisch sehr glaubwürdig spielen lässt.

Überhaupt gelingen Ricciarelli in seinem Debütfilm bewegende Szenen: Radmanns Sekretärin Schmittchen (Hansi Jochmann) kann kaum noch den psychischen Druck der Grausamkeiten bewältigen, von denen sie beim Stenografieren der Zeugenaussagen erfährt. Und Kollege Haller (Johann von Bülow), der die Gerüchte über Auschwitz für ein arrangiertes Hirngespinst der Siegerjustiz hält und widerwillig als Verstärkung zu Radmanns Team hinzugezogen wird, wird bereits nach der ersten Akteneinsicht vom Saulus zum Paulus.

Überhaupt ist der Film durchgehend exzellent gut besetzt. Alexander Fehling („Goethe!“, „Wir wollten aufs Meer“) spielt den jungen Staatsanwalt als Simplicissimus, der nicht zu Unrecht als „Grünschnabel“ bezeichnet wird und sich das fehlende historische Wissen auf schmerzhafte Weise erarbeiten muss. Die Arbeit an den Fällen verändert ihn spürbar und macht ihn beinahe manisch, als er sich zu sehr auf die Jagd nach dem berüchtigten Auschwitz-Arzt Dr. Josef Mengele fokussiert.
Johann von Bülow ist die Rolle des Staatanwaltes Otto Haller wie auf den Leib geschrieben. Überragend die Interpretation von Gert Voss, der den Generalstaatsanwalt als altersweisen, aber beinahe schon resignierten Überlebenden des NS-Regimes spielt, dennoch aber eine beinahe unheimliche Energie bei der Unterstützung Radmanns aufbringt.
Friederike Becht als Radmanns Freundin Marlene bedient nicht nur das Love Interest des Films, sondern führt vor, dass Radmanns Arbeit zu einer psychischen Extremsituation führt, an der Beziehungen zerbrechen können. Becht funktioniert damit zwar als Plotvehikel, spielt die junge Moderschöpferin
aber glaubwürdig als intelligente Frau, die in die Zukunft blickt und nicht nach hinten schauen will und dabei ihre naive Arglosigkeit erst noch entdecken muss.
Richtig gut hat mir aber die tolle Hansi Jochmann gefallen, die in ihrer kleinen Rolle wenig zu sagen hat, aber durch ihre Körpersprache und Mimik mehr ausdrückt, als andere mit vielen Worten erklären können. Eine tolle, sehr gelungene Nebenrolle.

Auch formal kann „Im Labyrinth des Schweigens“ überzeugen. Kameraarbeit (Roman Osin, Martin Langer) und Schnitt (Andrea Mertens) vermeiden eine minimalistische Montage aus theaterhaften Totalen, wie ich es schon einigen Filmen mit diesem Sujet gesehen habe, lösen die Szenen aber nicht mit zu viel Tempo auf und sorgen damit für einen ruhigen Erzählfluss, der sein Tempo aus der zunehmend beschleunigten Entwicklung der Ereignisse bezieht. Schlicht, aber dadurch messerscharf ist die Montage, wenn sie auf die anfänglichen noch gezeigten Einlassungen der Beschuldigten gänzlich verzichtet und nur noch die Gesichter der Angeklagten aneinanderreiht: Es sind normale Männer. Aber sehen Monster anders aus? Eher nicht.


Überzeugende Rekonstruktion deutscher Geschichte

Die Arbeit von Fritz Bauer, Johann Radmann und dessen Kollegen (tatsächlich waren es damals drei Staatsanwälte) führt schließlich zur Festnahme von Robert Mulka, dem Adjutanten des Lagerkommandanten Rudolf Höß, und weiterer NS-Verbrecher. Real sind in dem Film neben den historischen Ereignissen und den zeitgeschichtlich bekannten Personen die Figuren des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, des Journalisten Gnielka und des Mitbegründers des Internationalen Auschwitz Komitees Hermann Langbein (Luhas Miko). Die meisten anderen Figuren sind fiktiv. 
1963 findet der erste von drei Auschwitz-Prozessen vor dem Landgericht Frankfurt am Mai statt. Einige Nebenprozesse mit eingerechnet, enden die Verfahren erst Anfang der 1980er Jahre.

Mit seinem Spielfilmdebüt hat Giulio Ricciarelli einen großen Wurf gelandet. „Im Labyrinth des Schweigens“ wird der beginnende Wandel der deutschen Nachkriegsjustiz mit präzisen, genau beobachteten und gut recherchierten Szenen zu einer durchweg spannenden, aber nicht künstlich dramatisierten, einzigartigen Rekonstruktion deutscher Geschichte und deren Be- und Empfindlichkeiten. Ricciarelli und Drehbuchautorin Elisabeth Bartel ist ein starkes Stück Kino gelungen, das auch die Frage hinterlässt, warum man so lange auf einen derartigen Film warten musste. 

Über die Figur des Johann Radmann hat Ricciarelli in einem Interview gesagt: „Auf einer Metaebene ist er die junge Republik, mit der Naivität am Anfang und dem Fast-Zerbrechen daran. Die Mengele-Figur, in die er sich verbeißt, hat auf der psychischen Ebene viel damit zu tun, denn es ist leicht, den Dämon zu hassen, aber was ist mit den Normalen, die, die z.B. das Zyklon B eingefüllt haben - sind die nicht dramatisch genug? Das ist auch ein Reifeprozess der Figur, sich der Normalität zu stellen.“

Möglicherweise eine Feststellung mit Schlüsselcharakter, denn es waren nicht nur die ‚normalen’ Täter (ein bezeichnender Euphemismus), sondern auch die stillen Mitläufer und Profiteure des NS-Regimes, die erfolgreich verdrängt haben. Aber zum Verdrängen gehörte eben nicht nur das Unterdrücken des eigenen unangenehmen Wissens, sondern auch dessen Nichtvorhandensein. Wer dies für paradox hält, sollte sich diesen Film einfach mal anschauen. Denn wer die eigene Geschichte nicht zur Kenntnis nimmt, auch wenn er nicht schuldhaft daran beteiligt war, sorgt für eine Haltung, die durchkreuzt werden muss. Gerade weil Viele mittlerweile glauben, dass nun endlich Schluss sein müsse.


Die historischen Hintergründe: Der Bock wird zum Gärtner gemacht

„Durch die Denazifizierung ist viel Unheil und viel Unglück angerichtet worden“ stellt Konrad Adenauer 1945 vor dem Bundestag fest und fügt hinzu, dass die Schuldigen bestraft werden müssen, aber man nicht länger zwischen zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden soll. Die Unterscheidung zwischen politisch Einwandfreien und nicht Einwandfreien müsse verschwinden. 

Adenauer hatte dies formuliert, weil geheime Umfragen der Alliierten ein ernüchterndes Ergebnis präsentierten: Die Mehrheit der Deutschen hielt den Nationalsozialismus nach wie vor für eine gute Idee, die lediglich schlecht durchgeführt worden war. 

Rasch wird ein Gesetz eingebracht, das minderschwere Verbrechen aus der Nazizeit amnestiert. Eines der ersten Gesetze des Bundestages. Die Akten sollen nach Adenauers Vorstellung unter Verschluss bleiben, was leicht fällt, da die Amerikaner den Zugang kontrollieren, so wie es auch im „Labyrinth des Schweigens
dargestellt wird. 

Anfang der 1950er will Adenauers junge Republik dann wegen Personalmangels wieder auf hoch belastete Täter zurückgreifen, die von den Alliierten aus ihren Ämtern entfernt worden sind. Mit dem 131er-Gesetz (nach Art. 131 Grundgesetz) wird diese Tätergruppe nicht zugelassen, es sei denn, sie sind von Amtswegen beordert worden. Was wie die Formulierung einer Ausnahme klang, war indes der Normalfall.
Nun konnten über 50.000 NS-Beamte wieder in den Staatsdienst aufgenommen werden. Darunter auch belastete NS-Juristen, die nun darüber entscheiden konnten, ob gegen NS-Verbrecher Ermittlungen aufgenommen werden sollten.


1951 scheint nur ein Thema die Presse zu interessieren: die
Versorgungsansprüche und zu leistenden Abschlagssummen, die fällig werden bzw. an die neuen Staatsdiener gezahlt werden sollen. Die ZEIT schreibt am 13.12.1951: „Die verdrängten Beamten, die ihrem Unmut über das ihnen unverständliche Hinausziehen in zahllosen Protestschreiben an Behörden und Zeitungsredaktionen Ausdruck geben, haben Anspruch darauf, daß sich der Amtsschimmel wenigstens dort, wo man ihm schon die Hürden aus dem Weg geräumt hat, in Trab setzt.“
Dem Gesetz stimmen alle Parteien ohne Gegenstimmen zu, sogar die KPD.
Auf diese Weise wird das Justizministerium zu einer „Hochburg der Nazis“, wie die ARD unlängst in einer Dokumentation bilanzierte.

Die wegen Protesten aus dem Ausland gegründete Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen (Ludwigsburg) wird lahm gelegt, als Adenauer den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO von der Niederschlagung aller Gerichtsverfahren abhängig macht, die im Ausland gegen deutsche Kriegsverbrecher eingeleitet werden sollen.
Akten
werden weggeschlossen.

Alles scheint alles irgendwann verjährt und vergessen zu sein, nur Mord im Zusammenhang einer klar nachweisbaren Einzeltat kann den Tätern noch gefährlich werden, wenn ein Ermittlungsinteresse besteht und Zeugen beigebracht werden können. Häufig ist beides nicht der Fall.
Fritz Bauer und seine Staatsanwälte haben schließlich diesen ungleichen Kampf angenommen. Das Ergebnis kann in Wort und Schrift auf der Homepage des Fritz Bauer Instituts geprüft werden (s.a. Quellen).

Quellen:

  1. ZEIT-Archiv „Die enttäuschten 131er“
  2. Interview mit Giulio Ricciarelli, zitiert aus: epd-film
  3. „Akte D - Das Versagen der Nachkriegsjustiz“, ARD 2014, Dokumentation, Infos.
  4. „Der Auschwitz-Prozess“, Online Dokumentation
  5. „Tonbandmitschnitt des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses“, Fritz Bauer Institut (sehr empfehlenswerte Website; die Mitschnitte stehen auch als Mitschrift (PDF) zur Verfügung)

BigDoc = 1,5

Im Labyrinth des Schweigens – D 2014 – Laufzeit: 123 Minuten – Regie: Giulio Ricciarelli – Buch: Elisabeth Bartel, Giulio Ricciarelli – D.: Alexander Fehling, Gert Voss, André Szymanski, Friederike Becht, Johann von Bülow, Robert Hunger-Bühler, Hansi Jochmann, Johannes Krisch.

Sonntag, 16. November 2014

„Interstellar“ und die Medien (ähm ...Kritiker)

„Eßt Scheiße, zehn Millionen Fliegen können nicht irren“ ist nicht einfach nur ein Aphorismus aus der Gosse, sondern tatsächlich ein Buchtitel. Mal abgesehen davon, dass die Rechtschreibung nicht up to date ist und man mit etwas mehr Sprachgefühl „sich irren“ schreiben würde, beschreibt dieser eloquente Spruch sehr genau einen Mechanismus, der sich auch bei Filmkritikern breit macht. Das will ich in drei Kritiken der WELT etwas genauer untersuchen. Da ich das Blatt abonniert habe, kann man das gerne auch als Kundenbeschwerde lesen.

Fangen wir mit dem Umkehrschluss an. Sind zehn Millionen Fliegen an einem Ort versammelt, lässt dies den Schluss zu, dass besagte Körperausscheidung in der Nähe sein muss. Gehen also zehn Millionen Menschen in einen Film...
Halt, das muss nicht weiter ausgeführt werden. Die Ableitung liegt auf der Hand und sie zeigt, wie man Logik missbrauchen kann.

Ähnliche rhetorische Tricks haben Literatur- und Filmkritiker auch auf Lager. Sie wollen gelesen werden und glauben, allein mit Chuzpe so etwas wie ein Karl Kraus des modernen Kinos zu werden. Chuzpe bedeutet aber Frechheit und Geschmacklosigkeit.
Ich möchte nun aber nicht Menschen angreifen, sondern Texte. Das nur mal so am Rande. Fangen wir an. Eigentlich lese ich die Kritiken von Hanns-Georg Rodek aus der WELT ganz gerne. Immer häufiger kommt aber dabei der Verdacht auf, dass sich der WELT-Kritiker gerne auf Blockbuster einschießt, die etwas mehr Ansprüche haben als nur platt unterhalten zu wollen. Das war bereits bei „Cloud Atlas“ so. Rodek schrieb nun aktuell zwei Glossen über „Interstellar“. Mit viel Sarkasmus – und Behauptungen, ohne sich die Mühe zu machen, diese mit lästigen Argumenten zu stützen.

  • McConaugheys Cooper sinniert darüber, "wie wir früher hoch in den Himmel geblickt und uns gefragt haben, wo unser Platz zwischen den Sternen sei". Es ist ein Sentiment, das man viel hört in Amerika, unter Patrioten, unter Neoliberalen. Es ist die Denkweise eines Kindes, das nicht auf den Boden schauen möchte, wo es gerade sein Spielzeug kaputt getrampelt hat, warum auch, wenn man hoch ins Regal blicken kann, wo ja ein neues zum Kauf bereitsteht.
Diese Psychologisierung der Hauptfigur, die ganz nebenbei als Neoliberaler entdeckt wird, ist schlichtweg falsch, weil die Figur des Cooper eben nichts kaputt getrampelt hat, sondern deprimiert ist, weil andere dies getan haben.
  • Unsere Zukunft liegt im All, schlussfolgert Cooper kühl, aber nur für einige Auserwählte. Schwamm drüber.
Himmel, ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Figur das irgendwo preisgibt. Tatsächlich trifft dies für den von Michael Caine gespielten Charakter zu, der seinen Plan A heimlich verworfen hat, während Plan B beabsichtigt, einige Auserwählte mit befruchteten und tiefgefrorenen Eiern auf einen neuen Planeten zu schicken. Aber egal.
  • Kubrick holte absichtlich unbekannte Schauspieler, und Nolan benutzt absichtlich große Stars – neben McConaughey noch Jessica Chastain, Anne Hathaway und Matt Damon – und damit steckt er unentrinnbar in der Große-Gefühle-Mühle. Am Schluss blickt die zur Greisin gealterte Tochter gerührt auf ihren jung gebliebenen Vater. That's Zeitreise.
Ganz einfach zu kurz gesprungen. Wieso in aller Welt bedeutet ein bestimmtes Casting, dass nun große Gefühle (Achtung: Kitsch!) auf uns zurollen und wieso bekommt das zweimal verwendete Wort „absichtlich“ so einen drohenden Unterton? Natürlich hat Nolan das „absichtlich“ getan, was denn sonst? 
Aber vielleicht reiße ich alles nur aus dem Zusammenhang. Schauen wir uns den zweiten Beitrag an.

In dieser Kritik erklärt uns Rodek, was wir von der Darstellung der Physik in
Interstellar" zu erwarten haben und von unserer Zukunft. Sie ist eine ...
  • ...des Pessimismus, die Nolan mit allen Mitteln der Manipulation in ihr Gegenteil verkehrt, mit halb wissenschaftlichem Mumpitz und tränentropfendem Herzschmerz. Jede Menge Bewunderung, kein Quäntchen Ironie. (...) Für den Mumpitz ist Michael Caine zuständig, dessen Nasa-Chef uns spekulative Theorien der Quantengravitation unterjubelt, wonach die Raumzeit aus einer schwammartigen Struktur von Wurmlöchern bestehe, in die man nur schlüpfen müsse, um zeitreisen zu können.
Gut, zugegeben, es gibt „Mumpitz“ in Nolans Film (ach ja: für die Ironie sorgen in dem Film ausgerechnet die beiden Roboter, aber zu Ironie und Humor kommen wir später noch), aber der WELT-Journalist macht sich nicht einmal die Mühe, dies mit Argumenten zu belegen. Um Quantengravitation geht es in dem Film höchstens perspektivisch (das Ganze ist auch in Wirklichkeit nur ein theoretisches Modell), tatsächlich dreht sich alles, auch die emotionalen Konflikte der Figuren, um die relativistische Zeit und damit um Einsteins Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie. Und diese Effekte gibt es. Aber ein Kritiker muss das nicht wissen, kann ja nicht jeder nebenbei Physiker sein. Und wenn’s der Glosse dient ...
Und der Pessimismus, der angeblich manipulativ verdreht wird, will bis zur Schlusseinstellung nicht weichen: das Ende ist deprimierend und wer da ein Happyend hineinliest, hat nicht hingehört und hingeschaut.


Etwas fieser treibt es dann sein WELT-Kollege Jan Küveler aus dem Feuilleton. Der schreibt gleich frontal los: „Warum Christopher Nolan heillos überschätzt wird“. Ob ihn Hybris treibt („Im Grunde kommt es mir vor, als schriebe ich Ihnen stellvertretend für das amerikanische Kino des 21. Jahrhunderts, für das Beste und das Schlechteste darin“) weiß ich nicht.
Ich halte dies für anmaßend.

Um seine Häme (und nichts anderes ist es) listig zu verpacken, wählt er die Briefform („Lieber Christopher Nolan“) und lobt die tollen Bilder in „Interstellar“ („...mein Gott, die Saturn-Sequenz wird in die Filmgeschichte eingehen“), um dann weitschweifig mit Nolans Gesamtwerk abzurechnen. Und da er
Nolan pausenlos vorwirft, dass dieser keine witzigen Filme macht (warum sollte er?), bemüht er sich, diese Lücke auszufüllen und macht sich über alle Zuschauer lustig, die z.B. in der IMDB Nolan zum Meisterregisseur erkoren haben. Über „The Dark Knight“ weiß er zu berichten: „Mir hat auch gut gefallen, wie in "The Dark Knight" der Laster umkippt...“
Und sonst?

  • Heath Ledgers Grimassieren und Schmatzen als Joker ließ mich eher ratlos zurück, das war doch angestrengtestes Overacting, wie es seitdem nur Joaquin Phoenix in "The Master" besser hingekriegt hat. Christian Bales Humorlosigkeit war über die drei Filme hinweg ganz schön nervig. Kein Wunder, dass Katie Holmes bald zu Two-Face überlief. Und dann das viele Gequatsche. Hand aufs Herz, Mr. Nolan: Ihre Filme sind doch hauptsächlich deshalb so lang, weil die armen Figuren drei Viertel der Zeit damit herumbringen, sich gegenseitig den Plot zu erklären.
Gut, er ist nicht vom Fach, sonst hätte er gewusst, das Katie Holmes in „Batman Begins“ spielt und Two-Face eine Figur aus „The Dark Knight“ ist. Aber vielleicht wollen es die Leser gar nicht so genau wissen und bewundern den tollen Stil des Verfassers, weil sie auch mal so abledern möchten. Schwamm drüber.
Dass Heath Ledger Millionen Fliegen ... sorry, Zuschauer, begeistert hat und posthum einen Oscar für seinen „Joker“ bekommen hat – gut, man kennt ja die zahllosen Fehlentscheidungen der Academy.
Irgendwie zwanghaft wirkt das ständige Gejammer über die Humorlosigkeit, die er bei Christian Bale ausmacht, der ja nun wirklich seine Rolle als ständig deprimierter Superheld mitsamt seinem aufreibenden Lebensstil kaum anders spielen konnte.
O.K., dass Nolan keine Komödie über Batman gemacht hat, ist unverzeihlich. Aber wo bitteschön erklären sich die Figuren pausenlos den Plot? Nach Küvelers Zeitrechnung müsste dieses Gequatsche 105 Minuten gedauert haben.
Und so etwas ist für eine nicht ganz unbeträchtliche Anzahl von Fans einer der besten Filme aller Zeiten? 
Oh, natürlich, die Fans denunzieren sich ja selbst, ich habe meine eigene Einleitung vergessen: „Gehen also zehn Millionen Menschen in einen Film...“

Aber nicht alles, was der WELT-Feuilletonist ist schreibt, ist kalter Kaffee. Zugegeben. Aber es handelt sich um eine rechthaberische Generalabrechnung mit einem Filmemacher und der durchgehend nassforsche, polemische Tonfall erinnert dann doch sehr an jene Sorte Filmkritiker, die glauben, dass ihrer Arbeit darin besteht, pausenlos witzig sein zu müssen und dass Filmkritiken lediglich Produktberatungen für Verbraucher sind. Und diese wollen natürlich vorher alles über schädliche Nebenwirkungen wissen, aber bitte keine Spoiler lesen. Und witzig soll der Film auch sein. Und die Kritik hip.

Einige Absätze später: schon wieder sind wir beim fehlenden Witz in „Interstellar“:

  • Interstellar ist komplett unwitzig, dafür selbstverliebt und bedeutungsschwanger. Und in den Nebenrollen hadern tolle Schauspieler mit der totalen Unglaubwürdigkeit ihrer Figuren.
War ich im falschen Film? Narzissmus ist zum einen eine Eigenart von Menschen und Filmkritikern, also zwei besondere Spezies, und ob jemand mit seiner Rolle gehadert hat, erfährt man vielleicht später mal in „Variety“ – ansonsten sind dies Mutmaßungen ohne argumentative Bodenhaftung. Dafür folgt wenig später ein Halbsatz über die Physik in „Interstellar“ und wie ein lästiger Running-Gag der mittlerweile alte Kalauer:
  • ...wobei Sie wiederum auf Rasanz und Komik verzichten.
Fehlte bislang der Witz, so fehlt jetzt auch noch die Komik. Clowns sind komisch, aber vielleicht war doch der Witz gemeint. Worte sind halt wie Schall und Rauch. Also noch mal in Kurzfassung: Die Erde ist verloren, der Held findet zwar die Weltformel, landet aber in einer todtraurigen Szene am Sterbebett der eigenen Tochter und ist am Ende in seiner Heimat so fehl am Platze, dass er zu einer einsamen Frau auf einem einsamen Planeten reist, wo ihn vermutlich der sichere Tod erwartet. Richtig: Wo bleibt da der schenkelklopfende Brüller?
Immerhin weiß der Autor so viel über Physik, dass er angesichts der Nähe der Astronauten zum Schwarzen Loch zum Schluss kommt:

  • Abgesehen davon, dass einen in der Nähe eines solchen Gravitationsmonsters das eigene Gewicht erdrücken würde...
Nö, man wird vielmehr gravitativ auseinandergezogen wie Spaghetti. Deshalb sprechen auch einige Physiker ‚lustig’ von „Spaghettisierung“!
Aber hier bin tatsächlich etwas kleinlich, denn dass der Aufenthalt in der Nähe eines Schwarzen Lochs auch aus ganz anderen Gründen ungesund ist, gilt als gesichert.

Küvelers Kritik am Filmende kann ich dann doch unterschreiben. War ja nicht alles Käse in der Glosse. Und besonders den Schlusssatz des Briefes an „Herrn Nolan“ fand ich 'witzig':

  • Lieber Herr Nolan, (...): Schluss mit dem hohlen Getöse. Greifen Sie an durch Unterhaltung. Dass Sie das eigentlich können, daran zweifelt doch keiner. Lassen Sie den verharmlosenden Quatsch und gehen Sie mutig voran ins Irrenhaus. Wir kommen dann schon nach.
Ich ahne es, mir graut davor: Hier ist wohl eine lustige Apokalypse wie in Seth Rogens "Das ist das Ende" gemeint.
Ich will das jetzt nicht weiter kommentieren. Nur so viel: So schreibt man nicht über Filme, die erkennbar eine gute Geschichte erzählen wollen, auch wenn das nicht immer restlos klappt. Vielleicht geht das Rausrotzen von Glossen bei den schlechten Exemplaren, deren kalkulierte Dämlichkeit offensichtlich ist. Ein guter Kritiker kann das eine vom anderen unterscheiden.

Stattdessen möchte ich, der mit Hans C. Blumenberg, Wolf Donner, Enno Patalas und vielen anderen guten und seriösen Kritikern das Kino lieben gelernt hat, mit zwei Zitaten zum Ende kommen:

  • Es ging aber Enno Patalas und seinen Mitarbeitern nicht allein darum, endlich ernsthaft Filmkritik zu betreiben, sondern sie wußten auch „wie“ und gegen was und formulierten eine entschiedene Programmatik: „Wir wollen es mit Walter Benjamin halten: Das Publikum muß stets unrecht erhalten und sich doch durch den Kritiker vertreten fühlen... Nichts ist so überholt wie die feuilletonistische Kunstkritik, die Eindrücke und Einfälle notiert, statt Strukturen nachzuweisen, die beschreibt, statt zu interpretieren.
Das schrieb Uwe Nettelbeck 1963 über das Team der 1957 gegründeten Zeitschrift „Filmkritik“. Zu einer Zeit, als immer noch Volontäre, so Nettelbeck, für dieses Ressort verantwortlich waren.
  • Filmkritiker sind unsympathische Menschen. Unablässig nörgeln sie an dem herum, was zugleich der einzige Grund ihres Daseins ist, am Kino, das sie ausbrütet und ernährt. Es gibt keinen Glücksmoment, keinen Augenblick der Rührung und des Verstehens, den sie nicht zerreden, keinen originellen Einfall, den sie nicht bekritteln müssen.
    Wenn sie älter werden und merken, daß das Kino nicht mit ihnen altern will, lassen sie ihre Enttäuschung an den jungen Filmen und den jüngeren Kritikern aus. Sie versteinern und vergreisen, die Liebhaberei ihrer Anfänge verkehrt sich in Haß auf das Publikum, die Filme, sich selbst. An der Kathedrale des Kinos sind sie die Wasserspeier, die Chimären, die den Gläubigen Furcht und Schrecken einjagen, wenn sie zur Messe gehen.
Das schrieb Andreas Kilb 1994 zum Tod von Wolf Donner und er fügte hinzu: „Wolf Donner war keiner von ihnen.“
Die Chimären aber warten immer noch irgendwo da draußen auf uns.

Samstag, 15. November 2014

Interstellar

Christopher Nolan bedient mit seinem waghalsigen Film Sehnsüchte und Visionen der traditionellen Science-Fiction: Der Aufbruch zu den Sternen ist nicht nur ein Abenteuer, sondern eine Menschheitsaufgabe. Allerdings treibt die Helden in „Interstellar“ nicht Forscherdrang an, sondern die Rettung der maroden Welt. So ist der Film auch ein gelungener Gegenpol zu den aktuellen und mittlerweile ermüdenden Dystopien, deren Figuren die Kraft und der Mut fehlen, den ökologisch ruinierten Heimatplaneten zu verlassen. In „Interstellar“ haben sie Kraft und Mut, aber sie müssen einen hohen Preis bezahlen.

Die Erde ist auf dem besten Wege, sich in einen Wüstenplaneten à la Frank Herbert zu verwandeln, nur ohne Sandwürmer. Sie ist so vollständig am Ende, dass nur noch die Flucht bleibt. Wer oder was für das Desaster gesorgt hat, bleibt offen. Aber wenn man die gegenwärtig peinlich minimalistischen Bemühungen sieht, mit denen die Politiker das Weltklima retten wollen, braucht man eigentlich keine weiteren Erklärungen.
Trotzdem will diese Geschichte erzählt werden.


Science-Fiction, keine Fantasy

Mitte des 21. Jh. haben auf der Erde die Überlebenden des großen Öko-Kollaps eine Agrargesellschaft etabliert, in der das Interesse an Naturwissenschaften nicht mehr existiert. Parasiten und Krankheiten verhindern den Anbau von Getreide und Gemüse, als letztes Nahrungsmittel ist allein Mais übrig geblieben. In dieser sterbenden Zivilisation bewirtschaftet der Ex-Pilot Cooper (Matthew McConaughey) zusammen mit seinem Schwiegervater (John Lithgow), seiner zehnjährigen Tochter Murphy (Mackenzie Foy als Kind, Jessica Chastain als Erwachsene und Ellen Burstyn als alte Frau) und seinem Sohn Tom (Timothée Chalamet, Casey Affleck) eine Farm. Murphy glaubt aufgrund merkwürdige Vorkommnisse in ihrem Zimmer, dass sie eine mysteriöse Botschaft von einem unbekannten Wesen, möglicherweise einem Geist, erhält. Cooper kann das Ganze allerdings als Morsezeichen decodieren. Die Botschaft besteht aus zwei Mitteilungen: später aus der zunächst unverständlichen Aufforderung „Stay“, zuvor als Koordinaten eines Ortes - es ist der verborgen vor der Öffentlichkeit operierende letzte Standort der NASA.
Hier trifft Cooper auf Professor Brand (Michael Caine) und dessen Tochter Dr. Amelia Brand (Anne Hathaway), die Cooper in ihr Projekt einweihen. Es soll die Menschheit retten. Wer auch immer es war: geheimnisvolle „Sie“ haben ein Wurmloch in der Nähe des Saturn positioniert, durch das bereits vor einigen Jahren Wissenschaftler geschickt worden sind. Das Projekt „Lazarus“ sollte am anderen Ende in einer fernen Galaxis nach neuen Lebenswelten zu suchen. Und die Reiseroute scheint von einer höheren Intelligenz vorbereitet worden zu sein. Kubricks Monolith lässt grüßen.

Cooper lässt sich gegen den heftigen Widerstand „Murphs“ dazu überreden, als Pilot ein Raumschiff sicher ans Ziel zu bringen. Brand will inzwischen Relativitätstheorie und Quantenmechanik zusammenführen, um der Natur der Gravitation auf die Schliche zu kommen. Nur so könne man eine Rettungs-Raumstation mit Menschen durch das Wurmloch bringen, um auf der anderen Seite einen erdähnlichen Planenten zu besiedeln.
Das ist Plan A. Plan B sieht als letzten Ausweg vor, mit einer kleineren Population und tiefgefrorenen Eizellen die menschliche Evolution neu anzustoßen.
Die letzte Mission führt das Astronautenteam Cooper, Amelia Brand und die beiden Wissenschaftler Romily und Doyle zusammen mit den KI-Robotern TARS und CASE dann auch erfolgreich durch ein Wurmloch. Allerdings auch in die Nähe eines Schwarzen Loches, wo drei der als bewohnbar geltenden Planeten ihre Bahnen ziehen. Allerdings führt die gravitative Zeitverzerrung des Schwarzen Lochs zu berechenbaren, aber keineswegs vorhersehbaren Extremsituationen, die alles auf den Prüfstand stellen. Alle drei Planeten kann das Team an Bord der „Endurance“ nicht mehr prüfen. Nicht nur der Treibstoff ist knapp geworden, auch die Uhren an Bord ticken in der Nähe des Schwarzen Loches extrem langsamer als auf der Erde. Braucht man also zu viel Zeit für den Job, würde man nach der Rückkehr auf die Erde womöglich nicht einmal mehr seinen Enkeln begegnen, sondern die ganze Menschheit wäre futsch.

Ein Wurmloch mit mythologischen Qualitäten, sarkastische Roboter und eine schwindelerregende Fahrt durch ein Wurmloch: Das hört sich so an, als wären Stanley Kubricks „2001 – A Space Odyssee“ und „Star Wars“ eine Allianz eingegangen. Beide Filme haben Christopher Nolan in jungen Jahren beeindruckt und das sieht man auch „Interstellar“ an.
Science-Fiction und Fantasy, und dazu gehören die beiden großen Vorbilder, leben allerdings in zwei Welten: SF orientiert sich an bekannten oder zumindest plausiblen und rational begründbaren Naturgesetzen, es will erzählte Wissenschaft sein; Fantasy nimmt sich dagegen die Freiheit, diese frei zu erfinden, wenn es der Story dient.
„Interstellar“ ist zweifellos SF, zumindest am Anfang. Mit der korrekten Darstellung der relativistischen Zeit und der gravitativen Zeitdilatation gelingt Nolan ein realistisches Szenario. „Interstellar“ funktioniert auch recht überzeugend als Beschreibung der emotionalen und moralischen Fragen, die auf uns zukommen, wenn wir uns im Kosmos von Albert Einstein bewegen. Unser psychologisches Erleben von Zeit ist an diesem Ort zwar nicht irrelevant, aber die Art und Weise, wie die Raumzeit unter bestimmten Bedingungen funktioniert, stößt an die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung: Man kann sie zwar berechnen, aber man spürt nicht, wie es sich anfühlt. 

Verlust der Heimat, Verlust der Menschen, die man geliebt hat, der Familie, möglicherweise der Kultur, in der man gelebt hat – all dies sind unausweichliche Konsequenzen der Zeitdilatation, die an der Grenze zur Lichtgeschwindigkeit und in der Nähe massiver Gravitationseffekte zu extremen Zeitunterschieden führt. Sie definiert radikal Biografien um und fordert Entscheidungen: Darf man das tun, was man kann? Welche Folgen hat dies für die Zurückgebliebenen? Was fühlt man dabei?

Cooper will irgendwann wieder nach Hause. Er hat es seiner Tochter versprochen. Amelie Brand will nur zu einem der drei Planeten, weil sie als Wissenschaftlerin dort die besten Ergebnisse erwartet, aber auch, weil dort ihr Geliebter auf sie wartet. Möglicherweise, aber vielleicht auch nicht. Persönliches ist, so scheint’s, genauso wichtig wie Rettung der Erde.

Als neulich im Fernsehen der DEFA-Klassiker „Der schweigende Stern“ zu sehen war, konnte man das Gegenstück zu dieser Misere sehen: ideologisch gefestigte und humanistisch gebildete Astronauten, deren Empathie dem großen Ganzen gilt. Auch wenn man an diesen Alphatieren der Zukunft doch noch einen Rest Privates spüren konnte, waren sie so vernunftgeleitet, um für das Projekt und das große Ziel notfalls in den Tod zu gehen. Auch Michael Caines Figur des nicht immer aufrichtigen Physikers wird dieses Empathiekonzept andeuten. Es gehört zu den großen Science-Fiction-Themen und Nolan deutet es an, zeigt es aber nicht in seiner ganzen Ambivalenz.

Dennoch ist es konsequent, dass es auch um die Liebe geht, wenn in Nolans Film die Protagonisten ihr nächstes Reiseziel verhandeln. In „Interstellar“ sind die Figuren, auch nicht Cooper, eben keine Alphatiere. Einige Kritiker haben den Film angegriffen, weil sich alles so verquast und spirituell anhört, wenn Amelie die „kosmische Liebe“ als Argument einbringt. Dialoge unter Kitschverdacht.
Ich glaube aber nicht, dass Nolan unfähig war, vernünftige Dialoge zu schreiben (Christopher Nolan hat zusammen mit seinem Bruder Jonathan das Drehbuch verfasst). Vielmehr ist alles der emotionalen Hilflosigkeit der Figuren geschuldet. Sie können zwar die Zeitdilatation berechnen, nicht aber die Leere in ihrer Seele. Und deswegen fangen sie an, pathetisches und metaphysisches Zeug zu reden, während sie eigentlich das meinen, was sie zu glauben kennen. Nur ist halt die Liebe im Gegensatz zu physikalischen Phänomenen noch unberechenbarer. „Interstellar“ ist ein pessimistischer Film, mindestens aber ein melancholischer. 


Im Grunde eine Familiengeschichte

„Interstellar“ ist aber kein Nachhilfeunterricht in Physik und Existenzialismus, was einige Kritiker murrend vermuteten, sondern eine richtige Kinogeschichte. Und die beginnt clever, denn Nolan stürzt sich nicht übergangslos in die Weiten des Raumes, sondern erzählt in einer fast einstündigen Exposition mit epischer Breite eine subtile Familien- und Sozialgeschichte. In der bauen die Überlebenden verzweifelt ihre Weltbild um, während gewaltige Sandstürme über die gigantischen Maisfelder ziehen und der Mehltau die Ernte vernichtet.

Als Connor während einer Elternsprechstunde damit konfrontiert wird, dass seine Tochter naturwissenschaftliche Bücher in den Unterricht gebracht hat, wird dieses Sakrileg mit ausgesuchter, aber eisiger Höflichkeit diskutiert. Wie im Zerrbild einer Orwell’schen Neusprech-Öko-Gesellschaft hat man die Geschichte buchstäblich umgeschrieben: die Mondlandung war ein inszenierter Fake, das Ganze wurde inszeniert, um die Russen in einen verhängnisvollen Wettbewerb zu treiben, den sie finanziell nicht bewältigen konnten. Auch alles andere war Schwindel. Ingenieurswissenschaften und besonders die Raumfahrt sind Verschwendung von Ressourcen, Technologie ist nicht länger eine Utopie, sondern ein frivoler Scherz der menschlichen Intelligenz. 
Es ist die Skizze einer milden Revolution, die aus pragmatischen Gründen die Wissenschaftsgeschichte umschreibt, um die Menschen von sinnlosen Träumen und Visionen zu befreien. Erklärt von freundlichen Lehrern, die vorgeben, dies zu glauben. Gebraucht werden nur noch Farmer. Connor ist inmitten dieses sanften Öko-Terrorismus’ ein Fremdkörper. Aber immer noch der „Last Man Standing“, der seinen Blick nach oben zu den Sternen und nicht nach unten auf den Dreck richten will.

Die außergewöhnlich lange Exposition sorgt für differenzierte Figuren und bereitet auch die bevorstehenden Tragödien vor. Diese erlebt Connor dann als Schweigen. Während die „Endurance“ keine Botschaften mehr absetzen kann, erreichen das Schiff immer noch Videobotschaften von der Erde. Und während Coopers Tochter zunächst eisern schweigt, erzählt ein mit jedem Video älter gewordener Tom seinem Vater, für den nur Tage oder Wochen vergangen sind, vom Sterben und der Ausweglosigkeit. Bis er dann ganz aufgibt. Es antwortet ja niemand.
Irgendwann, wir ahnen es, wird der Sohn älter sein als der Vater. Und tatsächlich wird Cooper ganz am Ende seiner Tochter begegnen: als sterbende Greisin in einem Krankenhausbett, umringt von Kindern und Enkeln, die Cooper noch nie gesehen hat. In „Interstellar“ geht es nicht nur um den Ereignishorizont eines superschweren Black Holes, sondern auch um den emotionalen und moralischen Horizont in einem kaum zu begreifenden Universum.


„Interstellar“ und die Wissenschaft

Haben wir „Star Trek“ wegen seiner profunden Wissenschaftlichkeit geliebt? 
Eher nicht. Wenn Captain Kirk und seine Nachfolger mit Warp beschleunigten, dann schoss die Enterprise mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit in die unendlichen Tiefen des Weltraums.
Dass „to warp“ aber „etwas biegen“ heißt und der Antrieb darauf basierte, dass der Raum, durch den die Enterprise flog, gebogen wurde, war für das Funktionieren der Serie nicht so wichtig. Und immer, wenn die Enterprise zwischendurch von ihren Missionen zum Heimatplaneten Erde zurückkehrte, liefen dort die Uhren synchron. Bei Gene Roddenberry gab es Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie nicht. Tatsächlich leben wir in einem Universum, in dem nur die Geschwindigkeit des Lichts konstant ist, während sich Länge und Zeit ständig ändern.

„Interstellar“ will den Spagat zwischen Wissenschaft und Gefühl, Plausibilität und Phantasie, mit Bedacht stemmen. Auch wenn sich einige hemdsärmelige Blogger an ‚endloses Geschwafel ohne Logik, Sinn und Verstand’ erinnern und etwa seriösere Kritiker über zu viel Meta- und Quantenphysik klagen, beschränkt sich der Film auf kurze und prägnante Informationen zu diesen Themen, die (wo auch sonst?) in den Dialogen platziert werden. Überfordert wird dabei niemand. In der 12. Und 13. Klasse müssen deutsche Schüler bereits die komplexen Formeln zur Berechnung der Zeitdilatation anwenden können. 

Um seine Geschichte einigermaßen glaubwürdig erzählen zu können, hat sich Christopher Nolan zudem einen kompetenten Physiker ins Boot geholt: Kip Thorne. Thorne hat für das Filmteam ein ausgefeiltes Black Hole entworfen. Als er das Ergebnis sah, stellte er fest, dass dies so innovativ sei, dass es ihn wissenschaftlich weitergebracht hätte. Er hat bereits ein Buch darüber geschrieben.
Spannend und verblüffend ist auf jeden Fall die Szene, in der Connor und sein Team etwas mehr als drei Stunden lang den ersten Planeten erkunden, einen unwirtlichen Wasserplaneten mit riesigen Tsunamis. Ihr auf dem Schiff zurückgebliebener Kollege ist während dieser drei Stunden 23 Jahre älter geworden.

Ganz gelungen ist die Synthese zwischen Kinoplot und Einstein aber nicht. Man konnte ziemlich schnell die ersten Kritikpunkte von Astrophysikern nachlesen. Drei Planeten ohne Fixstern in der Nähe? Bullshit. So nah am Schwarzen Loch vorbeifliegen? Geht nicht, Röntgenstrahlen würden die Crew braten. Und so weiter.
Natürlich ist das interessant zu lesen, aber „Interstellar“ ist halt Kino und damit auch Phantasie und Fiction. Viele SF-Autoren wollten früher überhaupt nicht wissen, ob ihre Stories plausibel sind. Stanislaw Lem hat sich sogar entschieden geweigert, die Schwerelosigkeit am eigenen Leibe zu erfahren. Ich kann diese Immunisierung zwar nicht nachvollziehen, aber insgesamt sollte man nicht jede Plotidee an der Tafel mit Kreide nachrechnen. Immerhin hat die gravitative Zeitdilatation Einzug in den Film gefunden und das wird vielleicht den einen oder anderen Zuschauer ins Grübeln bringen. Nur wenigen Regisseuren dürfte ein ähnliches Vorhaben gelingen, geschweige denn von knochenharten Produzenten gestattet werden. 


Das Ende floppt

Wie immer entscheidet das Ende über den bleibenden Eindruck, den man von einem der am heftigsten diskutierten Blockbuster der Saison aus dem Kino mitnimmt. Und das Ende enttäuscht heftig, denn Nolan entscheidet sich für Fantasy und gegen Science Fiction. Cooper dringt in das Schwarze Loch ein und bewegt sich dort völlig gefahrlos in einer Raumzeit, in der alle Ereignisse gleichzeitig existieren und wie Bücher in einem Regal stehen. Man wandert von einem zum anderen. 
„Interstellar“ kehrt damit sehr spekulativ zu einem Zeitbegriff zurück, der eher an Newtons Annahme einer physikalisch realen Zeit erinnert, nur dass sie in einer fünfdimensionalen Matrix angeordnet ist. Das wirkt leider lächerlich, beinahe wie ein überdrehter Nachschlag von „Inception“ und ist zudem bei Kurt Vonnegut geklaut worden („Slaughterhouse-Five“).
Ohne die Pointe zu verraten, steht für mich fest: Nolan und seinem Bruder ist es nicht gelungen, die Finger von einem überhitzten Ende zu lassen, das – koste es, was es wolle – die Themen Familie, Liebe und Verlust gewaltsam mit wilden Spekulationen über Gravitation und Quantenphysik zusammenbringen musste. Wissenschaftlich ist das Nonsense, erzählerisch eine kapitale Bauchlandung.

Wenn Cooper am Ende in einem geheimnisvollen Tesserakt tatsächlich Zeit und Raum manipulieren lernt und in seine eigene Vergangenheit zurückreist, beschreibt dies auch das ganze Elend jener Time Travel-Geschichten, die immer wieder der Verführung erliegen, mit einer Reise in die Vergangenheit die Probleme der Vergangenheit und der Gegenwart auf einen Schlag zu lösen. So kommt es leider zu einem Hauptübel der SF, dem Großvater-Paradoxon. Jemand reist in der Zeit zurück, bringt seinen Großvater um, der nun nicht mehr den Vater zeugen kann usw. Kein Wunder, dass sich Nolan aus diesem kruden Plot-Twist nur mit einem harten Schnitt befreien kann: sein Held, eben noch im Schwarzen Loch, wacht einfach im Krankenhaus auf. Teleportation? Mit einem überzeugenden Ende wäre der Erde so mancher Sandsturm erspart geblieben. Vielleicht hat aber auch Arthur C. Clarke Recht:
Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“

Kubrick hatte in „2001“ das unlösbare Rätsel des schwarzen Monolithen als unlösbar präsentiert und eine Erklärung verweigert. Am Ende weiß Kubricks Astronaut nicht, was ihm widerfährt. Der Zuschauer auch nicht. Dies kommt den zu erwartenden Realitäten erheblich näher, nämlich dann, wenn wir wirklich mit den Antworten auf die letzten Fragen konfrontiert werden. Wenn diese gefunden werden und wenn wir ganz viel Pech haben, wird nur eine Handvoll Physiker alles verstehen und dies vermutlich nicht einmal verbal kommunizieren können, sondern nur Formeln auf die Schiefertafel schreiben.
Die zwanghafte Umtriebigkeit, mit der in „Interstellar“ eine Lösung für alle Probleme aus dem Zylinder gezogen wird, ignoriert Kubricks intelligenten Gedanken, dass wir von der Evolution keine Sinne mitbekommen haben, die uns ein intuitives Verstehen des Kosmos ermöglichen. Wie sollte dies auch der Fall sein in einer Welt, in der wir vor kurzer Zeit noch Felle getragen haben und mit Keulen durch die Savanne stapften?

Stark ist „Interstellar“ dann, wenn es darum geht, die ethischen, sozialen und physikalischen Dilemmata zu beschreiben, die den Menschen angesichts der absurd erscheinenden physikalischen Gesetze in schwer zu begreifende Extremsituationen bringen. Nolan zeigt klug die Begrenzung des Menschen, der vertraute emotionale Bindungen benötigt, um in der Welt der relativen Zeit, der Wurmlöcher und Schwarzen Löcher zu überleben. Human Interest – ohne diese Dreingabe würde so mancher Zuschauer vermutlich in den Grundfesten seines Bildungswissens erschüttert werden. 

Gut ist „Interstellar“ beim Erzählen einer Familiengeschichte, die keineswegs zu sentimental ist, wie einige Kritiker vermuteten. Befriedigen kann der Film durch einen guten Cast, in dem Matthew McConaughey, Mackenzie Fox und auch Casey Affleck besonders auffallen. Befriedigend ist auch der Space-Look. Christopher Nolan gelingen trotz einiger Logiklöcher spektakuläre und verblüffende Bilder, darunter ein Schwarzes Loch, wie wir es noch nie gesehen haben. Aber insgesamt ist „Interstellar“ mit seinem Space-Look weniger spektakulär als „Gravity“, auch das überrascht.
Mau wird es beim gelegentlich zu pathetischen Soundtrack (Orgeln!) von Hans Zimmer (der übrigens in der deutschen Fassung elendig laut abgemischt wurde). Zimmer hat die Musik ohne Kenntnis des Drehbuchs geschrieben.
Das Ende floppt leider, kann aber nicht das Gefühl beschädigen, einen außergewöhnlichen Film gesehen zu haben. Allerdings schöpft „Interstellar“ sein Potential nicht ganz aus. Man wird sich diesen Film noch einige Male anschauen müssen.


Pressespiegel


„Tatsächlich ist ‚Interstellar’ so sensibel wie klug, so anspruchsvoll wie unterhaltsam - dies ist Kino, wie es sein soll, und wahrscheinlich der beste, jedenfalls der interessanteste Science-Fiction-Film seit "Matrix".“ 

Rüdiger Suchsland auf: heise.de

„Nolan scheitert am Versuch, seine fantastische Reise wissenschaftlich fundieren zu wollen und gleichzeitig seinen zahlreichen Kino-Vorgängern und Inspirationen gerecht zu werden, von "Oz" bis "Odyssee". Dabei brilliert und verblüfft er, wie schon in seinen Batman-Filmen und natürlich in "Inception" oder "Memento", immer wieder im Detail.  Das große Ganze aber, Herz und Zusammenhalt seiner Story, verliert er aus den Augen.“
Andreas Borcholte auf. SPIEGEL ONLINE

Noten: BigDoc, Klawer = 2


Interstellar - USA 2014 Regie: Christopher Nolan Buch: Christopher & Jonathan Nolan Darsteller: Matthew McConaughey, Anne Hathaway, Michael Caine, John Lithgow, Mackenzie Foy, Jessica Chastain, Casey Affleck, Ellen Burstyn, Wes Bentley, David Gyasi Länge: 169 Minuten Altersfreigabe: ab 12 Jahren

Samstag, 8. November 2014

Philomena

Irische Nonnen verkaufen in Stephen Frears neuem Film „Philomena“ unehelich geborene Kinder an reiche Ausländer. Ohne faktische Genauigkeit wäre dies ein Skandal. Die Fakten stimmen aber. Das ist der Skandal. Frears ist allerdings weniger an einer historischen Bestandsaufnahme interessiert als vielmehr an einer Beziehungsgeschichte. Die erzählt der Film aber richtig gut.

Mit Judi Dench hat Regisseur Stephen Frears seine perfekte „Philomena“ gefunden. Der deutsche Zuschauer muss sich lediglich daran gewöhnen, nie wieder Gisela Fritsch als Synchronstimme hören zu können. Die bekannte deutsche Schauspielerin und Synchronsprecherin, ohne die man sich Judi Dench eigentlich gar nicht vorstellen mag, ist Mitte 2013 im Alter von 77 Jahren gestorben. Ein ungewollter Nebeneffekt ist, dass die raue Stimme von „M“ der von Kerstin de Ahna gewichen ist, was wiederum besser zum Film passt – auch wenn bei uns im Club nostalgisches Bedauern aufkam.

Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn

Die pensionierte irische Krankenschwester Philomena Lee (Dench) beschließt, ihren Sohn Anthony zu suchen, den sie vor 50 Jahren zur Adaption freigegeben hat. Die jugendliche und sexuell völlig unerfahrene Philomena wurde, das zeigen Rückblenden, nach einem kurzen Techtelmechtel schwanger und landete im katholischen Irland in einem Kloster, wo sie zu vierjähriger Zwangsarbeit verpflichtet wurde. Die Kosten für die Abtreibung mussten beglichen werden, der Rest war „Buße“ für die Zügellosigkeit des Leibes.
Als Philomena den beruflich stagnierenden ehemaligen BBC-Reporter Martin Sixsmith (Steve Coogan) kennenlernt, zeigt sich dieser von ihrer Geschichte zunächst wenig beeindruckt. Doch statt ein Buch über die Russische Revolution zu schreiben, entscheidet er sich dann doch dafür, Philomena bei der Suche zu helfen. Eine Boulevardzeitung finanziert die Recherchen, also eine Human Interest Story genau von der Art, die Sixsmith an sich hasst.

Der 73-jährige Stephen Frears gehört zu den renommiertesten Regisseuren Großbritanniens („Mein wunderbarer Waschsalon“, 1985, „The Queen“, 2006), dreht aber nur selten so explizit politische Filme wie Ken Loach. Auch in „Philomena“ wird die Kritik mit viel Understatement vorgetragen. Seine beiden Hauptfiguren Philomena Lee und Martin Sixsmith gibt es aber tatsächlich. Frears Film rekonstruiert die Geschichte der echten Philomena, so wie sie Martin Sixsmith 2009 in seinem Buch „The Lost Child of Philomena Lee“ geschildert hat. 
Philomena Lee ist mittlerweile eine Berühmtheit, sogar der Papst hat sie empfangen und er hat auch den Film gesehen. Dies ändert nur wenig daran, dass besonders in den USA die konservative und katholisch orientierte Presse Stephen Frears Film als barbarischen anti-klerikalen und hasserfüllten Hetzfilm attackiert, so als würde eine Art von kognitiver Immunisierung den übermächtigen Druck der Fakten komplett ausblenden.

Der Magdalenen-Skandal

Magdalenenheime entstanden bereits im Mittelalter als kirchliche Einrichtungen, die reuige Prostituierte auf den richtigen Weg zurückführen sollten. Im anglikanischen England entstanden vergleichbare Fürsorgeprojekte Mitte der 18. Jh. Zwang wurde allerdings nicht ausgeübt, die Frauen konnten kommen und gehen, wann sie wollten. 

In Irland wurden die philanthropischen Einrichtungen als Magdalen Laundries (Wäschereien) bezeichnet, da dies das Kerngeschäft der Nonnen klar umriss. Ab ca. 1830 sollen bis zur Schließung des letzten Heims im Jahre 1996 über 30.000 Mädchen und Frauen in diesen Häusern gelebt und gearbeitet haben. Im katholischen Irland ging man härter zur Sache: enormer familiärer und sozialer Druck wurde auf junge, ledige Mütter ausgeübt – auch dann, wenn sie Vergewaltigungsopfer waren; kranke, überwiegend psychisch erkrankte Frauen wurden gegen ihren Willen eingewiesen und mussten sich dem strengen Regiment der Nonnen unterwerfen. Und dies bedeutete harte Arbeit ohne Lohn, in der Regel sieben Tage in der Woche. Abgeschottet durch die rigiden Moralvorstellungen und die öffentliche Zustimmung entstanden hermetische Systeme, in denen sexueller Missbrauch und sadistische Quälereien nicht ausblieben oder, wie einige Kritiker feststellten, systematisch und ritualisiert verübt wurden. Die in Frears Film dargestellte Sean Ross Abbey in Roscrea existiert tatsächlich und war auf Adoptionsverfahren spezialisiert.
Mit anderen Worten: Reiche Amerikaner kauften hier Kinder.

In den USA als Hetzfilm attackiert

Wenn also Philomena Lee und Martin Sixsmith im Garten der Abtei eine große Anzahl nicht gekennzeichneter Gräber finden, so entspricht dies den Tatsachen. Der Gräber-Skandal aus dem Jahre 1993 wurde ausgelöst, weil die Exhumierung und Verbrennung von über 150 unbekannten ehemaligen Insassen eines Magdalenheimes entdeckt wurde. Dies löste eine Welle von Vorwürfen aus, die sich zum einen auch gegen gleichartige protestantische Häuser richtete und andererseits erst 2009 nach der Veröffentlichung des Ryan-Berichts zu einem Schuldeingeständnis der katholischen Kirche führte: sie räumte Misshandlungen und sexuellen Missbrauch uneingeschränkt ein.
 

Als 2002 Peter Mullans Film „The Magdalene Sisters“ (Die unbarmherzigen Schwestern) erschien, empörte sich die Katholische Kirche dennoch. Gleiches gilt nun für Frears Film, der auch in den USA konservative Zeitungen und Publizisten in Rage gebracht hat: so schrieb die New York Post von einer langweiligen und hasserfüllten Attacke auf die Katholiken, da doch jeder wisse, dass das Schicksal der ledigen Mütter in den katholischen Heimen immer noch besser gewesen sei als das, was sie von der sozialen Gemeinschaft zu erwarten hat. 
Aber nicht immer ist Folter besser als der Tod.

Philomenas Suche nach dem verschollenen Anthony prallt an den Verantwortlichen ihres alten Klosters ab: Alle Unterlagen seien bei einem Brand vernichtet worden, die Adoptiveltern könnten nicht mehr ausfindig gemacht werden. Dass der ‚Brand’ eine Beweismittelvernichtung gewesen ist, erfahren Sixsmith und Philomena erst später. Ein Zufall führt die beiden dann in die USA, wo sie herausfinden, dass Anthony nach seiner Adoption den Namen Michael A. Hess angenommen und später eine politische Karriere bei der Konservativen gemacht hatte. Bis zu seinem Tod gehörte Hess zum Stab der US-Präsidenten Reagan und Bush sen. Dass er schwul war und später an AIDS gestorben ist, konnte Hess verbergen. Allein schon wegen dieses Faktums wurde „Philomena
von der US-Presse als blindwütige Attacke auf die Republikaner gelesen. Dies dürfte angesichts der intellektuellen Regression dieser Partei kaum noch überraschen. Schwule Republikaner? Gibt es nicht.

Eher Komödie als Tragödie

Stephen Frears hat „Philomena“ allerdings nicht für eine politische Abrechnung genutzt, das hat bereits Peter Mullans nachdrücklich besorgt. Frears scheint mehr am Human Interest interessiert zu sein und weniger daran, möglichst viele historische Fakten in den Film zu importieren. Und so erhält die Beziehung zwischen der einfachen, etwas bildungsfernen, aber lebenspraktischen Philomena und dem leicht versnobten atheistischen Intellektuellen aus der britischen Bildungselite einen komödiantischen Touch. Über weite Strecken erzählt der Film davon, wie sich Philomena und Sixsmith menschlich näher kommen, etwa wenn Philomena ihren Reisegefährten mit begeisterten Nacherzählungen kitschiger Liebesromane à la Courths-Mahler nervt, ganz ungezwungen von der ungeheuren Lust während ihrer ersten sexuellen Erfahrung erzählt und dann völlig unbewegt und vorurteilsfrei die Homosexualität ihres Sohnes zur Kenntnis nimmt.
Hier spielt Judi Dench nicht nur das Comic Relief grandios aus, sondern auch gelebte Toleranz, die man auch ohne Bildungswissen besitzen kann. Steve Googans etwas spöttische Intellektuellenfigur verblasst daneben fast. Die Beiläufigkeit, mit der Frears die Klassenunterschiede der britischen Gesellschaft skizziert, ohne die Figuren dem Spott auszusetzen, ist sowohl elegant als auch amüsant.

Nur auf den ersten Blick erscheint es deshalb verblüffend, dass Frears die Chance verstreichen lässt, die Zuschauer emotional gegen die irische Katholische Kirche in Stellung zu bringen. Das wäre leicht gewesen. Stattdessen zeigt er in einer Schlüsselszene des Films die Begegnung Philomenas mit jener Nonne, die einst für ihr Schicksal verantwortlich war. Während Schwester Hildegard (Barbara Jefford) noch als Greisin die Mütter unehelicher Kinder als Sünderinnen bezeichnet und dabei kaum den neurotischen Anteil ihres Handelns unterdrücken kann, vergibt ihr Philomena vorbehaltlos. Dies ist natürlich dem historischen Vorbild geschuldet, denn auch die reale Philomena Lee ließ sich in ihrem Glauben nicht erschüttern. Judi Denchs großartige schauspielerische Leistung besteht aber darin, dass sie dies glaubwürdig als Großmütigkeit des Herzens spielt.
Frears lässt in dieser Szene seine weiblichen Heldin die Integrität ihrer religiösen Überzeugungen bewahren und zeigt, dass Philomenas christliche Wahrhaftigkeit nichts mit der gnadenlosen, neurosengefütterten und eiskalten Sexualmoral der Nonnen zu hat. Philomenas christliche Nächstenliebe ist ein beinahe fundamentalistisches Gegenstück zur realen kirchlichen Praxis und schneidet so schärfer als kalte Wut. Dass Philomena am Ende einer Veröffentlichung der Geschichte zustimmt, zeigt, dass der Glaube ihre Urteilsfähigkeit nicht beschädigt hat.

Kritiken

„The film doesn’t mention that in 1952 Ireland, both mother and child’s life would have been utterly ruined by an out-of-wedlock birth and that the nuns are actually giving both a chance at a fresh start that both indeed, in real life, enjoyed (...) No, this is a diabolical-Catholics film, straight up“ (Kyle Smith, New York Post).
Die NYP gehört zur Murdoch-Gruppe und damit zu den streng konservativen Blättern in den USA. Von Smith erhält der Film einen von vier Sternen, eingeordnet wird er in die Rubrik „Profanity (Gotteslästerung, Anm. d. Verf.), Sexual Situations“ eingeordnet.

„...es geht um 35.000 Kinder, die in Schulen, Korrekturanstalten, Waisenhäusern einem als systematisch und ritualisiert beschriebenen Missbrauch seelischer, körperlicher, sexueller Art ausgeliefert waren. Es zeichnet sich ab, dass schon eine kleine Unbotmäßigkeit ausreichte, um auf Jahre zu verschwinden. Ein gnadenloses System und nur Teilaspekt eines Umgangs mit Kindern, wie er auf den britischen Inseln bis in die neunziger Jahre gepflegt wurde, wo Nonnen die Augen vor den Umtrieben pädophiler Priester und Mönche verschlossen oder Kinderkrankenhäuser und Waisenhäuser etwa dem BBC-Entertainer Jimmy Savile gegen Spendengelder freien Zugang zu Aberhunderten immer neuen Opfern gewährten“ (Susanne Mayer in: DIE ZEIT).

Die Personen „werden eingepfercht in die Enge des dramaturgisch akkurat ausgearbeiteten Skripts und die konsequente Strenge der standardisierten Bildsprache, bewegen sich unbeirrbar auf den nächsten Plot Point zu. Die rührende Geschichte entpuppt sich als einfacher gestrickt, als sie zu sein vorgibt, und ist so penibel angeordnet und durchgetimt, dass man bei derartigem Drang zum allerklassischsten Erzähl-Perfektionismus ab und an einen faden Beigeschmack empfindet“ (Josef Lommer auf: Critic.de).

Quellen:

Der Tagesspiegel (2014)
Spiegel Online (2003)

Philomena (Philomena) – GB 2013 – Regie: Stephen Frears – Buch: Steve Coogan, Jeff Pope – Laufzeit: 98 Minuten – FSK: ab 6 Jahren – D.: Judi Dench, Steve Googan, Michelle Fairley, Barbara Jefford.

Dienstag, 4. November 2014

Westen

Über 50% der Deutschen wollen nichts mehr über den Osten und die DDR wissen. Sie haben die Schnauze voll. Keine Geschichtslektionen mehr. Das gilt, so lautet das Fazit einer in dieser Woche veröffentlichten Statistik, auch für die Menschen in den neuen Bundesländern. Wer soll sich da im Kino die Geschichte einer Frau anschauen, die 1978 die DDR mit einem Traum vom besseren Leben verlässt und dann in einem West-Berliner Auffanglager vom Geheimdienst in die Mangel genommen wird?

In der DDR eine erfolgreiche promovierte Chemikerin, im Westen dann ein Stellenangebot als Laborassistentin. Nelly Senff (Jördis Triebel) hat sich den Westen anders vorgestellt. Auch den in Aussicht gestellten Job bekommt sie nur, wenn sie ein Dutzend Stempel ergattert hat, die es amtlich machen, dass sie keine Läuse aus der DDR eingeschleppt hat und politisch keine Gefahr für die Bundesrepublik ist. Und so sitzt Nelly, der mit fingierten Papieren die Flucht gelungen ist, im Notaufnahmelager Marienfelde in West-Berlin fest und muss immer wieder merkwürdige Gespräche mit dem amerikanischen – oder ist es ein britischer? – Geheimdienstler John Bird (Jacky Ido) und seinem deutschen Kollegen führen.
„Ostfrauen rasieren sich nicht die Achselhöhlen“, lautet dessen Beitrag zur Willkommenskultur und schon kann man sich fragen, ob dies alles heute besser geworden ist.

„Westen“ ist der neue Film von Christian Schwochow, der vor drei Jahre mit der Verfilmung von Uwe Tellkamps „Turm“ in einem beeindruckenden Zweiteiler die letzten Jahre der DDR aus Sicht einer gutbürgerlichen Familie nacherzählt hat. Auch „Westen“ ist eine Literaturadaption. Vorlage ist Julia Francks Roman „Lagerfeuer“ aus dem Jahr 2003. Geschrieben wurde das Filmscript von Schwochows Mutter Heide, die zusammen mit ihrem Sohn bereits die Bücher für „Novemberkind“ und „Die Unsichtbare“ verfasst hat.


„Westen“ strandet zwischen Kafka und Spionagethriller

Über der Verfilmung liegt etwas Unentschlossenes, fast schon Orientierungslosigkeit. Das allerdings spiegelt sehr atmosphärisch das Lebensgefühl der Lagerinsassen wider. Schwochow konzentriert sich auf das anstrengende und kräftezehrende Leben seiner Hauptfigur, auf das Alltägliche im muffigen Auffanglager, das keineswegs einen leichten Durchgang ins bessere Leben bereithält. Wäsche waschen, Essen in der Gemeinschaftsküche, endlose, beinahe kafkaesk anmutende Untersuchungen. Immer wieder geht es lange Gänge entlang, zu Befragungen und Verhören, Beratungen und Verwaltungsroutinen – natürlich auf der Jagd nach dem nächsten Stempel, dem nächsten Schritt in die Freiheit.
In Marienfelde sind zuhauf Gestrandete beheimatet, die selbst nach vielen Jahren das Lager immer noch nicht verlassen können. Anders als in Francks Erzählung, in der die Geschichte auf verschiedene Erzähler übertragen wird, bleibt Schwochow dabei immer ganz nah bei Nelly und ihrem zehnjährigen Sohn Alexej (Tristan Göbel). 

Und warum die undurchsichtigen Verhöre? Nellys Verhängnis ist die frühere Liaison mit dem sowjetischen Wissenschaftler Wassilij Batalow, der sich erstaunlich frei im Westen bewegen konnte, bevor er bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Nelly werden Fragen gestellt, die sie nicht beantworten kann. Ist ihr Ex ein KBG-Spion gewesen, der abgetaucht ist und immer noch lebt, oder ist er ein Überläufer, der nun auf der Abschussliste der Stasi steht? Ist der sensible Hans Pischke (Alexander Scheer), der bereits seit Jahren im Lager festsitzt und sich einfühlsam mit dem kleinen Alexey anfreundet, etwa einer jener Spitzel, vor denen große Plakate an den Wänden warnen: Gespräche? Vorsicht Spitzel! Besuche? Achtung: Entführung in den Osten droht!

Christian Schwochow spielt in „Westen“ durchaus sehr spannend mit den Versatzstücken des Spionagethrillers und des Paranoia-Films, ohne dies wirklich ernst zu meinen – im Gegensatz zu dem Spionagethriller „Zwei Leben“ von Georg Maas, der deutlich zupackender war.
Was unentschlossen wirkt, bietet aber zumindest die Folie für den Verwandlungsprozess einer unpolitischen Frau, die erst aufgrund der endlosen Verhöre politisch zu denken beginnt und das Freiheitsversprechen des Westens bitter ernst nimmt. Die Wirkungslosigkeit ihres Protests und die kryptischen Informationen, die ihr John nach einem One-Night-Stand zusteckt, zersetzen allerdings zunehmend Nellys ursprüngliche Naivität und beginnen auch das Verhältnis zu ihrem Sohn zu zerrütten. Am Ende verhängt Nelly die Fenster ihrer Unterkunft und traut keinem mehr. Auch nicht Hans, der von den anderen Heimatlosen beinahe zu Tode geprügelt wird. Aus der im Lager selbstbewusst gewordenen Frau ist eine Getriebene geworden.

Das alles wird von Jördis Triebel, die auf dem World Film Festival in Montreal für ihre Rolle in „Westen“ als „Beste Darstellerin“ ausgezeichnet wurde, ungeheuer authentisch gespielt. Doch am Ende bleibt unklar, was uns Christian Schwochow eigentlich erzählen will. Ist der Westen nicht anders als der Osten? Das wäre zu kurz gesprungen. Spiegelt sich die repressive DDR in ihrem politischen Antagonisten, kontaminiert sie ihn bereits? Das wäre ein zu einfacher Abriss der letzten Jahre vor dem Ende des Kalten Krieges. Es bleibt die interessante Skizze einer Frau, die man sich durchaus mit Anteilnahme anschauen kann. Die thematisch interessanten Fragen bleiben aber lose verknüpft auf der Strecke.

Am Ende ist Heilig Abend. Nelly hat endlich ihre Papiere bekommen, sogar einen Job und eine eigene Wohnung, in der ein geschmückter Tannenbaum steht. Ist das der Beginn einer Idylle in Freiheit? 

Unten vor der Tür steht Hans und klingelt. Ende. Abspann. Schwochow bricht die Erzählung ab und lässt den Zuschauer einfach im weihnachtlichen Schneegestöber stehen. Aber der will laut Umfrage ja ohnehin nichts mehr von solchen Dingen wissen.

Noten: BigDoc = 3,5

Westen – Regie: Christian Schwochow, Buch: Heide Schwochow, D.: Jördis Triebel, Alexander Scheer, Tristan Göbel; Länge: 102 Minuten, FSK: ab 12 Jahren.